Gestohlenes Glück - Sandra Elendt - E-Book

Gestohlenes Glück E-Book

Sandra Elendt

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Beschreibung

Marissa hat ihr Leben bereits aufgegeben, als Zaim ihr eine zweite Chance bietet. Er beauftragt sie das Lebensglück verschiedener Menschen zu stehlen. Hierzu muss sie das Glück der unterschiedlichen Personen zerstören. Die Essenz dessen wird in einer magischen Phiole gesammelt. Mit diesem Glück erkauft Marissa Zeit, für ihre verstorbene Schwester Linda, denn das ist sie ihr schuldig. Schließlich ist ihre kleine Schwester nur ihretwegen tot.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Impressum

Kapitel 1

Marissa betrachtete die Phiole in seiner Hand. Sie war gerade so groß wie eine Parfumflasche. Die metallene Fassung umschloss den Flaschenboden und zog sich in filigranen Linien über das Glas. Sie wirkte antik. Eine bunt fluoreszierende Flüssigkeit schimmert im Inneren.

„Das ist die Zeit, die euch verbleibt. Ist keine Flüssigkeit mehr in der Phiole, ist auch eure Zeit abgelaufen.“

„Dann ist die Flüssigkeit im Inneren …“

„Glück, reines Glück.“

„Was ich stehlen werde?“

„Richtig.“

„Wieso ist sie schon gefüllt?“

„Weil du bereits ein Lebensglück geopfert hast?“

Marissa stutzte.

„Dein eigenes“, fügte er hinzu.

Ein Schnauben, sie hatte nichts geopfert. Man kann nichts opfern, was man nicht hatte.

„Und meine Schwester?“

„Wird hier in diesen vier Wänden bei dir sein.“

Suchend sah sie sich um.

„Geduld!“ - Zaims Lippen verzogen sich zu einem nachsichtigen Lächeln. Wäre sein Lächeln nur nicht so herablassend …

„Du wirst sie immer sehen können, wenn ich bei dir bin und es erlaube.“

Marissa zog die Augenbrauen zusammen.

„Was soll das heißen?“

„Reine Formalie. Solange du den Vertrag deinerseits erfüllst, werde ich meinen Teil ebenfalls erfüllen und euch beiden Zeit miteinander gewähren.“

Irgendwo in ihrem Hinterkopf hörte Marissa das Geräusch von zuschnappenden Handschellen. Sie schaute aus dem großen Fenster, vor dem sie und Zaim standen. An dem Raum war diese Fensterfront mit dem breiten, kniehohen Sims das bemerkenswerteste.

Die Sonne stand tief am Himmel und schien auf den Park herab. Das Grün der Wiesen und Bäume erschien besonders kräftig. Ihr war, als wolle die Sonne sie verhöhnen. Von Zeit zu Zeit sah man kleine Gruppen, die sich unterhielten. Eine Joggerin kam bereits zum zweiten Mal vorbei. Menschen schoben Kinderwägen vor sich her. Marissa verachtete jeden von ihnen. Nicht weil sie ihr etwas getan hätten, nein, weil sie alle so sorglos erschienen. Niemand von ihnen wusste, welchen Schmerz sie verspürte, es würde sie wohl auch nicht interessieren.

„Und wie genau stehle ich das Glück, um die Phiole zu füllen?“

Zaim stellte das Fläschchen auf den Couchtisch und ließ sich auf das kleine Sofa aus schwarzem Kunstleder fallen. Er legte seinen linken Arm auf die Lehne, die langen Beine auf den Tisch.

„Du wirst Aufträge erhalten, in denen du alle nötigen Informationen zum Glück der Zielpersonen findest. Wie genau du dieses Glück stehlen wirst, ist dir überlassen.“

„Wie stiehlt man denn Glück?“

„Eigentlich musst du es nur zerstören. Dann geht das Glück der Person auf dich über. Du wirst es in dir tragen, die Euphorie, den Kick spüren. Der Teil wird dir gefallen.“ Er verzog die Lippen zu einem süffisanten Lächeln.

„Und dann holst du tief Luft und pustest das Glück in die Phiole. Keine Sorge, ich werde die ersten Male dabei sein.“

„Was ist, wenn sich jemand sein Glück zurückholen oder sich rächen will?“

„Niemand wird dich erkennen. Solange du im Blickfeld der Personen bist, nehmen sie dich ganz normal wahr, aber sowie du dich von ihnen entfernst, vergessen sie, wie du aussiehst.“

Marissa betrachtete ihr kaum sichtbares Spiegelbild in der Fensterscheibe. „Ich bin ein Geist“, wisperte sie mehr zu sich selbst.

„Was ist mit Menschen, die mich kennen?“

„Du wirst dich von ihnen fernhalten“, sagte Zaim.

„Aber wenn ich meine Eltern oder Freunde vermisse und sehen möchte?“

„Du wirst dich von ihnen fernhalten“, sagte Zaim. Der scharfe Tonfall irritierte sie. Auch wenn seine Körperhaltung und Mimik entspannt wirkten, war sein Blick nun stechend.

Mit den Augen tastete sie Zaims Gesicht ab. Sein Kiefer war markant, seine Lippen wohl proportioniert. Ihr Blick wanderte seine lange gerade Nase hinauf zu seinen Augen. Sie waren eisblau und wirkten ebenso kalt. Sein Haar war blond und modern geschnitten. Er hätte schön sein können.

Marissa entschied sich zu schweigen. Es spielte keine Rolle. Es gab sowieso niemanden, der sie sehen wollte Sie nickte knapp.

Der Himmel färbte sich langsam rosa. Ihre Schwester Linda mochte kitschige Sonnenuntergänge. Seitdem sie irgendeinen von ihren geliebten Animes gesehen hatte, war sie wie besessen davon. Jeden verdammten Tag quiekte sie und sorgte dafür, dass auch jedes Familienmitglied mindestens einmal zum Himmel sah. Ihre Begeisterung dafür war ansteckend - und ihre Beharrlichkeit irgendwie nervig gewesen.

Marissa stiegen die Tränen in die Augen.

„Kann ich sie sehen?“

Zaim gab einen bestätigenden Laut von sich und verließ das Wohnzimmer. Marissa folge ihm. Sie betrat das Schlafzimmer. Ein Wandschrank, ein Bett, ein Nachttisch – es war nicht viel darin. Auch hier zog sich eine Fensterfront über die gesamte Länge der Wand. Der Ausblick war ebenfalls beeindruckend.

Plötzlich wurde das Licht im Zimmer gedimmt. Die Fensterscheibe war nun getönt. Marissa benötigte einen Moment, bis sie begriff, was sie erblickte. In der Spiegelung sah sie nicht mehr das Zimmer, in dem sie mit Zaim stand. Es schien, als würde sie in einen anderen Raum schauen. Fanposter von Animes hingen an den Wänden, die Regale waren mit Büchern oder Mangas befüllt. Ein Klamottenberg lag auf dem Boden. Ausläufer des Haufens zogen sich bis über den hellen Holzrahmen des Betts. Marissas Augen wurden groß. Im Bett lag unter dicken Decken ihre kleine Schwester, Linda. Ihr Gesicht war entspannt. Eine kleine Hand hatte sie unter ihre Wange geschoben. Marissa bemerkte erleichtert, dass sich die Decke unter ihren gleichmäßigen Atemzügen hob und senkte.

„Geht es ihr gut?“, flüsterte Marissa ehrfürchtig.

„Sie ist erschöpft und muss sich noch etwas erholen.“

Marissa nickte. Vorsichtig schritt sie auf das Fenster zu und ging vor dem Sims in die Hocke. Unsicher streckte sie die Hand nach ihrer Schwester aus. Als ihre Finger gegen das kühle Glas stießen, verspürte Marissa einen Schwall der Enttäuschung über sich hinwegfegen. Sie legte die flache Hand auf die Scheibe.

Die andere Hand presste sie auf ihren Mund und hielt die Luft an, um nicht laut zu schluchzen. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Als sie den Druck in ihrem Inneren nicht mehr ertrug, stieß sie die Luft aus und atmete tief durch.

Sie wischte sich grob mit dem Handrücken die feuchten Spuren fort und wandte sich zu Zaim. Er saß auf der Bettkante hinter ihr.

„Ich kann sie nicht berühren.“

„Ihr Körper ist gestorben, Marissa. Ich konnte nur ihre Seele retten und zu dir bringen.“

Marissa schluckte schwer, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Sie würde sie nicht in den Arm nehmen können. Zusammen hinauszugehen war unmöglich. Aber sie könnte sich hier um Linda kümmern. Könnte dafür sorgen, dass es ihr gut ging. Könnte es wiedergutmachen …

Marissa ging zum Bett und ließ sich neben Zaim auf die Bettkante sinken. Den Blick hielt sie fest auf das Gesicht ihrer Schwester gerichtet.

„Sie sieht zufrieden aus.“

„Du siehst erschöpft aus.“

„Ich bin auch erschöpft und müde.“

Zaim erhob sich. „Dann ruh dich aus. Ihr werdet noch alle Zeit der Welt zusammen haben.“

Er machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

„Zaim?“

„Hm.“

„Kannst du hierbleiben?“

Er schaute sie fragend an.

„Ich meine, ich möchte Linda bei mir haben. Ich wünsche mir, dass sie die ganze Nacht da ist.“

„Keine Sorge“, sagte er und seine Stimme klang überraschend sanft. „Ich gehe nirgendwo hin. Ich bin gleich nebenan.“

Er verließ den Raum.

Marissa legte sich voll bekleidet auf das Bett. Sie zog das Kissen zu sich heran. Ihr fielen die blutverschmierten Ärmel an dem Oversized-Pullover auf. Das Blut hatte eine harte Kruste gebildet. Angeekelt verzog Marissa das Gesicht. Mit dem Fingernagel versuchte sie, das geronnene Blut abzuknibbeln. Es schien, als würde sie die Spuren auf dem Ärmel nur schlimmer machen und zusätzlich Krusten unter ihren Fingernägeln sammeln. Marissa schüttelte sich kurz und ließ es gut sein.

Sie bettete ihren Kopf so auf das Kissen, dass ihr Blick weiter auf ihrer schlafenden Schwester ruhte.

Kapitel 2

Nach einer unruhigen Nacht erwachte Marissa. Ihre Lider waren schwer, die Augen geschwollen. Verwirrt sah sie sich um. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war. Schlagartig fiel es ihr ein. Ihr Blick schwang zur Fensterfront. Das Spiegelzimmer war noch da, aber die Decke war zurückgeschlagen und Linda lag nicht mehr in ihrem Bett.

Marissa sprang auf, um ins Wohnzimmer zu eilen. Mit dem Fuß blieb sie am Bettgestell hängen und stolperte. Sie fing sich am Türrahmen ab. Ihr langes Haar war zu einem einzigen Knäuel geworden und verschleierte jetzt ihren Blick. Leise fluchend wischte sich Marissa die Haare aus dem Gesicht und humpelte in den Raum.

Ein mädchenhaftes Giggeln zog ihre Aufmerksamkeit auf das kleine Kind, das dort in der Wohnzimmerspiegelung saß.

Linda saß auf einem Sessel. Ihre Finger umschlossen einen Manga, der gerade auf ihrer Brust ruhte. Mit der anderen Hand hielt sich Linda halbherzig den Mund zu, um ihr Lachen zu verbergen.

„Du bist so trottelig, Marissa.“

Marissa hörte sie kaum. Sie sah das kindliche Gesicht ihrer Schwester, das sie voller Leben anstrahlte. Schon wieder kamen ihr die Tränen. So langsam sollte sie sich doch leer geweint haben, dachte sie.

„Hi, Lini!“, sagte sie und zog die Nase hoch.

Sie tapste hinüber und kniete sich vor Lindas Spiegelung auf den Boden.

„Wie geht’s dir?“

Linda wirkte irritiert. Sie zog die kleinen Augenbrauen zusammen und antwortete nach einem kurzen Zögern.

„Gut … geht es dir auch gut?“

Marissa lachte auf. Sie wischte sich über die Augen. Da erschien ein Taschentuch in ihrem rechten Augenwinkel. Zaim saß auf der Couch und reichte es ihr. Sie bedankte sich, nahm es an und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase.

„Was ist los?“, fragte Linda.

„Nichts“, beteuerte Marissa unter Tränen. „Ich freue mich nur so, dich zu sehen.“

„Aha.“

„Ich hab‘ wirklich nichts“, lachte Marissa.

„Dafür heulst du aber ziemlich viel.“

Marissa musste erneut auflachen. Für ihre neun Jahre war ihre Schwester immer schon recht neunmalklug gewesen. Ihre trockene Art, Menschen alles direkt an den Kopf zu werfen, würde ihr vielleicht irgendwann Probleme bereiten. Der Gedanke versetzte Marissa einen Stich. Es würde kein Später mehr geben.

Marissa atmete tief durch.

„Du hast recht. Deshalb hör‘ ich jetzt mit dem Heulen auf.“

„Wer’s glaubt.“

Marissa schüttelte sich kurz, um die schlechten Gefühle zu vertreiben. „Ich habe Hunger. Wollen wir frühstücken?“

„Ich kümmere mich drum“, sagte Zaim und ging hinüber an die kleine Küchenzeile. Er holte allerlei Dinge aus dem Kühlschrank, setzte Wasser auf und nahm Geschirr aus dem Schrank. Kurz überlegte Marissa, ihm zu helfen, entschied sich dann aber dagegen.

„Was liest du gerade?“

„Yona.“

„Einen Manga?“

„Ja.“

„Was heißt Yona?“

„Yona ist ein Name. Sie ist eine Prinzessin.“ Es war nahezu bezaubernd, wie viel Skepsis sich im Kindergesicht Lindas abzeichnete.

„Und worum geht es?“

„Du kannst Mangas nicht leiden. Du meinst doch immer, die sind doof und nur für Menschen, die zu blöd zum Lesen sind, genau wie Insta.“

Marissa biss sich auf die Unterlippe. Ja, das hatte sie im Streit gesagt und natürlich nicht so gemeint.

Wie alle, die sie kannte, nutzte sie selbst auch Instagram und ihre Freundin Miri stand auch voll auf Mangas. Marissa konnte nur nichts damit anfangen. Sie bevorzugte geschriebene Bücher. Vor ihrem inneren Auge lief dann ein Film ab. Sie brauchte keine Zeichnungen dazu. In der Regel bissen die sich mit den Bildern in ihrem Kopf.

„Vielleicht hatte ich unrecht und versuche mal was Neues“, sagte Marissa ausweichend und ein bisschen zu fröhlich.

Zaim stellte gerade Wurst, Käse und Nutella auf den Tisch. Marissa verzog kurz das Gesicht, riss sich dann aber zusammen.

„Nun sag schon, worum es geht.“

„Das ist der 32. Band. Du würdest eh nicht verstehen, worum es geht.“

„Dann erzähl mir doch alles, was ich wissen muss.“

„Ach, tu nicht so.“

Marissa wusste, sie hatte gewonnen. Sie spürte, dass Linda unbedingt aus dieser Manga-Serie berichten wollte. Sie musste nur noch ein wenig dranbleiben.

Der beißende Geruch von Kaffee stieg ihr in die Nase und lenkte sie kurz ab. Zaim stellte ihr eine Tasse hin und setzte sich mit seiner in der Hand zurück auf die Couch.

„Doch komm, erzähl es mir“, drängte Marissa und rutschte über den Boden zur gegenüberliegenden Seite des Tischchens. Nun, als sie aus dem Weg war, setzte sich der Tisch in der Spiegelung zu Lindas Zimmer fort. Linda warf noch einen flüchtigen Blick ins Buch, klappte es dann zu und setzte sich auf. Ihre Augen begannen zu funkeln.

„Also, Yona ist die Prinzessin von Kōka. Sie ist schon immer in Su-Won verliebt, sieht ihn aber erst an ihrem 16. Geburtstag wieder und dann …“

Linda gestikulierte wild mit den Armen, während sie sehr detailverliebt Einzelheiten aus der Serie erzählte. Marissa bestrich sich nebenbei einen labbrigen Toast mit Butter und biss hinein. Sie versuchte, Lindas Ausführungen ernsthaft zu folgen. Die Freude ihrer kleinen Schwester ließ sie nach langer Zeit endlich mal wieder frei atmen. Sie ignorierte sogar den pappigen Geschmack des Toasts und trank den bitteren Kaffee, den Zaim ihr hingestellt hatte.

Marissa kam aus dem Bad. Kaffee schlug ihr immer so auf den Magen. Sie rieb sich den Bauch. Außerdem brummte ihr Schädel. Linda hatte ohne Punkt und Komma geplappert.

Marissa ging zurück ins Wohnzimmer. Es war merkwürdig hell im Raum. Erschrocken stellte sie fest, dass die Fenster wieder normal waren. Die Spiegelwelt war verschwunden.

„Keine Sorge, ich wollte nur etwas mit dir besprechen“, sagte Zaim.

Marissa beruhigte sich augenblicklich ein wenig, aber das mulmige Gefühl im Magen blieb.

Sie setzte sich Zaim gegenüber auf den Boden. Wie lange war sie im Bad gewesen? Der Tisch war bereits abgeräumt. Statt des Geschirrs lag dort nun ein Briefumschlag. Zaim beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. Er trug eine schwarze Hose, Boots und einen Steve-Jobs-Gedächtnispulli, nur dass dieser an seinem athletischen Oberkörper ganz anders wirkte.

Trug er eigentlich nur schwarz?

Da fiel Marissa auf, dass sie noch immer in der Kleidung vom Vortag hier saß. Sie schaute an sich herunter. Oh Gott, die Blutschlieren waren unübersehbar. Hoffentlich hatte Linda sie nicht bemerkt. Am liebsten würde sie den Pulli verbrennen. Die Spuren erfüllten sie mit Scham. Aber jetzt würde alles gut werden. Sie brauchte nur neue Sachen. Hatte sie eigentlich Klamotten hier?

„Im Schlafzimmerschrank ist Kleidung für dich.“

Das war gruselig. Als könne er ihre Gedanken lesen. Marissa versuchte sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Sie nickte.

Ihr Blick wanderte weiter über sein Gesicht. Er besaß markante Gesichtszüge und versprühte eine gewisse Autorität, wobei er nicht so viel älter sein konnte als Marissa selbst, vielleicht Mitte zwanzig.

Die dunkle Kleidung ließ den Kontrast zu seinem blonden Haar und den eisblauen Augen noch härter wirken. Ein paar Strähnen fielen ihm in die Stirn. Fragend hob er die Augenbrauen.

Marissa sah schnell zum Fenster, dann auf ihre Hände. Hatte sie ihn zu lange angestarrt? Wie unangenehm.

Zaim räusperte sich. Mit dem Kopf deutete er auf den Umschlag vor ihr.

Marissa runzelte die Stirn, griff aber danach, ohne Fragen zu stellen. Sie öffnete ihn und zog einen Zettel und zwei Fotos hervor.

„Auf diesem Wege wirst du die einzelnen Aufträge von mir erhalten. Du wirst Bilder des Zielobjektes sowie einen Steckbrief darin finden. Auf dem Steckbrief steht, woraus das Glück der Person besteht.“

Marissa zog das Papier hervor. Darauf stand:

Name: Jacob SommerAlter: 20Familie: Eltern verheiratet / keine Geschwister Beziehungsstatus: ledigKinder: keineLebensglück: Arzt werden

„Was ist mit ‚Arzt werden‘ gemeint?“

„Jacob stammt aus einer Familie von Ärzten in der nunmehr dritten Generation. Knüpft er an diese Tradition an, wird er seine ganze Familie stolz machen. Außerdem hatte er schon immer ein Helfersyndrom, welches er darüber kompensieren kann.“

Marissa missfiel Zaims Tonfall.

„Ist es nicht gut, wenn Ärzte helfen wollen?

„Schon, aber Teil des Helfersyndroms ist es auch, sich über seine Helferrolle zu definieren und aufzuwerten. Das Bedürfnis gebraucht zu werden, kann sich bis zur Selbstaufgabe steigern und rührt häufig von einem geringen Selbstwertgefühl her. So gesehen opfern sich diese Menschen aus egozentrischen Motiven. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“

Marissas Nackenhaare stellten sich auf. Sie räusperte sich.

„Aber er ist doch noch gar nicht fertig mit dem Studium. Wie kann es dann sein Glück darstellen?“

„Sein Traum hat sich mit dem Eintritt ins Studium schon erfüllt. Es besteht für ihn kein Zweifel, dass er sein Ziel erreicht hat. Er muss nur noch die Zeit überbrücken.“

„Und wie zerstöre oder stehle ich sein Glück?“

„Ich schlage vor, du beobachtest ihn. Ihn zu finden wird kein Problem sein, ich kann dich jederzeit zu ihm bringen. Suche seine Schwachstelle oder den Punkt, an dem du angreifen kannst. Hier hast du dein Smartphone, falls du dich im Internet inspirieren lassen willst.“

Marissa nahm ihr Smartphone entgegen. Ihre schöne verschnörkelte Holzhülle war verschwunden. Das weiße Plastik fühlte sich ungewohnt glatt an. Sie drückte auf den Startknopf. Sofort erhellte sich der Bildschirm und zeigte blauen Hintergrund. Der Akku war vollgeladen.

Mit der Fingererkennung entsperrte sie das Gerät und sie sah sich selbst, wie sie mit beiden Händen durch das Fell eines Golden Retriever wuschelte. Laika, dachte sie, und das Ziehen in ihrem Magen verstärkte sich wieder.

Sie spannte die Bauchmuskeln an, um mit Druck entgegenzuwirken.

„Kann ich dich damit auch erreichen?“

„Nein.“

Keine weitere Erklärung. Es folgten einige Sekunden, in denen die beiden sich unverwandt ansahen.

„Weshalb nicht?“

„Ich besitze keines.“

Im ersten Moment hatte Marissa das merkwürdige Gefühl, belogen zu werden. Dann rief sie sich wieder in Erinnerung, dass Zaim kein Mensch war. Vielleicht brauchte er sowas einfach nicht.

„Wie lange habe ich Zeit?“

Zaim stellte die Phiole auf den Tisch. Sie war noch zur Hälfte gefüllt.

Überrascht griff Marissa danach und betrachtete die schwindende Flüssigkeit.

„Wie ist das möglich? Sie war gestern doch noch voll.“

„Lindas Zimmer wollte eingerichtet und mit schönen Dingen gefüllt werden. Ihre Seele musste genährt und geheilt werden, das kostet Glück.“

„Das heißt, ich habe nur einen Tag?“ Marissa hasste das Zittern in ihrer Stimme.

„Zwei bis drei Tage, abhängig von den Bedürfnissen und Wünschen deiner Schwester.“

Marissa atmete tief ein und presste dann die Hand auf den Mund. Angestrengt sah sie aus dem Fenster. Wie sollte sie das nur machen?

„Ok, bring mich zu ihm.“

„Unten wird ein Taxi auf dich warten. Es bringt dich zu Jacobs derzeitigem Aufenthaltsort.“

Entschlossen sprang Marissa auf und stapfte zum Schlafzimmer.

„Du willst dir nicht ansehen, wie er aussieht?“

Im Türrahmen blieb sie stehen und sah Zaim an. Ihm schien es eine diebische Freude zu bereiten, sie auflaufen zu lassen.

Marissa kehrte an den Tisch zurück und zog die Bilder hervor.

Auf dem ersten war ein junger Mann. Er war von drahtiger Statur. Seine fuchsroten Haare fielen ihm leicht in die Stirn, seine grünbraunen Augen waren von ebenfalls roten Wimpern umgeben. Seine Haut wirkte wie aus Porzellan. Feine Sommersprossen machten sein Gesicht noch interessanter. Er trug ein Trikot und hatte einen Volleyball in der Hand. Trotz der Aufmachung wirkte sein Gesichtsausdruck irgendwie schüchtern auf Marissa, oder bildete sie sich das ein, wegen dem, was Zaim gesagt hatte?

Auf dem zweiten Foto war eine Szene unter einem Weihnachtbaum zu sehen. Umringt von seinen Verwandten hielt eine viel jüngere Version von Jacob ein Stethoskop an die Brust eines alten Mannes. Die Erwachsenen im Bild schienen sich über diese Situation köstlich zu amüsieren.

Marissa unterdrückte einen abfälligen Laut. Sie wusste nicht, weshalb das zweite Bild sie irgendwie wütend machte.

„Wie lange wird das Taxi zur Verfügung stehen?“

„Wann immer du es brauchst, wird es da sein, um dich von hier fortzubringen“

„Ok, ich geh duschen, zieh mir was an und dann mache ich mich auf den Weg.“

„Ruf nach mir, wenn du etwas brauchst“, sagte Zaim und löste sich in Luft auf.

Marissas Augen weiteten sich. Was war Zaim und wie weit reichten seine Kräfte?

Marissa ließ das Duschwasser viel zu lange über ihren Körper laufen. Aber es fühlte sich so wohlig warm an. Außerdem entspannte sich ihre Nackenmuskulatur ein wenig. Das Rauschen dämpfte den Sturm ihrer Gedanken, die sie sowieso nicht greifen konnte.

Zirka eine Stunde später war Marissa bereit. Sie hatte eine unauffällige Jeans und ein T-Shirt aus dem Schrank gezogen, warf sich eine dünne Jacke über und verließ die Wohnung. Unten stand tatsächlich ein einzelnes Taxi direkt vor der Haustür.

Unsicher näherte sich Marissa dem Fahrzeug. Beinahe hätte sie einen Satz gemacht, als sich die Tür wie von Geisterhand öffnete. In leicht geduckter Haltung ging sie auf den Wagen zu. Wie peinlich wäre es, wenn da jetzt jemand im Taxi säße und sie einfach dazu stieg?

Die Rückbank war leer. Zur Fahrerkabine hin war eine schwarze Trennwand eingelassen. Mit Unbehagen glitt Marissa auf den Sitz und schloss die Tür. Verdammt, was sollte sie dem Fahrer sagen, wohin es ging. Und wie sollte sie bezahlen? Marissa beugte sich vor und klopfte zaghaft an die Trennscheibe. „Entschuldigung“, sagte sie viel zu leise.

In diesem Moment setzte sich das Taxi in Bewegung. Marissa drückte sich in den Sitz und schnallte sich mit fahrigen Handbewegungen an.

Sie fuhren nur wenige Minuten, die Marissa wie eine Ewigkeit erschienen, dann parkte der Wagen am Straßenrand und die Tür schwang auf. Hastig löste Marissa ihren Gurt und hüpfte aus den Wagen.

Sie stand vor dem Schultor eines Sportgymnasiums. Aus eigener Erfahrung wusste Marissa, dass auch andere Gruppen neben den Schüler*innen die Hallen nutzen durften. Sie selbst hatte nicht diese Schule besucht, aber sie kannte das Gelände, weil sie mit ihren Volleyballmädels hier manchmal Freundschaftsspiele austrugen… ausgetragen hatten. Jacob schien gerade beim Sport zu sein.

Marissa schob das quietschende Tor auf. Es sollte niemand mehr in den Lehrräumen sein. Trotzdem fühlte Marissa sich beobachtet. Noch nie hatte sie dieses Gelände allein betreten.

Marissa ging zur nächstgelegenen Halle. Von außen war sie nicht einzusehen, weil die Fenster zu hoch waren. Allerdings drangen Rufe wie „Gib ab“ und „Schieß endlich“ von innen heraus. Das klang definitiv nicht nach Volleyball.

Sie ging zur nächsten Halle und zwang sich dabei, nicht nervös umherzuschauen. Was machte sie hier eigentlich? Was brachte es ihr, Jacob beim Sport zu beobachten? Eine bessere Idee fiel ihr aber auch nicht ein.

Endlich hatte sie Haus D erreicht. Hier hatte auch ihr letztes Spiel stattgefunden. Sie ging um das Gebäude herum und schaute durch die Fenster in den Keller. Treffer! Hier trainierten Männer Angriffe am Netz. Es knallte bei jedem Schlag, der auf einen Ball traf.

Der Klang war Musik in ihren Ohren und augenblicklich entspannte Marissa sich ein wenig. So weit, so gut. Sie brauchte nur eine verdeckte Position, aus der sie beobachten konnte. Auf keinen Fall wollte sie wie ein Creep wirken, der durchs Fenster stierte.

Suchend sah sie sich um. Neben dem Eingang stand eine grüne Insel, bestehend aus einem Baum und Büschen. Versteckt wäre sie dort schon, aber mitbekommen würde sie nichts. Da entdeckte sie eine Tischtennisplatte nur wenige Schritte entfernt. Marissa ging hinüber, setzte sich darauf und zog ihr Smartphone hervor. Alibimäßig wischte sie darauf herum und blickte an dem Bildschirm vorbei durch das Hallenfenster.

Rothaarige würde es doch nicht so viele geben, dachte sie. Ihre Annahme war richtig. Schnell hatte sie Jacob ausgemacht. Er war einer der Steller. Hochkonzentriert nahm er jeden Ball an und pritschte für den Angreifer. Er war gut. Er passte jede Angriffsvorbereitung auf die angreifende Person an, variierte in Höhe und Distanz zum Netz und bezog die jeweiligen Laufwege mit ein.

Von ihrem Aussichtspunkt verfolgte Marissa das gesamte Training. Jacob blieb trotz seiner durchschnittlichen Größe ausschließlich in der Stellerposition. Er verteidigte nicht, er griff nicht an. Das war zwar nicht unüblich, fiel Marissa aber auf. Außerdem klatschte er wirklich oft ab, bei jedem Erfolg, bei fast allen Fehlern. Es wirkte etwas viel.

Aber die anderen Jungs oder Männer schien das nicht zu stören.

Ein blonder Typ stach Marissa besonders ins Auge. Er war voller Energie, wirkte ehrgeizig, aber nicht verbissen – eine seltene Kombination. Sein Stil ähnelte dem von Clara, Marissas bester Freundin.

Marissa drängte den Gedanken zur Seite. Gerade klatschten die Spieler sich unter der Netzkante ab. Anscheinend war das Training vorbei. Während alle anderen das Equipment abbauten, blieben der Blonde und Jacob noch einen Moment in der Halle stehen.

Der Blonde gestikulierte und deutete zum Netz. Jacob nickte mehrmals.

Nach und nach verließen die Spieler die Halle. Marissa sprang von der Tischtennisplatte. Bald würden sie herauskommen. Sie lief zum Eingang hinüber und wartete. Ihr Magen flatterte nervös. Sie wusste nicht, was sie vorhatte. Marissa handelte instinktiv und sagte immer wieder, wie ein Mantra, „Niemand wird sich an mich erinnern“ leise vor sich her.

Sie stand neben der Eingangstür. Als würde sie auf jemanden warten, lehnte sie an der Wand und spielte mit ihrem Smartphone.

Dann hörte sie Stimmen. Zwei Männer mit Sporttaschen kamen heraus. Sie unterhielten sich und beachteten sie nicht. Sie musste nur durch die noch offene Tür schlüpfen. Ihre Füße wollten sich aber nicht bewegen. Mit einem Klacken fiel die Tür wieder ins Schloss. Marissa fluchte leise. Okay, aber beim nächsten Mal würde sie sich zusammenreißen.

Sie hörte schwere Schritte durch den Flur des Gebäudes hallen. Innerlich wappnete sie sich, doch dann kam ihr ein Gedanke: Was wollte sie denn da drin? Wollte sie in die Männerumkleide? Und dann?

Die Tür schwang auf. Ein Typ schaute Marissa beiläufig an. Diese wich dem Blick aus. Ihm folgten zwei andere, die eilig davonliefen. Als die drei weit genug weg schienen, sprang Marissa vor. Sie bekam die Klinke gerade noch rechtzeitig zu fassen.

Der kleine Triumph freute sie kurz. Dann hörte sie weitere Stimmen. Sie ließ die Klinke los und sprang zurück. Erschrocken vom Schnappen des Bolzens hechtete Marissa beinahe hinter den nächstgelegenen Baum. Sie schallte sich eine Idiotin und widerstand dem Drang, sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. Marissa hockte sich hin. Es war helllichter Tag. Sie konnte nur hoffen, dass ihr niemand Aufmerksamkeit schenkte.

Die Stimmen gehörten dem Blonden und Jacob. Sie trugen die großen Sporttaschen über den Schultern.

„Nein, lass mal“, sagte der Blonde.

„Aber alle werden da sein. Nur du fehlst.“

„Im Club ist sowieso jeder für sich. Da fällt gar nicht auf, dass ich nicht dabei bin.“

„Aber es geht doch darum, gesehen zu werden und mitreden zu können.“

„Worüber? Dass alle koksen und sich besaufen, während sie zu beschissener Musik rumzappeln?“

„Ach, die Musik ist gar nicht so schlecht, wenn man drauf ist“, lachte Jacob und knuffte seinen Begleiter freundschaftlich auf den Arm.

„Passt bloß auf, dass das nicht mal schiefgeht.“

„Ach, du malst das alles zu schwarz. Ich nehme ja nix, ich bin ja nur dabei.“

„Ja, vielleicht“, meinte der Blonde ausweichend.

„Außerdem kriegt man mit, wer mit wem was hatte.“

„Du klingst wie …“

Marissa konnte den Rest nicht mehr verstehen. Zumal weitere Jungs aus der Halle gekommen waren. Sie kauerte sich noch kleiner zusammen und hoffte, unentdeckt zu bleiben. Als die Luft rein schien, kam sie wieder auf die Beine.

„Da musst du aber noch etwas resoluter werden.“

Erschrocken zuckte Marissa zusammen. Zaim war neben ihr aufgetaucht.

„Oh Gott, hast du mich erschreckt!“

Sie presste eine Hand auf die Brust.

„Du musst gelassener werden. Wie willst du dich deinen Zielpersonen nähern, wenn du schon hier kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehst?“

Marissa sah sich suchend um, als würde die Antwort darauf auf einer Wand stehen.

Zaim ging an ihr vorbei. „Vergiss nicht, weshalb du das alles tust! Und jetzt komm, lass uns nach Hause gehen. Linda langweilt sich.“

Marissa lief hinter Zaim her.

„Wie werde ich denn gelassener?“

Zaim schaute sich nicht nach ihr um: „Du musst eine innere Distanz schaffen. Sie kennen dich nicht. Sie werden sich nicht an dich erinnern. Wen kümmert es also, was sie von dir halten?“

So konnte nur ein Typ von seiner Statur und Selbstsicherheit reden, dachte Marissa.

„Wenn du das nicht kannst, stell dir vor, du würdest in eine Rolle schlüpfen. Das bist nicht du. Das ist die Rolle, die du spielst, um ein Ziel zu erreichen.“

Sie waren an der kleinen Mauer, die das Grundstück umrahmte, angekommen. Zaim hielt Marissa das Tor auf.

Marissa versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. War der Rat ernst gemeint? Machte er sich lustig? Nervte sie ihn?

Zaim klopfte ihr auf die Schulter. „Pass bloß auf, dass dir kein Qualm aus den Ohren kommt. Es ist weitaus unkomplizierter, als du meinst. Die meisten Menschen sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie dich so oder so kaum wahrnehmen.

Menschen glauben immer, dass die ganze Welt sie sieht, wenn ihnen etwas Peinliches passiert. Am Ende sind sie als Person aber doch so unwichtig, dass es eigentlich niemanden interessiert.“

„Trotzdem ist das Gefühl in der Situation widerlich.“

„Das mag sein. Du musst für dich entscheiden, ob du dich diesem Gefühl stellen willst, um deine Aufgabe zu erfüllen.“

Er sagte es recht beiläufig. Dennoch fühlte sich Marissa, als hätte er eine Drohung ausgesprochen.

Suchend sah sich Marissa nach dem Taxi um. Es war nirgends zu sehen. „Der Wagen bringt dich immer nur von der Wohnung zur Zielperson.“

Gruselig, schon wieder schien Zaim ihre Gedanken zu lesen. Marissa wagte es nicht, nach dem Grund zu fragen.

Er war ein paar Schritte vorangegangen. Sie taperte hinter ihm her, bis seine Silhouette verschwamm und er sich in Luft auflöste.

Als Marissa die Wohnung betrat, streifte sie mit einem Seufzer die Schuhe von den Füßen und warf die Jacke auf die kleine Flurgarderobe. Der Fernseher lief. Gezeichnete Figuren beschossen sich mit bunten Energiebällen. Linda starrte wie gebannt auf den Fernseher. Zaim las in einem Buch.

„Was liest du da?“

Zaim klappte das Buch zu. „Anleitung zum Unglücklichsein, von Paul Watzlawick.“

Marissa seufzte, bei dem Titel fragte sie lieber nicht weiter nach.

Sie schaute in den Kühlschrank, ohne etwas zu wollen. Eine Angewohnheit, die sie schon als Kind hatte. Sie schloss die Tür wieder und schmiss sich neben Zaim auf die Couch. Ihre Schultern berührten sich. Das schien ihm nichts auszumachen.

„Nochmal wegen des in Rollen Schlüpfens … wie macht man sowas?“

Zaim überlegte kurz. „Kannst du gut vor Leuten sprechen? In einem Referat zum Beispiel?“

„Nein, wie furchtbar. Ich krieg‘ dann hektische Flecken und fange an, zu schnell zu reden. Ich bin gut im Ausarbeiten, aber sowas kann ich wirklich nicht gut.“

„Du hast aber meistens gute Noten bekommen, oder?“

„Ja, so 'ne 2 halt.“

„Das ist eine gute Note, Marissa. Auch wenn du dich nicht gut fühltest, musst du ja irgendwas richtig gemacht haben. Und du hast es durchgezogen.“

Marissa schüttelte sich unwillkürlich.

„Ok, dann anders. Du hast mal gekellnert, richtig?“

„Ja.“

„Du hast Bestellungen aufgenommen, höflich geplaudert und dumme Sprüche ertragen.“

„So viele dumme Sprüche gab es gar nicht, aber ja, das habe ich gemacht.“

In den letzten Sommerferien hatte sie beschlossen, dass es Zeit für einen Nebenjob wurde. Glücklicherweise leitete die Freundin ihrer Mutter ein Café und suchte nach einer Aushilfe. Im Nachhinein war sich Marissa nicht mehr sicher, ob es die freie Stelle gegeben, oder Birgit sie für Marissa geschaffen hatte.

„Hast du dich geniert, mit den Menschen zu reden?“

„Anfangs ein wenig, aber später nicht mehr.“

„Wieso?“

Marissa überlegte. Sie sah auf ihre geschlossene Hand. Sie hatte das Gefühl, mehrere Gründe finden zu müssen.

Sie streckte ihren kleinen Finger aus: „Es war mein Job, ich hatte keine andere Wahl, als zu interagieren.“

Es folgte der Ringfinger: „Die Menschen waren an sich freundlich und haben es mir in der Regel nicht schwer gemacht. Sie wollten ja auch etwas von mir und nicht anderes herum. Vielleicht ist das auch der entscheidende Punkt-Ich war in einer Funktion da und nicht, weil ich was von diesen Leuten wollte.“

Marissa schaute auf ihre drei gestreckten Finger und dann zu Zaim. Sie hielt ihre Hand hoch. „Meinst du das?“

„Ganz genau. Führe dir vor Augen, dass du in einer Funktion dort bist. Das hat nichts mit deiner Persönlichkeit zu tun. Und darüber hinaus gibt es nun für dich keine Konsequenzen durch diese Menschen.“

Marissa nickte. „Leichter gesagt als getan.“ Sie ließ sich tiefer ins Polster sinken und hing kurz ihren Gedanken nach. Zaim schlug sein Buch wieder auf.

Da Linda gut unterhalten schien, zog Marissa das Handy heraus und begann wahllos zu googeln:

- Medizinstudium -

- Voraussetzung -

- Aus dem Medizinstudium fliegen -

- Studiumsausschluss -

- Studiumsausschluss Medizin -

Nichts. Sie scrollte bis nach ganz unten und klickte sogar auf die zweite Seite der Suchergebnisse. Nichts.

Sie erstellte eine Frage bei GuteFragen.de, rechnete aber eigentlich nicht mit einer schnellen Antwort.

Dann änderte sie ihr Suchverhalten und gab Begriffe ein wie:

- Arzt gefeuert -

- Arzt entlassen -

- Medizin Zulassung verlieren -

etc.

Irgendwann riss Linda sie aus ihren Gedanken: „Ich hab' voll Hunger. Wann gibt’s essen?“ Sofort packte Marissa das schlechte Gewissen. Sie war so in ihre Recherche vertieft, dass sie Linda vernachlässigt hatte … schon wieder.

Zaim ging zur Küchenzeile hinüber. „Ich mache uns Spaghetti Bolognese“

„Ich ess‘ kein Fleisch“, warf Marissa ein.

„Dann für dich nur Spaghetti.“

Das Abendessen hellte Marissas Stimmung auf, auch wenn es für sie wirklich nur Spaghetti pur gab. Zaim und Linda schienen den gleichen Humor zu teilen. Marissa verstand nur in etwa die Hälfte der Insider und Witze. Dennoch machte es sie froh, dass Linda eine so schöne Zeit hatte und sie selbst niemandem Rechenschaft ablegen musste.

Niemand starrte sie mit traurigen Augen an, kein betretenes Schweigen, sowie sie sich an den Tisch setzte, keine versteckten Vorwürfe. Dankbar sah sie Zaim an. Ja, Marissa tat das Richtige.

Als Linda schlief und die Nacht schon lange hereingebrochen war, suchte Marissa noch immer nach einer Lösung ihres Problems.

Die Decke in ihrem Rücken zusammengeknüllt, lag sie in ihrem Bett.

„Hast du was rausgefunden?“, fragte Zaim. Er lehnte im Türrahmen zum Schlafzimmer.

„Ich hab‘ eine Idee, ich brauche etwas von dir und muss einen Weg finden, wie ich mich Jacob nähere. Morgen ist Montag, richtig? Weißt du, ob Jacob morgen Vorlesungen hat?“

„Ja, er müsste zwischen zehn Uhr und 16 Uhr in der Uni anzutreffen sein.“

Erschöpft ließ sie das Smartphone sinken.

„Ich werde ihn dann morgen nochmal beobachten.“

„Denk daran, dass die Zeit läuft.

Kapitel 3

Mit einem Rucksack auf dem Rücken stand Marissa vor dem Universitätsgebäude. Die städtische Uni war recht klein, aber landesweit für das Medizinstudium bekannt. Deshalb wimmelte es in ihrer Stadt auch von Studierenden. Marissa schritt auf den Haupteingang zu. Es gab nur vier Gebäude auf dem Gelände. Im Hauptgebäude wurden die medizinischen Fächer unterrichtet. Es gab noch ein Gebäude für Sozialwissenschaften, eines für Wirtschaftswissenschaften und eines für Sprachen. Marissa war sich sicher, dass sie hier nie studiert hätte. Ihr Interesse hatte schon sehr früh im naturwissenschaftlichen Bereich gelegen. Auch wenn sie sich noch nicht für ein spezifisches Fach entschieden hatte, war ihr nie der Gedanke gekommen, dass sie nicht studieren würde.

Nun würde sie sich für keine Fachrichtung mehr entscheiden, niemals auf eine Uni gehen und keinen Beruf erlernen.

Energisch schob sie die düsteren Gedanken beiseite. Das spielte jetzt keine Rolle mehr. Marissa hatte nun eine Aufgabe! Sie würde büßen und ihre Schwester versorgen.

Sie stieg die wenigen Stufen zum Eingang und direkt weiter in den ersten Stock hinauf. Die hohen Decken waren mit Stuckatur verziert. Das hölzerne Geländer war weiß gestrichen. Alles wirkte etwas steril. Sie lief einen langen Korridor entlang. Durch die hohen Fenster fiel Tageslicht. Anders als in diesen amerikanischen Collegefilmen, eilten nur einzelne Personen über den Flur. Die Türen zu den Hörsälen standen offen. Darin herrschte aufgeregtes Stimmengewirr, die Studierenden hielten sich also eher in den Räumen auf.

Zaim hatte Marissa verraten, in welchem Raum sich Jacob aufhalten würde. Sie kontrollierte den Campusplan auf ihrem Smartphone und glich die Raumnummern ab. Gefunden.

Sie merkte, wie ihr Herz schneller schlug und widerstand dem Bedürfnis, auf ihrer Lippe zu kauen. Marissa lugte durch die Tür und versuchte, Jacob ausfindig zu machen. Vielleicht war er ja gar nicht da, dachte sie voller Hoffnung.

Plötzlich überkam sie ein kalter Schauer und Zaims Worte hallten in ihr wieder: „Denk daran, dass die Zeit läuft.“

Marissa ballte die Hände zu Fäusten und schloss kurz die Augen. Sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. „Niemand wird sich an mich erinnern“, flüsterte sie.

Sie öffnete die Augen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entschlossen. Sie war eine Studentin! Sie studierte hier Medizin und nahm an diesem Kurs teil. Das war ihre Rolle. Niemand interessierte sich für sie. Weshalb sollten sie auch? Es waren mindestens 70 Leute in dem Raum. Marissa straffte die Schultern. Sie würde jetzt da rein gehen!

„Entschuldigung?“

Sofort zuckte sie zusammen. Hektisch sah sie sich nach der Stimme um. Sie sah in das Gesicht von Jacob.

Hastig stammelte sie eine Entschuldigung und trat zur Seite. Er lächelte sie freundlich an.

„Alles ok bei dir?“

Marissa spürte die Hitze in sich aufsteigen und vermutete, dass sie gerade hektische Flecken bekam. War sie so schnell aufgeflogen?

Sie nickte und mied Jacobs Blick.

„Hast du auch den Kurs bei Prof Peterson?“

Irritiert sah Marissa ihn an und brachte ein wackliges „Ja“ heraus. Ein paar quälende Sekunden lang sahen sie sich an. Da begriff Marissa, dass sie Jacob quasi mit ihrem Blick zurückhielt.

Sie blinzelte verlegen und schaute in den Hörsaal hinein.

„Bist du neu hier?“

Könnte man so sagen. Marissa nickte und brachte ein Lächeln zustande.

„Na dann mal los. Sie müsste gleich da sein und wird echt ungehalten, wenn wir nicht zum Start der Vorlesung vorbereitet auf unseren Plätzen sitzen. Komm!“

Marissa folgte ihm, unschlüssig, ob er sie aufgefordert hatte, in den Raum zu gehen oder ihm zum Platz zu folgen. Sie kam sich so dumm vor, taperte aber hinter ihm her.

Sie gingen ein paar Stufen hinunter. Das Podium und ein Whiteboard waren am unteren Ende der Treppe.

Auf halber Höhe schlängelte sich Jacob durch die Sitzreihe. Er grüßte verschiedene Leute freundlich. Marissa entschuldigte sich bei jeder Person, die ihr Platz machte, um sie vorbeizulassen. Ein Mädchen antwortete mit „Gerne“. Marissa kam sich albern vor, dass dieses eine Wort sie erleichterte.

Jacob legte seinen Rucksack auf den Tisch, nahm seinen Laptop heraus und drehte sich zu Marissa um.

„Wie heißt du?“, fragte er.

„Ehm, Diana“, antwortete Marissa. Sie verkniff es sich, die Augen zu verdrehen. Was war das denn für eine Übersprungshandlung gewesen?

„Freut mich, Diana. Ich bin Jacob.“ Er hielt ihr die Hand entgegen. Marissa schüttelte sie. Sein Händedruck war kraftvoll, aber nicht zu fest. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Jacob machte es einem leicht, sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Seine Augen wirkten ganz warm. Aus der Nähe sah man zarte Sommersprossen, die seine Haut weniger porzellanartig wirken ließen.

Er deutete auf den Typen neben sich. „Das ist Till.“ Der andere winkte Marissa zu. Sie erwiderte die Geste, setzte sich auf ihren Platz und wühlte in ihrem Rucksack herum. Die meisten Anwesenden hatten einen Laptop vor sich auf dem viel zu kleinen Tisch stehen. Sie hatte nichts dabei. Ihr Rucksack war leer. Sie hatte ihn nur aufgesetzt, um sich angepasster zu fühlen.

„Bist du morgen Abend eigentlich am Start?“, fragte Till.

„Selbstverständlich. Wer ist alles dabei?“

„Die üblichen Verdächtigen.“ Till senkte die Stimme. „Hast du noch was da, oder brauchst du noch?“

Jacob schüttelte unmerklich den Kopf und setzte sich endlich. Er drehte sich zu Marissa. „Hast du keinen Laptop dabei?“

Erwischt. Wieder schüttelte Marissa den Kopf.

„Hast du dir das Skript ausgedruckt?“

„Welches Skript?“

Jacobs Mundwinkel zuckte. „Kein Problem, schau einfach bei mir mit drauf.“ Er drehte den Laptop so, dass Marissa den Bildschirm sehen konnte. Darauf hatte er ein PDF mit verschiedenen Slides geöffnet. „Ich muss nur zwischendrin Notizen machen.“

„Okay.“

Eine hagere Frau mir kinnlangen grauen Haaren trat ans Podium. Das Gemurmel verebbte. Das musste die Professorin sein. Die Vorlesung begann.

Marissa saß hier und hing ihren Gedanken nach. Sie könnte auch gehen, wollte sich aber nicht dieser negativen Aufmerksamkeit aussetzen.

Die Vorlesung zog sich hin. Marissa verstand kein Wort. In Gedanken driftete sie immer wieder zu ihrem Auftrag. Irgendwas an dem Zusammentreffen mit Jacob war merkwürdig gewesen. Er war direkt auf sie zugekommen und ging so unbefangen mit ihr um. Hatte Zaim hier seine Finger im Spiel? Oder war Jacob einfach nur übertrieben freundlich oder irgendwie schräg? Seine Art würde es ihr aber leicht machen, sich ihm zu nähern, um ihren Auftrag auszuführen.

Marissa betrachtete sein Profil. Jacob presste die Lippen fest aufeinander und zog die Augenbrauen leicht zusammen. Akribisch machte er sich Notizen auf jede Folie. Es schien Marissa, als wäre er total in die Thematik abgesunken. Dieses ernsthafte Gesicht stand ihm auch gut.

Endlich schloss Professorin Peterson die Vorlesung. Gemurmel brandete auf. Viele der Studierenden schlugen ihre Laptops zu und begannen, ihren Platz zu räumen. Jacob machte keine Anstalten aufzustehen. Marissa wartete noch einen kurzen Moment, unsicher, wie sie sich verabschieden sollte. Sollte sie sich überhaupt verabschieden?

Jacob wandte sich ihr zu. „Und wie hat dir deine erste Vorlesung gefallen?“

„Ehm, ganz gut … denke ich.“

„Möchtest du auch Medizin studieren?“

Er begegnete ihrem ertappten Blick und lächelte. „Schon gut, ich hab‘ mich auch heimlich in Vorlesungen geschlichen, bevor das Studium anfing.“

„Ach, echt?“

„Klar, ich wollte mir vorher angucken, wie alles aussieht, wie man sich so verhält, was man dabeihaben sollte, und so weiter. Außerdem hab‘ ich mich irgendwie erwachsen und wichtig gefühlt, als ich da so zwischen den Studierenden saß.“

Er zwinkerte ihr zu.

Marissa konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

„Und? Wird es Medizin werden?“

„Ich denke eher nicht. Weshalb hast du dich für Medizin entschieden?“

„Ich möchte mal im Krankenhaus arbeiten. Jeder Tag ist anders und man muss so viel wissen. Es ist aufregend und anspruchsvoll. Außerdem könnte ich mir nichts Sinnvolleres für mein Leben vorstellen, als Menschen zu helfen.“

„Klingt nach einem Helfersyndrom.“

Jacob warf den Kopf in den Nacken und lachte kurz auf. Er strich sich mit der einen Hand über den Kopf und sagte verlegen grinsend: „Schon möglich, das kann ich wohl nicht abstreiten. Weißt du schon, was es werden soll?“

„Ich hab‘ gerade erst mein Abi gemacht. Ich wollte erstmal ein Jahr Pause machen, um mich zu orientieren.“ Marissa war überrascht, dass sie ihm das erzählte.

„Und, hast du neue Erkenntnisse gewonnen?“

Auf einmal fühlte Marissa ein leichtes Ziehen in ihrer Brust. „Ja, habe ich.“

Sie blickten einander ein paar Sekunden in die Augen.

„Wir gehen morgen zur After Work in den Club. Möchtest du auch kommen?“

Marissa wunderte es, wie unbefangen Jacob sie einfach inkludierte und direkt einlud, sich anzuschließen. Als sie ihn auf die Antwort warten ließ, schob er nach: „Dann könnte ich dir noch die anderen Seiten des Studentenlebens zeigen.“ Seine Freundlichkeit und sein Charme wirkten entwaffnend.

„In welchen Club denn?“

Jacob nannte ihr den Namen.

„Ich überleg‘ es mir, ok?“

„Mach, wie du dich wohlfühlst.“

„Ehm, okay. Ich geh‘ dann mal. Hat mich gefreut, Jacob.“

„Mich auch, Diana. Vielleicht sieht man sich ja.“

Sie würde morgen in dem Club sein, aber Jacob würde sie zu diesem Zeitpunkt bereits vergessen haben.

Kapitel 4

Jacob stand mit Liam, Dilara und Till vor dem angesagtesten Club der Stadt. Da ihre kleine Stadt auch nur drei Clubs hatte, war dieser hier genau genommen der einzige gute. Der Ort, an dem sich alle trafen, die dazugehörten. Deshalb war er besonders nervös.

Er war All-in-Black gekleidet, hielt einen Coffee-to-go in der Hand und gab sich so lässig wie möglich. Wie die meisten, die in diesen Club wollten, schwieg er eisern. Natürlich kontrollierte er gleichzeitig seine Gesichtszüge. Er hatte versucht, offen, aber nicht neugierig zu wirken. Im Vorfeld hatte er sich informiert, welcher DJ an diesem Tag auflegte, um eine Antwort parat zu haben, falls der Türsteher fragte. Mehrfach hatte er die anderen gebrieft. Till und Dilara hatten ernst genickt. Liam verdrehte nur seine Augen. Typisch für ihn. Er war Jacobs bester Freund, aber manchmal hasste er ihn für seine natürliche Gelassenheit.

Die Schlange rückte vor. Wieder wurde eine größere Gruppe abgelehnt. Vielleicht waren sie mit vier Leuten auch schon zu viele.

Um sich anders aufzustellen, waren sie zu weit vorgerückt. Sähen die Türsteher, dass sie sich aufteilten, wären sie aus Prinzip schon ausgeschlossen.

Jacob zwang sich zur Ruhe. Sein Blick flatterte zu sehr umher. Das würde auffallen. Da bemerkte er die brünette Frau. Sie schien helle Augen zu haben, mit denen sie ihn intensiv musterte. Jacob unterbrach den Blickkontakt. Er sollte nicht starren.

„Atmen, Alter“, flüsterte Liam mit einem angedeuteten Lächeln.

Jacob atmete tief durch.

Dilara und Till hielten sich an den Händen. Jacob überlegte, ob sie als Pärchen eher bessere oder schlechtere Karten hatten, hineinzukommen.

Die Schlange rückte vor. Sie waren an der Reihe. Die beiden bulligen Männer am Eingang blickten ernst. Jacob zwang sich, den Blick mit freundlicher Miene zu erwidern und hoffte, dass es ihm besser gelang, als es sich anfühlte.

„‘nabend“, grüßte Liam. Jacobs Herz rutschte in die Hose. Der Trottel würde alles vermasseln.

„Mit wem bist du hier?“, fragte der eine Türsteher Liam.

Ok, jetzt ist alles aus. Sie werden bestimmt allesamt weggeschickt.

„Mit denen“, Liam deutete auf seine Freunde.

Der Mann trat zur Seite und gab ihnen mit einer knappen Andeutung zu verstehen, einzutreten.

Sie huschten hinein. Jacob freute sich diebisch. Jedes Mal, wenn er es in diesen Laden schaffte, hatte er das Gefühl, zu den angesagten Leuten zu gehören.

Sie bezahlten, gaben ihre Jacken ab und gingen in den Barbereich.

„Man Liam, du hast immer so eine verdammte Ruhe weg. Der Typ hat mich voll eingeschüchtert. Ich konnte ihm nicht mal ins Gesicht sehen“, sagte Dilara.

„Die machen doch auch nur ihren Job. Und wären wir nicht reingekommen, hätten wir einfach heute Abend nicht hierher gepasst.“

Jacob klappte die Kinnlade herunter. Das war doch nicht sein Ernst!

Till klopfte Liam lachend auf die Schulter, als hätte er sie durch die Tür gebracht. Nun ja, hatte er vielleicht auch, musste Jacob zugeben.

„Was wollt ihr trinken? Die erste Runde geht auf mich!“, sagte er.

Die anderen nannten ihm ihre Getränkewünsche und Jacob steuerte die Bar an. Vorsichtig drängte er an herumstehenden Menschen vorbei, bemüht niemanden anzurempeln, aber trotzdem entschlossen aufzutreten. Erleichterung durchströmte ihn, als Liam an seiner Seite auftauchte. Das beklemmende Gefühl ließ etwas nach.

Jacob beschloss, gleich im Anschluss schnell auf die Toilette zu verschwinden. Nach einer ordentlichen Nase ging es ihm besser und er musste diese selbstbewusste und gesellige Art nicht mehr vorspielen.

Mit drei Gläsern Sekt für sich, Dilara und Till – die beiden würden bestimmt mitziehen – gingen sie zu den beiden zurück. Liam hatte er eine Rum-Cola ausgegeben. Jacob hätte es nicht gewagt, ihm etwas anderes anzubieten. Die Haltung seines Freundes zu Drogen war klar. Tatsächlich schämte sich Jacob ein wenig vor Liam und wollte nicht, dass er es mitbekam.

„Ich werde mal aufs Klo“, sagte Jacob, sowie sie die anderen beiden erreicht hatten. „Soll ich dein Glas halten?“, fragte Liam.

„Ja, danke.“

Jacob schob sich durch die Menschenmenge. Es war heiß in dem Laden und stickig. Die Nebelmaschine trug ihren Teil dazu bei. Die Lichter flackerten und ließen die Bewegungen der tanzenden Menge verzerrt wirken.

Plötzlich stieß er mit jemandem zusammen. Die Person war kleiner als er. Aus einem Reflex breitete er die Arme aus. Das Mädchen, welches in ihn gekracht war, schaute nun mit großen Augen zu ihm auf.

Er konnte sie über die laute Musik hinweg kaum verstehen, aber sie schien sich bei ihm zu entschuldigen. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von langem, leicht welligem Haar eingerahmt. Sie reichte ihm nur bis an die Schulter und sie roch ganz zart blumig. Jacobs Mund wurde schlagartig trocken.

Verdammt, wäre sie ihm doch nur auf dem Rückweg in die Arme gelaufen. Jacob lächelte, entschuldigte sich und ging weiter. Das Mädchen wandte sich zu ihm um, aber Jacob floh regelrecht.

Ob sie ihm nachschaute?

Auf der Toilette angekommen, zog Jacob sich in eine der schäbigen Kabinen zurück. Der Bass dröhnte hier dumpf. Die Toiletten besaßen keine Deckel. Wie widerlich wäre auch die Vorstellung, sich irgendwas von dort aus in die Nase zu ziehen.

Jacob zog sein Smartphone hervor. Zwischen Ring- und Mittelfinger hielt er den gekürzten Strohhalm. Er öffnete den kleinen Anhänger, der eigentlich dazu gedacht war, Ohrstöpsel zu transportieren, und streute eine nahezu saubere Line auf sein Smartphone.

Er setzte das Röhrchen an und zog das Pulver dadurch in die Nase. Jacob presste zwei Finger auf die Nasenflügel, um das leichte Brennen zu dämpfen, und atmete durch den Mund. Der Teil war unangenehm. Genauso hätte er auf den Rotz verzichten können, der ihm später den Rachen hinunterlaufen würde.

Er entspannte sich sofort ein wenig. Ob es schon von der Wirkung oder einfach durch seine innere Haltung kam, konnte er nicht sagen.

Jacob wartete noch ein paar Sekunden. Wischte dann sein Smartphone an der Hose ab und steckte alles wieder in seine Hosentaschen. Da bemerkte er etwas in seiner Gesäßtasche.

Irritiert schob er seine Hand hinein und umschloss mit den Fingern etwas Glattes. Es fühlte sich an wie Frischhaltefolie. Als er das Päckchen hervorzog, staunte er nicht schlecht. Es handelte sich um eingewickeltes weißes Pulver. Es mussten einige Gramm, von was auch immer, sein. Jacob wog das Päckchen in der Hand und pfiff anerkennend durch die Zähne.

Anschließend legte er das Päckchen auf den Toilettenkasten. Vielleicht wollte irgendwer es haben. Wo konnte das hergekommen sein? Er wusste, dass er diese Menge von was auch immer nie gekauft hätte. Er war doch nicht blöd.

Jacob bahnte sich den Weg zurück zu seinen Freunden. Er hielt Ausschau nach der duftenden Kleinen. In einem schlechten Film hätte sie ihm das Päckchen zugesteckt. Nicht die übelste Anmache. Jacob mochte es, wenn Frauen offensiv waren. Das machte es ihm so viel leichter, mit ihnen zu interagieren.

„Jacob“ trällerte eine schrille Stimme seinen Namen. Er sah sich nach ihrem Ursprung um. Ehe er sich versah, sprang ihm Merle um den Hals.

„Schön, dass du auch da bist! Jessi und Anna sind da hinten.“

Sie wirkte überdreht und winkte den zwei Mädels zu. In der Uni würde Merle ihn mit dem Arsch nicht angucken, aber hier war er dann einer von ihnen. Emma sei Dank. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Erschrocken fuhr sie wieder zu ihm herum. Stolz grinste er sie an. Merle boxte ihn spielerisch auf die Brust und giggelte. Oh, der Abend konnte nur gut werden.

„Bist du allein?“, brüllte Jessi in sein Ohr, als sie ihn erreichten.

Kurz spielte Jacob mit dem Gedanken, seine Freunde zu verleugnen. Wie cool wäre es denn, wenn er ganz allein losgezogen wäre, weil er niemanden brauchte.

„Nein, ich bin mit Till und Dilara hier“, Liam verschwieg er.

„Dann lass uns die beiden finden“, rief Jessi.

„Ach, die sind bestimmt schon wieder zusammen aufs Klo verschwunden, um eine Line zu ziehen.“

„Ihh, hier auf den ekligen Klos?“, interpretierte Merle, wie Jacob es gehofft hatte.

„Ach, im Stehen geht doch“, sagte Jessi.

„Egal, lasst uns was trinken. Ich geb‘ einen aus“ sagte Jacob, was mit lautem Gejohle quittiert wurde.

Merle schmiegte sich an seinen Arm, Anne ergriff den anderen und gemeinsam gingen sie in Richtung Bar. Er drängelte sich an zwei Typen vorbei an den Tresen, winkte den Kellner mit einer Geste heran und da war sie – war das die Süße von vorhin? Sie schaute ihn merkwürdig ernst an.

Jacob lächelte gewinnend und hob eine Hand, um sie zu grüßen. Ihre Miene blieb ausdruckslos. Daraufhin zog Jacob die Zeigefinger vor seinem Gesicht entlang, als würde er ein Lächeln zeichnen.

Die Fremde zuckte mit den Schultern.

Jacob machte die Geste nach und machte ein trauriges Gesicht.

Ihr Mundwinkel zuckte.

Merle zog an seinem Arm und quengelte. Sie wollte nicht mehr auf ihr Getränk warten müssen. Jacob ignorierte sie.

Jacob deutete Tanzbewegungen an.

Sie wackelte unentschlossen mit dem Kopf.

Er legte zwei Hände aufeinander und legte sie an seine Wange, als würde er sich zum Schlafen hinlegen.

Die Kleine schob abwechselnd die linke und die rechte Schulter vor und schaute in die Luft, als würde sie darüber nachdenken.

Na, aber hallo.

Jacob grinste breit und deute mit seinem Zeigefinger zwischen ihnen beiden hin und her.

Jetzt lachte sie endlich und ihm war, als würde die Sonne aufgehen. Dann nahm sie ihr Glas, drehte sich um und ging davon.

Was, einfach so? Ohne darüber nachzudenken, eilte Jacob ihr nach. Er bemerkte die Proteste der Leute, die er zur Seite drängte, gar nicht. Wenn er bei der Süßen heute nicht landen könnte, musste es nicht mit rechten Dinge zugehen.

Jacob war stolz auf sich, dass er sie nicht aus den Augen verlor, trotz des Lichts, der Menschen, des Rauches.

An der Treppe, die zu den Toiletten führte, blieb das Mädel stehen. Sie sah ihn wieder mit diesen hellen Augen an. Sie hatte eine sportliche Figur. Ihr enges Top betonte ihren Busen. Ihr kurzer Rock bedeckte gerade so ihren Hintern. Die dünnen schwarzen Netzstrumpfhosen regten Jacobs Fantasie an.

Sie tippte sich mit einem Finger an die Nase und ging die Treppen hinunter.

Wieder musste Jacob lachen. Wenn das so war …

Unten angekommen schlüpfte sie in eine Kabine und Jacob folgte ihr. Sie grinste ihn an, als er sich an ihr vorbei in den kleinen Bereich schob. Sie verschloss die Tür. Jacob stand total auf diese Spannung zwischen ihnen. Er wartete darauf, dass etwas passierte. Er hoffte nur, dass sie nichts sagen würde. Das bräche den Zauber.

Als hätte die Kleine es geahnt, sah sie ihm wieder tief in die Augen und hielt ihm ihr Glas hin. Jacob ergriff es und nahm einen Schluck. Gin-Tonic, gute Wahl.

Jacobs Blick fiel auf ihre Lippen. Sie waren ungeschminkt sogar etwas trocken, ganz anders als die geschminkten Weiber aus seinem Studiengang. Er beugte sich leicht zu ihr.

Die Fremde griff in ihre Tasche und zog einen kleinen Beutel mit weißem Pulver hervor.

Die Kleine war der Hammer.

Sie hielt ihm das Tütchen hin. Mit geübten Handbewegungen baute er eine Line und sie teilten sich seinen Strohhalm. Er bot ihr an, zuerst zu ziehen. Aber sie lächelte und nickte ihm auffordernd zu.

Jacob zog die Line weg. Kurz fragte er sich, ob er nicht etwas viel gezogen hatte, aber das würde er schon wegstecken. Wie gewohnt presste er sich die beiden Finger auf die Nasenflügel und schloss für einen Moment die Augen.

Dann spürte er Hände auf sich. Er atmete ihren blumigen Geruch ein und versuchte, die übrigen übleren Gerüche in der Luft zu ignorieren. Sie ergriff mit beiden Händen seinen Hintern.

„Now we are talking“, dachte er.

Gerade wollte er seine Arme um sie schlingen, und sich zu ihr runterbeugen, als sie ihn mit erstaunlicher Kraft von sich stieß.

Sie zerriss ihr Shirt. Wie konnte Stoff so leicht reißen? Genauso verfuhr sie mit der Strumpfhose.

Was zum …?

Die Tussi schloss die Tür auf und riss daran. Sie schlug diese hart gegen Jacobs Arm. Er protestierte laut. Es war zu eng in der Kabine, aber die Fremde riss mehrfach an der Tür, ohne Rücksicht auf Verluste. Jacob drängte sich gegen die Wand neben dem Klo. Jetzt hatte sie genug Platz, zog die Tür auf, machte einen Satz über die Klobrille und stürmte wild gestikulierend davon.

Verdammte Scheiße, was war denn plötzlich los mit der Schlampe?

Jacob verließ die Kabine, aber sie war nicht mehr zu sehen.

Was für ein Scheiß! Hätte er sich doch eher eine von Merles Freundinnen aufgerissen. So eine Irre. Tja, ihr Pech, die dumme … Jacob gingen diverse unflätige Schimpfwörter durch den Kopf.

Übellaunig stapfte er wieder die Treppen hinauf. Er sollte Liam und die anderen finden. Den Scheiß glaubten sie ihm nie. Seine Beine waren merkwürdig schwer und die Musik klang irgendwie dumpfer oder gedämpfter. War das vielleicht doch etwas viel gewesen? Oder war es gar kein Koks?

Am oberen Treppenabsatz blieb er stehen. Mit der einen Hand umklammerte er das Geländer und mit der anderen fasste er sich an die Stirn. Sofort war seine Hand schweißnass. Er sah auf. Zwei bullige Typen kamen auf ihn zukommen. Neben dem einen lief die geisteskranke Olle. Sie deutete immer wieder in Jacobs Richtung. Das Denken fiel ihm schwer. Die Bilder verschwammen vor seinen Augen.

Er schüttelte den Kopf aber anscheinend zu heftig. Er verlor das Gleichgewicht und seine Welt wurde erschüttert, als er die Treppen hinunterstürzte.

Irgendwann lag er still. Jacob fühlte sich leicht und zufrieden, keine Schmerzen und keine Unsicherheit. So glitt er wohlig in die Dunkelheit.

Marissa schmiss ihren Schlüssel auf die Flurgarderobe. Den Mantel warf sie achtlos daneben und die Tür hinter sich zu. Sie stieg aus den klobigen Stiefeln und taperte ins Wohnzimmer.

Dort saß Zaim, die Ellenbogen auf die Knie gestützt.

„Wo ist Linda?“

„Sie ist neun und es ist halb zwei Uhr morgens – sie schläft.“

Marissa ließ sich neben Zaim auf die Couch sinken und streckte die Beine aus. „Wie ist es gelaufen?“

„Gut, denke ich“, Marissa grinste ihn an.

„Du wirkst zufrieden mit dir.“

„So wie heute habe ich noch nie geflirtet. Irgendwie hat es Spaß gemacht, ihn in die Falle zu locken. Ich fühlte mich verrucht, wie eine Femme fatale, und es war alles so einfach. Dein Vorschlag mit den Rollen war Gold wert und es hat durchaus Vorteile, wenn sich niemand an einen erinnert. Ich war dadurch irgendwie mutiger. Ich bin fast ein bisschen stolz auf mich.“

„Was ist mit deinem Shirt und der Strumpfhose passiert?“

„Die hab‘ ich zerrissen.“

„Einfach so?“

„Ich hab‘ den Stoff vorher mit dem Rasierer angeraut.“

„Lass es mich anders formulieren: Wieso?“

„Ich musste sichergehen, dass die Polizei wirklich auf ihn aufmerksam wird.“

Marissa wich Zaims Blick aus.

„Und was hat dazu geführt?“

„Ach, stell dich doch nicht dumm, Zaim!“, sie ließ die Hände laut auf die Couch fallen.

„Sprich es aus, erst dann wird es greifbar und fühlt sich wahr an.“

Stur schob Marissa das Kinn vor. „Ich habe so getan, als hätte er mich angegriffen.“

„Du weißt schon, was es für einen Mann bedeutet, zu Unrecht der sexuellen Belästigung bezichtigt zu werden?“

Ärger wallte in Marissa auf.

„Er hat es ja nicht gemacht und ich, das vermeintliche Opfer, bin ja auch nicht auffindbar.“

„Das ändert nichts daran, dass er für immer stigmatisiert sein wird. Wir sind hier in einer kleinen Stadt, Marissa. Findest du, dass er das auch noch verdient hat?“

Marissa stand mit einem frustrierten Schnaufen auf. Es war alles seine Schuld. Er hatte ihr diese Aufgabe gestellt. Wieso wollte er jetzt, dass sie sich schlecht fühlte?

Marissa raufte sich die Haare. „Ich musste halt dafür sorgen, dass die Polizei ihn mitnimmt und kontrolliert. Anders hätten sie das Päckchen Keta-Koks nie bei ihm gefunden.“

Sie stapfte ins Schlafzimmer. Vor ihm musste sie ihre Taten als allerletztes rechtfertigen!

Marissa zog ihr zerrissenes Shirt über den Kopf und warf es in den Wäschekorb. Dann zog sie ihr Schlafshirt unter der Bettdecke hervor und schlüpfte hinein. Sowie sie wieder bekleidet war, tauchte Zaim in der Tür auf.

„Der Zweck heiligt also die Mittel?“

Entnervt rollte Marissa mit den Augen.

„Du hast mir doch diesen Auftrag gegeben! Es ist doch deine Schuld, dass ich ihn falsch beschuldigt und Drogen untergeschmuggelt habe. Das Päckchen mit dem Pulver war von dir!“

„Es ist ganz allein deine Entscheidung, ob und wie du die Aufträge erfüllst. Und du hast um das Päckchen gebeten und dafür sogar mit Glück bezahlt.“

Marissa hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Das Gefühl der Kränkung wurde nun von etwas anderem überlagert, etwas kaltem und klebrigem. Sie starrte ins Leere. „Als ob ich eine Wahl hätte!?“

„Die hattest du … wenn man es genau nimmt, haben dich drei Entscheidungen an diesen Punkt geführt. Jetzt versuche nicht, mir die Schuld zu geben, nur um dich besser zu fühlen.“

Er hätte sie auch ins Gesicht schlagen können. Der Effekt wäre für Marissa der gleiche gewesen. Sie spürte das vertraute Brennen hinter den Augenlidern. Aber sie würde jetzt nicht weinen. Das gönnte sie ihm nicht.

„Er hätte ja nicht mitkommen oder Drogen nehmen müssen. Das war doch seine Entscheidung. Außerdem war es auch nicht geplant, dass er die Treppe runterfällt.“

„Richtig, genau wie du, hat er seine Entscheidungen getroffen. Genau wie du hat er einen Fehler gemacht. Es ist nur bemerkenswert, dass gerade du keinerlei Mitleid empfindest.“

Marissa fühlte einen eisigen Schauer ihren Rücken hinunterrennen. Es machte sie wütend, dass Zaim gegen sie zu sein schien, aber er hatte recht. Jacob hatte einen Fehler gemacht, aber er war ein guter Mensch. Er war freundlich und fürsorglich. Nichts von dem, was sie ihm angetan hatte, hatte er verdient.

„Was war das Ziel des Ganzen?“ Zaims ruhige Stimme riss Marissa aus den Gedanken.