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Es sollte der perfekte Urlaub werden ... Einst waren Tilda und die beiden ungleichen Schwestern Imogen und Beck unzertrennlich, 20 Jahre später haben sie sich auseinandergelebt. Nachdem Imogen einen traumatischen Angriff überlebt hat, schlägt Beck vor, gemeinsam den Grand Canyon zu durchwandern, um wieder zueinanderzufinden. Eine Woche in der Einsamkeit der Natur ist genau das, was sie brauchen. Doch bald kommt es zu Spannungen: Ihre gemeinsame Vergangenheit ist nicht vergessen. Als Vorräte verschwinden, wird klar, dass alte Geheimnisse nicht das Einzige sind, von dem sie verfolgt werden. Die drei Frauen müssen ums Überleben kämpfen – gegen etwas Unbeschreibliches, das ihnen auf den Fersen ist. Ein neuer anspruchsvoller Thriller der gefeierten Autorin des Bestsellers BABY TEETH. Publishers Weekly: »Bis zur letzten Zeile traut sich der Leser nicht zu blinzeln.« Entertainment Weekly: »Erschreckend … Zoje Stage ist eine Meisterin der psychologischen Spannung.« BookPage: »Ein wirklich teuflischer Thriller.«
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Seitenzahl: 419
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Getaway
erschien 2021 im Verlag Mulholland Books.
Copyright © 2021 by Zoje Stage
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Festa Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-117-2
www.Festa-Verlag.de
In liebevoller Erinnerung an meine Mum
Ruth Stage (1942–2020)
Prolog
Es war vielleicht gar kein schöner Tag gewesen. In ihrer Erinnerung bildeten die golden schimmernden Blätter eines Ginkgobaums einen scharfen Kontrast zu den grauenvollen Blutspritzern. Aber in Wirklichkeit könnte es auch ein schlichter Ahornbaum gewesen sein. Und das Blut war drinnen vergossen worden, was sie gar nicht sehen konnte.
Innerhalb weniger Augenblicke nach dem Geschehen hatte Imogen den Überblick darüber verloren, was real war, was nur eingebildet. Hatte sie Schreie gehört? Oder gab es die auch bloß in ihrem Kopf? Später konnte sie der Polizei lediglich ihren Namen sagen, warum sie dort war, wann sie angekommen war und andere wenig hilfreiche Einzelheiten. Als man sie fragte, was sie gesehen habe, hatte Imogen nur den Kopf geschüttelt und ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr getraut.
Sie ging erst seit etwa einem Monat zur Etz-Chayim-Synagoge, obwohl sie eigentlich nichts von organisierter Religion hielt. Ihre Mutter war Jüdin und hatte ihr, als sie im Teenageralter war, erklärt, dass sie ebenfalls Jüdin sei – das vererbe sich nämlich im Judentum über die mütterliche Linie. Die Familie hatte allerdings nie ihren Glauben praktiziert oder auch nur darüber gesprochen. Imogen war die Einzige unter ihren Schulfreundinnen, die nicht zur jüdischen Sonntagsschule ging oder eine Bat-Mizwa gehabt hatte. Eine Zeit lang hatte sie anderen erzählt, sie sei halb Jüdin, halb Christin, aber das war ihr schon als zehnjähriges Kind blöd vorgekommen. Es hatte ihr immer Unbehagen bereitet, nicht zu wissen, wohin sie gehörte.
Erst als Kazansky’s schloss – der Feinkostladen, in dem sie immer Matzeknödelsuppe, Reuben-Sandwiches und koschere Gewürzgurken gekauft hatte –, fing Imogen an, über die ihr ganz unbekannte Kultur nachzudenken, und sie fragte sich, was es außer koscherem Essen sonst noch gab. Das erste Buch, das sie übers Judentum las, eröffnete ihr eine verblüffend neue Welt. Sie hatte vorher nie von einem Baum des Lebens gehört, der verschiedene Ebenen der Realität darstellte, oder davon, dass die Seele aus fünf verschiedenen Teilen bestand. Das Judentum lehnte die Vorstellung nicht ab, dass Gott ein Baum oder das Universum sei, es schloss niemanden aus, der eine Sache am Morgen glaubte, was anderes am Abend und gar nichts am nächsten Tag. Diese Art Spiritualität faszinierte sie.
Neugier ist der Katze Tod.
Imogen war zwar nicht gestorben, aber auch nicht mehr dieselbe seit jenem Oktobermorgen. Sie hatte sich angewöhnt, früh zu kommen, weil sich zu dieser Zeit immer einige ältere Gemeindemitglieder auf ein Schwätzchen trafen: Männer und Frauen, deren Eltern sie noch rechtzeitig aus Deutschland weggebracht hatten, in Pittsburgh geborene Senioren, die sie an ihre verstorbenen Großeltern erinnerten. Alle waren freundlich ihr gegenüber und glücklich darüber, dass eine ›junge Dame‹ ihre Kultur und Religion kennenlernen wollte. Mit ihren fast 34 Jahren war Imogen zwar nicht mehr ganz so jung, aber sie war zierlich und schon immer für jünger gehalten worden, als sie tatsächlich war. Sie genoss die Aufmerksamkeit der alten Herrschaften und dass sie so gern mit ihr redeten.
Die Schießerei hatte angefangen, als sie gerade die gläsernen Eingangstüren erreicht hatte.
So sah sie sich selbst in der Erinnerung an diesen Morgen. Mit ausgestrecktem Arm, die Hand fast an der Türklinke. Erstarrt.
Sie hatte noch nie eine Schießerei miterlebt, aber sie erkannte sofort den Klang. So laut wie Kanonenschüsse. (Eine Übertreibung.) Menschliche Körper, durchsiebt von Kugeln, wie auf einem Schlachtfeld. (Keine Übertreibung.) Sie wusste nicht, ob ihre Freunde, die alten Frühaufsteher, überrascht gewesen waren, im Schock die Münder aufgerissen und geschrien hatten. Oder hatten sie in ihrer Weisheit immer gewusst, dass so etwas passieren würde?
Einerseits hatte sie hineinrennen wollen, sich auf den Schützen stürzen, sich vor seine Waffe werfen wollen oder auf seinen Rücken, um ihm das Haar auszureißen, die Augen auszustechen. Andererseits war sie realistisch genug gewesen, Schutz zu suchen und sich hinter einem Busch zu verstecken.
Sie hatte immer wieder versucht, den Notruf zu wählen, aber mit ihren zitternden Händen hatte sie nicht mal ihr Telefon entsperren können. Es hatte auch keine Rolle gespielt. Sie hörte trotzdem auf einmal Sirenen. Immer mehr. Und das SWAT-Team. Und Fernsehteams. Sie kauerte immer noch hinter dem Busch, als die ersten Meldungen sich im Internet verbreiteten und die Nachbarschaft in Trauer versank.
1
Sie waren viel zu beschäftigt, um den Sonnenuntergang zu beobachten und den Aufgang des Mondes draußen vor Becks Haus in Flagstaff. Sie wollten morgen vor Tagesanbruch aufstehen und hatten immer noch jede Menge zu tun. In der Dunkelheit waren die Kiefern rings um das Haus nicht zu sehen, aber Imogen hätte schwören können, dass man sie riechen konnte, selbst durch die gläserne Wand.
Im Wohnzimmer mit den dicken Holzbalken und den schweren Möbeln sah es aus, als wäre eine Bombe explodiert. Wiederverschließbare Plastikbeutel, gefüllt mit Toilettenartikeln, Erste-Hilfe-Ausrüstung, Zeug zum Feuermachen. Dick gepolsterte Schlafsäcke, Rucksäcke, Isomatten, eine mit Noppen, die anderen aufblasbar. Wanderschuhe, gepolsterte Socken, Kapuzenpullover, verstellbare Nylongurte, Taschenlampen, Wanderstöcke aus Bambus, Plastikschüsseln, Proteinriegel, zusammengedrückte Rollen Toilettenpapier, Brennstoffkanister, Wasserflaschen. Von manchen Sachen gab es nur ein Exemplar: der kleine Campingkocher, der dazu passende Topf, die orangefarbene Plastikschaufel, um Kacke zu vergraben. Von anderen Sachen gab es viele: jede Menge Packungen gefriergetrockneter Nahrung, die sich durch Hinzufügen von kochendem Wasser in verführerische Mahlzeiten verwandelten.
Imogens Schwester Beck hatte sie aus ihrer Einsiedlerhöhle gelockt mit dem Versprechen, dass die Natur heilen würde. Was sie in Wirklichkeit meinte, lag auf der Hand: Hör endlich auf zu grübeln und komm mal aus dem verdammten Haus raus. Viermal innerhalb von zwei Wochen hatten sie darüber am Telefon gesprochen. Als Imogen bezweifelt hatte, dass sie allein nach Arizona fliegen könne, hatte Beck sie daran erinnert, dass sie das schon oft genug getan hatte; als Imogen bezweifelte, ob sie stark genug war für solch ein anstrengendes Unternehmen, hatte Beck ihr versichert, dass Rucksacktouren ihr im Blut lägen. Jeden Zweifel, den Imogen äußerte, hatte ihre Schwester mit einer passenden Antwort zerstreut. »Das packst du«, hatte sie so oft gesagt, dass Imogen es schließlich geglaubt hatte.
In den Monaten nach der Schießerei hatte Imogen abwechselnd Anfälle von überwältigender Traurigkeit und Angst gehabt oder war fast verzweifelt vor Frustration über ihre eigene Nutzlosigkeit, was ihren Hang zur Zurückgezogenheit noch verstärkt hatte. Sie hatte sich Mahlzeiten liefern lassen, statt wie sonst um die Ecke zum Vietnamesen zu gehen. Einmal die Woche ging sie in den Giant-Eagle-Supermarkt in der Murray Avenue, kaufte Bananen und Knabbereien und eilte wieder nach Hause, den Blick auf den Bürgersteig geheftet. Die Namen ihrer verlorenen Freunde hingen immer noch im Schaufenster, gehäkelte Davidsterne, die aus dem ganzen Land nach Squirrel Hill geschickt worden waren, baumelten an Ästen, Parkuhren, Telefonmasten, eine beständige Erinnerung, die Imogen nicht sehen wollte. Und trotzdem war ihre Eremitenhöhle nicht mehr der schützende Zufluchtsort wie früher, wo sie die Welt aussperren und ihre Fantasie produktiv nutzen konnte. Sie hatte nie an Schreibblockaden geglaubt, aber im Lauf des vergangenen Jahres kam ihr jede Story, über die sie nachdachte, leer, wertlos, zu trivial vor, um sich damit zu befassen. Es war ein Glücksfall, fast ein Wunder, dass sie ihren zweiten Roman Esther’s Ghost nur ein paar Wochen nach der Schießerei hatte verkaufen können, aber seither fehlten ihr die Worte. Beck erkundigte sich immer seltener nach ihrer ›Durststrecke‹, aber sie wusste, dass ihre Schwester sich deswegen Sorgen machte. Ohne Zweifel würde Beck, falls sie Inspiration brauchte, diese im Grand Canyon finden, aber ob das auch bei ihr funktionierte?
In den Monaten der Vorbereitung, als sie mit einer Tagesration von Konservendosen die Treppen im Haus rauf- und runtergelaufen war, hatte sie sich an viele schöne Rucksackwanderungen mit ihrer Familie erinnert. (Obwohl sie nicht so tun konnte, als hätte sie auch nur annähernd genügend trainiert. Jedes Mal wenn einer ihrer Nachbarn aus seinem Apartment kam, war sie in ihre Höhle zurückgehuscht, ehe sie jemand sehen konnte.) Sie hatte nie eine Wohnung gehabt mit einem richtigen Balkon, auf dem man stehen und ein Gewitter beobachten oder frische Luft schnappen konnte. Aber früher war die Natur ganz wichtig für sie gewesen, Balsam für ihre Seele. Als Beck diese Wanderung vorgeschlagen hatte, war Imogen klar geworden, wie sehr sie die Natur vermisste. Ihre Welt war seit vielen Jahren immer weiter geschrumpft, nicht erst seit dem Vorfall in der Synagoge. Sie wusste, dass ihre Schwester ihr sozusagen ein Geschenk machen wollte, indem sie mit ihr zu einem Ort zurückkehrte, wo sie einst glücklich und zufrieden gewesen war. Aber abgesehen davon, dass sie die Sicherheit ihrer vier Wände verlassen musste, gab es da ein kleines Problem.
Tilda.
Tilda, deren Freundschaft einst die bedrückende Leere vertrieben und Imogen geholfen hatte, die High School zu überleben. Nein, sie waren mehr als Freundinnen gewesen – drei Schwestern und füreinander da, als bei ihnen zu Hause alles zusammenbrach. Es war für alle drei eine prägende Zeit gewesen, und keine von ihnen hatte damals gewusst, wie ihre Zukunft aussehen würde.
Tilda hatte im vergangenen Jahr nicht ein einziges Mal angerufen, um sich nach ihr zu erkundigen, was nicht daran lag, dass sie nichts davon gewusst hätte – das Massaker hatte international Schlagzeilen gemacht.
Manchmal, wenn Beck und Tilda in den Ferien wieder in Pittsburgh waren, hatten sie sich zu einem Museumsbesuch oder einem Abendessen im Frick getroffen. Imogen und Tilda konnten einander zulächeln und fröhlich miteinander plaudern, aber das war im Grunde nur höfliches Getue. Imogen kannte die öffentliche Tilda aus dem Internet inzwischen besser als die echte Tilda, mit der sie seit vier Jahren kein ernsthaftes Gespräch mehr geführt hatte.
Ihre Beziehung war zerbröckelt nach dem ersten Jahr im College. Nach dem zweiten Studienjahr hatte Imogen die Universität von Pittsburgh verlassen, eine Folge von der ›Sache‹ (obwohl sie abgestritten hätte, dass das der Grund war). Sie redeten nie über die ›Sache‹, aber sie blieb eine schwärende, kaum verheilte Wunde. Imogen verstand inzwischen alles etwas besser, aber nur weil sich gesellschaftlich einiges verändert hatte.
Tilda und Beck hatten sich mit Schwung und voller Ehrgeiz ins Leben gestürzt, und Imogen war abwechselnd stolz auf ihre Erfolge gewesen und neidisch darauf. Und jetzt gab es da noch Tildas Buchvertrag mit einem sechsstelligen Honorar, ebenfalls ein Grund zur Eifersucht und etwas, über das sie bislang nie gesprochen hatten. Es hatte im Lauf der Jahre immer mal wieder Zeiten gegeben, in denen sie sich näher gewesen waren, was aber nie anhielt. Eine von beiden sagte irgendwas, das die andere verärgerte, und die Folge war, dass sie wieder aufhörten, miteinander zu reden.
Diese Zeiten waren stetig länger geworden. Beck glaubte offenbar, es würde sie wieder näher zusammenbringen, wenn sie zu dritt etwas unternähmen. Aber Imogen war sich da nicht so sicher. Eine Rucksackwanderung im Grand Canyon war schon ohne die zusätzliche Last von persönlichem Gepäck schwierig genug. Trotzdem, sie würden es riskieren.
Tilda tänzelte anmutig auf ihren pedikürten Füßen mit den magentafarbenen Zehen durch das Chaos, während sie mit ihrem Handy die Ausrüstung fotografierte. Seit Wochen schon dokumentierte sie ihre ganzen Vorbereitungen auf Instagram und Youtube: den Kauf ihres Rucksacks, der Wanderschuhe, der Kleidung und malerische Spaziergänge in den San Gabriel Mountains mit ihrem Freund Jalal. Als Beck mit der Idee für diesen Ausflug zu dritt gekommen war, war Imogen sicher gewesen, dass Tilda aussteigen würde, vielleicht erst in letzter Minute. Ihre Vorstellung von Urlaub war ein Fünfsternehotel mit eigenem Strand. Tilda würde es nicht überleben, schmutzig und verschwitzt zu sein, ohne in das erfrischende tiefblaue Wasser ihres Swimmingpools in Los Angeles springen zu können.
Beck hatte allerdings fest behauptet, Tilda sei von Anfang an begeistert gewesen von diesem Abenteuer und der Chance, Neues über sich selbst zu entdecken. Dabei hatte sie nie Camping gemacht oder auch nur mal eine ganze Nacht draußen verbracht. (Imogen hielt es für wahrscheinlicher, dass Tilda weniger ein ›Abenteuer‹ suchte, sondern eher neues Material als Motivationscoach – und möglicherweise für ihr Buch – brauchte.) Imogen wusste sehr genau, dass Beck sie beide mit dem Versprechen geködert hatte, eine Woche in der Wildnis würde ihnen ganz persönlich helfen – und außerdem sei es der 20. Jahrestag ihrer Freundschaft. Dr. Beck liebte es, Menschen zu helfen, auch wenn sie nicht ihre Patienten waren. Imogen wollte sich nicht zu viele Gedanken machen über eine große Versöhnung, sie hatte keine Ahnung, wie Tilda dazu stand. Bis jetzt hatten sie kaum ein persönliches Wort miteinander gesprochen.
Dabei waren sie viele Jahre lang ein Herz und eine Seele gewesen. Imogen war gerade 14 geworden, Beck war fast 16 gewesen, als die beiden Blum-Schwestern nach Beechwood gekommen waren, einer privaten alternativen High School, die von Hippies geleitet wurde. Sie hatten kaum die Türschwelle überquert, als Tilda Jimenez auf sie zugetänzelt war. Nicht nur ihre altmodische Zigarettenspitze, sondern alles an ihr war so auffallend schrill wie bei einer Dragqueen gewesen. Sie war so alt wie Beck, und alle drei hatte das Gefühl verbunden, ihren Eltern gleichgültig zu sein: Die Blums waren auch schon vor ihrer Scheidung Workaholics gewesen, Mr. Blum war Werbefotograf (der den Nachnamen seiner Frau angenommen hatte), Mrs. Blum eine Lokalpolitikerin. Mr. Jimenez, ein Ingenieur, lebte nach dem plötzlichen Tod seiner Frau ebenfalls nur noch für seine Arbeit. Damals war das Versagen ihrer Eltern für sie unverzeihlich gewesen.
Tilda würde einmal berühmt werden, davon waren sie überzeugt gewesen. Und Imogen hatte sie ermutigt und für sie eine Hauptrolle im Schulmusical geschrieben, das ihnen die ersten Presseberichte eingebracht hatte. Als Tilda bei einer Staffel von American Idol mitmachte und Elfte wurde, waren beide Blum-Schwestern beeindruckt – und verblüfft – davon, was sie daraus gemacht hatte: Aus diesen 15 Minuten Ruhm war eine zwölfjährige Karriere geworden. Aber je mehr sie zu einer öffentlichen Person wurde, desto fremder wurde sie Imogen. Tilda war inzwischen alles andere als eine Außenseiterin oder Einzelgängerin. Sie lebte für den Beifall und konnte nicht existieren ohne einen beständigen Zustrom von Likes und Followern.
Imogen war sich nicht sicher, was auf dieser Wanderung von ihr zu erwarten war – spielte Tilda nur eine Rolle? War das Ganze eine Aufführung für ihre Follower? Erwartete sie, dass auch Imogen ihr applaudierte? Die ganze nächste Woche über würden sie zusammen sein und Imogen hoffte, dass es genügen würde, einfach nett zu sein, auch wenn das nur eine oberflächliche Lösung war.
»Du siehst ganz schön fit aus«, sagte Imogen. Tildas gut definierte Muskeln waren selbst durch ihre Leggings zu sehen.
»Danke!« Tilda strahlte und hörte mit dem Knipsen auf. »Zusätzliche Yogaklassen. Spinning im Fitnessstudio. Plus meine wöchentlichen Wanderungen mit Jalal. Ich bin vielleicht nicht so der Freilufttyp, aber ich weiß, wie man richtig trainiert.«
Beck grinste. Imogen hatte fast vergessen, mit wie viel Elan sich Tilda auf neue Herausforderungen stürzte. Sie hatte schon immer eine beneidenswerte Figur gehabt und die zusätzlichen Muskeln standen ihr gut. Imogen gestand sich ein, dass sie ein wenig eifersüchtig war. Sie selbst war so etwas wie eine zerquetschte Version ihrer Schwester: schlank und klein (fast dürr) statt schlank und groß (fast majestätisch). Beck und Tilda kamen ihr wie zwei Kriegerinnen vor, neben denen sie die verhuschte Dienerin war, die ihre Waffen säuberte.
»Schöne Frisur hast du – und die Farbe verändert sich mit dem Licht.« Tilda neigte ihren Kopf und musterte Imogen aus verschiedenen Blickwinkeln.
Imogen berührte ihren Pagenkopf, den sie in der vergangenen Woche lavendelfarben gefärbt hatte. »Ich wollte eine Farbe, die an Sonnenuntergang erinnert, aber ich fürchte, nach einer Woche in der Sonne wird es bloß noch verwaschen aussehen.«
Tilda zuckte die Schultern. »Es ist trotzdem cool. Du warst schon immer die Einzige von uns, die mutig war bei Frisuren und Haarfarben.«
Es klang wie ein Kompliment, aber Imogen war sich nicht ganz sicher, ob es auch so gemeint war. (Mutig konnte in diesem Fall auch fragwürdig heißen.) Beck trug ihr sandbraunes Haar seit mehr als 20 Jahren kurz geschnitten, und genauso lange trug Tilda ihr schwarzes Haar in einem unordentlichen Knoten oben auf dem Kopf.
»Wer möchte Studentenfutter?« Afiya, Becks Frau, kam aus der Küche hereingeschwebt, ihr Lächeln wirkte bei ihrer dunklen Haut wie ein weißes Leuchten. In beiden Händen hatte sie wiederverschließbare kleine Tüten und schüttelte sie wie Rasseln. »Es gibt die proteinhaltige Mischung mit Nüssen und Getreide, die fabelhaft fruchtige Komposition mit Mandeln und einige mit M&M’s und Cashewnüssen für rasche Energiezufuhr.«
»Ooh, die nehme ich.« Imogen griff nach den Tütchen mit den Schokolinsen.
»Du kannst nicht alle haben«, sagte Beck gereizt.
»Ich wollte sie auch nicht alle nehmen, aber die anderen mag ich nicht so gern.«
Alle drei fielen wie Geier über Afiya her und rissen ihr das angebotene Futter aus der Hand. Danach nahmen sie sich Zeit, um die verschiedenen Sorten unter sich aufzuteilen. Afiya verschränkte die Arme und beobachtete sie mit einem amüsierten Lächeln.
»Jede von uns sollte wenigstens eine Tüte in einer Außentasche haben, wo wir leicht drankommen, wenn wir eine Pause machen.« Beck lächelte Afiya zu. »Danke, Babe.«
»Master Studentenfutter, zu Ihren Diensten.« Afiya machte eine dramatische Verbeugung.
Imogen grinste. Afiyas Anwesenheit lockerte die ganze Stimmung. Unwillkürlich dachte sie daran, wie viel schöner ihre Wanderung wäre, wenn Afiya mitkäme und nicht Tilda. Afiya war nicht nur ein besserer Mensch, ihr konnte man auch unbesorgt sein Leben anvertrauen. Was sie über Tilda nicht sagen konnte.
2
Tilda und Afiya saßen auf dem Sofa und veranstalteten mit extravaganten Teebeuteln, die nach Zitronen und frisch gemähtem Gras rochen, eine aufwendige Zeremonie, so sah es jedenfalls aus. Imogen schaute ihnen zu und probierte die M&M’s. Sie wusste, dass sie eigentlich etwas tun sollte, aber die Packerei hatte Beck übernommen und mit der Methode ihrer Schwester kam sie überhaupt nicht zurecht.
Imogen bereitete immer alles akribisch vor, und bei einem solchen Projekt wie ihrer Wanderung konnte man sich keine Fehler leisten. Wäre es an ihr gewesen, hätte sie Listen gemacht (genauso wie sie es zur Vorbereitung auf ihre Reise von Pittsburgh nach Flagstaff getan hatte), farblich gekennzeichnet nach Rucksack und Person. Und bei manchen dieser Listen hätte es auch noch Unterlisten gegeben. Aber Beck war die Leiterin dieser Expedition, die Expertin für den Grand Canyon, und ihr System war es, zuerst eine allgemeine Bestandsaufnahme zu machen, dann alle persönlichen Sachen unter ihnen aufzuteilen und den Rest nach Gewicht.
»Brauchst du Hilfe?«
»Du könntest damit aufhören, unsere Vorräte zu vertilgen.« Imogen hasste es, wenn ihre Schwester mit ihr schimpfte, aber es war nur gespielt, wie sie an Becks Grinsen sah. Sie reichte ihr einen Brennstoffkanister. »Der kann bei dir in die Seitentasche.«
Anstatt ihn in eine der langen Seitentaschen ihres tannengrünen Rucksacks zu stecken – speziell entworfen für zierliche Personen –, klemmte sie ihn sich unter den Arm und schaute zu, wie Beck den Kocher und den Topf in das Hauptfach ihres rostfarbenen Kelty-Rucksacks packte.
»Das gehört doch eigentlich zusammen«, sagte Imogen. »Der Kocher und der Brennstoff.«
»Zu viel Gewicht.«
»Wir könnten die übrigen Sachen in deinem Rucksack anders verteilen, damit du beides nehmen kannst.« Beck warf ihr einen genervten Blick zu. Aber Imogen erschien es wesentlich sinnvoller, diese Sachen zusammen einzupacken, deshalb bohrte sie trotzdem nach. »Ich meine nur, was ist, wenn wir …«
»Ich weiß, was du meinst«, unterbrach Beck sie schroff, aber dann wurde ihr Ton sanfter. »Wir werden nicht getrennt, deshalb brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen …«
»Ja, natürlich wollen wir nicht getrennt werden, aber du weißt, dass es theoretisch …«
»Imogen.« Beck schaute kurz hinüber zu Tilda, und Imogen verstand, was ihre Schwester ihr zu sagen versuchte: Mach Tilda keine Angst. Ihr ganzer Gesichtsausdruck bettelte geradezu darum, ihre Freundin, für die das alles völlig neu war, nicht daran zu erinnern, dass durchaus etwas schieflaufen könnte und sie sogar auf warme Mahlzeiten verzichten müssten.
Als Teenager hatten sie Tilda Geschichten von ihren Canyon-Wanderungen erzählt, auch davon, wie ihre Familie einmal fast 24 Stunden lang getrennt gewesen war. Hatte Tilda diese Geschichten vergessen oder sie als teenagerhafte Übertreibungen abgetan? Heute hatte Beck das Kommando, wie damals ihr Vater, und dazu gehörte auch, dafür zu sorgen, dass alle mental und körperlich bereit waren. Wenn sie befürchtete, Tilda schon damit Angst zu machen, wie sie was beim Packen verteilten, dann hatte sie ihr bestimmt nicht erklärt, wovor man bei einem solchen Unternehmen wirklich Angst haben musste, da war Imogen sicher.
Wenn Tilda wüsste, was ihnen alles zustoßen könnte – sogar ein tödlicher Unfall wäre durchaus möglich –, hätte sie bei diesem Unternehmen nie mitgemacht oder kurz vor dem Start abgesagt. Wenn sie mental nicht darauf vorbereitet war, spielte es keine Rolle, ob Tilda körperlich stark war oder nicht, es würde jedenfalls keinen Notausgang geben, wenn sie aussteigen wollte. Hatte Beck ihre Pflicht erfüllt und ihr geholfen, sich vorzubereiten?
(Vielleicht hatte Beck aber auch erkannt, dass Tilda zwar körperlich trainieren konnte, aber mental ein hoffnungsloser Fall war.) Boshaft. Sei nett.
Wenn Imogen und Tilda ein besseres Verhältnis gehabt hätten, hätte Imogen vielleicht die Chance gehabt, mit ihr über das zu reden, was ihre Schwester nicht sagen wollte. Aber jetzt war es zu spät, und im Gegensatz zu Imogen hielt Beck nichts davon, sich stets auf das Schlimmste vorzubereiten.
»Okay, ich wollte es nur sagen, für alle Fälle«, erwiderte Imogen zerknirscht. Manchmal (oft) hasste sie es, wie leicht sie in ihre alte, vertraute Rolle schlüpfte, als wäre ihr Leben eine Theateraufführung, bei der sie auf bestimmte Stichworte prompt entsprechend reagierte. Das musste sich ändern, aber jetzt steckte sie erst mal den Brennstoffkanister in ihren Rucksack.
»Du machst dir unnötig Gedanken, Grashüpfer.« Becks Augen funkelten plötzlich übermütig.
Imogen ging sofort darauf ein. »Wenn du es sagst, du Ochsenziemer.«
»Oh, Pestbeule! Dass du bersten möchtest!«
Becks englischer Akzent war furchtbar, aber Tilda brach in Gelächter aus. »O mein Gott, ihr treibt diese Spielchen immer noch?«
»Nur bei besonderen Gelegenheiten.« Beck zwinkerte Imogen zu.
»Wo ist das her?«, fragte Afiya.
»Shakespeare. Damit haben sie in der High School angefangen«, erklärte Tilda.
»Warum das denn?« Verblüfft und fast etwas angewidert schaute Afiya von Imogen zu Beck.
»Weil sie ein Genie ist«, sagte Beck. »Der nächste Shakespeare.«
»Kaum«, murmelte Imogen. (Es hatte ihr immer gefallen, dass Imogen eine der Hauptfiguren in Cymbeline war, aber inzwischen fühlte sie sich, wenn jemand darauf hinwies, wie eine Hochstaplerin. Sie war ziemlich sicher, dass der Barde nie unter einer Schreibblockade gelitten hatte.)
»Sie war erst 15, da hat sie schon ein komplettes Musical geschrieben, das ganze Stück mitsamt Liedtexten«, erklärte Tilda. »Unser Lehrer wollte nicht, dass wir Schimpfwörter benutzen, deshalb hat sie stattdessen ein paar elisabethanische Beleidigungen eingearbeitet.«
»Ach so«, sagte Afiya, die jetzt verstand.
»Ich habe gesehen, du hast den Zeitungsartikel eingerahmt hinter deinem Schreibtisch hängen.« Imogen war in Becks Büro einquartiert worden, wo es ein Klappsofa gab, da Tilda im Gästezimmer wohnte. Sie hatte nicht damit gerechnet, den Artikel dort auf einem Ehrenplatz an der Wand vorzufinden.
»Echt, du hast den immer noch?«, fragte Tilda.
Beck zuckte nur die Schultern, aber auch Imogen fand das interessant: Als Einzige von ihnen hatte Beck diesen Zeitungsartikel aufbewahrt – und auch noch aufgehängt –, der kurz vor der Premiere von Eighty-Seven Seconds erschienen war. Das Musical spielte in einem Flugzeug kurz vor dem Absturz, und die Passagiere redeten (und sangen) über ihre Lieben, die sie zurückließen, über die Fehler, die sie gemacht hatten, und die Hoffnungen, die sie im Leben gehabt hatten. Der erste Akt war nicht schlecht, nur etwas pathetisch, der zweite Akt spielte in einem bizarren Jenseits.
»Beck hat immer felsenfest an dein Talent geglaubt«, sagte Afiya mit solchem Ernst, dass Imogen nach einem Unterton in ihren Worten suchte, aber es gab keinen.
»Hast du deine ganzen Klamotten untergebracht, Tilda?«, fragte Beck, die sich nicht von den anstehenden Aufgaben ablenken ließ. Tilda und Beck begannen, über Socken und Windjacken zu reden und ob sie Tampons mitnehmen sollten »nur für alle Fälle«, und sie schwatzten so fröhlich miteinander, dass Imogen sich ausgeschlossen fühlte.
Afiya legte einen Arm um Imogens Schulter und beugte sich zu ihr. Sie roch nach Seife mit Apfelduft.
»Wie geht es dir? Bist du bereit?«, flüsterte sie ihr ins Ohr.
In diesen wenigen Worten lagen eine Güte und Herzlichkeit, wie Imogen es weder von Tilda noch von Beck erwarten konnte. Nur Afiya sprach offen über ihre agoraphobischen Probleme, die sich nicht gebessert hatten, obwohl die Schießerei nun fast ein Jahr her war. Afiya und Imogen waren beide 34, aber Imogen kam die Frau ihrer Schwester immer viel älter und weiser vor. Vielleicht lag es daran, dass sie so voller Energie war: Afiya hatte mit 23 ihren Doktor gemacht und war die jüngste Professorin mit unbefristeter Stelle an der Northern Arizona University geworden. Es hatte ein paar Jahre gedauert, aber nach und nach hatte sie fast im Alleingang den Fachbereich für Kulturwissenschaften umgestaltet und in das intersektionalste Programm in Arizona verwandelt. Aber es war nicht nur das. Afiya hatte ein tiefes, fast mütterliches Verständnis für andere Menschen.
Sie sah die Besorgnis in Afiyas Augen. »Ich bin okay.«
»Ist es nicht zu viel? Dieses ganze Unternehmen?«
Natürlich wusste Afiya, dass Beck ihr helfen wollte, und diese Wanderung könnte sogar Afiyas Idee gewesen sein. Sie war so einfühlsam wie kaum jemand sonst. Nicht zum ersten Mal fragte sich Imogen, ob das daran lag, dass Afiya so einen schwierigen Start ins Leben gehabt hatte. Sie war erst drei gewesen, als sie mit ihren Brüdern und ihrer Mutter aus Ruanda emigriert war, und ihre Mutter hatte einige Zeit gebraucht, um sich in diesem fremden Land zurechtzufinden. Von Afiyas Vater wurde nie gesprochen. Als Schriftstellerin erfand Imogen gern dunkle Geheimnisse für Menschen, aber es war genauso möglich, dass Afiyas Herzensgüte daher rührte, dass sie eben nicht mit irgendwelchen Geheimnissen belastet war.
Imogen zögerte, Afiyas Frage zu beantworten, da Beck und Tilda es mit anhören könnten. Zu oft hatte sie früher ihre Verachtung zu spüren bekommen, wenn die beiden gemeint hatten, sie benehme sich albern. Jetzt würden sie vielleicht nicht so herzlos sein, angesichts der Umstände, aber sie war lieber etwas auf der Hut. Da sie nicht mehr ganz in eine andere Welt eintauchen konnte, was für sie als Schriftstellerin immer selbstverständlich gewesen war, hatte sie kaum Frieden gefunden oder mit Hingabe arbeiten können. Die letzten Wochen waren besonders stressig gewesen. Und trotz der ganzen Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen hatte sie Angst gehabt, in diesen Zoo voller geschäftiger Menschen zu gehen. Sie fühlte sich nicht sicher in Gruppen, Gruppen waren Ziele.
Afiya schien Imogens Gedanken zu ahnen – vielleicht verriet auch Imogens Gesicht ihre Angst. Afiya drückte sie kurz und sprach zu ihr wie eine Mutter; so stellte Imogen es sich jedenfalls vor (ihrer Mutter hatte solche Wärme immer gefehlt).
»Du wirst an einem der schönsten Plätze der Welt sein, zusammen mit deiner großen Schwester und deiner ältesten Freundin …«
»Ich wünschte, du würdest mitkommen.«
»Das ist nur für euch drei. Du wirst diese Herausforderung meistern und sehen, wie stark du bist. Der Canyon wird dich wie ein alter Bekannter mit einer dicken Umarmung bei sich begrüßen.« Über dieses Bild musste Imogen lächeln. Ja, das wünschte sie sich. Das brauchte sie. »Was glaubst du, warum wir hier leben?«
»Euer Traum-Zuhause?« Imogen wusste, wie stolz Beck darauf war, dass sie ihrer Ehefrau dieses prachtvolle Haus auf seinem malerischen Grundstück bieten konnte.
»Der Grand Canyon ist unser Hinterhof. Dort können wir alles Unwichtige vergessen und uns an das, was wirklich wichtig ist, erinnern. Wenn wir merken, dass wir ein bisschen aus der Spur geraten, gehen wir dorthin und alles rückt sich wieder zurecht.«
Imogen nickte. »Ich bin bereit.«
»Das bist du.«
Im Gegensatz zu Tilda wusste Imogen, wie hart dieses Unternehmen sein würde. Sie hatte vier Wanderungen im Grand Canyon gemacht, aber das war über zehn Jahre her. Trotzdem verließ sich Beck darauf, dass sie einigermaßen in Form war, und Imogen wollte sie nicht enttäuschen. Dass sie durch ihre Schwäche das ganze Unternehmen gefährden könnte, war eine Sorge, die auf ihr lastete wie ein vollgepackter Rucksack.
Im vergangenen Jahr hatte Imogen unter Einsamkeit gelitten, was ganz neu für sie gewesen war. Es war abwegig, aber manchmal hatte sie sich gewünscht, eine Abenteurerin zu sein, die in jedem Winkel der Welt daheim war. Davon war sie meilenweit entfernt, aber glücklicherweise hatte sie in der Natur – und ganz besonders im Canyon – die Ängste, die sie in ihrem alltäglichen Leben verfolgten, kaum je gespürt. Mental konnte sie es. Weitermachen, auch wenn sie müde war oder Schmerzen hatte. Aber was war, wenn sie wirklich zu schwach war?
Ein kleines Straucheln konnte das Ende ihrer Wanderung im Canyon zur Folge haben. Ein großes Straucheln konnte den Tod bedeuten.
3
Allmählich sah das Zimmer wieder wie ein Wohnzimmer aus und nicht mehr wie das Basislager einer Expedition. Sechs Nächte und sieben Tage würden sie abseits aller Zivilisation unterwegs sein. Imogen zerrte ihren Rucksack hinüber zur Couch, damit niemand die Beklemmung in ihrem Gesicht sah, und befestigte ihren neuen Schlafsack am Rahmen unterhalb des Hauptfachs. Afiya schwirrte herum und sammelte weggeworfene Verpackungen und verstreuten Krimskrams ein. Während Tilda mit ihrem Telefon spielte, sicherte Beck eine Isomatte an Tildas burgunderfarbenem Rucksack. Allmählich wurde alles zu real. Sie waren fast fertig.
Als Imogen gehört hatte, dass Beck gern den Hermit Trail entlanglaufen wollte bis zum Boucher Trail, hatte Imogen sich gesträubt und einen leichteren Weg in Richtung Clear Creek vorgeschlagen. Ihr Vater erzählte immer noch gern die Geschichte, wie er mit Beck, die damals 17 gewesen war, zum ersten Mal in Richtung Boucher gewandert war und den Atem anhielt, als sie die schmale Passage durchquerte – auf der einen Seite eine Felswand, auf der anderen ein Abgrund –, und nur gehofft hatte, er müsse nicht zu Hause anrufen und melden, dass Beck – hoppla! – in den Tod gestürzt sei.
Beck hatte Imogen schließlich überzeugt, dass der Weg gar nicht so haarsträubend gefährlich sei, wie ihr Dad es gern behauptete. Die schmale Passage sei in Wirklichkeit superkurz und es absolut wert, außerdem sei es unbedingt nötig, dass sie ihre Ängste überwand. Imogen ließ sich gewöhnlich immer von ihrer Schwester überreden, auch wenn sie wusste, dass Beck, die mindestens schon 20 Rucksackwanderungen allein gemacht hatte, nicht gerade das größte Verständnis hatte für die Ängste anderer Menschen. Sie hatte beteuert, es sei viel schöner und lohnenswerter, wenn sie tief ins Hinterland gingen, wo sie den mächtigen Colorado vom Ufer aus bewundern könnten, und da im Oktober keine Saison mehr sei, hätten sie die Wüste wahrscheinlich ganz für sich allein.
Seit sieben Monaten dachte Imogen an diesen gefährlichen Abschnitt der Wanderung. Sie wusste, wie man sich zu verhalten hatte: stur auf die Füße schauen. Trotzdem machte sie sich Sorgen. Was war, wenn sie einen einzigen Blick riskierte und in Panik geriet? Dann wäre sie nicht mal mehr mental in der Lage weiterzumachen. Und sie konnte fast hören, wie Beck das alles Tilda gegenüber runtergespielt hatte: »Da gibt es nur diesen einen heiklen Abschnitt«, als ob nicht dieser ganze Weg schon der härteste Spaziergang ihres Lebens werden würde.
Es war nicht gerade hilfreich, dass sie daran denken musste, dass ihr Dad fast verunglückt war bei der ersten – und letzten – Wanderung mit ihrer Mutter.
Fast von Anfang an war alles schiefgelaufen auf dem Hermit Trail. Beck, damals 15 und auf ihrer dritten Tour durch den Canyon, und Imogen, 13 und auf ihrer zweiten, gingen in ihrem eigenen Tempo und waren bald weit voraus. Als sie die Trillerpfeife hörten, das Notsignal, hatten sie befürchtet, ihre Eltern wären in echten Schwierigkeiten. Sie waren zurückgeeilt, nur um zu hören, dass ihre Mutter sich etwas wackelig auf den Beinen fühlte und langsamer gehen musste; in Stöckelschuhen in der Stadt herumzulaufen war auch keine besonders effektive Vorbereitung dafür, mit einem schweren Rucksack über Felsen zu klettern. Ihr Vater hatte Beck und Imogen gesagt, sie sollten schon mal zum Lagerplatz vorausgehen und dort alles fertig machen, sie würden nachkommen.
Als sie den Campingplatz erreichten, hatte Imogen sich unwohl gefühlt. Verschwitzt. Hungrig. Müde. Aber Beck war vor allem besorgt gewesen. Schon damals hatte sie die Angewohnheit gehabt, sich um die Probleme aller anderen zu kümmern. Sie hatte beschlossen, zurückzulaufen und ihrer Mutter den Rucksack abzunehmen, um es ihr leichter zu machen. Imogen war dagegen gewesen. Es wurde schon dunkel. Es war zu gefährlich, und sie brauchte Beck mehr als jeden anderen Menschen. Aber ihre Schwester war, getrieben von Pflichtgefühl und ihrem unerschrockenen Mut, mit ihrem Wanderstab und einer kleinen Taschenlampe losmarschiert.
Imogen war schon viele Male in West Virginia gewandert und wusste, wie man ein Lager aufschlug – alle Lebensmittel wurden an einen Baum gehängt und die Bodenplanen und die Isomatten ausgelegt, damit sie schlafen konnten, wenn sie so weit waren. Danach saß sie auf ihrem dünnen Bett und weinte bei der Vorstellung, wie ihre Schwester von einem riesigen Maul verschlungen wurde, das sich nur öffnete, wenn die Sonne es nicht mehr sah, wenn die umliegenden Felsen nur noch bedrohlich schwarze Schatten waren.
Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass alle vier Mitglieder der Familie Blum etliche Stunden lang allein in der Dunkelheit gewesen waren. Zwei Monate später reichte ihre Mom die Scheidung ein. Und sechs Monate darauf fingen die Blum-Schwestern in Beechwood an und erzählten ihrer neuen Freundin, wie ihr Dad fast über eine Klippe gestürzt wäre. Sie hatten dabei gelacht und gesagt, er hätte es verdient, weil er sich so trottelig angestellt hatte. Die erwachsene Imogen wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte vielleicht die Fähigkeiten seiner Frau falsch eingeschätzt, aber als er erkannte, dass sie es nicht bis zum Campingplatz schaffen würden, war er vorausgelaufen, um eine ebene Stelle zu finden, wo sie lagern konnten. Aber die Nacht war zu schnell hereingebrochen, und er war wieder zurückgerannt, damit ihre Mom nicht allein war. In seiner Panik war er gestolpert und hatte gehört, wie sein Wanderstock über die Felsen klapperte, als er hinunter in die dunkle Leere fiel.
»Alles okay?«, fragte Beck argwöhnisch.
Imogen war klar, dass Beck ihr ansah, welche Sorgen sie sich machte, und sie räusperte sich, um die Enge in ihrem Hals zu vertreiben. »Hab nur nachgedacht.«
Wieso war keiner von ihnen damals auf die Idee gekommen, einfach zusammenzubleiben? Beck hatte auf halbem Weg ihren Plan, zurück zu den Eltern zu laufen, aufgegeben und war heil und gesund wieder ins Lager gekommen, wo es am nächsten Morgen kein warmes Frühstück gab, weil der Brennstoff im Rucksack ihres vermissten Vaters war.
Imogen hätte am liebsten ein paar Tropfen der medizinischen Marihuana-Tinktur genommen, die sie gegen Angstzustände nahm. Später würde sie das Fläschchen mit den letzten persönlichen Sachen in ihren Rucksack schieben. Aber jetzt beobachteten sie alle.
Ihr Dad hatte gehofft, diese Rucksackwanderung würde irgendwie ihre zerbröckelnde Ehe retten. Die Hoffnung war vergebens gewesen. Sie hatte den Zusammenbruch eher noch beschleunigt. Ob Beck mehr Erfolg hatte mit ihrer Idee?
Imogen und Beck testeten abwechselnd jeden Rucksack, ob das Gewicht stimmte und alles gleichmäßig verstaut war. Es machte das Laufen schwieriger, wenn eine Seite schwerer war als die andere oder wenn Sachen herumrutschten. Für Imogen war besonders wichtig, dass ihr Rucksack viereinhalb bis sieben Kilogramm weniger wog, wie man es ihr versprochen hatte. Tilda war von ihnen allen am stabilsten gebaut und ausgesprochen fit. Beck war die Größte, dazu zäh und stark. Imogen konnte immer noch Kinderkleidung kaufen, was sie gelegentlich auch tat, um Geld zu sparen.
»Wie fühlt es sich an?«, fragte Beck, als Imogen ein paar Schritte ging.
»Schwer.« Aber nachdem sie die beiden anderen Rucksäcke ausprobiert hatte, wusste sie, dass ihrer leichter war. »Wie ist deiner?«
»Schwer.« Beck schaute zu Tilda. »Willst du deinen ausprobieren?«
Tilda legte ihr Telefon zur Seite und kam zu ihnen. »Der sieht aus wie ein großer Burrito.«
Ihr Rucksack war der einzige mit einem Innengestell. Beck hielt ihn hoch, als wollte sie ihr in einen Mantel helfen. Tilda steckte ihre Arme durch die Riemen, schob den Gürtel über ihre Hüften und ging im Zimmer auf und ab. »Nicht schlecht. Gar nicht so schlecht, wie ich gedacht habe.«
Die Blum-Schwestern schauten sich mit hochgezogenen Augenbrauen an und unterdrückten ihr Grinsen. Das Stadtmädchen hatte keine Ahnung, wie es unterwegs sein würde, wenn der Boden nicht glatt und eben war wie hier im Zimmer. Aber es hatte keinen Sinn, es ihr zu sagen. Wenn Tilda immer noch ›nicht schlecht‹ sagte, nachdem sie am Hermit-Camp angekommen waren, war sie glatt olympiareif.
»Und die Farbe passt zu meinen Zehen.« Tilda streckte einen Fuß aus, damit sie ihren Nagellack bewundern konnten. Imogen verdrehte die Augen. Tilda ging weiter auf und ab. »Fühlt sich gut an. So viel zum Thema Überfluss. Wenn ich alles, was ich brauche, auf meinen Rücken packen kann, sollte ich vielleicht mein Haus verkaufen und in ein Wohnmobil ziehen.«
Afiya lachte. »Das wäre dann doch etwas übertrieben.«
»Okay, Wonder Woman, verschwende jetzt nicht unnötig deine Kräfte«, sagte Beck.
Tilda nahm die typische Pose der Superheldin ein und tat, als würde sie mit ihren unsichtbaren Armbändern unsichtbare Kugeln abwehren. Beck schoss mit einer imaginären Strahlenkanone auf sie, begleitet von den entsprechenden Geräuschen. Imogen setzte sich aufs Sofa und sah ihnen zu. Früher hatten alle drei zusammen solchen Unfug getrieben, albern und unbefangen (oder bekifft).
»Okay, Kinder, ich finde, ihr solltet euch so kurz vor dem Schlafengehen nicht noch derart aufputschen.« Afiya spielte die Rolle der Mutter gut. Tilda und Beck stöhnten – enttäuschte, freche Gören.
Imogen stand erst auf, als es an der Zeit war, ihre Rucksäcke griffbereit für morgen früh nebeneinander an der Couch abzustellen.
»Vergesst nicht, euch die Zähne zu putzen«, sagte Afiya und begleitete ihre Gäste zu ihren Zimmern.
»Du machst dich gut als Mama«, flüsterte Beck und küsste sie auf die Wange.
Nachdem sie sich gegenseitig gute Nacht und guten Schlaf gewünscht hatten, schloss Imogen die Tür zu Becks Büro und war froh, endlich allein zu sein. Es würde für eine ganze Weile das letzte Mal sein. Sie setzte sich auf das Klappbett und zog ihren BH aus. Ihr Wecker war auf vier Uhr gestellt, und da sie nicht riskieren wollte, sich schlaflos herumzuwälzen, nahm sie ein paar Tropfen von ihrer Marihuana-Tinktur.
Ihr Blick ging zu dem gerahmten Zeitungsartikel mit dem grobkörnigen Schwarz-Weiß-Foto. Imogen stand mit einem selbstgefälligen Lächeln (und einem wilden Irokesenschnitt) in der Mitte, flankiert von Tilda (die ein Mikrofon in der Hand hielt und gerade etwas sagte) und Beck, der Regisseurin, mit verschränkten Armen und strengem Blick (der Fotograf hatte gewollt, dass sie autoritär wirkte). Imogen kicherte leise. Wie unglaublich ernst hatten sie sich damals genommen – und waren gleichzeitig völlig lächerlich gewesen. Alle Möglichkeiten standen uns offen.
Bei dem Gedanken musste sie wieder lachen. Aber es stimmte. Damals waren sie noch offen für alles gewesen und bereit, alles auszuprobieren, und hatten keine Ahnung gehabt, was das Leben für sie bereithielt. Als sie an ihr altes, selbstbewusstes Ich dachte, wurde ihr klar, dass sie wieder so werden musste wie dieses Mädchen. Ob sie es irgendwo unterwegs finden würde? Vielleicht konnten Beck und Tilda ihr dabei helfen.
4
Das Licht des Morgengrauens schimmerte am Horizont wie ein heller Streifen. Der lokale Radiosender von Flagstaff hatte klassische Musik gespielt, seit sie aufgebrochen waren, aber Imogen hatte den Großteil der 80-minütigen Fahrt im Halbschlaf auf dem Rücksitz verbracht. Sie wurde erst richtig wach, als Beck auf den Parkplatz des Hermit Trailhead einbog und das Radio abstellte.
Es stand nur ein einziges Auto auf dem Platz, aber Beck parkte trotzdem etwas abseits. Imogen löste ihren Gurt und konnte es plötzlich kaum erwarten, dass es endlich losging.
»Handys?« Beck streckte ihre Hand aus.
»Bist du sicher, dass wir nicht …«
»Da bin ich mir sicher.« Beck hatte damit gerechnet, dass Tilda ein letztes Mal protestieren würde, obwohl sie schon endlos darüber diskutiert hatten. »Sie funktionieren sowieso nicht und sind bloß unnötiges Gewicht.«
Tilda hatte gewusst, dass Beck nicht nachgeben würde, und deshalb eine digitale Minikamera gekauft. Imogen lieferte ungeduldig ihr Telefon ab und stieg aus dem Auto. Halb hoffte sie, ihre Freundin würde vergessen, die kleine Kamera zu benutzen – nicht weil sie dagegen war, dass Tilda Fotos von ihnen auf irgendwelchen Social-Media-Plattformen postete, sondern weil man ein Wunder ohne Ablenkung genießen sollte. Und dieser Canyon war ein Wunder. Imogen erinnerte sich, wie ihr Dad ihr vor Jahrzehnten gesagt hatte, dass die Natur ihre Schönheiten nur dem enthüllte, der aufmerksam war, und die Technik besudele diese Schönheit nur.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Beck alle Handys ins Handschuhfach schob. Imogen vermied es, zu Tilda zu schauen, ob sie seufzte oder unwillig die Stirn runzelte. Eine Minute später standen alle am Kofferraum und holten ihre Rucksäcke heraus, schulterten sie, schnallten die Gurte fest und griffen nach ihren Wanderstöcken.
Nachdem sie den Jeep abgeschlossen und ihn für eine Woche in den Winterschlaf geschickt hatte, steckte Beck den Autoschlüssel in eine Innentasche ihrer Fleecejacke. »Alle bereit?«
Imogen konnte es nicht erwarten, die Zivilisation endlich hinter sich zu lassen, trotzdem spürte sie ein nervöses Kribbeln in ihrer Brust – teils vor Aufregung über dieses Abenteuer, teils aus Angst davor.
»Lasst uns loslegen«, sagte Tilda.
Nach ein paar Hundert Metern auf dem Hermit Trail konnten sie das erste Mal die Aussicht genießen. Sie war zwar nicht so beeindruckend wie bei den Aussichtspunkten für Touristen, aber immerhin. Der Hermit Trail schlängelte sich an der Ostseite des Hermit Canyons entlang, mit steilen Abhängen und beeindruckend tiefen Schluchten. Die Schwierigkeit des Weges erforderte es, dass man immer auf seine Füße schaute, deshalb mussten sie anhalten, wenn sie wirklich die Aussicht genießen wollten. Gestützt auf ihre Bambusstöcke standen sie da und ließen die Morgenstimmung auf sich wirken.
Tilda sah aus, als hätte sie ihre gesamte farbenfrohe (und teure) Ausrüstung bei REI gekauft, und das hatte sie wahrscheinlich auch getan. Imogen kam sich in ihren weiten Cargo-Shorts und den verblichenen schwarzen Leggings dagegen ein bisschen wie die Arme vom Dienst vor, aber die Sachen waren praktisch. Als gut verdienende Ärztin hätte Beck sich jede Spezialkleidung leisten können, die sie sich wünschte, aber bequeme alte Jeans waren ihr lieber. Es war ein kalter Oktobermorgen, deshalb trugen alle Hemden, Hoodies und Windjacken, aber es würde wahrscheinlich nicht mal eine halbe Stunde dauern, bis sie anfingen, sich nach und nach auszuziehen. Die Temperaturen waren um diese Jahreszeit gemäßigt für den Canyon, kein Schnee auf den Höhen und keine Höllenhitze tief unten. Imogen hatte sich für einen Wanderstock aus Bambus entschieden, der sie um mehrere Zentimeter überragte; auf ihn stützte sie sich mit beiden Händen. Beck hatte immer noch ihren altbewährten dünnen Stock. Tilda hatte sich einen Trekkingstock gewünscht, der passender für eine Skipiste gewesen wäre, aber Beck hatte sie überredet, in einem Gartencenter einen kräftigen Bambusstab zu kaufen, der ihr gerade bis zum Kinn reichte.
Und genau das machte man im Canyon, ob es nun der erste Besuch war oder der tausendste:
Man stand.
Schaute.
Saugte in sich auf.
Es gab keine Worte für das, was man sah, deshalb schwiegen alle.
Es war ein Meisterwerk, und Imogen war zutiefst beeindruckt vom Können des Schöpfers. Wie hätte ein Maler so etwas malen können? Mit so viel Tiefe und so vielen Farbtönen? Grau, Lavendel, Ocker. Rauchige Farben, die sich vermischten, umeinander kreisten, ineinander verliefen und die sich, von hier oben aus gesehen, erstreckten, so weit das Auge reichte. Wie hätte ein Bildhauer so etwas erschaffen können? Diese vielfältigen Schichten und Formationen, diese endlosen Tempel für unzählige Götter. An manchen Orten offenbarte einem das Universum seine Seele. Die einzelnen Schluchten waren ein Herz mit vielen Kammern, in denen die Nebenflüsse des Colorados sich verästelten, kleiner wurden und doch unendlich waren.
An jedem Punkt entlang des Weges würde die Aussicht anders sein. Aber selbst wenn sie den ganzen Tag lang an einer Stelle bleiben würden, würde das Licht sich verändern, und mit jeder Minute würde eine neue Landschaft entstehen. Der Künstler würde den ganzen Tag über seinen Pinsel in eine riesige Palette tauchen – Pastelltöne würden allmählich von Blau zu Rosa und Gelbbraun werden und zu den Farbexplosionen des Sonnenuntergangs –, bis schließlich der Mond an der Reihe war, der Silber und geheimnisvollere Farben in Tuschetönen bevorzugte. Mithilfe von Wasser und Wind hatte das Universum im Laufe der Zeit diesen großartigen Canyon mit seinen vielfältigen, spektakulären Bildern erschaffen, und es war wie ein Trost, dass dieses Universum auch sie erschaffen hatte.
Sie hoffte, dass auch sie wenigstens einen kleinen Funken Größe besaß. Das Kribbeln in ihrem Körper, die Begeisterung, die sie plötzlich empfand, war wie eine Antwort darauf.
Der tatsächliche Beginn einer Wanderung war ein gewaltiger, fast heiliger Moment. Nach einer angemessenen Zeit gab Beck ihnen ein Zeichen und ging voraus. Imogen wartete darauf, dass Tilda ihr folgte. Tilda zögerte einen Moment lang, und daran erkannte Imogen ihre alte Freundin wieder – ein Mädchen mit großem Selbstbewusstsein, das trotzdem manchmal beim Eintreten in einen Raum zögerte und sich nicht sicher war, ob sie willkommen war. Aber eine Sekunde später schritt sie los und Imogen bildete das Schlusslicht.
Die erste Meile und ein Drittel des Hermit Trails führten fast 400 anstrengende Meter bergab. Tilda stützte sich vorsichtig auf ihren Wanderstock und achtete auf ihre Füße. Sie ahnte noch nicht, wie es um die Wadenmuskeln eines Menschen bestellt war, nachdem man sieben Meilen steil bergab gegangen war. Kein Training der Welt konnte das simulieren – auch nicht, wenn man draußen trainierte. Imogen erinnerte sich daran, dass sie am Tag nach einem Abstieg kaum in der Lage gewesen war, in die Hocke zu gehen, um zu pinkeln. Doch vor solchen Schmerzen fürchtete sie sich nicht. Nur vor Kugeln.
»O mein Gott.« Tilda blieb abrupt stehen, als der Weg plötzlich nur noch eine schräg abfallende Felsplatte von etwa einem knappen Meter war.
Beck war schon ein Stück voraus, deshalb ging Imogen zu ihr und musterte den Boden unterhalb des abschüssigen Wegstücks. Sie wechselten einen Blick. Imogen konnte geradezu spüren, dass Tilda sich wünschte, Beck wäre an ihrer Seite. Imogen erinnerte sich daran, dass sie so was einmal gut gekonnt hatte – über die Steine in einem Bachbett zu tanzen, Entfernung abzuschätzen, von einem strategischen Punkt zum nächsten zu springen.
»Du kannst dich mit deinem Stock abstützen. Dann trittst du vielleicht am besten dorthin …« Imogen deutete auf einen Felsen, der kaum so groß wie eine Aubergine war. »Soll ich vorausgehen?«
Sie wollte sich selbst – und Tilda – beweisen, dass sie trotz allem keine Belastung für die anderen war.
Tilda betrachtete nachdenklich das Gelände. »Ist schon okay. Ich probier’s.«
»Pass auf, dass dein Stock fest verkeilt ist, damit er nicht wegrutscht.« Imogen hatte mit 19 genau auf diesem Weg, nur ein Stück weiter unten, beim Überqueren von zwei Felsblöcken ein Mal diesen Fehler gemacht – ein Mal. Mitten im Sprung war ihr Stock abgerutscht und gegen ihr Ohr geknallt.
Es war niemand in der Nähe gewesen, der ihren Aufschrei gehört oder gesehen hätte, was passiert war. Imogen war gestürzt, ihr Ohr klingelte, ihr Kopf pochte, und sie war sicher, dass sie blutete. Zögernd hatte sie mit dem kleinen Finger ihren Gehörgang berührt und sich gefragt, was sie tun sollte, wenn ihr Gehirn herausquoll. Aber es war weiter nichts geschehen. Nach ein paar Minuten war sie wieder weitergelaufen, aber nach all diesen Jahren quäkte ihr Innenohr immer noch, wenn sie zu lange auf dieser Seite schlief.
Tilda ignorierte Imogens Ratschläge, sie setzte sich einfach auf den Rand der Felsplatte und rutschte das Stück hinunter. Beck war inzwischen stehen geblieben und beobachtete sie.
Als sie sicher unten angekommen war, hob Tilda triumphierend ihren Wanderstock in die Höhe, als erwartete sie entsprechenden Applaus. Imogen verkniff sich eine gemeine Bemerkung, obwohl sie leise »Oje« murmelte und dann selbst gekonnt die Passage überquerte.
»Gibt es viele solcher Stellen?«, fragte Tilda, als sie Beck eingeholt hatten, aber Imogen konnte sich nicht zurückhalten.
»Jawohl. Haufenweise. Und alle wirst du nicht auf deinem Hintern runterrutschen können.« Es hatte nicht abfällig klingen sollen, aber Beck und Tilda empfanden es offenbar so und warfen ihr kalte Blicke zu.
»Sie ist nicht so erfahren wie du«, sagte Beck in einem Tonfall, der Imogen das Gefühl gab, ein ungezogenes Kind zu sein.
»Ich hab das nicht so gemeint«, murmelte sie und spürte, wie sie errötete. Nein, gestört hatte sie, dass Tilda so getan hatte, als hätte sie Gott weiß was für eine Leistung vollbracht und nicht bloß ein relativ kleines Hindernis überwunden. Was würde als Nächstes kommen? Müssten sie ihr nach jedem Hindernis gratulieren?
Trotz der wunderbaren Natur ringsum war sich Imogen der Bitterkeit bewusst, die sie empfand und nicht abstreifen konnte. Und etwas so Dummes wie Neid durfte nicht die Sicherheit eines anderen gefährden.
Sie hatte zwar nicht so viel Geld für ihr Buch bekommen wie Tilda, aber Imogen war stolz auf ihren zweiten Roman Esther’s Ghost. Tilda mochte einen Lebensratgeber schreiben voll von Hochglanzfotos, hochtrabenden Worten und motivierenden Sprüchen. Aber damit konnte sie nicht heranreichen an das, was Imogen nach jahrelangem Bemühen und Tausenden von Seiten gelernt hatte. Es war ein Wunder gewesen, dass sie für Esther’s Ghost relativ leicht einen Verlag gefunden hatte, das zweite Wunder war, dass kaum eine Überarbeitung nötig gewesen war – ein Glück angesichts ihres Zustands. Sie hatte lange und hart daran gearbeitet, bevor sie es ihrem Agenten zeigte, und zwischendurch Rückmeldungen von Beck und ein paar Schriftstellerkollegen bekommen, mit denen sie übers Internet Kontakt hielt. Das Buch war ein wenig düsterer als ihr Debütroman und hatte Anklänge an einen Schauerroman. Ihre Heldin Esther ist mitten in der Nacht in ihrem Bett überfallen worden und besessen davon, den Täter zu finden. Als sich die Hinweise verdichten, dass es wahrhaftig ein Geist gewesen ist, beginnen Esthers Freunde, an ihrem Verstand zu zweifeln, aber sie weiß, dass die Vergewaltigung keine Einbildung war.
In sieben Monaten würde das Buch erscheinen, aber wie es im Moment aussah, war Esther’s Ghost möglicherweise ihr letztes Buch.
Plötzlich musste Imogen daran denken, was ihre Schwester gesagt hatte: Tilda hatte keine Ahnung von Wanderungen und keinerlei Erfahrungen – aber Imogen. Und es würde ihr guttun, sich als vollwertiges Mitglied dieser Expedition zu fühlen und Tilda zu helfen. Vielleicht hatte Beck, die nie viele Worte machte, genau das im Sinn gehabt. Wenn Imogen auch nicht wusste, wie Tilda zu ihr stand, konnte sie zumindest das tun, was Beck von ihr erwartete.
»Das ist wahrscheinlich der steilste Abschnitt«, sagte Imogen und versuchte, ihre boshafte Bemerkung von vorhin wiedergutzumachen. »Aber du musst schon noch mit etlichen schwierigen Stellen rechnen, besonders wenn wir an Santa Maria Springs vorbei sind. Aber dort können wir uns ein wenig ausruhen und erholen.«
Sie erinnerte sich zwar nicht mehr selbst an jedes Stück dieses Weges, aber zur Vorbereitung hatte sie mit ihrem Vater gesprochen. Er wusste, dass es ihr half, wenn sie sich etwas genau vorstellen konnte, weil sonst ihre Fantasie mit ihr durchging, und er hatte bereitwillig ihre unzähligen Fragen beantwortet. Deshalb war Imogen ziemlich klar, was in den kommenden Tagen vor ihr lag.