Gestern und morgen - Michael Maniura - E-Book

Gestern und morgen E-Book

Michael Maniura

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Beschreibung

Michael Maniuras Novellen sind dem magischen Realismus zuzuordnen, einer postmodernen Form der Fantasy. Sie spielen nicht auf fiktiven Planeten in einer unbestimmbaren Ära, sondern ganz bieder auf der Erde, die hin und wieder ihre Faust ballt, um den Mikroben auf ihrer Oberfläche, die sich in maßloser Selbstüberschätzung als Herren der Schöpfung wähnen, unmissverständlich zu zeigen, wer die wahre Herrin im Haus ist.

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Inhaltsverzeichnis

Kraftort

Feuerring

Eine einsame Station

Ein Planet birst

Eine untergegangene Zivilisation

Die Affenkönigin

Der Besessene

Das Gespenst

Die Vermählung

Der Stammbaum

Die Fackel

Der Sarkophag

Main und Dein

Digitale Flut

Geistergast

Der Stockholm-Kurier

Sammelsurium

Die kürzestmögliche Erzählung

Poltergeist

Autor versus Lektor

Fairy Tale

Die drei Stufen der menschlichen Entwicklung

Alles, was es schon gibt, wenn der Mensch die Weltbühne betritt, ist normal und gehört zum täglichen Leben.

Alles, was zwischen seinem 15. und seinem 35. Lebensjahr erfunden wird, akzeptiert er begeistert und nutzt es, denn es erhöht den Komfort.

Alles, was nach seinem 35. Lebensjahr erfunden wird, widersetzt sich der natürlichen Ordnung und ist jugendgefährdend.

D.N.A. (Douglas Noel Adams) 1999

Kraftort

Folgender seltsamer Bericht wurde in einem modernen, luftdicht verschlossenen Behältnis von einer Spaziergängerin in der Nähe des Weilers Hänner gefunden, in dessen Nähe einmal ein künstlich angelegter Kanal vorbeiführte, der, soweit sich das heute nach schwerwiegenden menschlichen Eingriffen in Form von intensiver landschaftlicher Nutzung, dem Bau von Straßen und Höfen und umfassenden Rodungsarbeiten rekonstruieren lässt, von Hottingen über Hänner führte und westlich von Laufenburg in den Rhein mündete. Über die Entstehungsgeschichte existieren zwei Theorien: Rudolf Metz vermutete, dass die Kanäle, einst Wuhren genannt, zur Zeit der klösterlichen Besiedlung zum Zweck angelegt wurden, Hammerschmieden und Schmelzöfen anzutreiben. Für Johann Vetter war das hingegen nicht schlüssig, denn warum sollten die Betreiber solcher Einrichtungen eigens Fließgewässer durch Regionen wie den trockenen Berauer Sporn graben, während andere reichlich mit natürlichen Bächen gesegnet waren. Für ihn war deshalb klar, dass nur die Römer mit ihrer genialen Baukunst als Schöpfer in Frage kommen. Allein das stete Gefälle der Hänner Wuhr von 5‰ einzuhalten war anders als durch den Einsatz des von Vitruv entwickelten Chorobats nicht möglich.

Die verbleibende Frage, warum im Hotzenwald häufig Flurnamen auftauchen, die Heide wie Heidenschanze, Heidenmühle oder Heidentor als Attribut tragen, würde sich durch den im erwähnten luftdicht verschlossenen Behältnis deponierten Bericht einer Lösung nähern, wollte die Geschichtsforschung ihm Wohlwollen schenken. Er ist jedoch völlig unglaubwürdig. Dass die Forensiker das Alter des Funds mit 3000 Jahren ermittelten, ist angesichts der modernen Büroausstattung, aus dem er besteht, lächerlich. Leider ließ sich keiner der sogenannten Wissenschaftler dazu herab, die fragwürdigen Erkenntnisse ihrer Kollegen zu widerlegen. Auffällig ist, dass die Papiere mit Winberg Wohlgemuth-Schreck unterzeichnet sind, ein biederer Versicherungsangestellter, der tatsächlich vor einigen Jahren spurlos verschwand. Die naheliegendste Erklärung ist, dass der Mann unter Hinterlassung eines Fakes untergetaucht ist. Der Vorfall mit dem vorgefundenen schwerverletzten Mann ist indes aktenkundig.

1

Jeder Versuch, mich an besondere Umstände zu erinnern, scheiterte. Besondere Umstände, die dazu geführt haben könnten, mich den endlosen Traum zum ersten Mal träumen zu lassen. Ein Mittwoch war es gewesen, die Nacht von einem Mittwoch zum Donnerstag, mitten in der Woche und mitten in einer mittelmäßig stressigen Phase, nämlich den ultimativen Vorbereitungen zum Jahresabschluss.

Ich war in einer großen Versicherung beschäftigt, in der mir wichtige Funktionen der Buchhaltung oblagen. Während des Einschlafens wälzte ich Gedanken, wie gewisse Fehlbuchungen des vergangenen Geschäftsjahrs dem Finanzamt gegenüber am besten zu erklären wären, als ich mich durch einen dichten Wald stapfen wähnte. Ich sah an mir hinunter und stellte erstaunt fest, dass ich in eine Art Fell gekleidet war. Wie für einem Traum typisch war ich mir gewisser realer Dinge bewusst, während andere, ebenfalls wichtige, in einer Mischung von Wissen und Unwissen durcheinandergingen. Ich wusste, dass ich zu der Versammlung meines Stammes einbestellt war, weil ein fehlbares Mitglied vom Thinggericht abgeurteilt werden sollte, aber ich wusste weder, aus welchen Personen mein Stamm überhaupt bestand, noch, wo sich die Lichtung befand, auf der die Gerichtsverhandlung anberaumt war.

Ratlos sah ich mich um. Ein dichter Buchenwald wölbte sich über mich, von dem ich wusste, dass meine Heimat, der Hotzenwald, vor mehreren hundert Jahren ein solcher gewesen war, bevor die menschliche Forstwirtschaft daraus eine Fichten-Monokultur geschaffen hatte. Ich sah mich um und freute mich an seiner naturbelassenen Umgebung, durch die merkwürdigerweise ein gangbarer Pfad lief. Meine Leute haben sich natürlich eine eigene Infrastruktur geschaffen, dachte ich, nicht vergleichbar mit der heutigen, aber mit Steinkreisen, aufeinandergetürmten Monolithen und Bewässerungsgräben sinnvoll gestaltet.

Ich überlegte, welches Jahr wohl gerade geschrieben würde – natürlich keines vor oder nach Christi Geburt, denn die Kelten, denen ich angehörte, wussten von diesem Ereignis nichts. Ich wusste hingegen, dass der Süd- oder Hochschwarzwald vor der Ankunft der christlichen Franken unbewohnt war. Stein- und Keltenzeit hatte mangels Bewohner nicht stattgefunden und auch Römer und Alemannen hatten das Mittelgebirge gemieden, weil es angeblich zu düster und rau war, um für Besiedelungszwecke brauchbar zu sein. Unsinn! Als der in den Südtiroler Alpen gefundene Ötzi vor 5000 Jahren lebte, lag die Baumgrenze ungefähr 500 Meter höher als heute, und wenn sogar die Alpen problemlos zu besiedeln waren, war es der Schwarzwald umso mehr. Ich erinnerte mich an eine unangenehme Schulstunde in der gymnasialen Oberstufe, als ich die festgefügten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die der Lehrer verkündete, offen anzweifelte. Ich war streng gemaßregelt worden und hatte eine schlechte Note erhalten. Danach wurde mir klar, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zwar genauso wenig unumstößlich wie philosophische sind, aber es besser ist, das für sich zu behalten. Es gibt keine gründlichere Gesinnungsdiktatur als die altgediente Schule von hoheitlichen Gnaden.

Nachdenklich richtete ich mich auf. Ich hatte die Decke zurückgeschlagen und lag nicht in Tierfellen, sondern im Pyjama in meinem Bett, wie es sich gehörte. Ein Blick auf den Wecker belehrte mich, dass dieser in zehn Minuten klingeln würde. Ich stellte ihn auf ‚aus‘ und erhob mich. Während ich mich im Bad tagfertig machte, Kaffee kochte und mich zum Frühstück hinsetzte, ging mir der merkwürdige, überrealistische Traum nicht aus dem Sinn. Normalerweise bleiben Fetzen von nächtlichen Halluzinationen einige Sekunden im Wachzustand, bevor sie sich auf Nimmerwiedersehen davonmachen, aber sich im Wald in Fellen herumstapfen sah ich mich noch in der Straßenbahn auf dem Weg ins Büro.

Während der ersten Stunde hatte ich größte Mühe, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber nach und nach gewann die Macht der Gewohnheit wieder die Oberhand. Als ich mich in den Feierabend verabschiedete, tat ich das mit dem befriedigenden Gefühl, dass mir im dienstlichen Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen, in der Kaffee- und der Mittagspause und bei Zwischenbemerkungen auf dem Flur keine Abweichungen vom Alltagstrott anzumerken gewesen waren.

Kaum dem Trubel des Feierabendverkehrs entronnen, holte mich die Erinnerung wieder ein und der Gang durch den prähistorischen Buchenwald stand mir vor Augen, als wäre ich gerade davon heimgekommen. Zwischen Menschen hatte die Erinnerung an ihn so gut wie keine Macht über mich gehabt, aber hier, allein zwischen meinen vier Wänden, während ich mich beglückwünschte, dass ich tagsüber nicht abgerutscht war, stellte ich fest, dass ich mich nicht auf einem Designersofa des 21. Jahrhunderts herumfläzte, sondern auf einer Strohmatte in einer primitiven Hütte.

Im Türrahmen stand Waldemar, der Stammeshäuptling. „Schäm‘ dich, Winberg! Es ist längst hell und du solltest dich längst auf der Pirsch nach feindlichen Spähern befinden“, polterte er. Wie für einen rohen Gesellen mit einem gorillaartigen Brustkorb angemessen, erfolgte dieser Rüffel keineswegs in den wiedergegebenen gesetzten Worten, sondern in beinahe unartikuliertem Gebrüll.

„Beruhig‘ dich, Waldemar“, knurrte ich zurück, „gestern war ich den ganzen Tag unterwegs, bin weit gekommen und hab‘ eine Pause verdient.“ Zu meiner Überraschung klangen meine Worte genauso ungeschliffen wie die meines Häuptlings.

Waldemar wandte sich ab, immer noch hadernd. „Na schön. Jetzt heb‘ aber langsam deinen Arsch hoch, damit es voran geht.“

Ich tat wie mir geheißen und empfand beinahe Geborgenheitsgefühl, denn der Satz hätte auch Bürojargon sein können. Draußen begab ich mich zunächst zu der öffentlichen Toilette, das heißt einem dicken Baumstamm, Donnerbalken genannt, auf den sich die Männer setzen konnten, um ihre Fäkalien loszuwerden. Für die Frauen war eine ähnliche Einrichtung am anderen Ende des Dorfs angelegt. Ich wusch meine Hände im nahen Bachlauf und versuchte auch eine oberflächliche Reinigung meines übrigen Körpers, bevor ich in den Kreis der versammelten Krieger trat, um mich am gemeinsamen Frühstück zu beteiligen. Frauen, von denen ich wusste, dass mir bisher keine zugeteilt worden war, bedienten uns Männer, wenn wir einer Handreichung begehrten, und blieben ansonsten unsichtbar.

Waldemar verteilte kauend und schmatzend die Einsatzbefehle. „Winberg“, sagte er, als ich an der Reihe war, „du machst weiter, wo du gestern aufgehört hast. Wir wollen das Hänner Wuhr bis zum großen Fluss durchbrechen und das, ohne auf feindliche Stämme zu stoßen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als den Lauf durch unwegsames Gelände zu bahnen.“

„Alles klar, Waldemar. Ich glaube, ich habe gestern eine Trasse gefunden.“

„Sehr gut.“ Waldemars schlechte Laune vom Wecken war wie weggeblasen. Er war gewohnt, sich mit seinen Fäusten durchzusetzen, aber er wusste, was er an seinem Ingenieur hatte, und behandelte ihn – das heißt mich – normalerweise anständig.

Ich sah mich um. Kelten kannten bereits Steinhäuser, aber das hier war nur ein vorübergehendes Biwak und bestand deshalb aus primitiven Holzhütten. Die Frauen waren damit beschäftigt, Hirse zu stampfen, um daraus in Glutnestern bis zum Abend Brot zu backen, während die Männer ihren diversen, vor allem kriegerischen Beschäftigungen nachgingen. Der Unglückliche, den unser Thinggericht vorige Woche zum Tod durch Mückenfraß verurteilt hatten und der deshalb straff an einem Pfahl über dem nahegelegenen Brackwasser angebunden gewesen war, hatte es endlich geschafft, in die Anderswelt überzugehen, wo ihn die Götter nochmals bestrafen oder begnadigen würden. Ich war von der zweiten Variante überzeugt, denn ich war keineswegs von der Schuld des Angeklagten überzeugt gewesen, Lebensmittel gestohlen zu haben. Außer mir hatten sich – wie üblich, bin ich zu sagen geneigt – nur Edgar und Bernhard für einen Freispruch stark gemacht, aber wenn Waldemar sich einmal in einen Sachverhalt verbissen hat, ist er schwer davon zu überzeugen, nochmals darüber nachzudenken. Unsere häufigen interschiedlichen Ansichten sind ein weiterer Grund, warum er mir gegenüber häufig grantig ist. „Du bist viel zu weich, Winberg“, pflegte er sich in die Brust zu werfen, „du solltest besser mit den Frauen unsere Hirse stampfen.“ Bräuchte er mich nicht dringend für gewisse technische Arbeiten, ginge es mir im Stamm vermutlich miserabel.

Ich steckte mein Messer in das Halfter und war für den Tag gerüstet. Dann begab ich mich mit meinen zwei Helfern auf den Weg, der zunächst 1½ Stunden währte, bis wir auf die Stelle stießen, an der wir gestern unsere Arbeit unterbrochen hatten. Ich schiebe an dieser Stelle ein, dass die Kelten die 24-Stunden-Einteilung des Tages nicht kannten und auch nicht die klassische Monatseinteilung, die Cäsar in seinem julianischen Kalender festgelegt hatte. Sie wussten allerdings sehr genau, wann die Winter- und Sommersonnenwende und die Tag-und-Nachtgleichen waren, denn dieses Wissen ist eklatant wichtig für die Planung von Aussaat und Ernte, Jagd und auch eigene Fortpflanzung, denn wie das Wild seine Brunft-, Niederkunfts- und Ruhezeiten auslebt, waren damals auch die Menschen gezwungen, sich im Einklang mit der Natur zu verhalten. Immerhin vermochten sie bereits seit urdenklicher Vorzeit ein Feuer zu entfachen und die Nacht auf diese Weise wenigstens ein bisschen zum Tag zu machen. Um beim Tag zu bleiben: Im Interesse des Verständnisses werde ich im Folgenden die Begrifflichkeiten des 21. Jahrhunderts beibehalten. Das gilt nicht nur für die Zeit-, sondern auch für die Entfernungsangaben.

Zweier Helfer bedurfte es, denn das sechs Meter lange und einen Meter hohe Ding, das Vitruv dereinst Chorobat nennen würde, war zur Behandlung durch eine Person zu schwer und unhandlich. Zwei Ständer mit quergestellten Füßen erlauben, es beim Drehen genau dort wiederaufzusetzen, wo die vorausgehende Messung geendet hatte. Dadurch ist es möglich, eine schnurgerade Messlinie durch die Landschaft zu ziehen. Als maximales Gefälle hatte ich 5‰ bestimmt, die ich dadurch erzielte, dass ich in die Längslatte einen Schlitz geschnitzt hatte, dessen Inhalt auf der einen Seite bis zur Oberkante reichte, wenn ich ihn mit Wasser füllte, während auf der anderen haarscharf der Grund trocken war. Auf die zusätzliche Einrichtung eines Senkbleis hatte ich verzichtet. Für unsere eisenzeitlichen Zwecke genügte die beschriebene Vorrichtung nicht nur, sondern sicherte unserem Stamm auch die technische Überlegenheit über alle Nachbarn. In der Bezeichnung Chorobat stecken übrigens die lateinischen Wortteile für Raum/ Grund/Boden und messen/gehen/schreiten. Das berührte uns Kelten jedoch nicht, denen sowieso jedes Interesse abging, allem und jedem einen Namen zu verleihen oder Schriftliches zu hinterlassen. Deshalb ist es – im Gegensatz zur römischen Kultur – sehr schwierig, Jahrtausende später gewisse Dinge zu erklären.

Dass ich dieses Ding – den Chorobat – entwickelt hatte, sicherte mir im Stamm jene Anerkennung zu, die ich auf Grund meiner eher geringen Körperkräfte auf übliche Weise nie und nimmer hätte erringen können. Dass ich die Konstruktion seltsamen Träumen abgekupfert hatte, die mir Einsicht in Entwicklungen späterer Jahrhunderte oder Jahrtausende gewährten, hatte ich wohlweislich verschwiegen. Ich hätte deutlich wirksamere Techniken in die Vergangenheit überführen können, hätten mich nicht mangelnde Ressourcen daran gehindert. Ich empfand das als sehr schmerzlich. Immerhin hatten meine Stammesbrüder sich Metall nutzbar zu machen gewusst. Über die Steinzeit waren wir folglich hinaus. Immerhin.

Tat sich ein Hindernis auf, das höher als fünf Meter und deshalb nicht mit vertretbarem Aufwand zu beseitigen war, mussten wir es umgehen. Spätere Zeiten würden vermuten, dass die Wuhre mangels technischer Fähigkeiten den topografischen Gegebenheiten folgen und hätten mit dieser Vermutung auch Recht.

Bis zum Wintereinbruch hatten wir es geschafft, die Trasse des Wuhrs fertigzustellen und ihn durch Anzapfen von Quellen in ein Fließgewässer zu verwandeln. Nunmehr konnte sich der Stamm einen Standort suchen, der sich für eine befestigte Siedlung eignete, und beginnen, Steinhäuser zu errichten. Mir und meinen Gehilfen oblag es weiterhin, den Wuhr zu betreuen, denn ein Wasserlauf mit geringem Gefälle, das heißt geringer Fließgeschwindigkeit, setzt sich gern mit Schwemmmaterial zu. Dazu neigen die sommerliche Verkrautung und der herbstliche Laubregen, den Bachlauf zu behindern. Nur vor Vereisung brauchten wir Kelten uns nicht zu fürchten, denn 1000 vor Christus lief eine ausgesprochene Warmzeit aus, in der Frost und Schnee unbekannt waren.

1000 vor Christus. Lag ich mit dieser Vermutung richtig? Ich näherte mich der Hauptquelle unseres Wuhrs und betrachtete sie nachdenklich. In der keltischen Mythologie ist eine Quelle der Übergangsort zwischen dem diesseitigen und einem anderen Dasein, das in der Anderswelt abläuft. Zwischen beiden Welten ist mehrfacher zwangloser Wechsel möglich. Anderswelt? Ich hatte eine recht genaue Vorstellung, wie diese aussah. Ich blickte in das sprudelnde Nass und es verschwamm vor meinen Augen.

2

Ich erwachte voll angekleidet auf meinem Designersofa. War ich vor dem Fernseher eingeschlafen? Nein, denn das Gerät stand auf stand by, wie ich mich vergewisserte, nachdem ich aufgestanden war. Ich hatte intensiv geträumt, so intensiv, dass gefühlt Monate vergangen waren, seit ich aus dem Büro heimgekehrt war. War das tatsächlich der Fall? Erschrocken eilte ich ins Bad und betrachtete mich im Spiegel. Zweifellos ich, aber …? Irgendwie wirkte mein Gesicht markanter als ich es in Erinnerung hatte und auch Brustkorb und Oberarme hatten erheblich zugenommen, und zwar nicht an Fett-, sondern an Muskelmasse. War ich tatsächlich während des ganzen Sommers mit einem Keltenstamm unterwegs gewesen? Ich sah auf mein Smartphone. Nein, es waren nur zwei Stunden vergangen, seit ich mich auf mein Sofa zum Ausruhen niedergelassen hatte. Ob ich biologisch während der beiden diesseitigen Stunden mehrere Monate gealtert war? Ich sah keine Möglichkeit, das festzustellen, und schaltete seufzend den Fernseher ein.

Als ich am nächsten Morgen ein Hemd überzog, spannte es unangenehm an den Schultern – das Sweatshirt gestern Abend war weit genug gewesen, um eine Oberkörper-Volumenerweiterung unbemerkt wegzustecken. Ich betrat mein Büro und sagte jovial „Gottseidank, endlich Freitag“, um etwas zu sagen. Zu meiner Verblüffung musterte mich meine Kollegin Gudrun intensiv.

„Is‘ was?“ fragte ich. Wir pflegten miteinander ein neutrales Verhältnis und ihr Starren bestätige mir, was mir selbst zu Hause im Spiegel aufgefallen war.

„Warst du im Fitnesszentrum?“

„Ab und zu gehe ich dorthin. Ist das schlimm?“

„Natürlich nicht. Aber es scheint endlich Erfolge nach sich zu ziehen.“

„Na hoffentlich.“

Gudrun saß mir gegenüber und schaute mir plötzlich in die Augen, als wolle sie mich hypnotisieren. „Männer besuchen solche Etablissements gern, weil sie die einzigen legalen Möglichkeiten zum Spannen bieten. Ich meine, der Frau am Gerät vor ihnen zuzuschauen, wie sie ihre Muskeln bewegt und die idealerweise keinen Trainingsanzug, sondern nur ein knappes Sporthöschen und ein Leibchen trägt.“

„Und du hältst mich für so jemanden?“

„Bisher nicht, denn ich wusste ja von nichts. Du hast geschickt verheimlicht, dass du überhaupt Fitnesszentren frequentierst. Nun hast du innerhalb einer Nacht beträchtlich an Männlichkeit gewonnen. Verrätst du mir den Zauberort?“

Ich nannte so beiläufig, wie mir möglich war, irgendein bekanntes Studio und unterstrich meine Auskunft mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Ich glaube, du hast mich heute zum ersten Mal seit Langem bewusst angeguckt.“

Gudrun senkte den Kopf. „Mag sein. Die Veränderung kam mir aber so auffällig vor, dass mich wundert, sie nicht bereits vorher bemerkt zu haben. Naja, was soll’s.“

Den Rest des Tages überstand ich im normalen Büromodus, bemerkte aber, dass mich heute andere Kolleginnen und erstaunlicherweise auch Kollegen anschauten, als sähen sie mich zum ersten Mal. Ich war erleichtert, als es ins Wochenende ging. Mein Singledasein würde mir lästige Erklärungen abzugeben ersparen. Notwendige Einkäufe erledigte ich ausnahmsweise in einem entfernt liegenden Supermarkt, in dem mich keiner kannte.

Am Samstag und Sonntag geschah nichts Erwähnenswertes. Im Lauf der folgenden Wochen gewöhnten sich alle an den ‚neuen‘ Winberg und ich sonnte mich in der Hoffnung, dass der komische Endlostraum vorüber wäre, denn etwas anderes als einen Traum anzunehmen verbot sich von selbst. Meinen Muskel- und Kraftzuwachs erklärte ich mit unbewussten Übungen, die ich schlafwandelnd vollzogen hatte. Eine angreifbare Erklärung, aber eine bessere fiel mir nicht ein. Um nicht der Unwahrheit bezichtigt zu werden, erwarb ich ein Abonnement in dem Fitnessstudio, das ich Gudrun genannt hatte, und nahm dort ein regelmäßiges ernsthaftes Training auf.

Ein Nebeneffekt war, dass sich Gudrun für mich zu interessieren begann. In den Jahren, während denen wir bereits zusammenarbeiteten, war mir nie bewusst geworden, dass sie ebenso wie ich ein Singledasein führte, und wenn, hatte ich den Gedanken damit abgetan, dass ihr dieser Zustand offenbar behagte. Nun gab sie immer öfter der Hoffnung Ausdruck, die Kaffeepause in meiner Gesellschaft verbringen zu dürfen, und brachte Vorschläge für ein gemeinsames Abendessen ein. Eines Tages war es soweit, dass ich zustimmte.

Das Gespräch im Anschluss an den Nachtisch führte ich verhalten. Häufig hatte ich bisher angenommen, bei einer Frau Chancen zu haben, und war prompt aufgelaufen. Ich war unsicher, wie ich bei Gudrun herausfinden könnte, was sie für mich empfand, das über ein Anstoßen mit dem Weinglas hinausging. Sie war auf eine gewisse herbe Art attraktiv; ich erwischte mich dabei, sie in meine Traum-Keltenzeit zu projizieren, weil ich ihr Auftreten dort als passend empfunden hätte.

„Hast du Lust, mit mir übers Wochenende in den Hotzenwald zu fahren, Gudrun?“

„Zum Wandern?“

„Das bleibt nicht aus. Ich möchte einem Wuhr folgen, nämlich dem Hänner Wuhr.“

„Dem was?“

„Dem Hänner Wuhr. Ein Wuhr oder eine Wuhre ist ein prähistorischer Kanal aus unbestimmter Zeit, von denen etliche bis heute im Süd- oder Hochschwarzwald existieren, natürlich längst außer Betrieb, verlandet oder modern überbaut.“

„Stammen die nicht von den Mönchen zur Zeit der Erstbesiedelung zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert?“

„Das wird behauptet beziehungsweise ist gültige Geschichtsschreibung. Das ändert aber nichts daran, dass diese Erklärung unlogisch ist.“

Gudrun lachte. „Oje, ich habe einen Verschwörungstheoretiker vor mir. Na, dann stapf‘ mal deine Dingsbumswuhre ab. Ich wünsche dir dabei viel Erfolg.“

Beinahe atmete ich auf, denn das wäre geklärt. In Gudrun würde ich keinen Keim des Zweifels zu säen schaffen, ob nicht gewisse wissenschaftliche Erkenntnisse gar nicht wissenschaftlich unterfüttert sind, sondern seit alters her von der Kirche als Wahrheit festgelegt werden. Folglich würde ich allein den Zerstörungen nachgehen, die das bilderstürmende Christentum während der Zeit seiner Ausbreitung verursacht hatte.

Wir beendeten unser opulentes Mahl mit ein paar Gemeinplätzen und verabschiedeten uns. Ich ließ es bei einem „tschüss“ bewenden und schritt zu meinem fahrbaren Untersatz, ohne mich nochmals umzudrehen. Mochte Gudrun denken, was sie wollte. Vermutlich hatte ich Absichten in ihren Vorschlag des gemeinsamen Abends hineininterpretiert, die jeder Grundlage entbehrten. Als gebranntes Kind hätte ich mir das denken müssen.

Im Gegensatz zu einer modernen Großstadt, in der das längerfristige Abstellen eines Autos zu einem Geduldsspiel wird, das zu gewinnen vielfach unmöglich ist, bieten Wohnstraßen in einem Dorf wie Hottingen keinerlei Parkprobleme. Mein einheimisches Kennzeichen würde verhindern, dass ich Neugierde weckte. Der näher am Ziel gelegene Weiler Hänner war tabu, weil er sich in Privatbesitz befindet.

Ab einer Wegkreuzung östlich von Rickenbach wird die bis dahin Hennemattstraße genannte L155 plötzlich zur Hohlgasse und bleibt das auch bis Hottingen. Dort überwindet sie die Anhöhe Hoheneck, von der aus ein Waldweg beginnt, der wiederum an einem Punkt namens Schloss unvermittelt in einen mit Wackersteinen gepflasterten Abschnitt übergeht. Er war zweifellos im 18. Jahrhundert ein Kohlenweg, das heißt er diente dem Transport von Holzkohle. Das schließt natürlich eine frühere Nutzung nicht aus. Die wird dadurch umso überzeugender, dass er unmittelbar zum Hänner Wuhr führt, einem jener mysteriösen Hangkanäle, die angeblich Mönche im Mittelalter aus nicht nachvollziehbarem Anlass mitten durch den Wald schlugen.

Da stand ich nun am Rand des mysteriösen Wasserlaufs. Der Hänner Wuhr ist von den drei großen des Hotzenwaldes mit 11,5 Kilometern Länge der kürzeste; der Heidenwuhr bringt es auf 14 und der Hochsaler Wuhr auf 19 Kilometer. Nichtsdestoweniger war ich auf mein Werk stolz, der als Hohlweg leicht identifizierbar ist, obwohl von Wasserlauf kaum mehr die Rede sein kann, vor allem im jetzigen Spätsommer nicht. Erstaunlich, dachte ich, wie genau all‘ die keltischen Anlagen trotz der beharrlichen Weigerung kartographiert wurden, ihre Urheber beim Namen zu nennen.

Immer wieder liefen Rinnsale von links und rechts dem Wuhr zu. Manche, die tröpfchenweise Wasser führten, machten dieser Bezeichnung ein wenig Ehre, manche hingegen gar nicht, weil sie vollständig ausgetrocknet und kaum wahrzunehmen waren. Bei einem, den zu erkennen dank seines üppigen Füllstandes keine Fantasie nötig war, bog ich ab. Ob hier die Quelle zu finden war, in die ich …?

3

Ich blickte immer noch wie einst Narziss in den wirbelnden Spiegel. Endlich hob ich meinen Schädel, schüttelte ihn und sah mich um. Uhren gab es nicht und Smartphones erst recht nicht, auf deren Display die Uhrzeit aufdringlich in großen Lettern prangt. Am unveränderten Sonnenstand sah ich indes, dass nur wenige Sekunden vergangen sein konnten, seit ich mich selbst vergessen hatte.

Ich wusste, dass mich eine beachtliche Distanz von meinem Dorf trennte, und begab mich sogleich auf den Weg. Unterwegs stürmten allerlei Gedanken auf mich ein, die in eine brauchbare Struktur zu überführen mir jedoch nicht gelang.

Ich war nicht mehr weit von meinem Zuhause entfernt, als ich rechts von mir ein Geräusch vernahm. Ein Naturbursche ist ohne weiteres imstande, animalische von menschlichen Ursachen zu unterscheiden. Eine bestimmte Art, wie ein Zweig knackt, entspringt ausschließlich menschlicher Ungeschicktheit.

Aus einem Reflex heraus erstarrte ich beinahe und hielt die Luft an. Ich sah durch das lichte Gehölz den Schatten einer aufrecht gehenden Gestalt. Das konnte doch nur …? Ich duckte mich, tauchte förmlich ab und versuchte mich anzuschleichen. Die Gestalt schien keine Sorge zu hegen, ertappt zu werden, denn ihr Oberkörper ging mit einem Schnaufen, dem keine Versuche, es zu unterdrücken, anzumerken war, immer wieder auf und nieder. Ich stellte fest, dass sie dabei war, eine Grube auszuheben, um … Ja, zu welchem Zweck eigentlich? Wollte sie etwa eine Leiche darin versenken?

Neben der atemberaubenden Erkenntnis, um wen es sich bei der Gestalt handelte, war es der Haufen Lebensmittel, der, neben der Grube aufgehäuft, seinem Verschwinden harrte. Gepökeltes Fleisch überdauert Jahre und bleibt dabei genießbar – zumindest für eisenzeitliche Ansprüche – und getrockneter Fisch und Dörrgemüse ebenso. Es handelte sich um jene Streitobjekte, für deren Entwenden vor einem halben Jahr mein Freund Ewald von Waldemar zum Tode durch Mückenfraß verurteilt worden war. Und jetzt war es Waldemar, unser Häuptling, der nunmehr genau diese Streitobjekte an einem geheimen, bisher nur ihm bekannten Ort vergrub.

Einen ersten Impuls, aufzuspringen und dem Kerl mein Messer in den Rücken zu rammen, widerstand ich, denn mir war klar, dass es sinnvoller wäre, meine Entdeckung im Thingkreis vorzubringen und eine offizielle Verurteilung Waldemars zu erwirken. Keine Sekunde plagten mich Zweifel, dass das, was ich gerade entstehen sah, aus keinem legalen und vom Stamm abgesegneten Grund geschah.

Es würde eine Weile dauern, bis Waldemar fertig wäre, sodass ich mich gezwungen sah, mich unerkannt zurück zu schleichen und zu tun, als hätte ich nichts bemerkt. Zum Glück ging Waldemar so lautstark mit seiner Schaufel und seinem Schnaufen zu Werke, dass ich mich nicht sonderlich anzustrengen brauchte, um das zu bewerkstelligen.

Beinahe pfeifend bog ich auf den Hauptzugang unseres Dorfs ein und näherte mich ihm. Freudig sah ich, wie Schmied, Schuhmacher, Bäcker, Händler und Wirt fröhlich und entspannt ihren Arbeiten nachgingen, und setzte mich an eine der Holzkoben, die für die rauen Gesellen, wie wir sie repräsentierten, gerade recht waren. „Ein Met?“ fragte Sigurd, der Wirt.

„Gern. Ein großes.“ Seltsam, dachte ich, aus meinem Wissen des

21. Jahrhunderts schöpfend, wie es alle Völker der Erde – von Grönland über den Äquator bis Feuerland – verstanden, aus jedwelchen zur Verfügung stehenden Früchten und zur Not aus Waltran alkoholische Getränke zu gären. Das keltische Met mochte als Bier durchgehen, fiel aber im Vergleich mit modernen, gekühlten Gerstensäften hoffnungslos ab. Ich erinnerte mich, dass ich einmal in Dänemark nach einer längeren Besichtigungstour in einem zu einem Schloss gehörigen Schankgarten auf der Getränkekarte horrend teures ‚Original-Wikinger-Met‘ gefunden und in meiner Euphorie und aus meinem Durst heraus gleich zwei Gläser angefordert hatte. Die Bedienung hatte mich ungläubig angesehen und „wirklich?“ oder „ist das Ihr Ernst?“ oder so etwas gefragt, mir dann aber das Gewünschte gebracht. Nach dem ersten Schluck hatte ich gewusst: Niemand in der Geschichte der Menschheit hatte von diesem Zeug jemals ein zweites Glas bestellt.

Auch in der Eisenzeit nicht? Ich sah prüfend in meinen Steingutkrug. Gut, das ‚Zeug‘ wirkte ein wenig breiig, war von Schwebstoffen durchsetzt und von gekühlt galt es höchstens zu träumen, aber für 1000 vor Christus – ich hatte mich mit dem Gedanken angefreundet, in dieser Ära gestrandet zu sein – war es völlig in Ordnung. So wie ich eine merkwürdig gutturale Sprache verstand und von mir gab, war auch mein Geschmackssinn völlig umgebildet. Weshalb ich mich bei meinem zweiten kräftigen Zug beinahe verschluckte, war nicht dem Met anzulasten. Über den Weg am Gasthaus vorbei stolzierte eine Frau, die mir bekannt vorkam.

Gudrun.

Oberflächlich kannte ich alle Dorfbewohner, aber das beschränkte sich weitgehend auf die Männer. Die Frauen blieben normalerweise in ihren Häusern und verließen sie nur zur Essenszubereitung im Freien davor, sofern das Wetter es zuließ, oder zum Einkaufen. Sicher, auch die Frauen hatte ich alle irgendwann einmal gesehen, aber es war in Anbetracht kampfbereiter Ehemänner ratsam, sie nicht allzu scharf anzuschauen. Und die noch nicht Vergebenen wurden von ihren Eltern, vor allem ihren Müttern eifersüchtig bewacht.

Was war mit Gudrun?

Als hätte auch sie eine Erinnerung an eine Anderswelt, blieb sie stehen und schaute mich an. „Gudrun?“ fragte ich schüchtern. „Ja?“

Sie hieß tatsächlich Gudrun! Und sie antwortete offenherzig: „Bist du Winberg?“

„Bin ich. Woher kennst du mich?“

Gudrun lachte. „Dich kennt doch jeder im Dorf. Dank deiner Arbeit konnten wir uns hier ansiedeln und ein genussvolles Dasein beginnen. Viel interessanter erscheint mir die Frage, woher du mich kennst?“

Ich wand mich etwas und entschloss mich, zumindest zur Hälfte die Wahrheit einzugestehen. „Du weißt doch von der Anderswelt?“

„Sicher. Es gibt angeblich Leute, die in der Lage sind, sie jederzeit zu betreten und wieder zu verlassen.“

„Du sagst angeblich. Du glaubt also nicht daran?“

„Ich selbst habe zwar einen Kontakt dorthin, zu einer Art Schwester, aber selbst den Übertritt bisher nicht geschafft und bin auch keinem begegnet, der das geschafft hätte.“

„Dann sieh‘ mich an.“

Das tat sie in atemberaubend ähnlicher Weise wie meine Kollegin am Schreibtisch mir gegenüber. Dann fragte sie: „Du warst einmal ‚drüben‘?“

„Es ist eher umgekehrt“, erwiderte ich, „ich komme von ‚drüben‘ und bin hier sozusagen nur Gast.“

„Dafür scheint dir unser Bier hier gut zu schmecken.“ Das Pragmatische der Frau hatte in ihr rasch die Oberhand gewonnen. Längst hatte sie sich zu mir gesetzt und ich forderte Sigurd auf, auch ihr ein Maß zu bringen. Ob der Bezahlung beruhigte ich ihn, dass ich die Zeche übernehmen würde, denn bei den Kelten ist Frauen der Besitz von eigenem Geld untersagt. Sigurd sah mich ein wenig komisch an, äußerte sich jedoch weiter nicht und trug einen zweiten gefüllten Krug auf. „Ich gehe davon aus, dass du es auch magst.“

„Ja.“ Nicht nur das; Gudrun hatte einen Zug, als wolle sie ihren Rückstand auf mich schleunigst aufholen.

Da wurde unsere traute Zweisamkeit grob gestört. Waldemar kam den Dorfpfad entlang, sah uns und steuerte gradlinig auf mich zu. „So ist das“, brüllte er, „sich an die Witwe des Diebes ’ranmachen und sie verführen. Das hast du dir schön ausgedacht, du Geck. Ein bisschen technische Kenntnisse und schon glaubst du, dir alles herausnehmen zu dürfen. Aber ich werde dich vor Gericht stellen und verurteilen. Es sind schon wieder Vorräte gestohlen worden und ich glaube zu wissen, wer der Dieb ist. Das nächste Gericht sieht dich auf der Anklagebank, darauf kannst du dich verlassen!“

Mir schwoll die Stirn und ich erhob mich langsam. Gudruns Versuche, mich zurückzuhalten, beschied ich ablehnend. Waldemar war ein riesiger, vierschrötiger Kerl, aber einige Tricks aus dem

21. Jahrhundert hatte ich zur Not auf Lager. Und das Wissen, wer der wahre Dieb war. Das gedachte ich aber vorerst nicht preiszugeben. „Gut“, sagte ich, „einverstanden. Ich bin mir keiner Schuld bewusst und mit einer erwachsenen Frau in der Öffentlichkeit ein Bier zu trinken ist nichts Verbotenes. Ungewöhnlich, aber nicht verboten. Ich bin gespannt, was du dir aus den Fingern saugen wirst, um mich genauso zu eliminieren wie den Mann der bedauernswerten Witwe hier. Ich versichere dir, dass ich eine Antwort wissen werde.“

Waldemar ballte die Faust, als wolle er mich gleich pulverisieren. Ich aktivierte im Geist einige Griffe asiatischer Kampfsportarten, um sie allenfalls sofort zur Anwendung bringen zu können, als sich Waldemar beruhigte. Der Gedanke, mich an einem Pfahl über dem Sumpf von Mücken auffressen zu lassen, behagte ihm offenbar mehr als mich direkt totzuschlagen. Grinsend entspannte er sich und sagte: „Ich werde das Thinggericht übermorgen einberufen.“ Dann verzog er sich.

Gudrun flehte: „Er wird dich genauso umbringen wie Ewald.“

Ich sah Gudrun grimmig an. „Wir werden sehen, wer wen umbringt. Immerhin weiß ich jetzt, wer du bist. Ewald war ein guter Freund von mir und es gilt nunmehr nicht nur, mein eigenes Leben zu retten, sondern seins zu rächen. Ich hatte keine Sekunde geglaubt, dass er ein Dieb ist, und ihn neben Edgar und Bernhard als einziger verteidigt.“

„Ich weiß. Wir Frauen schauen dem Gericht hinter einer Palisade zu.“

„Komisch, dass ich dich nie vorher sah. Als Ehefrau meines besten Freundes, meine ich.“

„Für verheiratete Frauen schickt es sich nicht, sich ständig in der Öffentlichkeit zu zeigen. Und wenn du meinen Mann in unserer Hütte besuchtest, verzog ich mich in unsere Schlafecke …“

„… und muckstest dich nicht, denn die ist ja nur durch eine Bastmatte vom Hauptraum getrennt.“

Gudrun lachte wieder ihr wunderschönes Lachen. Das war mir in der Anderswelt, der Büroöde des 21. Jahrhunderts, nie aufgefallen – auch im Restaurant, in dem wir unser bisher einziges gemeinsames Abendessen einnahmen, nicht. Sollte ich nochmals Gelegenheit zu einem solchen Date erhalten, würde ich es aggressiver angehen, das schwor ich mir hier und jetzt.

Ich sah sie prüfend an. Sie schien keinerlei Erinnerung an besagte Anderswelt in sich zu tragen. Jene Schwester, mit der sie in Kontakt stand, war jedenfalls nicht sie. Oder tat sie nur so? Während ich verzweifelt versuchte, mir eine unverfängliche Frage auszudenken, die mir die Lösung brächte, unterlief sie meine geistigen Anstrengungen mit einem merkwürdigen Satz. „Sieht es in der Anderswelt eigentlich anders aus?“

Um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, konterte ich mit einer Gegenfrage: „Hast du eine Vorstellung?“

„Naja, sie sollte besser sein als das, was uns hier umgibt.“

„Was verstehst du unter besser?“

„Antworte doch nicht immer mit einer Gegenfrage. Unter besser verstehe ich gesitteter, weniger Schlägereien, weniger mühsam, weniger Plackerei.“

Jetzt galt es konkret Auskunft zu geben, hatte ich doch behauptet, bereits dort gewesen zu sein. „Einerseits ist es das, andererseits nicht. Ich versichere dir, dass dort die Frauen deutlich mehr Rechte als im Diesseits haben, aber diese Rechte – und die Rechte aller, auch der Männer – werden durch technische Einrichtungen immer weiter eingeschränkt.“

„Dürfen sich Frauen denn gegen männliche Aufdringlichkeit zur Wehr setzen?“ Ja, das dürft ihr, dachte ich, manchmal sogar mehr als für ein harmonisches Zusammenleben gut ist. Ich erkannte indes den Anlass für diese Frage. „Ist Waldemar auf dich scharf?“

„Ja, ist er. Das ist der Grund, warum er Ewald auf juristisch saubere Art hat beseitigen lassen und jetzt auch dich beseitigen will.“

Ich pfiff durch die Zähne. „So ist das also. Nun gut, nehmen wir den Kampf auf. Ich bitte dich, mir zu vertrauen, Gudrun. Ich habe einige Pfeile im Köcher, von denen der Kerl nichts ahnt.“

Gudrun verabschiedete sich von mir. Ein bearbeitetes Tierfell betont nicht unbedingt die Figur seines Trägers oder seiner Trägerin, aber während wir Männer Hosen tragen, endet die Bekleidung der Frauen unten offen und nimmt in der herbstlichen Wärme Mary Quandts Minirock vorweg. Ich bewunderte Gudruns Beine, wie sie kraftvoll ausschritten, und verglich sie mit denen der Anderswelt-Gudrun, meiner Kollegin. Das heißt, ich verglich sie nicht, denn deren Fahrgestell hatte ich noch nie bewundern dürfen, weil sie bisher nicht anders als vollständig bedeckt aufgekreuzt war – auch nicht zu unserem fehlgeschlagenen Date. Ob darin ihr Fehler bestanden hatte?

Gudrun geriet außer Sicht und ich träumte eine weitere Weile von den dargebotenen herrlichen Schenkeln, bevor ich den Honigwein bezahlte, mich erhob und meiner Hütte zustrebte. Unterwegs fiel mir ein, dass ich bei all‘ meinen Träumen ganz vergessen hatte, sie über ihre Schwester im Jenseits zu befragen. Beim nächsten Treff, nahm ich mir vor, werde ich sie gründlich aushorchen. Die sich überstürzenden Ereignisse sollten das verhindern und als das nächste Mal davon die Rede sein würde, war das Puzzle sowieso weitgehend fertiggelegt.

4

Ich wandte mich von der Quelle ab, stapfte den ganzen Weg durch den Wuhr zurück und bog in die Wohnstraße ein, in der mein geparktes Auto auf mich wartete. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand ich es wieder, stieg ein und fuhr davon.

Was nun? Nennenswertes war während meines Ausflugs in die Keltenwelt nicht geschehen, zumindest nichts, was meine Kampfbereitschaft erhöht hätte. Was Wissen angeht, allerdings sehr viel. Mir war klar, dass ich Waldemar überführen und notfalls in einem offenen Kampf besiegen musste, wollte ich seine brutale Selbstherrlichkeit brechen und die Solidargemeinschaft unseres Dorfs wiederherstellen. Denn er würde sich keinem Schiedsspruch der Ältesten beugen, sollte dieser gegen ihn ausfallen. Ganz, ganz heimlich nagte auch der Gedanke an mir, selbst Stammeschef zu werden und die Gunst Gudruns zu erringen.

Mein Problem bestand darin, dass ich keinen Fahrplan hatte, wann und wo die Übertritte zwischen den Welten stattfinden – keinesfalls hing es mit Träumen oder bestimmten Orten zusammen, dazu waren sie bisher zu chaotisch aufgetreten. Mein Designersofa, die Quelle, die … was? Die Quelle schien mir ein guter Ansatzpunkt zu sein, denn bisher war sie zweimal als Tor aufgetreten. Ob es möglich wäre, dort eine Waffe aus dem 21. Jahrhundert in die Keltenzeit zu schmuggeln? Denn in einem Ringoder Faustkampf würde ich den Hünen Waldemar nicht bezwingen, das war klar. Außer meinen Körper hatte ich bisher nichts teleportiert bekommen, in keine Richtung. Vielleicht ließ sich etwas deponieren, und zwar sinnvollerweise an der Quelle.

Ich kenne die Straßen im Hochrheingebiet wie meine Westentasche, denn plötzlich fand ich mich vor meiner Garageneinfahrt, ohne dass ich einen Gedanken an die Verkehrsführung verschwendet hatte. Als ich mich zum Feierabendbier auf meinem – richtig, dem Designersofa – niederließ, reifte in mir ein Plan. Das einzige, das mir dazwischenfunken könnte, wäre ein verfrühter Wechsel in die Keltenzeit.

Am Montag ging es erstmal wieder ins Büro. Gudrun – meine Kollegin Gudrun des 21. Jahrhunderts, meine ich – und ich begrüßten uns verhalten, beinahe verlegen. Nichtsdestoweniger sah ich sie mit anderen Augen als bisher an. Sie war zweifellos jene, mit der ich in bester Eintracht beim Sigurdwirt einen Met getrunken hatte. Sie schien sich ihres Parallellebens nicht bewusst zu sein. Oder verriet sie es bloß nicht? Mir fiel ja auch nicht ein, von meinen Träumen, die längst keine mehr waren, zu erzählen. Dazu beherrschte mich zu sehr die Angst, in einer geschlossenen Anstalt zu landen.

Frauen unbemerkt mustern zu wollen ist zum Scheitern verurteilt. „Kommst du mit in die Cafeteria?“ fragte Gudrun mich plötzlich. „Natürlich, gern.“

Eine Weile beschäftigten wir uns mit unseren Tassen, während wir einen Ansatzpunkt für unser Gespräch suchten. Schließlich übernahm Gudrun die Initiative. „Hab‘ ich dich so gekränkt, als ich dich beim Nachtisch unseres gemeinsamen Abendessens Verschwörungstheoretiker nannte?“

„Ein bisschen.“

„Ich glaube, mehr als ein bisschen. Ich entschuldige mich dafür, ohne den Gemeinplatz zu äußern, ich hätte es nicht so gemeint. Ich hätte es anders formulieren sollen, aber komisch fand ich deine Aussage schon. Wärst du bereit, mir mehr darüber zu erzählen?“

Wusste sie von der Keltengudrun oder nicht? Ich fand zu keiner Antwort.

Gudrun war sichtlich bemüht, mir zu helfen. „Ich hatte Angst vor dem heutigen Montag und wie es unter den geänderten Umständen zwischen uns laufen würde. Nun stelle ich fest, dass du mich intensiver anschaust als während der ganzen vergangenen Jahre. Irgendetwas scheint in dir vorgegangen zu sein.“

Die Brücke, die sie mir gebaut hatte, erlaubte mir eine konkrete Aussage. Zunächst lockerte ich die Stimmung auf, indem ich erwiderte: „Ich hatte es gewusst. Frauen haben hinten Augen.“

Gudrun lachte. Das Lachen klang genauso wie das der Keltengudrun. „Keine physischen, aber einen sechsten Sinn. Jetzt bitte zu deinem Geständnis.“

Ich räusperte mich. „Also gut. Ich habe seit einiger Zeit einen Traum, der sich ständig wiederholt. Das heißt nicht wiederholt, sondern in der nächsten Staffel dort weitermacht, wo die vorige geendet hat. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise ist ein Traum nicht wiederaufsetzfähig. Leider auch kein angenehmer.“ „Schön. Was hat das mit mir zu tun?“

„Nicht so ungeduldig, meine Liebe. Der Traum spielt im Hotzenwald in ferner Vergangenheit. Starke Männer haben dort das Sagen, aber selbstbewusste Frauen gibt es durchaus. Und eine der Frauen …“ Ich zögerte, fortzufahren

Wieder half mir Gudrun. „Und eine der Frauen bin ich?!“

„Hm, ja, das ist so.“

„Und deine Traumgudrun scheint dir zu gefallen.“

Wieder räusperte ich mich. Nach einer ganzen Weile offenbarte ich: „Ja, das tut sie.“

„Eine Naturschönheit mit festen Brüsten, strammen Beinen und beachtlichen Muskeln. Oje. Damit kann die Büroschranze, die dir gegenübersitzt, natürlich nicht mithalten.“

„Das …, äh, das …“

„Das versuchst du herauszufinden?!“ Sie wartete meine Reaktion nicht ab und fuhr ungerührt fort: „Weil ich annehme, dass deine Traumgudrun nur in einem lässig übergeworfenen Fell herumläuft,werde ich morgen versuchen, dir dein Urteil zu erleichtern, und in einem kniefreien Rock auftauchen. Dann darfst du gucken, soviel du willst.“

Ich schluckte. „Das … das wäre eine Premiere.“

„Du stotterst doch sonst nicht. Übrigens sollten wir schleunigst zurück zu unseren Arbeitsplätzen, denn wir haben die Kaffeepause mächtig überzogen.“

Als ich neben ihr herging und sie verstohlen von der Seite ansah – verstohlen, obwohl sie mir spannen ausdrücklich erlaubt hatte –, kehrte die Erinnerung an meinen Mut zurück. Ich hatte sie tatsächlich ‚meine Liebe‘ tituliert und sie hatte kein Anzeichen von Unmut erkennen lassen.

Für den Rest des Tages vermieden wir, uns anzusehen, und gingen beinahe verbissen unseren Projekten nach. Erst das „tschüss bis morgen“ am Feierabend klang wieder freundschaftlich.

Weiterhin blieb mir rätselhaft, ob die keltische und die alemannische Gudrun identisch waren. Sie hatte mich erstaunlich präzise durchschaut, wenn nicht. Sollte es mir gelingen, im Nein-Fall die alemannische mit in die Anderswelt zu nehmen: Gäbe es sie dann doppelt?

Sie machte ihr Versprechen wahr und erschien tags darauf in einem Minirock. Mir, dem das angekündigt war, entlockte das keinen Laut der Überraschung, aber allen anderen Gockeln umso geistreichere. „Jetzt begreift jeder, warum sich home office so schleppend durchsetzt“, war einer der gemäßigten Kommentare. Auch die Frauen verglichen verstohlen das Fahrgestell der Konkurrentin mit ihrem eigenen, da war ich mir sicher.

Ich selbst hatte ja die Vergleichserlaubnis und kam ihr nach, als wir uns auf eine der Raucherterrassen zurückzogen. Wir hatten gesehen, dass sich dort sonst niemand aufhielt, und Gudrun bückte sich über das Geländer. „Und?“ fragte sie provozierend.

„Von hinten kein Unterschied“, urteilte ich. „Lehnst du dich mit dem Rücken gegen das Geländer?“

Sie tat wie ihr geheißen und ich hatte freie Sicht auf ihre Knie. „Kein Unterschied“, murmelte ich.

„Zur Traumgudrun?“

„Zu der. Sag‘ mal, hast du keinerlei derartige Träume – Träume aus der Keltenzeit, meine ich?“

„Nein. Wobei ich morgens innerhalb weniger Sekunden vergesse, wovon ich geträumt habe.“

„Das ging mir bisher auch so. Wärst du zu einem Experiment bereit?“

Gudrun sah mich misstrauisch an. „Hör‘ mal, mit irgendwelchen Rauschmitteln …“

„Garantiert nicht. Einfach, dass du am Samstag mit zu meiner Zauberquelle kommst.“

„Die, von der du mir beim Dessert erzählt hast? Der Dingsbumswuhre?“

„Dem Hänner Wuhr. Man kann auch die Hänner Wuhre sagen, wenn dir das lieber ist.“

„Du glaubst ernsthaft, dass dann ’was passiert?“

„Das ist nicht der Grund. Ich möchte dort eine Waffe ablegen.“

„Steht dir ein Kampf bevor?“

„Vermutlich. Ich bin allerdings unschlüssig, was für eine.“

„Eine Schusswaffe?“

„Eher nicht. Wir befinden uns im Jahr 1000 vor Christus, schätze ich. Ich muss den vermaledeiten Waldemar in einem ehrlichen Kampf besiegen und nicht durch Zauberei, was eine Pistole oder ein Revolver in jener Zeit wäre. Außerdem besitze ich keinen und wüsste auch nicht, wie ich mir innerhalb weniger Tage einen beschaffen könnte.“

„Da gäb’s Möglichkeiten. Du hast aber Recht. Ihr habt doch keine Messer?“

„Doch, doch, wir schreiben schließlich Eisenzeit. Allerdings klobige, die zu verstecken unmöglich ist.“

„Wie wär’s mit einem Schweizer Armeemesser? Das ist unauffällig, vielseitig und leicht zu beschaffen.“

„Das ist eine gute Idee.“

„Wieviel Zeit hast du?“

„Das ist das, was ich leider nicht weiß. Es kann mich jederzeit rufen – was immer ‚es‘ auch ist – oder noch Wochen zuwarten.“ „Dann würde ich die Zeit nutzen, mit dem Messer zu üben.“

„Ich kaufe zwei. Eins zum üben und eins, um es an der Quelle zu deponieren.“ Ich war wie benommen. Obwohl Gudrun behauptete, von der Keltenwelt keine Ahnung zu haben, glaubte sie mir meine unglaubliche Geschichte, abweichend ihrer ersten Reaktion, anscheinend aufs Wort. Erst später sollte ich die Hintergründe in Erfahrung bringen.

Sie kam auch mit, als ich an der Hauptquelle des Hänner Wuhr eine markante Stelle suchte, damit ich meine Geheimwaffe auf jeden Fall fände, wenn es sich als nötig erweisen sollte.

„Hier.“ Ich steckte das Messer in eine Kuhle, die aus einem als Kultobjekt erkennbaren Megalithen herausgebröckelt war.

„Was ist das, Winberg?“

„Das ist ein sogenannter Schalenstein, Gudrun. Bis heute ist ein Rätsel, wozu sie dienten, denn als Wasserreservoir ist ihre Kapazität viel zu gering. Die meisten von ihnen wurden zerstört, als das kulturbeflissene Christentum ab dem 12. Jahrhundert hier Einzug hielt und allem den Kampf ansagte, was als heidnisch galt. So wurden Zeremonienplätze zerstört und heilige Eichen gefällt, nicht zuletzt, um zu beweisen, dass die heidnischen Götter nicht die Macht besaßen, die Frevler zu zerschmettern. Was die Missionare oder Mönche nicht zerstört bekamen wie den berühmten Siebenstein oder Siebenfelsen bei Yach, verunstalteten sie durch Einmeißelungen oder dadurch, dass sie der Kultstätte ein christliches Kreuz obendrauf nagelten. Du siehst, die Taliban fanden in Europa ihre Vorbilder.“

„Du identifizierst dich mit den Kelten?“

„Ich identifiziere mich mit allen Opfern von Bilderstürmerei. Den Kelten gilt durch meine Metamorphosen allerdings mein besonderes Interesse.“

„Du bist überzeugt, dass du Metamorphosen anheimfällst?“

„Erinnerst du dich, als du mich eines Montags morgens fragtest, ob ich im Fitnesszentrum gewesen wäre?“

„Wie gestern.“

„Da hatte ich monatelang geschuftet, und zwar mit einigen Helfern den Wuhr ausgehoben, den wir gerade entlang gewandert sind. In dieser Welt waren lediglich zwei Stunden vergangen, aber ich hatte mich körperlich verändert. Das hast du so deutlich gesehen, dass ich es nicht beweisen muss.“

„Phänomenal. Du hast mir meine Eingangsfrage nicht beantwortet: Was ein Schalenstein ist. Du wirst es jetzt ja wissen.“

Ich lächelte. „Wasser spielt bei den Kelten eine große Rolle. Nicht umsonst, denn es handelt sich um das menschliche Lebenselixier. Wo keine Quelle ist, wird ein künstlicher Vorrat angelegt, damit ein Mensch seine Finger ins heilige Nass tauchen kann, wo er geht und steht. Bei uns gibt es keine künstlichen Heiligtümer wie Kirchen oder Altäre, sondern nur natürliche wie Bäume – vorzugsweise Eichen – oder Steine, wobei die durchaus bearbeitet sein dürfen. An besonders magischen Kraftorten gehen wir soweit, tonnenschwere behauene Quader aufeinanderzutürmen, um sie zu kennzeichnen. Der Siebenstein, den ich eben erwähnte, ist das markanteste Monument aus jener Zeit.“

„Du fühlst dich als Kelte. Du sagst ‚uns‘ und ‚wir‘, als gehörtest du ihnen an.“

„So? Das habe ich gar nicht gemerkt. Eine letzte Metapher. Wenn dich der Schalenstein an den Weihwasserstein einer katholischen Kirche erinnert, liegst du nicht weit daneben. Auch die Christen verehrten das Wasser, verkleideten ihre Verehrung aber in den Mythos der Dreifaltigkeit.“

„Als Christ fühlst du dich deinen Worten nach nicht.“

„Hab‘ ich noch nie.“

„Eine letzte Frage, Winberg. Wieso ist hier ein Schalenstein, wenn sich direkt daneben eine Quelle befindet?“

Ich versuchte mich zu erinnern. War ich bei dessen Ausschleifen dabei gewesen? „Ich denke“, sagte ich bedächtig, „dass wir beim Aushub des Wuhr das Wohlwollen der Götter erflehten. Auch dazu dient er.“ Ich sah mich um. „Mein Messer ist gut getarnt. Ich werde es finden, sofern es sich in der Anderswelt manifestiert.“

5

Das Kratzen an meiner Haut teilte mir mit, dass ich nicht mehr in meine Funktionskleidung, sondern in Felle gehüllt war. Ich sah mich um. Meine Umgebung sah der des 21. Jahrhunderts erstaunlich ähnlich, denn in dieser einsamen Gegend des Hotzenwaldes hatte sich 3000 Jahre lang nichts verändert. Selbst der Natur war keine spektakuläre Entwicklung gelungen. Wuchs und Vernichtung durch Blitzeinschläge oder Überschwemmungen hatten sich wohl die Waage gehalten. Eine erstaunliche Kontinuität in einer Welt des Wandels und ein Beweis, wie gut die Natur ohne den Menschen auskommt. Nach Meinungen von Klimatologen und Biologen hat der heimische Wald ohne ihre helfende Hand keine Überlebenschance. Was für ein Unsinn! Bäume gibt es seit 300 Millionen, den Menschen seit 300.000 und die regulierte Forstwirtschaft seit 300 Jahren. Welcher weiterer Beweise bedarf es, um aufzuzeigen, dass die Wälder auch ohne selbsternannte menschliche Schiedsrichter bestens gedeihen und das vermutlich viel besser? Dass ein Akademiker, der Jahre des Büffelns in seine Ausbildung investiert hat, irgendwie seine Existenzberechtigung und seine üppige Vergütung rechtfertigen möchte, sei ihm an dieser Stelle zugestanden – und ihr, der Akademikerin, natürlich auch.

„Gudrun?“

Keine Antwort. Beinahe hatte ich mir gedacht, dass es unmöglich wäre, sie in die Anderswelt mitzunehmen. Was war mit meinem Messer? Hastig griff ich in die Kuhle, in der ich es wenige Minuten zuvor verstaut hatte, und fingerte nach ihm. Da! Da war es, oh Wunder! Die Methode funktionierte folglich. Leider war mir nicht möglich gewesen, Attacken zu üben. Musste ich es eben hier tun. Dass ich ein paar Tage Zeit dazu haben würde, hoffte ich. Dass ich am Vorabend der Entscheidung stand, wusste ich. Als ich mich unserem Dorf näherte, erwartete mich Waldemar mit Bungert, dem Vorsitzenden des Ältestenrats und somit dem Ältesten und Gerichtspräsidenten, vor den ersten Häusern. „Ich habe dich wegen Lebensmitteldiebstahls angezeigt“, verkündete der Chef, „und das Gericht wird für dich nicht gut ausgehen, das versichere ich dir.“

Ich wandte mich an Bungert. „Sollte nicht erst das Ende des Verfahrens abgewartet werden, bevor die Verurteilung feststeht?“ fragte ich. Ich wusste, dass er vollständig unter dem Einfluss des hünenhaften Häuptlings stand, obwohl er auf Grund seiner gesammelten Lebenserfahrung über diesem stehen sollte, zumindest bezüglich Weisheit und Philosophie.

„Selbstverständlich, da hast du Recht“, bestätigte er mir. Waldemar mischte sich ein. „Und selbstverständlich ist ein faires Verfahren gewährleistet …“

„… dessen Ausgang feststeht“, fiel ich ihm spöttisch ins Wort. „Nun, wir werden sehen. Bungert, wann findet das Gericht statt?“

„In sieben Tagen.“

„Gut. Dann habe ich genügend Zeit, mich vorzubereiten.“

„Nur zu“, höhnte Waldemar und schritt im Bewusstsein des sicheren Sieges davon.

Gudrun sah ich nicht und mir war es lieber, es bliebe dabei, bis die leidige Sache ausgestanden sein würde. Ich wusste, dass der Häuptling keineswegs das Ansehen und Zuneigung der Dorfmehrheit genoss, sich jedoch das offen zu sagen niemand traute, aus Angst, Waldemars brutale Faust in seinem Gesicht landen zu spüren.

Einen Verbündeten hatte ich, dessen ich mir sicher sein durfte: Unseren Druiden Indekur. „Ich kann beweisen, dass Waldemar der Dieb ist“, sagte ich zu ihm, nachdem er mir erlaubt hatte, seine Hütte zu betreten.

„Dann heb‘ dir den Beweis bis zum Schluss auf“, ermahnte er mich. „Wie bist du in seinen Besitz gelangt?“

„Ich habe gesehen, wie Waldemar seine Beute vergrub.“

„Zu welchem Zweck?“

„Den weiß ich nicht. Die Stelle befindet sich ein ganzes Stück außerhalb des Dorfs.“

„Hast du keine Bedenken, dass Waldemar dich beschuldigt, alles gestohlen und dort begraben zu haben?“

Ich schürzte die Lippen. Das wäre natürlich ein Schachzug! Andererseits … „Das täte er wahrscheinlich nur im Notfall, wenn ich dem Gericht die Stelle zeige. Er selbst will zweifellos, das sie geheim bleibt.“

„Wenn du sie aber preisgibst, wird er seine Taktik dahingehend ändern. Denn woher sollst du sie kennen?“

Ich sah Indekur ernst an. „Klingt plausibel, was du sagst. Ich denke, die einzige Möglichkeit für mich besteht darin, Waldemar auf frischer Tat zu ertappen.“

„Wenn dir das gelingt, solltest du ’raus sein.“

„Ich habe sechs Tage und werde wachsam sein.“

In der dritten Nacht winkte mir das Glück. Ich konnte unmöglich 24 Stunden am Tag wach bleiben, aber an mehr als eine Art Alarmschlaf war nicht zu denken. Ein wenig Sorge bereitete mir das, denn auf die Verhandlung musste ich mich unbedingt mit allen Sinnen zu konzentrieren in der Lage sein, sollte sie anberaumt werden. Sollte …

Da hörte ich einen Zweig knacken. Ein typisches Stilmittel von Indianergeschichten, dachte ich amüsiert, erhob mich gleichwohl und sah hinaus. Ein riesiger Schatten schob sich an meiner Hütte vorbei. Waldemar?

Er war es mit einem über den Rücken geworfenen Beutel. Von perfektem Schleichen war bei dem Koloss nicht die Rede, aber bei mir. Manchmal wunderte ich mich, woher ich meine Trapperfähigkeiten hatte, aber Hauptsache, ich verfügte über sie. Allerdings richteten sie sich nur auf mein Opfer; dass hinter mir leichte Geräusche darauf hinwiesen, dass ich nicht der Hinterste in der Schleichkolonne war, entging ihnen.

Vor drei Tagen war Vollmond gewesen und die mittlerweile aufgegangene abnehmende Scheibe mit Delle lieferte ausreichend Licht, sodass ich mein elefantöses Bespitzelungsobjekt nicht aus den Augen verlor. Es stapfte tatsächlich in Richtung der Grube, die sein bisheriges Diebesgut barg. Im Augenblick belastete ich mich mit keinem Gedanken, was das Ganze sollte, denn immerhin ging auch Waldemar das Risiko ein, entdeckt zu werden.

Ich wartete, bis er genügend große Stücke Erde ausgehoben hatte, um den Inhalt seines Beutels seiner bisherigen Beute hinzuzufügen, bevor ich seinen Namen rief. Wie eine gespannte Feder sprang er auf, zückte sein Messer und sah grimmig um sich. Ich war hinter einen Baum getreten, sodass ich seinen Blicken entzogen war.

„Wer da?“ brüllte er. Das Dorf war zu weit entfernt, als dass die Worte dort gehört würden, aber nichtsdestoweniger war es von Waldemar unvorsichtig, eine derartige Lautstärke anzuschlagen. Typisch für einen, der auf pure Kraft baut. Ich hütete mich, ihm zu antworten. Während der Hüne auf die Suche nach seinem Widersacher – denn um jemanden anderen konnte es sich ja nicht handeln –, fragte ich mich, ob es nicht gescheiter gewesen wäre, ihm einfach mein Schweizer Armeemesser in den Rücken zu rammen, ohne ihn vorzuwarnen. Aber das hätte mich arg feige gedünkt.

Die ungeschlachte Gestalt brach durch das Unterholz – nein, nicht wie ein Elefant, denn diese Tiere bewegen sich äußerst geschickt und feinfühlig, sondern wie ein Rhinozeros. Mein lieber Waldemar, dachte ich, wie willst du einen Verfolger stellen, wenn du dich nicht leiser verhältst?

Als er genügend kurze Distanz zu mir hatte, dass ich ihn anzuspringen vermochte, tat ich das und landete auf seinem breiten Rücken. Er brüllte erneut auf und versuchte mich abzuschütteln, aber meine Kletteneigenschaft erwies sich als ausreichend, dass ihm das nicht gelang. Ich überlegte verzweifelt, wie ich an seinen Hals gelangen könnte, als er erneut aufbrüllte. „Zeig‘ dich, du Feigling! Mir ans Schienbein zu treten.“

Ans Schienbein? Wie sollte ich das denn fertiggebracht haben? Egal, die kurze Ablenkung genügte, um meine Hände um seinen Stiernacken zu legen und zuzudrücken. Alsbald gingen seine Schreie in gurgelnde Geräusche über und ich hoffte schon, ihn bald erledigt zu haben. Da verfiel er auf die einfachste Idee der Welt, sich eines Reiters zu entledigen, nämlich sich einfach mit dem Rücken auf den Boden zu werfen. Er hätte mich zweifellos zerquetscht, wäre sein Plan aufgegangen, aber Schnelligkeit war nun mal nicht die Stärke des Muskelbergs. Es gelang mir, rechtzeitig abzuspringen, sodass er nicht weich auf den gegnerischen Körper, sondern mit seinem Kreuz hart auf dem Wurzelwerk aufschlug. Seinen Ruf „Drecksack, aua!“ brachte er nicht vollständig heraus, da war ich auf ihn gesprungen und meine Knie trafen mit voller Kraft seinen Brustkorb. Ein Leichtgewicht bin auch ich nicht, sodass ihm diese Attacke die Luft nahm. Mit einem bisschen Glück hatte ich nun seine inneren Organe zerstört und sein Tod wäre eine Frage der Zeit.

Noch war Waldemar aber nicht völlig hilflos und seine verbliebenen restlichen Kräfte, die schier übermenschlich waren, brachten es fertig, dass er sich halb erhob und mich abschüttelte. Ich verspürte einen heftigen Schmerz an meiner Stirn, als ich mich seitlich abrollte. Wahrscheinlich hatte ich es an einem Ast geritzt. Egal, darum konnte ich mich in der augenblicklichen Lage nicht kümmern.

Immerhin hatte ich ihn anscheinend soweit fertiggemacht, dass er auf seine üblichen Flüche verzichtete, um seinen Atem für den Schlussakkord aufzusparen. Ich wieselte ein wenig abseits und zückte mein winziges, aber wirkungsvolles Messer. Ich hatte vermeiden wollen, es zu benutzen, aber möglicherweise blieb mir nun nichts anderes übrig.

Ich verfiel auf eine neue Taktik. Ich rief „hier!“ und schlug einen Haken, wenn sich Waldemar dampfwalzenartig auf den Ort zubewegte, von dem er die Stimme vernommen hatte. Hatte ich es geschafft? Seine Schritte wurden immer schwerfälliger und irgendwann schien es, als brächte er keinen Fuß mehr vor den anderen. Gespannt wartete ich. Schnaufen und Stöhnen und dann ein Geräusch, das wie ein umstürzender Baumriese nach dem Holzfällerruf „Timber!“ klang.

Ich wagte mich nicht zu rühren und kaum zu atmen. Das versetzte mich in die Lage, die Atemzüge eines anderen Menschen zu vernehmen, der sich nicht allzu weit von mir entfernt aufhielt. Der Tritt gegen das Schienbein! Immerhin schien es sich um jemanden zu handeln, der auf meiner Seite kämpfte.

Ich schlich um das Buschwerk herum, in dem sich der Unbekannte aufhielt, versuchte ihn zu orten, sammelte die restlichen Kräfte, die mir verblieben waren, und sprang auf den Schatten zu, der sich zu ducken versuchte, als ich auf ihn eindrang. Ich bekam einen Arm zu packen, der mir merkwürdig zart vorkam. „Tu‘ mir nichts!“ rief eine Stimme, nicht hysterisch schrill, aber hell genug, dass sie eine Frau als Ursache verriet. „Gudrun!“

„Ja, Gudrun. Ich kann seit Tagen nicht schlafen, sah dich heute Nacht hinter dem Häuptling hermarschieren und fürchtete das Schlimmste.“

Ich vermag nicht zu beschreiben, wie leicht mir plötzlich ums Herz wurde. „Gudrun“, flüsterte ich, „du hast dich in eine Riesengefahr begeben.“

„Und du? Ich will dich nicht auch noch verlieren.“ Auch Gudrun hatte zu einem Flüsterton gefunden, nachdem sie sich einmal offenbart hatte.

„Und ich dich? Gudrun, wenn dir ’was passiert wäre, wär‘ das hier alles sinnlos für mich gewesen.“

So hell, dass ich Gudruns Augen für mich ergründbar gewesen wären, schien der Mond denn nun doch nicht. Die Heftigkeit, mit der sie sich plötzlich an mich klammerte und mit Küssen überhäufte, sprach allerdings Bände. Wir vergaßen die Umwelt, bis uns ein Stöhnen in die Wirklichkeit zurückholte. Es war von jener Stelle ausgegangen, an der der Riese gefallen war.

„Waldemar scheint zu leben.“ Da ich Gudrun weiterhin fest umklammert hielt, spürte ich ihr ängstliches Zittern.

„Ich sehe nach und besorge notfalls den Rest“, knurrte ich und löste mich behutsam von ihrem Körper. Längst hatten meine Hände ihren Weg unter die Tierfelle gefunden und streichelten intensiv die magische Frauenhaut. Diese wunderbare Tätigkeit war ich, durch die äußeren Umstände erzwungen, nunmehr zu unterbrechen gezwungen.

Ich bedauerte, dass ich aus dem 21. Jahrhundert keine Hochleistungstaschenlampe mitgebracht hatte, denn die wäre mir nun eine deutlich bessere Hilfe als mein Taschenmesser, das ich zum Glück – bisher! – nicht gebraucht hatte. Ich tastete mich zum Kampfplatz zurück und vergewisserte mich, dass sich der Zyklop immer noch in der Waagerechten befand und außer röchelndem Stöhnen nichts von sich gab. „Ich denke, die Lunge ist zerstört“, sagte ich zu Gudrun, die neben mich getreten war. „Dann wird es nicht mehr lange dauern.“

„Hau ihm doch zur Sicherheit eins über den Schädel.“

„Das möchte ich nicht. Denn bis jetzt weist er kein äußeren Verletzungen auf, jedenfalls keine, die für die jetzige Zeit erkennbar wären. Mag seine Todesursache sein, was sie will; mir ist lieber, wir beziehungsweise ich werde nicht damit in Zusammenhang gebracht. Dann entfällt das ganze Gerichtsverfahren automatisch.“

„Jetzige Zeit? Gibt es denn eine andere?“

„Da gilt es manches zu erklären, aber nicht jetzt. Jetzt …“

„… eben jetzt.“

Wir hatten uns vorgenommen, uns in meiner oder Gudruns Hütte zu vereinigen, waren dafür aber nicht geduldig genug. Wenigstens legten wir einen beträchtliche Abstand von dem Punkt zurück, an dem Waldemar seinem Ende entgegendämmerte, und ich tupfte das Blut aus der Wunde, die ich dem Ast verdankte, der sich an meiner Stirn zu schaffen gemacht hatte, bevor wir übereinander herfielen. Klar, dass Gudrun als die Erfahrenere von uns das Heft in die Hand nahm und mir immer wieder neue Stellungen zeigte, in denen sie mich in sie einzudringen ermunterte.

Ich weiß nicht, wie oft ich Gudrun beglückt hatte, aber sie schien zufrieden zu sein. Allmählich wurde es hell und sie lag auf dem Rücken, die Hände unter ihrem Hinterkopf verschränkt, ihre Beine lasziv geöffnet, und gab schmachtende Töne von sich.

Sie hauchte eine Beurteilung. „Bisschen unerfahren, aber das dürfte bald überwunden sein. Auf jeden Fall ist genug Kraft da. Ich danke dir.“

Ich wurde rot. „Ich bin es, der dir zu danken hat. Ich fühle mich so wohl wie nie zuvor in meinem Leben. Meine Lendengegend ist entspannt wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich …“ „Hast denn nie vorher …?“

„Nein, nie.“ Auch in meinem Büroleben des 21. Jahrhunderts nicht, dachte ich, aber das behielt ich für mich.

6

Ich stand vor dem Schalenstein und sah mich um. Hatte nicht Gudrun neben mir gestanden, während ich ihr das Geheimnis der keltischen Kultrelikte erklärte? Ich hastete den Hänner Wuhr zurück nach Hottingen zu meinem Auto. Da stand sie und wirkte ein wenig hilflos. „Gudrun, warum bist du zurückgegangen?“

Sie blickte erschrocken hoch. „Winberg, wo kommst du denn her?“ „Na, vom Hänner Wuhr, wo wir gerade gemeinsam den Schalenstein betrachtet haben.“

„Gerade? Du verschwandest vor zwei Stunden spurlos, ich konnte nach dir rufen und dich suchen, soviel ich wollte. Schließlich ging ich langsam zurück zum Wagen und kam vor wenigen Minuten hier an. Wärst du nicht erschienen, hätte ich versucht, einen Bus zu finden, der nach Laufenburg fährt, oder hätte ein Taxi herbeordert. Du hast ja den Schlüssel.

Wo um alles in der Welt warst du?“

Gudrun hatte mir bereits viel geglaubt, aber die Geschichte der vergangenen zwei Stunden mochte ich ihr nicht zumuten, zumal ich sie ja sozusagen mit ihr selbst hintergangen hatte. Ich stellte fest, dass ich mich ‚unten herum‘ immer noch wunderbar entspannt fühlte. Meine Hodenergüsse waren sicher nicht geträumt gewesen. Ob die diesseitige Gudrun mit den gleichen Qualitäten punktete? Neugierig sah ich sie an. Sie war es, kein Zweifel.

Gudrun schien es unangenehm, so intensiv gemustert zu werden. Plötzlich stieß sie hervor: „Sag‘ mal, wie siehst du denn aus?“ „Was meinst du?“

„Na, du hast eine Riesenschramme an der Stirn. Wenn du Pech hast, vernarbt sie und du wirst sie nie wieder los.“