Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen -  - E-Book

Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen E-Book

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Beschreibung

Die Bedingungen heutiger Kindheit und Jugend haben sich verändert. Was sind diese anderen Bedingungen, wie kann Kindheit und Jugend auch in heutiger Zeit gut gelingen und was kann der Beitrag der Gestalttherapie hierzu sein? Dieser Band unternimmt eine Standortbestimmung, indem er zunächst Ansätze einer gestaltspezifischen Entwicklungstheorie vorstellt und die Arbeit mit unterschiedlichen Altersgruppen aufzeigt. Im zweiten Teil wird die Bedeutung der Umwelt-Feld-Perspektive für die therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen herausgearbeitet, und in einem weiteren Abschnitt werden spezielle Themen wie Settingdesign, intuitive Diagnostik, Traumatherapie, Neue Medien angesprochen. Es folgt ein Teil über Techniken der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen, aus deren reichem Fundus hier berichtet wird. Mit Beiträgen von: Volkmar Baulig, Dieter Bongers, Mark McConville, Hanna Fak, Nicolai Gruninger, Manon Hansen, Gerhard Hintenberger, Rudolf Liedl, Barbara Mayer, Elke Rehm, Agnes Salomon, Alain Schmitt und Wolfgang Wirth.

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IGW-Publikationen

Hg. Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW)

Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien)

Die Reihe wird gemeinsam vom Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und dem Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien) herausgegeben. Die beiden Schwesterinstitute wollen damit im deutschen Sprachraum einen Beitrag leisten zum öffentlichen fachlichen Diskurs unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten sowie bei gegebenem Thema auch unter Personen, die andere Therapieansätze vertreten. Als Autorinnen und Autoren treten Lehrende und Graduierte der beiden Institute auf, aber auch andere Kolleginnen und Kollegen.

Verantwortlich für die Reihe sind:

Peter Schulthess, Zürich (IGW), und Heide Anger, Wien (IGWien)

Herausgeberin und Herausgeber dieses Bandes

Heide Anger, Jg. 1953, Dr. med.; Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie, Gestalttherapeutin, Sexualmedizinerin, Ausbildnerin im Institut für Gestalttherapie Wien (IGWien), Lektorin an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien (SFU), Herausgeberin.

Thomas Schön, Jg. 1964, Dipl.-Soz.Päd. (FH); Psychotherapeut/Integrativer Gestalttherapeut (Ausbildung FPI/ÖAGG), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (BRD), Systemischer Coach; seit 1992 klinische Tätigkeit in den Bereichen Suchttherapie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie; seit 1994 freie Praxis für Psychotherapie, Supervision und Coaching in Wien; Lehrtherapeut/Lehrsupervisor und Weiterbildungsleiter (Integrative Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen) am Institut für Gestalttherapie Wien (IGWien). Gründungsmitglied der Österreichischen Vereinigung für Gestalttherapie (ÖVG); Autor; verheiratet und Vater zweier Kinder.

© 2012 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp.biz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Uwe Giese– unter Verwendung eines Bildes (Ausschnitt) von Manfred Pasieka (o.T.) –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, BerlinGedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehaltenAll rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher.

ISBN 978-3-89797-904-8(Print)ISBN 978-3-89797-562-0 (EPub)ISBN 978-3-89797-563-7 (PDF)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort von Herausgeberin und Herausgeber (Heide Anger / Thomas Schön)

1. Teil Die Entwicklungsperspektive der Gestalttherapie

Entwicklungstheoretische Ansätze in der Gestalttherapie

Entwicklungsbewegungen der Gestalttherapie (Wolfgang Wirth)

Wachstum, Reifung und Entwicklung (Nicolai Gruninger)

Gestalttherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen verschiedener Lebensalter

Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Therapie, Aspekte gestalttherapeutischer Behandlung bei prä, -peri- und postpartalen Belastungen (Agnes Salomon)

Der Blick auf Kindheit aus gestalttherapeutischer Sicht (Thomas Schön)

Adoleszente Entwicklung und Psychotherapie auf dem Hintergrund von Lewins Feldtheorie (Marc McConville)

2. Teil Die Umwelt-Feld-Perspektive der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

Settinggestaltung in der Therapie mit Kindern – Ein Literaturüberblick mit Beispielen (Elke Rehm und Alain Schmitt)

Auf der Suche nach dem genügend guten Feld – Überlegungen zu einem gestalttherapeutischen Konzept für die Arbeit mit Eltern (Manon Hansen)

Wenn Systeme Angst gestalten – Gestalttherapie mit einem ängstlichen Jungen und seiner Familie (Elke Rehm)

Hanna – Das eigene Leben (wieder)entdecken – Gestalttherapeutische Begleitung einer Jugendlichen mit einem psychisch kranken Vater (Barbara Mayer)

3. Spezielle Herausforderungen

Gestalttherapie mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen (Wolfgang Wirth)

Gestalttherapie mit extremen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft (Dieter Bongers)

Exzessives Computerspielen als neue Herausforderung in der Psychotherapie mit Jugendlichen (Gerhard Hintenberger)

4. Techniken der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen

Spielen im Dialog – Überlegungen zum Spielen in der Gestalttherapie mit Kindern (Hanna Fak)

Der Kinderwelttest – ein gestalttherapeutisch orientiertes Verfahren (Volkmar Baulig)

Familienbrett und Fingerpuppen – Eine experimentell, experienziell und existenziell nutzbare Technik (Alain Schmitt)

Das Sandspiel in der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen (Rudolf Liedl)

Autorinnen und Autoren

Anmerkungen & Literatur

Vorwort

Der Bedarf an Psychotherapie für Kinder und Jugendliche ist in den letzten Jahren enorm angestiegen, die gesellschaftlichen Bedingungen von Kindheit und Jugend haben sich weitgehend verändert. Fünfzehn bis zwanzig Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden laut des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (2009) an psychischen Erkrankungen. Die Anzahl an Einrichtungen für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie muss, um die Versorgung sichern zu können, dringend erhöht werden, ebenso die Anzahl an Psychotherapieplätzen bei niedergelassenen Spezialistinnen1 für diese Altersgruppe.

Psychotherapeutinnen jeglicher Methodenzugehörigkeit, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, sind ausgebucht, die Wartelisten sind lang, Eltern und Pädagoginnen oftmals verzweifelt. Daher lässt sich der berufliche Einsatz bis an die Grenzen der Belastbarkeit als Erklärung für die noch geringe Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen verstehen.

Umso dankbarer sind wir denjenigen Autorinnen, die einen Artikel für diesen Band verfasst haben und uns hiermit Einblick in ihre Arbeit gewähren und einen Beitrag zum aktuellen Diskurs leisten.

Der lang geübte Vorwurf, Gestalttherapie im Allgemeinen und Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen im Besonderen seien nicht eben theoriefreundlich, ist bei genauer Betrachtung und Vertiefung in die vorliegenden Texte nicht haltbar. Gerade in den letzten Jahren sind wichtige Schritte zu einer fundierten Weiterentwicklung der Gestalttherapie-Theorie erfolgt. (Fuhr et al. 2001; Hartmann-Kottek 2004; Spagnuolo-Lobb/Amendt-Lyon 2006)

Auch für die Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen gibt es eine Reihe von Publikationen. Violet Oaklander gilt als die Pionierin der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen. Ihr Buch Windows To Our Children erschien seit der Erstveröffentlichung 1978 in bisher 15 Auflagen, es wurde in mindestens acht Sprachen übersetzt, darunter 2009 ins Deutsche unter dem Titel Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen (Wintsch 1998). Dieses Werk wurde zu einem Klassiker in der Gestalttherapie-Literatur. Der durchschlagende Erfolg des Buches führte dazu, dass Violet Oaklander weltweit zu Seminaren eingeladen wurde, um ihre spezielle Form der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen vorzustellen. Dies trug auch wesentlich zur Verbreitung der Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen bei. Mehr als drei Jahrzehnte führte sie in Santa Barbara/Kalifornien zweiwöchige Trainingsprogramme durch. Peter Mortola begleitete diese Trainings zehn Jahre lang und legte 2006 ein Praxisbuch zum Violet-Oaklander-Training vor (dt. Mortola 2011). 2006 erschien mit Hidden treasure. A map to the child’s inner self (dt. 2009: Verborgene Schätze heben. Wege in die innere Welt von Kindern und Jugendlichen) ein weiteres fundamentales Buch von Violet Oaklander. Es ist die Quintessenz ihrer gestalttherapeutischen Tätigkeit, ein praxisnahes Buch, das aber auch wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Gestalttherapie-Theorie beinhaltet. 2001 erschien im Anschluss an eine gestalttherapeutische Tagung »The heart of development«, ein zweibändiges Werk, in dem die Herausgeber Gordon Wheeler und Marc McConville die Tagungsbeiträge, den Lebensaltern Kindheit und Jugend zugeordnet, zusammenfassen. Violet Oaklander lieferte das Vorwort und einen Textbeitrag. Schon 1995 hatte Marc McConville sein Buch Adolescence publiziert. Im englischsprachigen Raum erschienen darüber hinaus Arbeiten von Mortola (2001), Lambert (2003), Blom (2004), Fernandes, Cardoso-Zinker et al. (2006) und McConville (2007). Im deutschsprachigen Raum erschien 1990 Salonias (übersetzter) Beitrag zur Entwicklungsperspektive in der Gestalttherapie. 1997 wurden unabhängig voneinander zwei Bücher zur gestalttherapeutischen Gruppenarbeit mit Kindern präsentiert (Franck 1997; Rahm 1997). 1999 erschienen zwei Texte von Alain Badier und Felicitas Carroll im Handbuch der Gestalttherapie (Fuhr et al. 1999). 2002 legten Ingeborg und Volkmar Baulig ihre Praxis der Kindergestalttherapie vor, das erste gestalttherapeutische Grundlagenbuch im deutschsprachigen Raum, mit einem Einführungstext von Gordon Wheeler. 2006 erschienen (übersetzte) Beiträge von Ruella Frank und Sandra Cardoso-Zinker.

Alle im vorliegenden Band vertretenen Autorinnen arbeiten seit vielen Jahren sowohl in Institutionen als auch in eigener Praxis mit Kindern und Jugendlichen und zeigen sich in ihren Texten mit einem reichen praktischen Erfahrungsschatz sowie umfassender theoretischer Fundierung. Ihr breiter Gestalthintergrund wird in ihrer dialogischen Haltung, Beziehungsgestaltung, deren Reflexion sowie daraus resultierender Theorieentwicklung deutlich sichtbar.

Der inhaltliche Bogen der Beiträge reicht von entwicklungstheoretischen Überlegungen über Fallgeschichten mit unterschiedlichen Altersgruppen bis hin zur anschaulichen Darstellung gestaltspezifischer Techniken in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aus deren reichem Fundus hier berichtet wird.

Im ersten Teil des Bandes setzen sich Wolfgang Wirth und Nicolai Gruninger in umfassender Weise mit Gestaltliteratur vieler Jahrzehnte auseinander und extrahieren daraus entwicklungstheoretische Ansätze. Während Wirth mithilfe einer großen Fülle an Literaturmaterial einen Anstoß zur Suche nach eigenem Verständnis von Entwicklung gibt, stellt Gruninger in seinem Überblick eine Verbindung zwischen allgemeiner psychologischer Entwicklungstheorie und Ansätzen einer gestaltspezifischen Entwicklungstheorie her.

Agnes Salomon stellt das psychoanalytische Phasenmodell und die Piaget’schen Entwicklungsstufen in Beziehung zum gestalttherapeutischen Entwicklungskonzept sowohl der beiden Perls’ als auch jüngerer Arbeiten von Oaklander, Wheeler und McConville. Vor diesem Hintergrund stellt sie ihre Arbeit mit Säuglingen, Kleinkindern und deren Eltern dar.

Mit den veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren und damit, welche Auswirkungen dies auf ihre Entwicklung hat, befasst sich Thomas Schön in seinem Text. Er hält ein Plädoyer für Kindheit als zu schützenden Raum mit spezifischer Erlebens- und Ausdrucksweise und die Bedeutung dessen für die psychische Entwicklung.

Marc McConville stellt in seinem Beitrag das Lebensalter der Adoleszenz vor dem Hintergrund von Lewins Feldtheorie dar. Damit leitet er zum zweiten Teil des Bandes über, in dem die Umwelt-Feld-Perspektive beleuchtet wird.

Die Gestalttherapeutin Elke Rehm gibt gemeinsam mit dem systemischen Familientherapeuten Alain Schmitt einen umfassenden Literaturüberblick zur Settinggestaltung, reich illustriert durch Fallbeispiele.

Diese Illustration erfährt in einem zweiten Text eine Vertiefung, in dem Rehm die Psychotherapie mit einem ängstlichen Buben und seiner Familie vorstellt.

Von umfangreicher Literaturrecherche ausgehend reflektiert Manon Hansen die Bedeutung von Setting und Elternarbeit für den psychotherapeutischen Prozess mit einer Mutter mit Migrationshintergrund.

Barbara Mayer schildert in berührender Weise die herausragende Support-Funktion der Psychotherapeutin in der Arbeit mit einer Jugendlichen, die den Alltagsbelastungen durch einen psychisch kranken Elternteil ausgesetzt ist.

Im dritten Teil des Bandes kommen die Themen Trauma, Gewalt und Sucht zur Sprache.

Wolfgang Wirth widmet sich in seinem Grundlagentext der gestalttherapeutischen Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen.

Dieter Bongers schaut mit »loving eyes« auf gewaltbereite Jugendliche und beweist, wie viel Veränderung und Entwicklung durch das Eingehen einer engagierten Beziehung auch bei dieser schwierigen Klientel möglich ist.

Gerhard Hintenberger, Gestalt- und Integrativer Therapeut, erweitert den Bereich der aktuellen Themen um einen höchst informativen Beitrag über exzessives Computerspielen von Jugendlichen.

Im vierten und letzten Teil über spezifische gestalttherapeutische Techniken findet sich der Text von Hanna Fak, der die enorme Bedeutung der dialogischen Beziehung auch im psychotherapeutischen Spiel hervorhebt.

Weiters haben Volkmar und Inge Baulig 2006 den Kinderwelttest entwickelt, ein diagnostisches Verfahren, das – aus gestalttherapeutischer Arbeit heraus entstanden – von Volkmar Baulig in seinem Textbeitrag ausführlich erläutert wird.

Alain Schmitt erweitert die systemische Technik der Arbeit mit dem Familienbrett durch den Einsatz von Fingerpuppen zur Erlebnisaktivierung und Unterstützung des Ausdrucks von Kindern und Jugendlichen.

Im abschließenden Text von Rudolf Liedl finden wir die ausführliche Beschreibung des gestalttherapeutischen Sandspiels, das als Weiterentwicklung verschiedener bekannter Ansätze präsentiert und anhand lebendiger Fallbeispiele illustriert wird.

Dieser Überblick verdeutlicht den breiten Rahmen, innerhalb dessen Gestalttherapeutinnen sich mit Kindern und Jugendlichen befassen und eine eigenständige Spezialisierung entwickelt haben. Diese Spezialistinnen entlasten Eltern und Pädagoginnen und arbeiten oft in Helferteams zur Unterstützung der Entwicklungs- und Genesungsprozesse betroffener Familien und größerer Systeme.

Gerade in Zeiten, in denen der Individualismus (Wheeler 2006) und die Vereinzelung von Kindern und Jugendlichen kritisiert werden, liegt eine wichtige gesellschaftspolitische Antwort in der Förderung von Verbundenheit und Zugehörigkeit (Polster 2009). Diese muss erlernt und geübt werden. Gerade wenn Eltern und Lehrerinnen an ihre Grenzen stoßen, brauchen wir noch mehr Psychotherapeutinnen für die Kinder und Jugendlichen.

Die Gestalttherapie war ursprünglich vor allem eine Gruppentherapie, somit liegt es nahe, an diese Tradition anzuknüpfen und auch für Kinder und Jugendliche mehr entsprechende Angebote zu schaffen. Die flächen- und bedarfsdeckende psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen wie auch die Erwachsener lässt jedoch noch zu wünschen übrig.

Wir wünschen uns, dass die vorliegenden Texte orientieren, inspirieren und motivieren mögen, die Theorieentwicklung in der Gestalttherapie weiter voran zu treiben. Und auch, dass möglichst viele Kolleginnen die eine gestalttherapeutische Weiterbildung absolvieren,2 sich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu widmen und so dazu beitragen, die benötigte Grundversorgung mit zu sichern.

Mit Bedauern mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass wir zum Thema Sexualität und zu Gender keine Texte bekommen konnten.

Wir danken allen Autorinnen von ganzem Herzen.

Heide Anger / Thomas Schön

1. TeilDie Entwicklungsperspektive der Gestalttherapie

Entwicklungstheoretische Ansätze in der Gestalttherapie

Wolfgang Wirth

Entwicklungsbewegungen der Gestalttherapie

1. Implizite Entwicklungstheorien der Gestalttherapie

Menschliche Entwicklung ist ein vielschichtiger Prozess. Dieser Prozess kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Dieser Artikel ist eine subjektive Auswahl von Einflussthemen für eine gestalttherapeutische Entwicklungstheorie, die in einer Überblicksarbeit nur kursorisch betrachtet werden können. Innerhalb der Gestalttherapie sind unterschiedliche Entwicklungsvorstellungen in impliziter Form wirksam. Sie sollen im Folgenden exemplarisch herausgearbeitet und explizit gemacht werden. Im Anschluss wird ein an der aktuellen Entwicklungsforschung orientiertes Modell von Entwicklung vorgestellt. Darüber hinaus wird es jedoch notwendig sein, die Vielzahl an Entwicklungssträngen zu bündeln, um zu einer aktuellen gestalttherapeutischen Perspektive von Entwicklung zu gelangen.

1.1 Lore Perls

Entwicklung ist bei Lore Perls besonders durch das Kontakt-Support Modell geprägt (Votsmeier 2005, Amendt-Lyon 2005). »Kontakt ist nur möglich, wenn genug Stütze vorhanden ist und wir lernen uns selbst zu stützen (Amendt-Lyon 2005, S. 6)«. Laura Perls steht für ein eher auf Bindung und Verbindung (»Commitment«, Perls 1989) sowie ein sensibles Wechselspiel zwischen Kontakt und Stützung ausgerichtetes therapeutisches Vorgehen. Dieser Ansatz erscheint sehr vielversprechend innerhalb der Gestalttherapie, besonders für die Therapie mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Menschen, die Entwicklungstraumata erfahren haben. Ein weiteres Element entwicklungspsychologischen Denkens ist Lore Perls Betonung der »respons-ability«, der Fähigkeit, eine Reaktion oder Antwortbereitschaft auf spezifische Feldbedingungen herzustellen. Dieses Prinzip findet sich in Teilen im Konzept der Feinfühligkeit von Ainsworth wieder als wechselseitiges Antwortverhalten (Reziprozität). Wichtig ist auch Laura Perls Commitmentkonzept, das im Deutschen mit Bejahung, Verbindlichkeit, Verbundenheit und Gemeinschaftlichkeit beschrieben werden kann. Das Praktizieren von Commitment, von Gemeinsamkeit und Verbundenheit, ist das dialektische Gegenstück zu Fritz Perls’ Superautonomie, welches sich auch im realen Leben der Perls abbildete.

1.2 Fritz Perls

Perls veröffentlichte 1947 »Das Ich, der Hunger und die Aggression«. Es ist problematisch, dieses Werk Fritz Perls alleine zuzuschreiben, da Lore Perls in dem Film »Leben an der Grenze« (2005) ihren Anspruch auf Mitautorschaft deutlich gemacht hatte und äußerte, dass Fritz einige der von ihr ausgearbeiteten Kapitel und aufgezeichneten Kinderbeobachtungen verfertigte, ohne sie als Mitautorin zu nennen. Daher werden zumindest die Beobachtungen zur dentalen Aggression Lore Perls mit zugeschrieben. Die Perls (1947) betonen die gleichwertige Bedeutung des Hungertriebes für die Ich-Entwicklung des Kindes im Gegensatz zu der von Freud postulierten Dominanz des Genitaltriebes und der Libidotheorie. Die Perls (1947, S. 92) sind vor allem mit der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse beschäftigt und stellen in Abgrenzung zu Freud folgende Entwicklungsabfolge auf: Bereits im Fötus entwickle sich ein alimentäres und ein urogenitales System. Assimilation und Entleerung werden als normale, lustvolle Aktivitäten angesehen, die keiner weiteren sexuellen Aufladung bedürfen. Darüber hinaus stellen die Perls fest: »Eine Neurose (…) ist eine Störung der Entwicklung und der Anpassung. Neurosen sind das Ergebnis eines Konfliktes zwischen Organismus und Umwelt. Sie kritisieren die Verwendung des Libidobegriffs als aufgebläht, ungenau, vieldeutig in verschiedensten Kontexten.« (1947, S. 89) Die Perls schließen sich Rank (1924) an, wenn sie schreiben: »Die Geburt ist die ursprüngliche Trennung, die das Kind erleiden muss.« (1947, S. 94) Sie sehen das Kind z.B. im Spiel immer in einem Feldkontext: Ein Kind, das einen Löwen spielt, ist ein Löwe, und es kann von seinem Spiel so in Anspruch genommen sein, dass es wütend wird, wenn man es ins Alltagsleben zurückruft.

1.3 Paul Goodman

Paul Goodman haben wir vielleicht den wichtigsten Entwicklungsgedanken zu verdanken, nämlich das Streben nach dem Eigenen im Gegensatz zum Entfremdeten in einer entfremdeten Welt. »Das Heranwachsen erfordert wie jede andauernde Funktion angemessene Ziele in der Umwelt, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten des heranwachsenden Kindes, des Buben, des Jugendlichen und des jungen Mannes entsprechen, bis er selbst wählen und seine eigene Umwelt gestalten kann.« (Goodman 1960, S. 44) Bei der Suche nach dem Eigenen ist die kreative Selbstverwirklichung im Vordergrund und Hintergrund das treibende Motiv. Es sind das Herausfinden der inneren Wirklichkeit und die Entwicklung im ureigensten Sinne, die als ein Ausrollen des noch nicht geschriebenen Urtextes unserer Selbst, unserer Seele, der erst durch diesen Akt festgelegt wird, begriffen werden. Entwicklung ist in diesem Sinne der suchende und durch eine hohe emotionale Übereinstimmung gefundene Schritt in die eigene Gegenwart, Zukunft und Selbstbestimmung. Diese innere Stimmigkeit mit dem äußeren Tun kennzeichnet das Eigene. Es ist auch das Programm der Selbstverwirklichung, das hier inkorporiert ist, allerdings mehr in dem konzentrierten In-sich-Hineinspüren und Aus-sichheraus-Handeln. Dieses Handeln besteht bei Goodman in äußeren Aktivitäten, im Einfordern von gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die jeweilige Entwicklung des Eigenen ermöglichen und fördern. Dies wird auch in zahlreichen politischen Schriften Goodmans deutlich. In dem Konzept des Eigenen, der Selbstverwirklichung, dem Überwinden von Entfremdung und Selbstbestimmung ist allerdings immer auch der oder die andere/n mitgedacht. Dies sind die Gesellschaft oder die Familie, welche ihr Anderes wollen und dem Eigenen in die Quere kommen, bis hin zur weitgehenden Fremdbestimmung, bei der das Eigene gar nicht mehr gespürt, sondern vergessen wurde, und dieser Verlust nur noch in einer unterschwelligen stumpfen Unzufriedenheit wahrnehmbar bleibt. Das Eigene hat zwei Seiten. Introspektiv betrachtet ist es die Stimmigkeit mit den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen. Je höher diese Übereinstimmung, desto befriedigender ist für uns unsere Selbstverwirklichung. Von Außen betrachtet kann das Eigene – um einen Anschluss an die aktuelle akademische Entwicklungsforschung zu leisten – als eine stärkere Gewichtung der angeborenen, genetischen Faktoren angesehen werden. Je mehr wir, soweit dies aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, das wählen, was uns entspricht, desto stärker schaffen wir wiederum eine Entwicklungsumgebung für das, was uns entspricht. In gegenseitigem Wechselspiel differenzieren und entwickeln wir zunehmend das Eigene durch das Mitentwickeln und Co-Kreieren eines supportiven Feldes, welches wiederum uns mitentwickelt. Die impliziten Entwicklungsannahmen Goodmans über das Eigene können durch die aktuelle akademische Entwicklungsforschung bestätigt angesehen werden.

1.4 Der Entwicklungsbegriff bei Perls, Hefferline und Goodman

In Kapitel 1 »Die Struktur des Wachstums« formulieren Perls, Hefferline und Goodman:

»Die Kontaktgrenze ist das Organ einer Wachstumsbeziehung zwischen Organismus und Umwelt.« (PHG 2006, S.11)

»Der Organismus überlebt durch Assimilation des Neuen, durch Verwandlung und Wachstum. […] Auf der anderen Seite kann Kontakt nicht rein passiv aufnehmen oder sich lediglich dem neuen anpassen, denn das Neue muss assimiliert werden.« (PHG 2006, S. 12).

»Wachstum ist die Funktion der Kontaktgrenze im Organismus/Umwelt-Feld; durch schöpferische Anpassung, durch Verwandlung und Wachstum überleben die kompliziertesten organischen Einheiten in der größeren Einheit des Feldes.« (PHG 2006 S. 13)

Der Wachstumsbegriff hier ist ein Prozess, der sich analog dem Piagetschen Assimilations-Akkomodationsprozess als Äquilibrationsprozess bezeichnen lässt und damit ein wichtiges Bindeglied zur Theorie Piagets darstellt. Eine Verbindung aus Goodman-Rank’scher Künstler-Kreativität und Friedlaenders Vorstellung vom indifferenten, kreativen Nullpunkt wird in folgendem Zitat deutlich:

»[Das Gewahrsein des Künstlers im mittleren Modus] wächst der Lösung entgegen.« (PHG 2006 S. 29)

»Und genauso ist es bei Kindern: Ihre hellwache Wahrnehmung und ihr freies scheinbar zielloses Spiel lassen die Energie spontan fließen und so zu zauberhaft en Erfindungen gelangen. In beiden Fällen wirken als Sinnesantrieb die Integration, die Bejahung des Impulses und der wache Kontakt mit neuem Umweltmaterial, aus denen wertvolle Arbeit erwächst.« (PHG 2006 S. 30)

Dieser Wachstumsbegriff basiert zum einen auf dem Lewin’schen Feldkonzept mit seinen Aufforderungscharakteren, die im Zusammentreffen mit dem entwicklungsbereiten, forschungslustigen Kind dessen Entwicklung erst antreibt. Lewin hatte dies in seinem Film »Das Kind und die Welt« (1926) verdeutlicht. Zum anderen klingt hier auch über Goodman die Rank’sche Vorstellung vom Menschen als mit Willen ausgestattete Künstler und Schöpfer des eigenen Lebens durch (Rank 1932, Müller 2006). In dem explizit »Reifung« genannten Kapitel 5 (ebd., S. 77) wird der Entwicklungsbegriff etwas deutlicher.

»Wir haben gesehen, dass das Kind, wenn wir es als integrierenden Teil eines Feldes betrachten, von dem die Erwachsenen ein anderer Teil sind, nicht als hilflos bezeichnet werden kann. Wenn nun seine Kraft und Mitteilungsfähigkeit, seine Kenntnisse und Fertigkeiten wachsen, ändern sich bestimmte Funktionen, die der frühen Ganzheit angehörten zu Funktionen in einer neuen Ganzheit: Zum Beispiel entwickelt sich, sobald das Kind besser auf eigenen Füßen stehen kann, ein bewegungslenkendes Selbst, das man als Eigen-Selbst bezeichnen könnte, so dass Pflegefunktionen aus dem früheren Ganzen nun in vieler Hinsicht zu Selbstversorgungsfunktionen werden.1« (ebd. S. 86)

Und weiter:

»Mit dem Wachstum ändert sich das Feld von Organismus und Umwelt.« (ebd. S. 94)

Dies ist Feldtheorie und gestaltpsychologische Entwicklungsauffassung in Reinform, was auch von Lore Perls (1969) so bestätigt wird. In Kapitel 7 wird anhand der Sprache eine Entwicklungsreihe aufgestellt:

a) Präverbale Sozialbeziehung des Organismus,

b) Herausbildung einer Sprachpersönlichkeit im Organismus/Umweltfeld,

c) daran anschließende Beziehungen der Persönlichkeit zu anderen.

Dabei wird insbesondere die Aggression im positiven Sinne von »Herangehen« (ebd. S. 134) als eine Entwicklungsqualität angesehen.

»Jeder Organismus wächst in seinem Feld, indem er neue Stoffe in sich aufnimmt, sie verdaut und assimiliert, und dies erfordert ein Zerstören der ursprünglichen Form zu assimilierbaren Elementen … »(ebd. S. 133)

Und:

»Die Aggressionstriebe sind von den erotischen Trieben nicht wesensverschieden; es sind vielmehr verschiedene Wachstumsphasen, die sich in Auswählen, Zerstören und Assimilieren oder Genießen, Aufnehmen und Gleichgewichtfinden manifestieren.« (ebd. S. 144)

Eine ähnliche Formulierung wird auch im 10. Kapitel »Theorie des Selbst« verwendet: Der Organismus erhält sich nur, indem er wächst. Selbsterhaltung und Wachstum sind Pole auf einem Kontinuum, denn nur, was sich erhält, kann durch Assimilation wachsen, und nur, was immer wieder Neues assimiliert, kann sich erhalten, ohne zu degenerieren. Dies sind also die Stoffe und Energien des Wachstums: das konservative Bestreben des Organismus, zu bleiben, wie er ist, die neue Umwelt, die Zerstörung früherer Partialgleichgewichte und die Assimilation neuer Stoffe (ebd. S. 166 f.). Entwicklung kann nach Perls/ Hefferline/Goodman (PHG) in gestaltpsychologischem Sinne Goldstein’scher Prägung verstanden werden: Es finden Selbstorganisationsprozesse statt, wobei der Umschlag zu bestimmten emergierenden Organisationsstufen qualitativ erfolgt, analog dem Gestaltbildungsprozess oder dem produktiven Denken Wertheimers (1957).

2. Neuere Entwicklungsansätze in der Gestalttherapie

Die Gestalttherapie hat eine Reihe eigener entwicklungspsychologischer und kindertherapeutischer Modelle vorgelegt, besonders durch Violet Oaklander, und die Sammelbände The heart of development von Marc Conville und Gordon Wheeler, in denen eine Vielzahl von Gestalttherapeuten unterschiedliche Ansätze zur Gestalttherapie in der Kindheit (Bd. 1, 2001) und der Jugend (Bd. 2, 2002) beschrieben werden. In Deutschland wurde ein praxisorientiertes Werk von Ingeborg und Volkmar Baulig publiziert (EHP 2002). Im Handbuch für Gestalttherapie (1999) erschien ferner ein Artikel von Caroll (1999), ein an Ken Wilber orientiertes metatheoretisches Entwicklungsmodell von Fuhr (1999) sowie die Gruppentherapiearbeiten von Franck (1997 zit. nach Baulig 2002) und Rahm (1997 zit. nach Baulig 2002). Mullen (1991) verknüpft in seinem Beitrag die Gestalttherapie mit der konstruktiven Entwicklungspsychologie Piagets, Kohlbergs und Kegans. Auch Kenhofer (2012) hält die Entwicklungsannahmen Piagets als vereinbar mit der Gestalttherapie. Die Entwicklung der Kontaktfunktionen skizziert Salonia (1990) in Auseinandersetzung mit psychoanalytischer Entwicklungstheorie. Der phänomenologisch genau gefasste Kontaktzyklus kann ebenfalls als ein Wachstumskonzept angesehen werden. Die Erweiterung und Verbindung dieses Kontaktzyklus auf Entwicklungsaufgaben leistet Hartmann-Kottek (2004, S. 145 f.). Hartmann-Kottek schlägt dabei neun Wachstumsphasen eines erweiterten Kontaktkreises vor (a. a. O. S. 156), die sich paradigmatisch in Entwicklungsabläufen finden lassen. Für Entwicklungen unter Kriseneinfluss wird ein Wandlungskreis vorgeschlagen, der ebenfalls neun Stadien umfasst. Diese theoretische Orientierung am Kontaktzyklus als Wachstums- und Entwicklungsmodell wird anhand klinischer Beispiele verdeutlicht. Ihre empirische Überprüfung für eine entwicklungspsychologische Theoriebildung ist für genauere Beobachtungsstudien vorgesehen. Pauls (1994) verbindet das Entwicklungsmodell von Daniel Stern mit gestalttherapeutischen Überlegungen.

2.1 Violet Oaklander: Gestaltkindertherapie

Violet Oaklander beschreibt in ihrer 1978 fertig gestellten Dissertation im Fach Psychologie eine unglaublich reiche Fülle an Methoden und Techniken, um den Ausdruck der inneren Befindlichkeit ihrer jungen Klienten zu fördern sowie ihre Transformation. Ihre Arbeit ist unterstützend, Selbstwert steigernd und beinhaltet die Aneignung abgespaltener, verschütteter oder noch nicht entwickelter Anteile. Oaklander führt aus, dass die meisten Kinder, die Hilfe brauchen, eine Beeinträchtigung der Kontaktfunktionen aufweisen (Oaklander 1993 S. 78), häufig ein schwaches Selbstgefühl zeigten.

»Kinder drängt es zum Wachstum. Ist ihre natürliche Funktionsfähigkeit gestört, so werden sie zu irgendeinem Verhalten Zuflucht nehmen, von dem sie glauben, dass es ihnen hilft zu überleben.« (Oaklander 1993, S. 79)

Ein Ziel von Oaklander ist es, »das Selbstwertgefühl eines Kindes aufzubauen, seine Kontaktfunktionen zu stärken, und ihm ein neues Gefühl für die Sinne seines Körpers zu geben.« (Oaklander S. 809) »Indem also das Kind in der Therapie seine Sinne, seinen Körper, seine Gefühle neu erlebt, gewinnt es eine gesunde Haltung zum Leben zurück.« (ebd.) Oaklander setzt gestalttherapeutische Traumarbeit (ebd. S. 185) ein sowie die Leerer-Stuhl-Technik zur Klärung innerer Konflikte in Verbindung mit den topdog / underdog Polaritäten (ebd. S. 192 f.). Sie integriert auch Methoden anderer Schulenprovenienz wie die Sandkistentechnik der Jungianerin Margaret Lowenfeld (zit. nach Oaklander 1993, S. 210 f). Ihr Buch enthält auch eine Reihe von Falldarstellungen zur Therapie bestimmter Störungsbilder wie aggressiver, hyperaktiver, introvertierter Kinder, Kinder mit traumatischen Erfahrungen oder Einzelgänger. Zusammenfassend kann man sagen, Oaklander arbeite am Ausdruck und der Ausdrucksfähigkeit sowie an der Selbstunterstützung und dem Selbstgefühl. Sie geht von einem Entwicklungsmodell aus, das auf das von Goldstein übernommene Wachstumsmodell in Perls, Hefferline und Goodman (1992) aufbaut. Oaklander und Mortola (2011, S. 78, 108) beschreiben die wesentliche Struktur therapeutischer Erfahrung für Patienten in vier Schritten. 1. Zunächst wird eine Vorstellung davon geschaffen, was geschehen soll, eine imaginative Erfahrung z.B. durch Anweisungen wie: »Stell dir einen sicheren Ort vor.« 2. Für diese imaginative Erfahrung wird anschließend ein sinnlicher Ausdruck geschaffen, z.B.: »Male, was du dir vorgestellt hast.« 3. In einem dritten Schritt wird versucht, durch eine metaphorische Überleitung und Beschreibung diese Erfahrung noch stärker subjektiv anzubinden z.B. durch den Vorschlag: »Versuche, dieser sichere Ort zu sein.« 4. Schließlich wird durch die Frage nach der Bedeutung des Erlebten eine Übertragung auf die aktuelle Lebenssituation geleistet. Nach Mortola (2011 S. 145) werden durch die Anregung mittels der Sinne offene, unabgeschlossene Gestalten in den Vordergrund gehoben und werden so einer integrierenden Verarbeitung zugänglich.

2.2 Ruella Frank: Körper und Bewegung

Ruella Frank (2001) untersucht die frühkindliche Bewegungsentwicklung, die sie als Zentrum der gesamten Persönlichkeitsentwicklung versteht. Dabei greift sie besonders auf die Bewegungsstudien von Esther Thelen zurück. Thelen prägte den Begriff der Dynamischen Systemtheorie der Entwicklung (Developmental System Theory). Sie geht davon aus, dass die Bewegungsentwicklung unmittelbar die kognitive Entwicklung beeinflusst (Thelen 2000). Ruella Frank und Frances La Barre (2011) beschreiben auf der Grundlage von Kleinkindstudien Bewegungsentwicklung und ihren Einfluss auf die Gesamtentwicklung. Bewegungen werden als die ersten Ausdrucksformen, die erste Sprache eines Babys angesehen. Über die frühen Bewegungsmuster erfolgen die ersten kommunikativen Austauschprozesse und wird die erste Beziehung aufgebaut. Daher werden diese frühen Bewegungsmuster gewissermaßen als zentraler Bestandteil der Relationalität des Menschen verstanden. Die frühen Bewegungsinteraktionen formen jedes Individuum spezifisch.

»Wenn Eltern und Psychotherapeuten lernen zu beobachten, zu identifizieren und die primären Bezugspersonen diese Bewegungssprache verstehen und fördern, und die Bewegungen ihres Babys… ›anprobieren‹, lernen sie, wie ihre emotionale Resonanz und ihr Verstehen aus der aktuellen Teilhabe an bestimmten Bewegungen und Bewegungsqualitäten entsteht.«2 (ebd. S. 15)

»… diese Bewegungen und ihre Qualitäten vermitteln den Eltern, welche Bewegungen mit welchen Qualitäten und in welchen Dimensionen als Antwort benötigt werden.« (ebd.)

Frank beschreibt und führt die körperliche Basis unseres Organismus-Umweltverhältnisses detailliert aus (20013, 2006, 20111). Sie beschreibt sechs Grundbewegungsmuster, die sich aus drei Bewegungspaaren zusammensetzen (2011, S. 21). Das erste Bewegungspaar ist Nachgeben (yield) und Drücken (push). Das zweite Bewegungspaar besteht aus dem Sich-nach-etwas-Strecken (reach) und dem gezielten Ergreifen eines Gegenstandes (grasp). Das dritte Bewegungspaar schließlich stellt das Ziehen (pull) und sich Entspannen (release) dar. Diese Bewegungstypen sind natürlich immer ineinander verschränkt und daher theoretische Abstraktionen. Mittels dieser sechs Bewegungstypen kommuniziert das Baby mit seiner Umwelt. Sie sind Teil des dynamischen Organismus-Umweltfeldes, entstehen aus dem Organismus, aber auch aus seinen Beziehungen zu seiner Umwelt, besonders zu seinen Bezugspersonen, sie sind daher auch Teil und Ausdruck der Beziehung. Das jeweils typische Bewegungsmuster eines Kindes bleibt während der weiteren Entwicklung erhalten.

Es bestimmt auch die Interaktionen Erwachsener und hat damit einen hohen Einfluss auf die Gestaltung von Beziehungen und auch Partnerschaften.

»Ändert sich unsere Umgebung, spüren wir den Unterschied im Körper. Wenn wir einen gewissen Unterschied im Körper erleben, so subtil er auch sein mag, empfinden wir eine Veränderung in unserer Beziehung zur Umwelt. Es ist nicht möglich, sich getrennt von seiner Umwelt zu erkennen. Indem wir Bewegungen erleben, werden wir der Existenz der anderen vermittels unserer eigenen Reaktion, die wir merken gewahr.« (Frank 2006)

Frank nennt fünf Faktoren, welche die Assimilation von Neuem, aber auch die Offenheit zur schöpferischen Anpassung bei Babys und Therapiepatienten unterstützen. Frank beschreibt als ersten Faktor die fürsorgliche Präsenz der primären Bezugsperson, welche für eine ausreichend sichere Umgebung sorgt. Als zweite wichtige Einflussgröße wird die stützende Unterlage genannt, womit der Untergrund gemeint ist, auf dem der Säugling sitzt oder sich bewegt, und der erst durch ausreichenden psychischen und emotionalen Support für das Kleinkind zur Verfügung steht. Als dritter Entwicklungsfaktor wird eine ko-kreierte Aufgabe angesehen, bei der erst durch eine angemessene, nicht zu intensive und nicht zu schwache Stimulation durch die Umwelt das Baby mit eben dieser Umwelt in fließendem Austausch bleiben kann, ohne aus Überforderungsschutz den Kontakt abbrechen oder einschränken zu müssen. Als vierten Faktor beschreibt Frank den körperlichen Anspannungszustand, der erst in einem optimalen, ausgeglichenen Zustand ein Explorieren der Umgebung ermöglicht. Ist das Baby zu angespannt, wird es vielleicht leichter ängstlich, abwehrend oder vermeidend. Erregung, der es an Unterstützung mangelt, geht leicht in Angst über. Ist der Anspannungszustand und damit der Tonus zu niedrig, das Kind zu passiv, wird es wenig Aktivität zur Exploration seiner Umwelt entwickeln. Als fünfte Entwicklungsgröße wird schließlich eine flexible Antwortbereitschaft auf die Umgebung (»response-ability«, L. Perls 1990) aufgeführt. Sie beinhaltet ein dichtes, aufeinander abgestimmtes Wechselspiel von Körperbewegungen, besonders feinen Kopfbewegungen und Sinneswahrnehmungen.

2.3 Mark McConvilles Feldtheorie und die Entwicklung Jugendlicher

Die Ausführungen dieses Abschnitts sind eng an McConville (2001) angelehnt. McConville (2001) übersetzt die Theorie Lewins in gestalttherapeutische Begrifflichkeiten. Er entfaltet auf der Grundlage der Lewin’schen Feldtheorie ein gestalttherapeutisches Entwicklungsverständnis für Jugendliche. Zunächst stellt er die spezifische Lewin’sche Ausarbeitung der Lebensraumveränderung bei Jugendlichen dar (Lewin 1939). Die noch zu geringe Ausdifferenzierung des Lebensraumes wird zunehmend differenzierter. Verschiedene soziale Gruppeneinteilungen wie Punker, Gangsta, Rapper etc. führen zu einer Differenzierung des sozialen Lebensraums. Auch die Aktivitäten differenzieren sich in Sport, Schule, Familienleben, Wochenendpartys, Online-Rollenspiele, kirchliche Jugendgruppen, privates Fantasy-Leben, Theater, Liebesabenteuer etc. Das soziale Feld des Jugendlichen differenziert sich also in voneinander abgetrennte Teilbereiche aus. Gleichzeitig wird dadurch das Selbstgefühl des Jugendlichen differenzierter und in korrespondierende Teilbereiche strukturiert, da es die innere Entsprechung der Erfahrungen im äußeren Feld darstellt. McConville führte 1995 (zit. nach McConville 2001, S. 33) für diese Teilbereiche kongenial den Begriff der Selbstgestalt (»selfgestalt«) ein, der etwas an Selbstobjekte erinnert. Diese Selbstgestalten oder ausdifferenzierten Teilbereiche erlauben dem Jugendlichen, ein breiteres Repertoire von Persönlichkeitszügen und Kontaktfähigkeiten zu entwickeln. Ein Zeichen für die innere Strukturierung solcher Selbstgestalten ist die Emergenz, das Auftauchen von differenzierenden Polaritäten, sowohl im Feld als auch im Selbst des Jugendlichen (vgl. ebd.). In Polaritäten gegliederte Unterscheidungen tauchen auf, wie kindisch und erwachsen, männlich und weiblich, kooperativ und rebellisch, zielorientiert und verspielt usw. Diese inneren und äußeren Differenzierungen tragen zu einer stärkeren Innerlichkeit bei, dazu, Selbststrukturen zu festigen und stabilisieren. Der Zusammenhang zwischen innerer Erfahrung und äußerem Ausdruck beschäftigt viele Jugendliche. Zeigt sich mein Freund so, wie er wirklich ist? Kennen die anderen mein wahres Ich? Sowohl die Innenseite als auch die Außenseite sind Qualitäten innerhalb des gesamten Lebensraumes. McConville greift auf Lewin zurück, der die Bedeutung der Gliederung und Strukturierung des Lebensraumes betont, um Sicherheit zu erlangen. Je klarer differenziert die äußeren Bereiche sind, desto klarer sind die entsprechenden Selbstgestalten. Jugendliche verstehen die plötzlichen Wechsel in ihrem Verhalten häufig selbst nicht. In diesem Sinne kann die räumliche Gliederung des jugendlichen Bewusstseins direkt die Strukturierung und Gliederung seines Lebensraumes anzeigen. Je unabhängiger die Regionen des Feldes sind, desto eher kommt es zu Brüchen und zum Fehlen von Bewusstsein über sich selbst. Im Sinne Lewins sind diese Segmentierungen eine notwendige und gesunde Folge der Differenzierung und dadurch Entwicklung unseres Lebensraumes. Dies zeigt sich auch bei der Betrachtung des Lebensraumes eines Jugendlichen. Hier sind die mitwirkenden Personen schon stärker voneinander abgegrenzt als bei Kindern. So kennen z.B. die Eltern vielleicht gar nicht mehr alle Lehrer oder Freunde des Jugendlichen. Die innere Situation des Jugendlichen spiegelt sein soziales Feld wider. Ein Jugendlicher, der beispielsweise sein Wollen und Wünschen nicht integrieren kann, also einerseits seinen Wunsch nach schulischem Erfolg und andererseits den, eine Party besuchen zu wollen, lässt häufig Eltern ähnliche Probleme haben. Ein zentrales Entwicklungsprinzip Lewins ist die Differenzierung. Mit fortschreitender Erweiterung des Lebensraumes kommt es zur Ausdifferenzierung verschiedener äußerer und innerer Regionen. Falls diese Ausdifferenzierungen nur schwer integrierbar sind, können sie zu erheblichen psychischen Spannungen des Jugendlichen führen. In der Lewin’schen Terminologie wird die Art, wie einzelne Regionen zu einem Ganzen verbunden werden, mit »Organisation« bezeichnet. Die Organisation, also die Verbindung zwischen verschiedenen Regionen, kann in der Gestalttherapie mit dem Kontaktbegriff erfasst werden. Nach McConville ist durch dieses Verständnis des Kontaktkonzepts ein zentrales Entwicklungsanliegen der Gestalttherapie deutlich gemacht. In einer an Lewin orientierten Gestaltentwicklungstheorie ist nach McConville das Jugendalter durch die Strukturierungsprozesse des Ausfaltens des Verständnisfeldes gekennzeichnet. Diese Ausfaltungsprozesse vollziehen sich bei gleichzeitiger Destrukturierung der Kindheitseinheiten, und gehen mit einer Erweiterung und Differenzierung des Lebensraumes und einer Transformation der Abgrenzprozesse der einzelnen organisatorischen Einheiten des Feldes einher.

»In einem Prozess, der sowohl vorwärts als auch rückwärts abläuft, entwickelt sich das Feld der Kindheitserfahrungen aus einem Zustand verhältnismäßig hoher Einbettung (embeddedness) durch einen Ablösungsprozess (disembedding) der Differenzierung weiter zu einer Neuorganisation des Feldes.« (ebd. S. 38)

Dieser Entwicklungsprozess bedeutet in Gestaltsprache das Reifen und Auft auchen der Kontaktfähigkeit, das reife sich Einlassen der Person auf seine Umgebung (vgl. ebd.). Im Laufe dieser Entwicklung wird der dramatische Verlust des Zusammenhalts der Kindheit erlebt, der »Sturm und Drang« schneller und heftiger Zustandwechsel. Diese Wechselzustände resultieren aus der Veränderung innerer und äußerer Grenzen und damit verknüpft der wechselnden Bezogenheit auf andere. In der Kindheit besteht noch eine Einbettung mit relativ konfluenten, weichen Grenzen zwischen den einzelnen Teilen des äußeren und inneren Feldes. Dadurch formt das familiäre und kulturelle Umfeld das Kind. Im Laufe des Entwicklungsprozesses und der Ausweitung des Lebensraumes des Jugendalters kommt es zur Ablösung aus diesem konfluenten inneren und äußeren Kindheitsfeld. Während das Kind noch fließend und unabgegrenzt in seine Familie eingetaucht ist, dem Einfluss der Erwachsenenwelt offen zugänglich, sondert sich der Jugendliche ab, bezieht sich mehr auf Gleichaltrige, und baut differenzierende Grenzen innerhalb des Feldes auf. Erwachsene werden nun auf Abstand gehalten, und »private« Angelegenheiten werden nicht mehr mit den Eltern besprochen. Dies vollzieht sich auch im innerpsychischen Feld. In einem nicht so ausgereiften Feld stehen die einzelnen Teile in der Art einer einfachen Wechselbeziehung zueinander. Erst in einem weiter entwickelten Feld kommt es zu einer differenzierteren organisierteren Wechselbeziehung der einzelnen Regionen zueinander. Die Entwicklung vom einen Feldmodus zum anderen erfolgt über eine Ablösung (disembedding) aus dem eingebetteten Feld zum differenzierten Feld. McConville zitiert Parlett (1997), der feststellt, dass Veränderungen in einem Teil des Feldes auch Veränderungen in anderen Teilen nach sich ziehen. Daher kommt es durch gestalttherapeutische Experimente, die im Hier und Jetzt erlebt werden, zu Veränderungen in der gesamten Feldstruktur. Daher zielen gestalttherapeutische Experimente in das Kerngeschehen realer Veränderungs- und Entwicklungsprozesse. McConville zitiert Parlett (1997) weiter, dass solche Veränderungsprozesse als Voraussetzung ausreichenden Support im Feld benötigen, verbunden mit der Einladung oder Herausforderung, etwas anderes zu tun. »Größere Veränderungen benötigen eine besondere Art abgestimmten Support und Herausforderung im Feld« (Parlett 1997, S. 25, zit. nach McConville 2001).

2.4 Gordon Wheeler: Das Entwicklungsfeld

Wheeler (2002c) betont den Feldansatz der Gestalttherapie als grundlegend verschieden zur Mehrzahl der individuumszentrierten klinisch-psychologischen Ansätze. Er unterstreicht die bahnbrechende Leistung Goodmans, das Selbst nicht wie in der individuumsorientierten Perspektive als in der Person befindlich zu begreifen, sondern an der Außengrenze zu lokalisieren, im Kontakt- und Austauschprozess der Person mit ihrer Umwelt (S. 46). Das Selbst ist in diesem Sinne kein privates, inneres Selbst, sondern ein Ganzfeld-Selbst, etwas, das im Austausch und Kontakt zwischen der privaten und der geteilten Sphäre entsteht, etwas, das im Kontakt, in der »Erfahrung, bereits vorgegeben« ist (PHG, S. 58). Für Wheeler ist der Mensch von Anbeginn an beziehungsorientiert und entwickelt sich in engem Austausch mit anderen Menschen in einem Entwicklungsfeld, welches diese Austauschmöglichkeiten und Interaktionsprozesse bietet. Selbst und Beziehung werden als Erfahrungspole eines Figur-Grund-Verhältnisses angesehen, wobei jeweils die andere Seite den Grund für die jeweilige Figurbildung darstellt. Diese Verwobenheit wird von uns, wie Lewin dies bereits beobachtete, in bedeutungsvolle Einheiten organisiert. Entwicklung ist für Wheeler immer die Entwicklung des ganzen Feldes, nicht nur einzelner Teile oder einer Person im Feld. Die Bedürfnisse eines Neugeborenen oder die Anforderungen, die an das Baby gestellt werden, sind andere als die eines Schulkindes oder eines Jugendlichen. Die Eltern, Freunde, die soziale Umgebung entwickeln sich daher im Laufe der Zeit mit. Wheeler fokussiert in seinem Entwicklungs-Feld-Modell vier Entwicklungsbereiche, die im Folgenden vorgestellt werden.

1. Intersubjektivität und Intimität werden als erster Entwicklungsbereich gesehen. Menschen versuchen, das Feld, in dem sie sich befinden, zu erfassen, und eine Bedeutungsstruktur in ihm zu erkennen. Dieses Feld ist in erster Linie ein soziales Feld mit vielfältigen Beziehungen zu anderen Menschen. Wir versuchen in ständigen Figurbildungsprozessen eine Art Landkarte unseres Feldes zu konstruieren, die vor allem auch Zukunftsvorstellungen auf der Grundlage gemachter Erfahrungen mit einschließt. Unsere Mitakteure im Feld tun dies genauso, auch sie versuchen das Geschehen im Feld einzuschätzen, vorherzusagen und Risiken zu bewerten. Diese inneren Erfassungsprozesse sind dadurch entscheidender Bestandteil auch unseres Feldes. Es ist für uns wichtig, die Beweggründe des Anderen zu verstehen. Nach Wheeler lernen Kinder lernen dieses Verstehen durch intersubjektive Erfahrung. Als Beispiel für das Erlernen einer intersubjektiven Perspektive nennt Wheeler die frühe Ammensprache (Babytalk), bei welcher die Pflegeperson wechselseitig ihre eigene Position und dann wieder die des Babys übernimmt und für dieses spricht. Dabei versucht die Pflegeperson, das Baby auf der Grundlage von Mimik, Gestik, Körpersprache und Stimme zu verstehen. Dieses Verstandene wird benannt und dann eingesetzt. Der Erwachsene versucht, die innere Welt des Babys zu erfassen und auszudrücken. Durch diesen Austauschprozess wird eine erste intersubjektive Kompetenz vermittelt. Den Austausch über die eigene innere Welt, also meine innere Welt dem Anderen zu vermitteln und von der inneren Welt des Anderen zu erfahren, nennt Wheeler Intimität. Nur wenn das Beziehungsfeld Intimität beinhaltet, wenn Beziehungserfahrungen von Subjekt zu Subjekt stattfinden, kann sich auch Subjektivität entwickeln.

2. Support und Scham stellen den zweiten Entwicklungsbereich dar. In Entwicklungsmodellen, die auf eine betont autonome Entwicklung hin ausgerichtet sind von kindlicher Abhängigkeit zur erwachsenen Unabhängigkeit, ist Unterstützung mit Schwäche und Scham verbunden. Im Feldmodell, wo das Selbst als Organisator des ganzen Feldes gesehen wird, wird Unterstützung innerhalb und außerhalb der Selbstgrenze lokalisiert. Sie ist dann kein ›starker‹ Selbst- oder ›schwacher‹ Fremdsupport, sondern eine angemessene innere und äußere Elemente umfassende Unterstützung und Herausforderung zugleich. Auch hier entwickeln sich idealerweise das Feld und die Supportformen mit. Scham kann in diesem Fall als eine Abhängigkeit von und Verbundenheit mit dem Feld gesehen werden, wenn gleichzeitig die benötigte Wertschätzung oder eine andere Form von Support nicht erfolgt. Wenn eine wichtige Bezugsperson bestimmte Ausdrucksformen ablehnt und wenn das Kind, um die Beziehung zu erhalten, dann bei sich selbst diese Anteile auch ausblendet oder sogar ein anderes, nicht mit den eigenen Bedürfnissen verbundenes Verhalten aufbaut, entsteht nach Wheeler das, was Winnicott als »falsches Selbst« bezeichnete. In der Gestalttherapie wird das Selbst als dynamisches Geschehen an der Kontaktgrenze verstanden, also dem Kontakt zwischen einem inneren und äußeren Feldanteil. Feldtheoretisch wird dabei der innere Person-Pol vom äußeren Feld-Pol überwältigt. Dadurch wird Scham zum Schlüssel-Affekt und macht deutlich, wann die zentralen Selbstprozesse bedroht sind und nicht genügend Unterstützung erhalten. In einem Feldmodell erhält Scham die Rolle, welche die Signal-Angst in Freuds individualistischem Modell innehatte. Wheeler spricht in seinem Feld-Modell von der Signal-Scham4.

3. Gender und Identität stellen den dritten Entwicklungsbereich dar. Gender ist eines der stärksten Organisationsmuster, das in verschiedenen kulturellen Ausprägungen die jeweiligen Feldausrichtungen beeinflusst. Das sich entwickelnde Kind wird dadurch deutlich bestimmt: Welches Verhalten ist aufgrund der jeweiligen Geschlechtsrollenerwartungen erlaubt? Die Reaktionen des Feldes, der Bezugspersonen, sind sehr unterschiedlich gegenüber Jungen oder Mädchen. Das Feld, in das wir geboren werden, ist daher auch ein Gender-Feld. Auch die Gendergrenzen werden durch Schamprozesse ›bewacht‹, sind durch Schamgrenzen befestigt. Identität nach dem Motto, »Wer bin ich in mir und in der Welt«, wird stark durch Gender bestimmt.

4. Den vierten Bereich bildet die Entwicklung von Stimme und Narrativen. Das Selbst kann als eine bestimmte Perspektive innerhalb des Feldes angesehen werden. Durch das Erheben der eigenen Stimme wird dieser spezifische Gesichtspunkt innerhalb des Feldes deutlich. Damit die eigene Position Bedeutung und Wirkung entwickeln kann, bedarf es auch einer Person, die sie wahrnimmt, die zuhört. Die Wechselwirkung von Stimme erheben und gehört werden beginnt in der Kindheit, wo eine vorherrschende Abwesenheit eines bedeutsamen Zuhörers zu Verkümmerung und Schwächung des Selbst führt. Durch unser angeborenes Interesse für andere Menschen und unsere Einschätzungen des Verhaltens anderer, erhalten wir Wissen über das Feld, über unsere Position im Feld und über die Zeitpunkte, zu denen wir unsere Stimme am besten erheben. Die Bedeutung des Verhaltens anderer im Feld und die Bedeutung unseres eigenen Verhaltens zu erfassen und zu äußern bedeutet, Geschichten über uns und andere zu erzählen. Entwicklung bedeutete gemäß Wheeler daher auch ein kohärentes Narrativ, eine gute Gestalt des eigenen Lebens finden zu können.

3. Elemente einer Entwicklungstheorie der Gestalttherapie

Innerhalb der Gestalttherapie gibt es gegensätzliche – Kenhofer (2010) schreibt paradoxe – Positionen hinsichtlich einer eigenen Entwicklungstheorie. Laut Morss (2002) ist eine Entwicklungstheorie innerhalb der GT per se unmöglich aufgrund der phänomenologischen und prozessorientierten Haltung, die eine festschreibende Theorie verunmögliche bzw. umgekehrt eine festlegende Theorie würde dadurch die zentralen Positionen der Gestalttherapie verraten.

Neben der Ablehnung einer Entwicklungstheorie durch manche Gestalttherapeuten haben andere Vertreter der Gestalttherapie das Fehlen einer konsistenten gestalttherapeutischen Entwicklungslehre beklagt (Caroll 1999, Wheeler, 2002c, S. 39, Baulig 2002) und dies z. T. mit bestimmten fatalistischen Auffassungen über die Kindheit durch F. Perls erklärt (Wheeler 2002a, S. 12). Andere angeführten Argumente für das Fehlen einer gestalttherapeutischen Entwicklungslehre sind die höhere Wertschätzung von Spontaneität und offener Kreativität im Gegensatz zu rigider Reife sowie die Ablehnung eines kodifizierten, formalen oder schematisierten Modell durch Perls und Goodman zur damaligen Zeit (Wheeler 2002a, S. 13). Wichtig ist hierbei sicher auch, dass zu Beginn der Gestalttherapie nicht mit Kindern, sondern nur mit Erwachsenen gearbeitet wurde – Psychotherapie mit Kindern war zum damaligen Zeitpunkt eher noch selten. Die Gründer der Gestalttherapie, die ihre Therapie von einem reichhaltigen Hintergrund aus entwickelt hatten, ließen viele ihrer Voraussetzungen und Wurzeln in die Therapie einfließen, ohne dabei explizit auf entwicklungspsychologische Theoriebildung zu achten oder diese deutlich zu machen. Viele ihrer Erkenntnisse wurden vielmehr auf die therapeutische Praxis mit Erwachsenen hin gestaltet. Die Gestalttherapie erlaubte sich bisher nicht ausreichend, entwicklungspsychologische Vorstellungen, die dem gleichen fruchtbaren Boden erwuchsen, aus dem auch die Gestalttherapie selbst stammt, als die ihrigen zu erkennen, zu besetzen und zu integrieren.

Neurobiologische Faktoren

Was ist Entwicklung? Die Fassung des Entwicklungsbegriffes stellt immer auch eine wissenschaftstheoretische Positionierung dar. Es macht einen Unterschied, ob sich ein Pädagoge, ein Neurologe, ein Sportler oder Eltern Entwicklung vorstellen. Entwicklung ist stets eine Entwicklung zu etwas. Es gibt keine Notwendigkeit einer kontextfreien Entwicklung. Daher ist Entwicklung immer in den Kontext des sich zu Entwickelnden eingewoben. Wenn ein Mensch entsteht, ist einer der ersten wichtigsten und entscheidenden Überlebensschritte die biochemische Kommunikation zwischen der befruchteten Eizelle und der aufnehmenden, umgebenden Gebärmutter. Sehr früh beginnen sich verschiedene Bereiche zu spezialisieren, zu differenzieren und gleichzeitig miteinander in Verbindung zu treten. Zielgebiete für die Entwicklung und Verortung von Nervenzellen werden ausgegeben und die Nervenentwicklung bewegt sich in diese Richtung, während gleichzeitig in dem Zielgebiet verschiedene chemische Substanzen die ankommenden Neurone lenken und ihnen den richtigen Platz zuweisen. Menschliche Entwicklung ist als von Beginn auf Bewegung und Kommunikation mit der Umwelt, auf Differenzierung und Spezialisierung hin ausgerichtet.

Zeitfenster und sensible Phasen neurologischer Entwicklung

Entwicklung scheint von Anbeginn an zum einen die Bereithaltung genetisch vorskizzierter Möglichkeiten zu sein, die innerhalb eines zeitlichen Fensters im engen Wechselspiel zwischen Außenerfahrung und innerer Strukturierung jeweils höchst individuell, jedoch zugleich untrennbar verwoben mit dem umgebenden Feld konstruiert werden. Dieses umgebende Feld bestimmt die Entwicklung in einem so hohen Maße mit, dass Stern uns nicht als Besitzer unserer eigenen Seele (»mind«) beschreibt. Vielmehr vollzieht sich psychische Entwicklung in fortlaufenden Interaktionen und Dialogen mit anderen Seelen (Stern 2006 S. 30). Der Austausch und das sich Bedingen von Innen und Außen ist so absolut und tiefgreifend, dass Kinder ohne ausreichende äußere Bedingungen und Außenerfahrungen nicht Leben und Überleben können. Dies zeigen eine Reihe von unmenschlichen Beispielen, wie die schrecklichen Versuche Friedrich des Großen5, aber auch die Waisenhausstudien von René Spitz, bei der Babys, welche ihre Mutter verloren hatten und in Heimen ohne ausreichenden Ersatz aufwuchsen, wesentlich höhere Krankheits- und Sterblichkeitsraten aufwiesen. In diesem Bereich kann ein Kontinuum möglicher Entwicklung gedacht werden, bei dem auf der einen Seite eine gute feinfühlige Pflegeperson-Kind Beziehung mit ausreichend Liebe und Fürsorge eine gute Entwicklung ermöglicht. Auf der anderen Seite des Pols stehen Kinder, wie die erwähnten Waisenhauskinder, die eine völlig unzureichende Versorgung mit den wichtigsten zwischenmenschlichen Grunderfahrungen erleben mussten. Zwischen diesen beiden Extremen sind verschiedene Ausprägungen möglich, die sich auch in den verschiedenen Bindungsklassen widerspiegeln. Bei der neurologischen Entwicklung des Gehirns werden Möglichkeiten bereitgestellt, die in enger Abstimmung mit dem umgebenden Feld ausgebaut, vertieft und differenziert werden, oder die zurückgestellt oder gar aufgegeben werden. In den ersten Monaten und Jahren werden, wie mit einem reichhaltigen Füllhorn, weitaus mehr Neurone angelegt als benötigt. Wenn diese Nervenzellen Verwendung finden, kommt es zu einer immer dichteren Ausbildung synaptischer Verknüpfungen und dendritischer Verästelung. Verknüpft werden Gehirnregionen, die in funktionaler Einheit zueinander stehen und Verwendungsdurchläufe erfahren. Wenn bestimmte Gehirnregionen allerdings nach einer bestimmten Zeit nicht verwendet werden, werden ihre Neurone wieder abgebaut oder anderen Aufgaben zugeführt. Das heißt, durch erfahrungs- und umweltbestimmte Selektion differenzieren sich bestimmte Strukturen heraus. Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit Entwicklungsfragen hörgeschädigter Kinder. Bei der Hörentwicklung ist inzwischen klar, dass Kinder bereits im Mutterleib erstaunlich viele Merkmale und Qualitäten gesprochener Sprache wahrnehmen und sich sogar merken können. Neugeborene und nur einige Tage alte Babys bevorzugen die Mutterstimme (DeCasper & Fifer 1980) und können sogar Veränderungen von Texten, die ihnen ihre Mutter in den letzten Schwangerschaftswochen vorgelesen hat, unterscheiden. Bei den pränatal vorgelesenen Texten wurden postnatal einige Wörter ausgetauscht. Die Babys bevorzugten über eine raffinierte Steuerung mittels spezieller Schnuller, die bekannten Texte zu hören (DeCasper & Spence 1986). Klinke (1999) konnte in Tierversuchen zeigen, dass bei genetisch tauben jungen Kätzchen durch eine künstliche Innenohrprothese (eine Art Cochlea-Implantat) die entsprechenden kortikalen Areale, die fürs Hören zuständig sind, im Vergleich zu nicht implantierten Katzen enorm anwachsen und viele synaptische Verbindungen ausbilden. Bei gehörlosen Erwachsenen wurde mittels computertomografischer Untersuchungen festgestellt, dass die Regionen des akustischen Kortex andere Funktionen übernommen hatten. Es gab in den letzten 20 Jahren zahlreiche Versuche, auch erwachsenen Gehörlosen mittels Cochleaimplantaten wieder eine Hörfähigkeit zur Lautspracheerkennung zu vermitteln. Diese Bemühungen sind allesamt gescheitert. Es wurde erkannt, dass es zeitliche Fenster und sensible Phasen für die Entwicklung bestimmter Funktionen gibt. Wenn in diesen Phasen z.B. kein hörrelevanter äußerer Input stattfindet, wird kein Hören entwickelt. Die nicht für das Hören benötigten Gehirnregionen werden für andere Zwecke verwendet. Das Gehirn Gehörloser ist, unabhängig von der ohnehin bei jedem Menschen bestehenden Unterschiedlichkeit, völlig anders aufgebaut und eingeteilt als das von Hörenden. Der bei Hörenden für die akustische Verarbeitung verwendete Kortex wird bei Gehörlosen für völlig andere Aufgaben verwendet. Bei einem Input nach diesen sensiblen Phasen ist keine ausreichende Entwicklung der entsprechenden Gehirnregionen mehr möglich. Es können bei einer späteren Cochlea-Implantation zwar noch einzelne Töne gehört werden, aber die Erkennung von gesprochener Sprache bleibt unmöglich. Wenn die Erkenntnisse aus der Sinnesentwicklung auf die sozialemotionale Entwicklung übertragen werden, kann angenommen werden, dass es auch hier zeitliche Fenster gibt, in welchen bestimmte Funktionen ihren Entwicklungsprozess vollziehen müssen, um wirklich gut zu funktionieren. Dies scheinen auch die Ergebnisse langfristiger Entwicklungsverlaufsstudien zu bestätigen, bzw. die gravierenden Auswirkungen des Fehlens ausreichender sozial-emotionaler Entwicklungsbedingungen. Auch bei Kindern, die unter sozial-emotional deprivierten Bedingungen aufwachsen, kommt es trotzdem nie zu einem völligen Ausbleiben sozial-emotionaler Außenwirkungen, also sozialer Umweltreize. Dadurch ist vermutlich (und für uns Therapeuten hoffentlich) die Entwicklung des Gehirns nicht so absolut und unwiderruflich andersartig wie beim Fehlen von Höreindrücken bei völliger Taubheit. Die Bindungsforschung zeigt, dass stabile Repräsentationen negativer Außenbedingungen, nämlich unzureichende Bindungserfahrungen und Bindungsüberzeugungen, durch erneute längerfristige Erfahrungen, wie sie in beständigen Freundschaften, Partnerschaften oder therapeutischen Beziehungen gegeben sind, zumindest teilweise ›umgeschrieben‹ werden können. Umgekehrt können sich sichere Bindungen unter dem massiven Druck äußerst negativer Beziehungserfahrungen nachträglich wieder verschlechtern.

Beziehung und Fürsorge statt Veränderung

Doch machen die schlimmen Folgen fehlender Fürsorglichkeit deutlich, dass manche früh und extrem deprivierten Kinder möglicherweise nicht mehr ein vollständiges, sondern nur noch ein begrenzte Repertoire sozialer Kompetenzen nach innen und außen entwickeln können. Ihre neurologische Ausstattung, die Ausbildung und Vernetzung besonders präfrontaler Strukturen bleiben begrenzt. Philippson (2012) weist vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Arbeit mit vernachlässigten Kindern darauf hin, dass solche Kinder vor allem eine fürsorgende Beziehung benötigen, um erstmals Beziehungsfähigkeit und Erfahrungen von Beziehung zum Therapeuten und zu anderen zu entwickeln. Solche Kinder erleben diese Beziehungserfahrungen auf der Grundlage ihrer deprivierten, andersartigen neurologischen Struktur zunächst als emotional falsch, unnatürlich und unnütz. Philippson (2012) weist darauf hin, dass die paradoxe Theorie der Veränderung bei solchen zutiefst beziehungsgestörten Kindern einer Modifikation bedarf, da die paradoxe Theorie der Veränderung von einer funktionierenden neurologischen Fähigkeit ausgeht, bei der auf der Grundlage einer flexiblen organismischen Selbstregulation neue Wahrnehmungen und Beziehungen zur Umwelt aufgenommen werden können, der Klient also in der Lage ist, sich anders zu verhalten. (vgl. ebd. 2012)

Spiegelneurone

Bereits Wolfgang Köhler postulierte einen physiologischen Mechanismus, der Wahrgenommenes gleichzeitig in eigene neuronale Muster übersetzt bzw. vermittelt. Durch die Entdeckung der Spiegelneurone konnte diese gestaltpsychologische Annahme bestätigt werden.

Spiegelneurone sind Gehirnzellen, die bei beobachteten Tätigkeiten, Handlungen, Ereignissen, Mimiken, aktiv werden. Sie aktivieren gleichzeitig die entsprechenden eigenen motorischen Areale, sodass eine genaue körperliche Simulation des Gesehenen, Gehörten etc. im Körper abgespielt wird. Auf der Grundlage dieser Kopie des Zustandes des Anderen ist ein genaues Einfühlen möglich. Dies steht in Widerspruch zu einer bestimmten Akzentuierung der Gestalttherapie des späten Fritz Perls. Philippson (2012) führt aus, dass die besonders durch Fritz Perls betonte gestalttherapeutische Position, »ich kann nichts über dich wissen. Ich kann nur raten und projizieren. Nur du kannst über dich wissen«, ein Verbot von Interpretation darstellt, dass aber die neuropsychologische Forschung Belege bringt, dass wir mittels der Spiegelneurone doch einiges über den Anderen wissen können. Philippson weist des Weiteren darauf hin, dass es aufgrund der starken Bestimmung eines menschlichen Wesens durch das Feld, in dem er sich befindet, eigentlich erstaunlich ist, dass es überhaupt zu einem Erleben von Individualität kommt, wo ein Mensch sagen kann, »ich will dieses und nicht jenes« oder »ich glaube dieses und nicht jenes«. Dies sind nach Philippson Momente, in denen das Individuum definiert und bestimmt wird. Philippson zitiert Lewin mit »… das Selbst wird als Region innerhalb des ganzen Feldes erfahren.« Ernst Cassirer, ein wichtiger philosophischer Lehrer Lewins, meinte in diesem Zusammenhang, dass es eigentlich erstaunlich ist, dass wir überhaupt voneinander unterscheidbare Einzelheiten wahrnehmen können:

»Was uns im Gebiet des Bewusstseins empirisch wahrhaft bekannt und gegeben ist, sind niemals Einzelbestandteile, die sich sodann zu verschiedenen beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist stets bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich Kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern lässt. Die Frage kann hier niemals lauten, wie wir von den Teilen zum Ganzen, sondern wie wir von dem Ganzen zu den Teilen gelangen.« (Cassirer 1954, S. 445, zit. nach Philippson 2012).

Ordnungsstrukturen und Emergenz

Philippson (2012 S. 87) beschreibt (unter Rückgriff auf Kauff man 1995 und Prigogine & Stengers 1984 zit. nach Philippson 2012) das Auft auchen höherer Ordnungsgrade auf der Grundlage einfacherer Ordnungsstrukturen. Die höheren Ordnungsstrukturen gehorchen den Regeln der einfacheren Ordnungsstrukturen, lassen sich aber nicht auf diese reduzieren. Dies ist eine neuere Variante des aristotelischen Grundsatzes, »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile6«, der auch von Wertheim und Ehrenfels7 für die Gestaltpsychologie prägnant verwendet wurde. In der aktuellen entwicklungspsychologischen Diskussion wird diese Thematik unter dem Begriff der selbstorganisierenden Systeme oder der Emergenz von Entwicklungsprozessen (Holodinsky 2006, zit. nach Philippson) behandelt8. Auf die Neurologie übertragen schreibt Philippson mit Verweis auf Goldstein, dass ein bereits auf einer einfachen neuronalen Ebene zu sehr geschädigtes Gehirn auch nicht mehr seine höheren Funktionen zur Verfügung hat. Umgekehrt lässt sich aber die höhere Funktion eines Gedankens nicht auf das Funktionieren einzelner Neurone reduzieren (vgl. ebd.). Insgesamt bestätigen die aktuellen neuropsychologischen Forschungsergebnisse die zentralen Grundannahmen der Gestalttherapie in entwicklungstheoretischer Hinsicht weitgehend.

Neuropsychologische Entwicklungsprinzipien:

Als Bestätigung der Gestalttherapie gelten diese neuropsychologischen Erkenntnisse:

1. Der Mensch ist von Anbeginn an mit all seinen Sinnen auf andere Menschen bezogen.

2. Besonders für die Wahrnehmung emotionaler Qualitäten im Ausdruck anderer Menschen ist von Anbeginn eine spezialisierte neurophysiologische Grundausstattung gegeben.

3. Kontaktvollzüge verlaufen bereits bei Neugeborenen zyklisch – Aufmerksamkeitsprozesse und Wahrnehmungsverarbeitungsprozesse zeigen die Form der Kontaktkurve der Gestalttherapie.

4. Das Gehirns des menschlichen Organismus entwickelt sich im Einklang mit dem Umfeld und bildet es ab, entwickelt es aber auch mit.

5. Wenn ausreichende Strukturen differenziert und aufgebaut werden konnten, kommt es zu Emergenzprozessen, dem Auftauchen von Figuren, Gestalten auf einer nächsthöheren Entwicklungsebene.

Feldtheorie

Malcolm Parlett (2011, S. 54) fasst seine Sicht der Feldtheorie zusammen:

»The whole point of the field theory is to recognise the layered features of contexts, their complex and interrelated qualities, and how these are intimately related to individual and collective experiences.« Parlett gibt ein starkes Plädoyer für die Einnahme einer Feldperspektive ab (ebd.): »Self and field – those two central Gestalt concepts which admittedly are difficult to define, let alone measure are intertwined. We can still find ourselves, even as Gestalt specialists, being drawn into a more dualistic frame –splitting person from context, finding hard to hold both in a single frame, as unitary. We need to resist this tendency.«

Abb. 1: Feldtheoretische Veranschaulichung der Entwicklung

Kreative Selbstverwirklichung

Kinderspiel nach HPG (2006 S. 46/47) hebt sich durch eine konzentrierte Sinneswahrnehmung und spielerischen Umgang mit dem Material hervor, analog einer künstlerischen Tätigkeit. Darin beinhaltet sind die sensomotorische Integration, das Akzeptieren des Impulses und der aufmerksame Kontakt mit dem neuen Material der Umgebung. Sie finden im »mittleren Modus« statt. »Betrachten wir die erstaunliche Fähigkeit des Kindes beim Spiel zu halluzinieren«, schreiben HPG (S. 118) dazu. Die in der klassischen psychoanalytischen Stufentheorie der Entwicklung beschriebenen Themen können aus dem aktuellen gestalttherapeutischen Verständnis von Entwicklung als Selbstschaffung heraus als zu lösende Herausforderungen angesehen werden. Diese Lebensaufgaben können allerdings mit sehr unterschiedlicher Gewichtung angegangen werden. Dabei spielt die konstitutionell-biografischen Vorgeschichten, aber auch unterschiedliche Motiven, Wünschen und Bedürfnisse eine Rolle. Entwicklung ist daher immer eine kreative und höchst individuelle Begegnung mit der Umwelt.

Funktionsentwicklung

Menschliche Entwicklung wird verstanden als ein Prozess in zeitlichem Verlauf, der durch sehr individuelle Präferenzen geleitet wird. Diese stellen den anhaltenden Lebens- und Entwicklungswillen dar, der aus einem fortwährenden Wechselspiel von innerer und äußerer Berührung zum Aufbau von psychischen und physischen Funktionen und Strukturen führt.

Dieses Wechselspiel besteht aus Kontaktbewegungen zur Erschaffung, Erweiterung, Differenzierung des Körpers, des Gefühls, des Geistes und ihrer Möglichkeiten. Entwicklungsbewegungen können als sich erweiternde konzentrische Kreisbewegungen dargestellt werden (am Beispiel Funktionsentwicklung Abbildung 2).

Den von Stern (2007) als Kernselbst bezeichneten psychischen Ursprungs- oder Ausgangspunkt der menschlichen Entwicklung würde ich in gestalttherapeutischem Sinne noch stärker als Antrieb und Schöpfer seiner eigenen Entwicklung ansehen. Die Entwicklung ist vor allem zu Beginn auf eine spezifische Weise von der Umwelt abhängig. Die Möglichkeiten der Kommunikation mit der Umwelt sind dabei sehr unterschiedlich. Aber auch die Umwelt und Pflegepersonen gehen sehr unterschiedlich auf die ersten Kommunikationsversuche des Babys ein. Ein Baby kann also das Glück haben und Pflegepersonen, mit denen es sich gut austauschen kann, die seine Bedürfnisse und seine Anliegen verstehen. Andere Kinder haben dieses Glück nicht, und wachsen in einer Umwelt auf, mit der es immer wieder Missverständnisse gibt. Dadurch stehen sowohl die innere als auch die äußere Seite eines Feld-Selbsts in ungenügendem und wenig förderlichen Austausch miteinander. In diesem Fall können Entwicklungsstörungen mit höherer Wahrscheinlichkeit entstehen. Die Umweltabhängigkeit von der zufällig gegebenen kommunikativen Kompetenz der Organismus-Umwelt-Partner nimmt mit zunehmender Autonomieentwicklung ab. Der erwachsene Mensch kann sich schließlich, weitgehend seine eigene, seinen Präferenzen entsprechende Umwelt zusammenstellen, soweit die sozialen und politischen Umstände dies zulassen. Vorausgesetzt, er konnte ausreichende Kommunikationserfahrungen machen und lernen, seine Bedürfnisse innerhalb seines jeweiligen Feldes kreativ mit dem der Umwelt auszutauschen. Die hohe Abhängigkeit vom Kommunikationserfolg mit der Umwelt setzt erst mit der Geburt ein. Vor der Geburt erfolgt die Bedürfnisbefriedung des heranwachsenden kleinen Menschen sozusagen von selbst, das Brauchen, das Wollen und das Wünschen laufen noch ohne Kommunikation ab. Der Wechsel aus diesem Reich vollendeter Bedürfnisbefriedigung hinüber in die Welt ungewisser und häufig mangelhafter Bedürfnisbefriedigung nennt Rank das Trauma der Geburt. Den Wunsch, diesen Urzustand wieder herzustellen, hält er für den Ausgangspunkt schöpferischen Schaffens.

Abb. 2: Erweiternde Funktionsentwicklung aus der einzelnen Personperspektive

Die erste Grunderfahrung des ungeborenen Kindes ist, zu sein, zu leben. Die Grunderfahrung des geborenen Säuglings ist ebenfalls, zu sein, leben und atmen. Ausgehend vom lebendigen Sein folgt die zweite Grunderfahrung: Berührung. Berührung findet bereits im Mutterleib statt. Es ist das umspült und berührt Werden von Fruchtwasser und Gebärmutter. Beim Neugeborenen kommt es zum ersten berührt Werden durch andere Menschen. Die dritte Grunderfahrung ist Bewegung. Auch dies geschieht sowohl vorgeburtlich als Eigenbewegungen und passives bewegt werden durch die Bewegungsrythmen der Mutter als auch nachgeburtlich. Auf diese Berührungs-Bewegungserfahrungen folgt vorgeburtlich das Hören. Bereits ab der 17 Woche können Geräusche den Embryo stimulieren oder stressen (Wirth 2012). Das Hören begleitet die Geburt so wie das Fühlen, Schmecken und Spüren von Bewegung, Rhythmus und Gleichgewicht und stellt ein prä-/postnatales sensorisches Kontinuum her. Die Bewegungsentwicklung des Säuglings verläuft in zwei Wellen. Zum einen in der des Erlangens, Greifens, der körperlich und Bewegung gewordenen Sehnsucht nach den Dingen, die voller Neugierde begriffen, befühlt, beschmeckt und beleckt werden wollen. Diese Sehnsucht mündet in immer stärkere Bewegungsanstrengungen und Willensanspannungen, die schließlich dazu führen, den zuvor immobilen Körper selbst in größerem Maße in Bewegung zu setzen und sich fortzubewegen. Fort von dem einen und hin zum anderen. Dies bringt das Thema der räumlichen Trennung und ihrer damit verbundenen Gefahren auf und fordert Sicherungsbemühungen von beiden Seiten.

Ausgangspunkt der Entwicklung ist ein Kernselbst, für dessen Konzeption zum einen auf die philosophischen Vorstellungen von Salmo Friedlaender zurückgegriffen wird. Friedlaenders Vorstellungen sind auch in die Gestalttherapie eingeflossen, Perls nannte Friedlaender seinen ersten Guru. Friedlaender greift auf Nietzsches Willensvorstellungen zurück. Er konzipiert den schöpferischen Akt als Willensakt. Auch Otto Rank (1932) verweist in seiner Theorie des Schöpferischen Handelns auf Nietzsches Willensakt. Friedlaender sieht darüber hinaus den Ursprungspunkt allen Denkens in der vorpolaren, vordialektischen Undifferenziertheit, im Nullpunkt zwischen möglichen Differenzierungen bzw. an dem Punkt, wo diese Differenzierungen noch aufgehoben sind, noch zusammen sind (Frambach, 1996). Die Vorstellung von Entwicklung als Differenzierung findet sich auch bei Lewin. Wenn diese von Friedlaender geistig-philosophisch gedachte Entwicklungstheorie durch Lewin aber auch für die gesamte Entwicklung postulierte Theorie mit der akademischen Entwicklungsforschung verglichen wird, ergibt sich eine erstaunliche und passende Übereinstimmung. Alle Entwicklung wird als Differenzierung begriffen. Die Theoriebildungen in der Kleinkindforschung in den letzten Jahrzehnten laufen in diese Richtung.