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Eine Spukhausgeschichte – aber es ist nicht das Haus, in dem es spukt. Orla und Shaw verlassen mit ihren beiden Kindern die hektische Großstadt und kaufen ein abgelegenes Gehöft in den Adirondack Mountains von New York. Keiner von ihnen ahnt, was in den dunklen Wäldern auf sie lauert – und nach und nach verwandelt sich die Begeisterung über ihr neues Leben in Entsetzen. Eine unheimliche Kreatur terrorisiert die Familie und versucht, mit ihnen zu kommunizieren … Die erschreckenden Erlebnisse der Familie Bennett. Geistergeschichte, Familiendrama und Psychothriller. Ein anspruchsvoller unheimlicher Roman der gefeierten Autorin von BABY TEETH. Pittsburgh Post-Gazette: »Ein provokanter philosophischer Pageturner.« BookReporter: »Ein absolut gruseliges und unheimliches Buch.« Library Journal: »Von der ersten Seite an beklemmend.«
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Seitenzahl: 539
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Wonderland
erschien 2020 im Verlag Mulholland Books.
Copyright © 2020 by Zoje Stage
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Grafikstudio Müller
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-094-6
www.Festa-Verlag.de
Für die geschätzten Frauen,
die mich bei Verstand halten:
Deb, Lisa und Paula
Und für die Superhelden-Mütter,
die die Welt tragen
Es gab keine Worte; Worte existierten nicht mehr. Zeit und Bewusstsein waren fließend. Abstrakt. Aber es gab ein Gewahrwerden. Und damit auch eine Dringlichkeit. Tod.
Tod.
Der Tod wie ein Trommelschlag, der aus der Vergangenheit ruft. Er hatte einen vertrauten Geruch.
Der Tod.
Als ob sie ihm schon einmal begegnet wäre.
1
Orla versuchte, es nicht als Amputation zu betrachten, aber so fühlte es sich an. Als sie die Wohnung in New York City hinter sich ließen, war das ein Bein. Vor Wochen war sie nach Norden gehumpelt, und jetzt, als sie der Familie ihres Mannes in Plattsburgh zum Abschied winkte, war das ein Arm. Mit der verbliebenen Hand schnallte sie sich an und blickte auf ihren verbliebenen Fuß, der in einem schlammverkrusteten Stiefel steckte. Dieser Körper würde nie wieder tanzen. Keine berauschenden Offenbarungen mehr, wenn sich der Vorhang auf der Bühne hob. Kein Beifall mehr. Kein Fließendmachen ihrer sehnigen Glieder wie Musik mehr. Nur ein karges Leben. Und endlose Wälder.
Shaw war in den ersten Wochen nach ihrem Rückzug aus dem Beruf ein so guter Partner gewesen. Er hatte sich Tag für Tag auf die positiven Dinge konzentriert: Ihre ständig strapazierten Muskeln konnten endlich heilen; sie würde keine schwarzen Zehennägel mehr haben; sie würde nicht mehr stundenlang in der Gesellschaft von verschwitzten, stinkenden Menschen verbringen müssen. Im Geiste des neuen Lebens, das sie planten, hatte sie den Wahrheitsgehalt seines Optimismus eingeräumt. Aber sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern, dass sie sich derart beschwert hätte, zumindest nicht häufig und nicht in der Absicht, sich ein anderes Leben zu wünschen. Manchmal nutzten sich die Stifte des Schriftstellers eben ab, und manchmal werden die Pinsel des Malers hart und steif. Dies waren beiläufige Hindernisse des jeweiligen Gewerbes, so wie ihre Schmerzen; sie waren kein Grund, die Kunst aufzugeben.
Doch in ihrem Innersten wusste sie es. 41 war alt für eine Balletttänzerin, und alles erforderte mehr Anstrengung als früher; die Zeit war gekommen. Und sie hatte zugestimmt – das Ende ihrer Zeit sollte den Beginn von Shaws Zeit bedeuten. Jetzt war er an der Reihe, seine künstlerischen Träume zu verfolgen.
An manchen Tagen spürte sie nichts als die Aufregung über eine so große Veränderung, ein echtes Abenteuer. Aber an anderen Tagen … Der Umzug in die Adirondacks war ein bisschen extremer als das, was sie sich einst vorgestellt hatte, als »die Stadt verlassen« bedeutete, an einen Ort wie Pittsburgh zu ziehen, wo sie aufgewachsen war. Eine kleinere Stadt, die das Beste aus allen Welten bot: vielfältig, mit Kulturangebot, erschwinglich. Sie könnten dort ein schönes Familienhaus haben, weitläufig für Manhattan-Verhältnisse, und die Kinder könnten ihre Lola und Lolo haben. Ihre Eltern wären so glücklich gewesen, sie so nahe bei sich zu haben. Aber als Paar vertraten sie auch die Philosophie, den Tag zu nutzen. Und zu erforschen. Und die Möglichkeit zu ergreifen, an unerwarteten Orten Entdeckungen über sich selbst zu machen.
»Carpe diem«, murmelte sie.
Ihr Moment der Akzeptanz zerbrach, gefror blitzschnell, und sie schnappte nach Luft. Da, am Straßenrand. Ein Paar Beine. Ein aufgedunsener Körper.
Das Auto näherte sich der Stelle, und es war tatsächlich real, keine Illusion, aber die hintere Hälfte eines Rehs, keines Menschen. Sie sah den Rest, als sie vorbeifuhren: die Vorderbeine zum Gebet gekreuzt, Blut, das den Schnee um den Schädel herum befleckte. Die Straße löste sich hinter ihnen auf, ausgelöscht durch den seitlich heranstiebenden Schneeregen. So hatte sich das zuvor nicht angefühlt, als sie wusste, dass sie am Ende des Tages zu Walker, Julie und den Jungs zurückkehren würden. Die Bäume standen dichter und schluckten das Licht. Es gab keinen Weg zurück.
Shaw lenkte seine Aufmerksamkeit von der Straße auf sie. »Hast du gerade Carpe diem gesagt?«
Orla wandte der feindseligen Welt, die direkt jenseits der Fensterscheibe lag, den Rücken zu. Sein Grinsen erinnerte sie daran weiterzuatmen. In seinem Haar hingen bläuliche Farbsprenkel; das war im letzten Jahr zu einem alltäglichen Anblick geworden, seit er endlich den zitternden Pfeil seines inneren Kompasses verstand. Angefangen hatte er mit kleinen Leinwänden und Acrylfarben, aber im Laufe der Monate wurden die Leinwände immer größer, und ihre Wohnung nahm den Geruch von Leinöl und Terpentin an, als er auf Ölfarben umstieg. Er war nicht der ordentlichste Maler, und irgendein Teil seiner Haut oder Kleidung – oder seiner Haare – bot stets eine Vorschau auf sein Tagewerk. Allerdings stammte das, was sich jetzt in seinen Haaren befand, sicherlich aus dem frisch renovierten Schlafzimmer der Tochter.
»Habe ich das?«, fragte sie. »Habe ich wohl – das ist es doch, was wir jetzt tun, oder?«
»Genau. Wir nutzen den Tag bis zum Anschlag!«
Sie prustete; manchmal war seine Begeisterung ansteckend. In der Hoffnung, den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht ihrer Tochter zu erhaschen, wandte sie sich dem Rücksitz zu. Hinter ihr saß Eleanor Queen und starrte aus dem Fenster, die Augen auf den Himmel gerichtet. Orla betete, dass sie das tote Reh nicht gesehen hatte. Sie wollte, dass die Wildnis – als die sie die Adirondacks immer noch bezeichnete – gut für ihr nachdenkliches Kind war. Eleanor Queen – für manche einfach nur El oder Eleanor, nie jedoch für ihre Mutter – war ihr nicht robust genug, nicht aggressiv genug erschienen, um in der Stadt bis ins Erwachsenenalter zu überleben. Mit neun Jahren hatte sie immer noch Angst vor der Dunkelheit, eine von vielen Ängsten, die Orla und Shaw resigniert hinnahmen. Als Menschen mit einer reichen Vorstellungskraft konnten sie nicht versprechen, schwören, zweifelsfrei versichern, dass im Dunkeln nichts Beängstigendes lauerte. Und sie respektierten, dass ihre Tochter pragmatische Ängste hatte: trubelige Treppen, die zu den U-Bahnen hinabführten, Sirenen, die von Gefahr kündeten, Bürgersteige mit ihrem Gedränge an eiligen Fußgängern.
Neben ihrer Tochter saß der vierjährige Tycho in seinem Autositz und ließ einen flauschigen, langbeinigen Elch auf seinem Knie hüpfen. Er sang leise vor sich hin, nach seiner eigenen Melodie und seinem eigenen Text: »Driving down the road … going to our home … driving in the car … going very far …«
Sosehr sie auch versucht hatte, den Umzug mit offenen Armen und offenem Geist zu begrüßen, um ihrer Kinder willen und weil Shaw es so sehr wollte, es lag dennoch die Angst, dass ihre Großstadtfamilie nicht für die Wildnis im Nirgendwo geeignet war, wie ein Schatten über ihr. Diese Angst verfolgte sie während der gesamten Fahrt; ein schwarzes Gespenst mit einer tintenschwarzen, menschlichen Gestalt, die sie am Rande ihres Blickfeldes beinahe sehen konnte.
Sie wandte sich wieder Shaw zu, wollte ihn (zum hundertsten Mal) bitten, ihr zu versichern, dass sie alle Eventualitäten durchdacht hatten und wirklich bereit für ihr neues Leben waren. Aber als sie ihn ansah, brauchte sie nicht zu fragen. So zufrieden und eifrig, seine Hände auf zehn und zwei Uhr, fuhr er ihren neuen alten Geländewagen mit Vierradantrieb, als hätte er nur darauf gewartet und wäre endlich da, wo er hingehörte. Und vielleicht war er das auch. Sie sah ihn mit neuer Klarheit. Der struppige Bart, der Schmutz unter seinen Nägeln, die Art, wie sein dicker Mantel 20 Jahre alt aussah, obwohl er erst kürzlich gekauft worden war. Die Adirondacks waren sein Revier; Plattsburgh, wo sie die letzten drei Wochen bei seinem Bruder verbracht hatten, seine Heimatstadt. Als sie Städte in der Nähe von Plattsburgh gegoogelt hatte, hatte sie eine Liste mit lauter Dörfchen und Weilern erhalten; die nach ihren Maßstäben nächstgelegene Stadt – Montreal – lag nicht einmal im selben Land. Vielleicht war Shaw nie wirklich ein Stadtmensch gewesen, aber seine kreativen Impulse hatten ihn dorthin getrieben.
Hatte Orlas Göttlichkeit ihn dort gehalten? Manchmal sah sie sich selbst durch seine Augen, seine schimmernde Bewunderung für ihr Talent, ihren Schwung.
Vielleicht hatte er gedacht, dass etwas von ihrem goldenen Staub auf ihn abfärben würde, als sie damals zusammenkamen. Er beschwerte sich nicht, als das nicht der Fall war, und ließ nie durchblicken, seine eigenen Träume aufgeben zu wollen. Sie respektierte ihn dafür, und sie hielten an ihrem Stadtleben fest, selbst als ihre Freunde weiterzogen und ein anderes Leben oder mehr Platz in Brooklyn oder Astoria suchten. Und dann kam Eleanor Queen. Und dann Tycho. Sie hatte zweimal ein Comeback nach ihrer Mutterschaft hingelegt – eine Seltenheit in ihrem Beruf –, aber das Empire City Contemporary Ballet war nicht so elitär und umkämpft wie die renommierteren Ensembles der Stadt. Und sie hatte hart dafür gearbeitet – hineinzukommen, drinzubleiben, zurückzukommen –, sogar über das hinaus, was ihre Fähigkeiten und ihr Körper ihr für eine mögliche Zukunft vorausgesagt haben mochten. So wurden sie zur klassischen Manhattan-Familie, zusammengepfercht in einer Einzimmerwohnung mit 55 Quadratmetern, und sorgten dafür, dass es allen Widrigkeiten zum Trotz funktionierte.
Shaw legte eine CD in den Player im Armaturenbrett ein. Akustische Musik, überraschend melancholisch. Er fragte nie, was die anderen gern hören würden. Orla mochte die Hauptverdienerin sein und ihre Familie mit ihren beeindruckenden, wenn auch nicht ganz starreifen Talenten durchbringen, aber es war Shaw, der den Beatnik-Ton in der Familie vorgab. Orlas Vater nannte ihn insgeheim einen »Dilettanten«. Sie fand das nicht ganz fair, da Shaw die meisten Aufgaben im Haushalt übernahm, die man sich eigentlich hätte teilen sollen. Aber es war unbestreitbar, dass Shaws wahre Berufung schwer auszumachen war. Er hatte bei mehreren Open-Mike-Veranstaltungen im East Village Gitarre gespielt. Bei anderen seine Gedichte vorgetragen. Er schrieb ein Drehbuch, fotografierte und hämmerte an Holzstücken herum, die nie ganz zu den Skulpturen wurden, die er sich vorstellte. Doch das hatte sich im letzten Jahr geändert, als er sich auf ein Medium und die dafür notwendige tägliche Disziplin festgelegt hatte.
Nachdem ihn eine Ausstellung beim Galeriebesuch in Chelsea (eine Lieblingsaktivität, die nichts kostete) in ihren Bann gezogen und er die Ausstellung mehrmals besucht hatte, machte Shaw eine ungewohnte Gewissheit geltend: Er wusste nun, was er zu tun hatte. Er kanalisierte seine Energie in das Malen von leicht surrealen Versionen von Dingen, die er fotografiert hatte. Zunächst hatten ihn Stadtansichten angezogen, eine Mischung aus düsterem Realismus mit einem Hauch unerwarteter Eigenheit. Raffiniert und ausgefeilt ließen diese Bilder seine früheren Bemühungen wie Kritzeleien aussehen. Doch sein eigentlicher Wunsch war es, seinen Blick der natürlichen Welt zuzuwenden. Wäre es nur darum gegangen, dass er mehr Platz brauchte – was sicherlich der Fall war, wenn er weiterhin etwas malen wollte, das größer als der Deckel eines Schuhkartons war –, hätte sich Orla vielleicht nicht zu einem solchen Umzug aufs Land überreden lassen. Aber er brauchte die Natur jetzt ebenso sehr, wie sie einst eine Metropole mit dem Herzen einer Diva gebraucht hatte.
Sie hatten das Grundstück zum ersten Mal vor sechs Monaten besucht; sein Bruder Walker hatte sie darauf aufmerksam gemacht, kurz nachdem sie begonnen hatten, darüber zu reden, was sie vielleicht tun könnten und wo sie es vielleicht tun könnten. Keinem von ihnen hatte es sonderlich gefallen; das alte hölzerne Farmhaus war ein einziger Murks und viel beengter, als Orla es sich gewünscht hatte. Sie hatten sich damals nicht einmal die Mühe gemacht, es den Kindern zu zeigen, weil sie es nicht für einen echten Kandidaten hielten, obwohl sie sich in der nahe gelegenen, unbestreitbar malerischen Stadt Saranac Lake Village umgesehen hatten. Das Einzige, was Shaw wirklich begeistert hatte, war der Baum: ein riesiger immergrüner Baum 50 Meter hinter dem nichtssagenden, winzigen Haus, dessen massiver Stamm gleichsam aus der Mitte der Erde in die Höhe ragte, umgeben von kleineren Bäumen, die wie seine Kammerdiener wirkten.
Während der Immobilienmakler in seinem Auto telefonierte, waren Orla und Shaw zurück zum Baum geschlendert, Shaw bereits auf dessen Sirenenruf eingestimmt, mit einem Strahlen im Gesicht.
»Ich habe so einen Baum einmal gesehen, ein bisschen nördlich von hier, als ich mit meinem Vater zelten war. Ich war noch ein Kind, vielleicht neun, so wie Bean. Ich sagte meinem Vater, dass ich ihn spüren kann. Ich habe etwas gespürt. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich begriff oder zumindest darüber nachdachte, dass es Dinge in der Natur gab, die uns überleben würden, die Zeugen der Geschichte waren und vielleicht die Zeit auf ihre eigene Weise aufzeichneten. Mein Bruder hat mich bloß damit aufgezogen, wie er es damals ständig tat. Aber mein Vater sagte etwas wirklich Seltsames. So seltsam, dass ich mich immer daran erinnerte, und Walker hielt dann auch die Klappe, hatte keine witzigen Sprüche mehr.«
»Was hat er gesagt?« Orla ließ ihre Hand in seine gleiten. Shaws Vater war schon vor Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, und sie wünschte sich oft, sie hätte ihn besser kennengelernt.
»Dass man manchmal, wenn man draußen in der Welt ist – er meinte die Berge, die Wälder; er hatte immer hier gelebt –, die anderen Teile seiner Seele erkennt.« Shaw sah sie an, dachte immer noch über diese Worte nach. »Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, aber danach habe ich jedes Mal, wenn ich in den Wald ging, nach etwas gesucht.«
»Nach Teilen deiner selbst.«
»Vielleicht.«
»Dein Vater hat dich gelehrt … zu sehen, dass wir Teil von etwas Größerem sind. Das gefällt mir.«
»Wie wir miteinander verbunden sind.« Er hatte ihr Gesicht in seine Hände genommen und sie geküsst. Orla wurde schwindelig; sie kicherte, als wären sie in der Zeit zurückgereist und hätten sich gerade frisch verliebt.
Gerade als sie die Hand nach dem Baum ausstreckten, fasziniert von der alten Rinde, durchschnitt die Stimme des Immobilienmaklers die Luft. Sie eilten zurück.
Orla dachte, damit sei die Sache erledigt, eine interessante Möglichkeit und ein netter Ausflug. Doch als sie nach Hause kamen, begann Shaw von einem wiederkehrenden Traum zu berichten: Orla und die Kinder lebten auf diesem Stück Land. Blühten auf. Und Visionen von ihm selbst in dem Zimmer neben dem Wohnzimmer, wo er seine Meisterwerke auf die Leinwand zauberte. Sie sprachen erneut darüber. Die Bäume in der Umgebung waren im Frühling so schön gewesen, ein vor Grün strotzendes Bild, mit diesem besonderen Baum in der Ferne.
»Es ist, als ob er unser Wächter wäre«, hatte Shaw gesagt. »Ich sehe ihn in meinen Träumen, wie er in die Höhe ragt.«
Und seine Arbeit verbesserte und entwickelte sich weiter, indem er mehr und mehr wildes Grün einbezog, obwohl sie die Stadt noch nicht verlassen hatten. Während sich sein Vorgehen und seine Vision verfestigten, wurde er immer überzeugter.
»Er ruft nach mir. Ich glaube, er ist meine Muse.« Der uralte Baum begann, in sein Werk einzudringen und über die Wipfel der Gebäude zu lugen.
Orla hatte den Ruf der Natur noch niemals erlebt, aber sie glaubte ihm. Es war für sie beide ein neuer Nervenkitzel, zu sehen, wie er zu sich selbst fand, indem er sich in der Erschaffung seiner Bilder verlor. Orla gefiel, dass das Land Shaw an seinen Vater und die philosophischen Lehren seiner Jugend erinnerte. Als sie sich drei Monate später erneut bei dem Makler meldeten, war der Preis gesunken.
Das Haus stand schon seit einiger Zeit leer, und die Verwandten im Ausland wollten unbedingt verkaufen. Sie machten ein sehr niedriges Angebot, und als es tatsächlich angenommen wurde, setzte sich eine Entwicklung in Gang wie ein von der Sehne gelassener Pfeil.
2
»Sind jetzt alle Fenster drin, Papa?«, fragte Eleanor Queen vom Rücksitz aus und klang dabei besorgt wie immer.
»Doppelverglasung. Das hält den Wind draußen.« Shaw grinste seine Tochter im Rückspiegel an. In den letzten Monaten war er immer lebhafter geworden – das hatte sich schon bemerkbar gemacht, als sie den Umzug beschlossen hatten, aber in den letzten drei Wochen hatte es noch zugenommen, weil er sich unbedingt endlich in seinem neuen Studio einrichten wollte. Manchmal äußerte sich sein Enthusiasmus darin, dass er auf und ab ging, zu schnell sprach oder ungeduldig mit den Fingern oder dem Fuß klopfte. Allmählich wurde ihr sanfter, ruhiger Ehemann manischer, und Orla war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel.
Auch wenn die Kinder das Haus nicht gesehen hatten, bevor sie die Stadt verließen, hatten sie zumindest die Renovierungsarbeiten bei Tagesausflügen verfolgt, während sie alle bei Walker wohnten. Es hatte Spaß gemacht, mit der anderen Bennett-Bande zusammenzuwohnen. Shaw lebte eine entspannte Kameradschaft mit seinem Bruder, und seine Schwägerin Julie war so nett. Orla (eine angeheiratete Bennett, auch wenn sie ihren Nachnamen, Moreau, behalten hatte) hatte die lebhaften Gespräche und die Häuslichkeit genossen. Auch die Jungs waren erstaunlich entgegenkommend gewesen. Dem zwölfjährigen Derek hatte es nichts ausgemacht, sein Zimmer für Shaw und Orla zu räumen, und der 14-jährige Jamie hatte alle jüngeren Kinder in seinem Zimmer willkommen geheißen. Eleanor Queen und Tycho kicherten nachts, als sie sich eine Luftmatratze teilten, sein Kopf an ihren Füßen und umgekehrt. Obwohl die Kinder Cousins und Cousinen waren, hatte Orla es als bemerkenswert empfunden, dass die Jungs so schnell bereit waren, eine Neunjährige und einen Vierjährigen tagelang zu unterhalten. Gute Jungs. Sie waren in verschiedenen Konstellationen von Erwachsenen und Kindern hin und her gependelt, um das neue alte Haus fertigzustellen.
Die Stimme ihrer Tochter holte sie in die Gegenwart zurück. »Und wir werden nicht frieren?«, fragte Eleanor Queen mit sorgenvoller Stimme.
Die Straße war nass und schwarz. Die Bäume kahl und schwarz. Schlieren von eisigem Schnee schossen in horizontalen Flugbahnen an den Fenstern vorbei.
»Brandneuer Ofen«, sagte Shaw grinsend. »Für Tausende von Dollars!«
»Der hält alles kuschelig warm«, sagte Orla und drehte sich zu ihrer Tochter, um sie zu beruhigen. »Und wir haben den Schornstein für den Holzofen reinigen lassen, also ist auch der fertig. Ich kann mir schon vorstellen, wie du dich davor einkuschelst und ein Buch liest.«
Eleanor Queen begann zu lächeln. Doch dann erregte das Schneetreiben, das inzwischen zu einem regelrechten Schneesturm geworden war, wieder ihre Aufmerksamkeit und ihre kleine Stirn legte sich in Falten.
Shaw war auf den verdammten Heizkessel ungefähr so stolz, wie ein anderer Mann auf ein schickes italienisches Motorrad wäre. »Das ist das Herz des Hauses«, hatte er gesagt, als sie im Keller standen und die Installation beobachteten. »Das Herzstück unseres neuen Heims.«
Aber Orla sorgte sich zunehmend wegen der Kosten für alles. Für das Haus und das Grundstück. Den Geländewagen. Den Heizkessel und die Fenster. Den neuen Generator für den Fall, dass der Strom ausfiel, denn selbst das Wasser, das mit einer Pumpe aus einem Tiefbrunnen gepumpt wurde, hing von der Elektrizität ab. Und dann die alltäglichen Dinge, die sie brauchten, um alles und jeden am Laufen, am Leben und gesund zu halten. Sie hatten so viel wie möglich bar bezahlt, aber sie behielt ein wachsames Auge auf ihre Reserven.
Die Genossenschaftswohnung in Chelsea, die ihnen seit 22 Jahren gehörte, war schnell verkauft worden und hatte einen schönen Gewinn eingebracht, und sie hatte ihrem Vater angeboten, die Anzahlung wie versprochen zurückzuzahlen. Er hatte abgelehnt. »Behalte es, um die Ausbildung der Kinder zu finanzieren, falls ich nicht mehr da bin.«
Alles an seinen Worten störte sie: dass er nicht damit rechnete, noch am Leben zu sein, wenn ihre Kinder für das College bereit waren, und ebenso, dass er das unmittelbare Problem verstand. Ihre Ersparnisse würden einfach nicht so lange reichen, und sie brauchten es für Hypothek, Lebensmittel, Nebenkosten, Autoreparaturen und andere Dinge.
Vielleicht erwartete Shaw von ihr, dass sie sich einen Job suchte, wenn es brenzlig werden sollte. Er war an der Reihe, kreativ zu sein, sie musste den Haushalt führen. Im Laufe der Jahre hatte er ihr Einkommen mit verschiedenen Jobs aufgestockt – Kellner, Barkeeper, Steuerberater, Zeitarbeiter. Vielleicht hätte sie solche Möglichkeiten gehabt, wenn sie in Plattsburgh gelebt hätten, etwa eine Stunde nordöstlich ihres Gehöfts. Aber ihr Grundstück im Wald – ein bewaldetes Stück Land mit Blick auf niemanden und nichts von Menschenhand Geschaffenes, eine unbefestigte Schotterstraße einen sanft ansteigenden Hügel hinauf – lag jenseits klar definierter Grenzen. Nachdem sie seit ihrem 17. Lebensjahr in New York gelebt hatte, wo man zu Fuß gehen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen konnte, lernte Orla gerade erst Autofahren, aber sie fühlte sich noch nicht wohl hinter dem Steuer. Selbst bei schönem Wetter war es zu weit, irgendwohin zu laufen. Und bei schlechtem Wetter …
Sie starrte aus dem Fenster. Die Region hatte die zweifelhafte Ehre, die kältesten Wintertemperaturen in den kontinentalen Vereinigten Staaten zu haben. Ganz zu schweigen von den gelegentlichen Schneefällen, die sich dann meterhoch auftürmten.
Julie hatte sie mit einer großen Tasche voller zusätzlicher Wintersachen, aus denen die Jungs herausgewachsen waren, auf den Weg geschickt: Schneehosen, Stiefel, Fäustlinge, sogar zwei Paar Schneeschuhe – und einigen Tomaten und grünen Bohnen, die sie im Sommer eingemacht hatte. War die Sommersaison tatsächlich lang genug, um Gemüse anzubauen? Waren das Fähigkeiten, die Orla erlernen musste, damit das Geld länger reichte: anbauen, einmachen, konservieren?
Sie hatte versucht, ihren Kindern ein Gefühl von Abenteuer zu vermitteln, vor allem in den Wochen, in denen sie kein eigenes bewohnbares Haus hatten. Tycho bemerkte entweder nicht, dass sein Leben im Fluss war, oder es war ihm egal. Solange jemand, den er kannte, in seinem Blickfeld war, war er glücklich. Aber es störte Orla, dass Eleanor Queen immer noch solche grundlegenden und tiefgehenden Sorgen hatte. Sie war mehrmals in dem Haus gewesen, hatte die Fortschritte bei den Verbesserungen gesehen. Warum glaubte sie also nicht, dass es fertig war? Was glaubte sie, wohin ihre Eltern sie bringen würden?
Eleanor Queen hatte zugesehen, wie die Arbeiter die alten Fenster aus dem Farmhaus entfernten. Als das spiegelnde Glas des großen Wohnzimmerfensters verschwunden war und ein schockierend dunkles Loch hinterließ, hatte das Mädchen Orlas Hand umklammert. »Werden wir sterben?«
»Natürlich nicht!«, hatte Orla lachend gesagt und sie geknuddelt. Doch eine Sekunde lang war nur das Quetschen einer gebauschten Jacke zu hören gewesen, und Orlas Blut pochte im Rhythmus der Panik, dass ihre Tochter plötzlich verschwunden war. Dann spürte sie die kleinen Knochen von Eleanor Queen unter der Jacke, und das Gefühl verging.
»Freust du dich schon auf dein eigenes Zimmer?«, fragte Orla jetzt mit fröhlicher Stimme und verdrängte die unangenehme Erinnerung. Shaw fuhr langsamer, als die Sicht schwächer wurde.
»Juhu!«, sagte Tycho, obwohl er wahrscheinlich derjenige war, den das am wenigsten interessierte. Was ein Glück war, wenn man bedachte, dass sein schmales kleines Zimmer ein nachträglicher Einfall gewesen zu sein schien, kaum mehr als ein Schrank mit einem Fenster, der durch die Hinzufügung einer Wand entstanden war, die das größte der Schlafzimmer im Obergeschoss abtrennte. Aber das war immer noch mehr persönlicher, eigener Raum, als er oder irgendeiner von ihnen bisher gehabt hatte. Nach der Geburt von Eleanor Queen verwandelten sie das einzige Schlafzimmer in ein Kinderzimmer und kauften sich ein neues Schlafsofa für das Wohnzimmer. Ein paar Jahre später kamen die Etagenbetten hinzu. Die vier hatten sich an das kompakte Wohnen gewöhnt.
»Und Papa hat sein allererstes Atelier, in dem er seine Meisterwerke schaffen kann!«, sagte Orla. Sie grinste, als Tychos Gesicht aufleuchtete, der sich immer für alle freute. Sie lächelte immer noch, als sie sich zu Shaw umdrehte. Er sah komisch aus, wenn er glücklich war, mit den halbmondförmigen Fältchen um seine Augen und den gebleckten Zähnen, die schief in seinem Mund standen, die oberen Zähne direkt auf den unteren. Eine verrückte Grimasse. Aber sie war froh, dass er glücklich war.
»Mein A-ha-tel-yeah«, sang er und klopfte im Takt der Musik-CD auf das Lenkrad. »Wo ich ma-ha-len werd-ey …« Tycho war nicht der Einzige in der Familie, der gern kleine Liedchen trällerte.
Das Atelier war, wie in seinem Traum, das geräumige Schlafzimmer direkt neben dem Wohnzimmer. Zum ersten Mal seit 15 Jahren würde Shaw seinen eigenen Arbeitsbereich haben, mit einer Tür. Orla war ein wenig neidisch, rief sich aber ins Gedächtnis, dass sie, wenn er im Atelier war, in ihr Schlafzimmer im Obergeschoss gehen und die Tür schließen konnte. Das war für sie alle neu: die vielen Räume, die vielen Türen.
Tychos Lider flatterten schläfrig; der Elch in seiner Hand lag auf seinem Schoß und war bereits eingeschlafen. Auch sie, die sich ihres Körpers stets ganz bewusst war, verspürte eine Schwere, ein Verlangen, in den Winterschlaf zu fallen. Das gestrige Thanksgiving-Festmahl lag ihr noch immer schwer im Magen. Und ihre Beine (immer noch zwei, trotz des anhaltenden Gefühls, dass sie abgetrennt, abgespalten worden waren) schmerzten, und sie sehnte sich danach, aus dem Auto zu springen, ihre Ferse zu packen und ihr Bein bis zum Ohr hinauf zu strecken.
Sie hatten immer gesagt, dass Plattsburgh nicht so weit von ihrem neuen Wohnort entfernt war und dass sie dort oft zum Einkaufen und für Familienbesuche hinfahren würden. Doch als sie die Route 3 entlangfuhren, schien sich die Welt hinter ihnen bis zur Unkenntlichkeit zu dehnen und die Orientierungspunkte, die ihnen den Weg zurück weisen würden, auszulöschen. Orla fiel es schwer zu akzeptieren, dass sie immer noch in New York waren – im Bundesstaat, nicht in der Stadt –, aber wie konnte es hier auch so anders sein? Es war einfacher gewesen zuzustimmen, als ihr die Landschaft noch nicht so völlig fremdartig erschienen war. Nördlich der Stadt hatte sich gar nicht so schlecht angehört, mit dem Wort Stadt, das an dieser Wendung baumelte und nicht loslassen wollte, und mit New York, das immer noch ihr Heimatstaat war. Aber die Stadt war weg. Ihr Leben war weg. Und die Landschaft nicht wiederzuerkennen.
Sie drehte die Musik auf, in der Hoffnung, den Wind zu übertönen, der jenseits des Fensters heulte. Das bist du ihm schuldig, heulte er. Du hast es versprochen. Shaw warf ihr einen begeisterten Blick zu, und sie ließ ihn das Beste glauben, nämlich dass sie genauso glücklich war wie er. Aber selbst die lieblichen Töne der gezupften Gitarre ließen sie nicht entspannen. Ihm schuldig. In den vibrierenden Saiten. Ihr Mann würde es nie aussprechen, aber die Schuldigkeit lag in dem stillen Raum zwischen ihnen. Ich bin dran. Wir waren uns einig. Und noch leiser, darunter, eine Stimme, die sie mühsam unterdrückt hatte. Deine Rolle ist beendet. Der Vorhang war gefallen und würde sich nicht mehr heben. Und sie hatte Angst vor der Dunkelheit.
3
Als sie sich die Einfahrt hinaufschlängelten, hatte der Schnee bereits einen dicken Teppich ausgebreitet. Die Kinder waren hellwach und drückten ihre Gesichter an die Fenster. Natürlich waren sie alle schon einmal im Haus gewesen, aber keiner von ihnen hatte dort eine Nacht verbracht oder es unter solch winterlichen Bedingungen gesehen. Shaw schaltete die Musik aus, und der Dunst, den sie ausatmeten, die wiederaufbereitete Mischung aus all ihren Lungen, summte vor Erwartung.
»So schön!«, sagte Tycho, als das Farmhaus in Sicht kam.
Der kleine Optimist. Es musste der Schnee sein, der wie Zuckerguss auf den Ästen der Bäume lag und in weißen Schlieren auf dem Dach. Der blaugraue Anstrich war so alt, dass er größtenteils abgewaschen aussah, und die Fenster waren in einem vielleicht einstmals festlichen Rot gestrichen, das jetzt rostig und schorfig wirkte. Sie würden das Äußere streichen lassen müssen, wenn sie das Holz schützen wollten, aber erst nächstes Jahr; sie hatten schon so viel ausgegeben. Für Orla sah es gebrechlich aus, nicht wie die massiven Stahlgebäude, wie der Stein und die Ziegel und die solide Beständigkeit ihres früheren Lebens. Ein Windstoß könnte es umstürzen lassen. Zwei Stockwerke aus zersetzbarem Holz, ein Schrägdach, eine Veranda aus Streichhölzern und Fenster mit wachsamen Augen und offenen Mündern.
»Also gut, sind alle bereit?« Shaw fuhr in die frei stehende, offene Garage, deren Bretter noch stärker verwittert waren als die des Hauses und deren Dach ebenso steil war, damit sich nicht zu viel Schnee ansammeln konnte. An der Außenwand Richtung Haus stand ein Stapel Brennholz, der zur Hälfte von einer blauen Plane bedeckt war, bereit zur Verwendung. Und an der hinteren Wand, außerhalb des Sichtfelds, befand sich der Generator. Der Elektriker hatte die kritischen Stromkreise so umverlegt, dass bei einem Stromausfall der Generator automatisch anspringen und die Arbeit übernehmen würde.
Die Kinder schnallten sich ab und hüpften mit ausgestreckten Zungen aus dem Wagen, um Schneeflocken zu fangen.
»Ich wünschte, wir hätten ein paar Fenster offen lassen können«, sagte Orla. Das Streichen der Schlafzimmer war die letzte Renovierungsmaßnahme gewesen, bevor die Möbel aus dem Lager geliefert wurden, und sie machte sich Sorgen wegen der Farbdämpfe. Sie machte sich auch über andere Dinge Sorgen, die nebulöser und schwieriger zu formulieren waren.
Shaw holte Gepäck und Lebensmittel aus dem Kofferraum des Geländewagens. »Es sollte in Ordnung sein, ist ja schon ein paar Tage her.«
Eleanor Queen und Tycho drehten sich im Kreis und genossen den Schnee. In einem kurzen Moment der Erinnerung sah Orla sich selbst und ihren Bruder Otto. Er tauchte nur in seltenen Momenten auf, ein Geisterbild aus ihrer Vergangenheit, ein flimmernder Film, der sich rasch wieder auflöste, wenn sie ihre Kinder zusammen spielen sah. »Seid ihr bereit, eure fertigen Zimmer anzusehen? Wir können all eure Sachen auspacken.«
Tycho, der nicht in der Lage war, sich zurückzuhalten, rannte mit fuchtelnden Armen auf die Veranda zu. Das Geländer der Veranda war in der Mitte leicht eingeknickt, wo sich der Boden unter ihm ungleichmäßig gesetzt hatte. Mit Taschen unter jedem Arm öffnete Shaw die Haustür, während sein Sohn ihm dicht auf den Fersen war; beide plapperten in eifrigem Einklang. Das Haus verschluckte ihre Geräusche, als sie eintraten.
Von ihrem Spielkameraden allein gelassen, verweilte Eleanor Queen im Hof. Sie blickte in den Himmel hinauf. In den Wald. Ihre dunklen Augen blickten aufmerksam und wachsam.
»Eleanor Queen?«
Immer noch musterte das kleine Mädchen seine Umgebung, und zwar mit mehr Vorsicht als bei früheren Besuchen im Haus. Orla fröstelte es, als sie sie beobachtete. Worauf konzentrierte sie sich mit so großer Aufmerksamkeit? Das Mädchen blinzelte und legte den Kopf schief wie jemand, der versucht, einem entfernten Geräusch einen Sinn zu geben. Etwas zu verstehen, das Orla nicht hören oder sehen konnte.
»Liebes? Was ist los mit dir?«
»Was für ein Baum war das noch mal, hat Papa gesagt?« Ihre behandschuhte Hand deutete auf den Riesen, der sich 50 Meter hinter ihrem Haus erhob. Seine riesigen Äste blickten stirnrunzelnd auf die Zwergenbäume, die ihn umgaben. Vielleicht lag es an dem schieferfarbenen Himmel oder an den anderen Bäumen, die ohne ihre Blätter umherstanden, aber die große Kiefer sah noch älter aus als im Frühjahr, wie ein alter Mensch, dem die Farbe ausgegangen war.
Orla versuchte sich zu erinnern, was der Immobilienmakler gesagt hatte, als er ihnen das Grundstück zeigte. Er hatte damit angegeben, dass der Baum über 500 Jahre alt sei, daran erinnerte sie sich. »Eine Weymouth-Kiefer, glaube ich. Wir werden Papa noch einmal fragen. Sie ist so groß, weil sie 500 Jahre alt ist.«
Eleanor Queen starrte den Baum weiterhin mit einer Intensität an, die Orla beunruhigte. Sie sah im Gesicht ihrer Tochter weder Bewunderung für den alten Baum noch Neugierde. Sondern etwas viel Beunruhigenderes.
Beklemmung.
»Komm, wir holen deine Schneehose und deine Ausrüstung, wenn du draußen spielen willst.« Orla glaubte nicht wirklich, dass ihre Tochter das in diesem Moment wollte, aber es war das, was sie sich für sie erhofft hatte, als sie über den Norden gesprochen hatten, dass sie die Ruhe, das langsame Tempo der Wildnis mögen würde. Eleanor Queen würde sich keine Sorgen machen müssen, von einem Taxi überfahren oder in einer überfüllten U-Bahn gegen eine Haltestange gequetscht zu werden. Vielleicht war sie einfach nicht daran gewöhnt, wie still es war, wie anders. Wie der Wind an einem stillen Ort alles zum Sprechen brachte.
Eleanor Queen drehte sich abrupt um und stürmte auf das Haus zu.
Orla wollte nicht glauben, dass es Angst war, die sie auf dem Gesicht ihrer Tochter sah. Aber sie zögerte im Hof, als Eleanor Queen eilig ins Haus krabbelte. Was hatte sie erschreckt? War da draußen etwas? Sie suchte mit den Augen das Gelände hinter ihrem Grundstück ab. In der Luft lag der wohlige Duft von Holzrauch – hatte Shaw den Ofen bereits angezündet? Oder war das eine Rauchwolke, die über den Bäumen aufstieg? Unmöglich, hinter ihnen waren keine Häuser zu sehen, nicht einmal in der Ferne.
Eine Bewegung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie konzentrierte sich rechtzeitig auf die riesige Kiefer, um zu sehen, wie eine Schneekaskade von ihren zerklüfteten Ästen fiel. Der Wind hatte sich gelegt, und sie glaubte nicht, dass er die Ursache für den Schneefall war. Konnte ein Baum zittern? Die Kälte und Nässe abschütteln wie ein Hund? Sie hörte ein Geräusch, das sie nicht identifizieren konnte … ein leises Stapfen. Wieder und wieder.
Ihr stand der Mund offen. Etwas bewegte sich auf sie zu, etwas Leises, aber Riesiges. Ihr Bauchgefühl sagte: Lauf! Die Nerven in ihrer Wirbelsäule zuckten warnend, aber sie konnte sich nicht abwenden.
Einer nach dem anderen schüttelten die Bäume ihren Schnee ab. Das war das Geräusch: zentimeterhoher Schnee auf Hunderten von Ästen, der in einem Schwall auf den weiß gepolsterten Boden fiel. Aber es waren nicht alle Bäume; das war es, was nicht stimmte, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ und sie offenen Mundes starren ließ. Es war ein Pfad aus Bäumen, der mit dem Goliath begann und sich vorwärtsbewegte. Orla wollte Kettenreaktion denken, aber ihr Verstand verwarf diese Logik ungehalten.
Es kam näher.
Als der Schnee vom letzten Baum am Rand der hinteren Lichtung herabfiel, fegte ein starker Windstoß auf sie zu. Endlich erwachte Orla wieder zum Leben und stürzte auf die Veranda zu. Sie stolperte hinein und schloss die Tür hinter sich ab.
Als sie sich mit dem Rücken gegen die Tür drückte, verwirrt über ihr knappes Entkommen, traf ihr Blick auf den ihrer Tochter, und ihr gefror erneut das Blut in den Adern. Eine Schneewolke prallte mit Wucht gegen die Fenster. Und dann war alles wieder still. Aber Eleanor Queen kauerte mit großen Augen in der Ecke hinter dem kalten Ofen. Oben machten Shaw und Tycho weiter, als wäre alles normal, plauderten und ließen die Dielen knarren, während sie Sachen umräumten.
Orla hatte es nicht noch schlimmer machen wollen, aber ihre Tochter sah verängstigt aus. Was war überhaupt passiert? Sie war noch nie nach einem Schneesturm in einem Wald gewesen. Jetzt kam sie sich dumm vor, eine lahme Barrikade zwischen Mutter Natur und gesundem Menschenverstand. Sie trat von der Tür weg und zuckte abwiegelnd die Achseln.
»Das war nur der Wind nach dem Sturm«, sagte sie. »So wie es bei Erdbeben Nachbeben gibt.«
»Du hast ihn nicht reingelassen.«
»Natürlich nicht.« Aber bevor sie noch etwas sagen konnte, kam Eleanor Queen hinter dem gedrungenen schwarzen Ofen hervor, rannte die Treppe hinauf und rief nach ihrem Papa.
Orla war kurz davor, dasselbe zu tun, hinaufzustürmen und nach Shaw zu rufen. Um eine Umarmung zu bitten. Sie hörte ihn, wie er den Schreck ihrer Tochter mit sanften Worten vertrieb.
»Ist okay, Ele-Queen«, ahmte Tycho seinen Vater nach.
Das brachte sie zum Lächeln. Überreagieren würde nichts bringen. Orla lauschte an der Haustür; es war still. Sie zog sie einen Spalt auf und spähte hinaus.
Nichts bewegte sich. Kristalle glitzerten im Schnee. Das sah schön aus, aber sie traute dem Ganzen nicht richtig. Mauern fühlten sich zuverlässiger und vertrauter an. In ihrer Vorstellung war ihr Zuhause der Ort innerhalb der Mauern, nicht das, was dahinter lag. Sie ließ die Tür weit offen, um einen schnellen Rückzug zu ermöglichen, und kehrte zum Auto zurück, um den Rest ihrer Sachen zu holen.
4
Nach den Maßstäben der meisten Leute wäre es ein beschissenes Badezimmer, nichts, wovon man bei House Hunters schwärmen würde, aber alteingesessene New Yorker hatten ein anderes Verständnis von Platz. Sie hatten Freunde, die sich in eine winzige Eckdusche quetschen mussten, die kaum groß genug für einen Erwachsenen war und neben einer Toilette stand, bei der man sich im Sitzen nach vorn lehnen und die Hände im Waschbecken waschen konnte. Jetzt hatten sie Platz – ein kostbares Gut –, auch wenn der schwarz-weiße Vinylboden eines Tages rausgerissen werden müsste. Aber für den Moment war er brauchbar. Das weiße Sockelwaschbecken war charmant altmodisch, und der Thron, wie Shaw ihn zu nennen pflegte, stand vor dem Milchglasfenster. Orla hatte bereits ein kleines Bücherregal unter das Fenster gestellt und es mit ihren gefalteten Handtüchern und zusätzlichem Toilettenpapier gefüllt, aber vielleicht sollte sie wirklich noch ein oder zwei Bücher hinzufügen. Vielleicht würde der gemächliche Rhythmus ihres neuen Lebens mehr Zeit allein im therapeutischen Komfort des Bades mit sich bringen.
Sie schlüpfte aus ihrer Jogginghose und dem Thermoshirt, kehrte sie mit spitzen Zehen zu einem Stapel zusammen und stieg in die Badewanne mit Klauenfüßen. Diese war tiefer als ihre alte Wanne, und sie atmete den Dampf ein, der vom heißen Wasser aufstieg. Die Waden auf den gegenüberliegenden Rand gestützt betrachtete sie ihre Knie und ihre Füße. Sie spreizten sich in entgegengesetzte Richtungen, ein Zeichen für ihre mühelose Beweglichkeit. An den Zehenspitzen befanden sich harte Höcker von jahrzehntelangem Spitzentanz. Ihr schwarzes Haar fiel über den Rand des weißen Porzellans, und sie spürte die warme Luft, die aus dem Lüftungsschacht aufstieg und es durcheinanderbrachte. Der Heizkessel im Keller verrichtete seine Arbeit und schickte Wärme durch seine Adern im Haus.
Das war genau das, was sie brauchte. Nach fast drei Monaten des Aufruhrs, der Dekonstruktion des Status quo, konnte sie sich endlich entspannen. Ihre Glieder schmolzen im Wasser dahin, doch ihre Gedanken waren nicht so leicht zu beruhigen.
Ihr Körper, wenn er sich bewegte, streckte, drehte, sprang, war ein Wunder, das sie dankbar machte. Eine Maschine aus Muskeln und Fleisch. Aber im Liegen, nackt und unbeweglich, sah sie nur Knochen und die flachen Winkel ihres Bauches. Sie sah eher aus wie eine Stabheuschrecke als wie eine Frau.
Ihre Freunde bezeichneten sie als exotisch, aber Orla hatte nie verstanden, warum ihre Fremdartigkeit auf die Menschen so anziehend wirkte. Sie erweckte den Eindruck, ihren Mann zu überragen, obwohl sie in Wirklichkeit nur zwei Zentimeter größer war als Shaw. Aber alles an ihr war lang, übertrieben. Sogar ihre Gesichtszüge. Ein paar ihrer weniger politisch korrekten Freunde machten sich gern einen Spaß daraus, neue Bekannte zu bitten, ihre ethnische Herkunft zu erraten. Die sagten dann: griechisch, persisch, italienisch, israelisch, peruanisch, syrisch. Wenn sie aufgaben, sagte sie ihnen, sie sei einfach eine weitere Generikanerin – eine ganz gewöhnliche Amerikanerin. Aber das befriedigte ihre Neugierde nicht. Also erzählte sie ihnen von ihrer venezolanisch-irischen Mutter und ihrem philippinisch-französisch-amerikanischen Vater. Dann fragten sie: »Wie viele Sprachen sprichst du?«, um dann von ihrer Antwort enttäuscht zu sein. Eine Generikanerin zu sein, die nur Englisch spricht, passte nicht in das Bild, das sich die Leute von ihr machten.
Sie trug diese Gegensätze mit sich herum, die halb bewundernswerten, halb enttäuschenden Realitäten ihres Lebens. Nicht ganz die Frau von Welt. Nicht ganz ein Star auf ihrem Gebiet. Nicht wirklich schön im traditionellen Sinne. Andere Frauen beneideten sie um ihre Schlankheit, aber Orla sehnte sich nach ein wenig Fleisch, nach etwas Weichheit in ihren Brüsten. Nie hatte sie ihren Körper mehr geliebt als in der Schwangerschaft, und als alle staunten, wie schnell sie wieder zu ihrer Figur von vor der Schwangerschaft zurückfand, vermisste Orla die Rundungen, die Göttin, die sie kurzzeitig gewesen war.
Ihren Körper hatte Shaw schon immer begehrenswert gefunden, aber das war nur ein Element ihrer Faszination; durch ihr Beispiel hatte sie ihn motiviert, seine schwierigen und manchmal schwer fassbaren kreativen Ziele weiterzuverfolgen. Er hatte es genossen, ein Hausmann zu sein, aber seit er die Ölmalerei und sein Thema gefunden hatte, hatte sich sein Fokus neu ausgerichtet. Mit 38 Jahren betrachtete er sich als im besten Alter. Er hatte genug gelebt, um auf echte Erfahrungen zurückgreifen zu können, und er hatte alles ausprobiert; endlich waren seine Talente und Interessen klar.
Sie hatte sich noch nicht an das Gefühl gewöhnt, dass er wichtige Arbeit zu erledigen hatte und die ihre beendet war. Selbst wenn sie in einer Stadt geblieben wären, wäre es ihr wohl schwergefallen herauszufinden, was sie als Nächstes tun sollte. Aber hier? Es war nie so gewesen, dass sie ihn nicht ermutigen oder einen Schritt zurücktreten wollte, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich zu entfalten. Aber sein Plan bedeutete, ein völlig neues Leben zu beginnen. Einige ihrer unförmigen Bedenken waren egoistisch gewesen: Was würde sie da draußen in der Wildnis tun?
Unter dem Badewasser machten ihre Hände Fäuste um unsichtbare Steine und rieben, rieben. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen oft dabei ertappt, wie sie diesen unsichtbaren Steinen zusetzte. Jeden Tag, den sie bei Walker und Julie verbracht hatte, war der Gedanke aufs Neue aufgetaucht: Wir gehören nicht hierher. Shaw mochte einmal Mr. Frischluftfanatiker gewesen sein, aber seit fast zwei Jahrzehnten brauchte er den neuesten Kaffeetrend und eine Auswahl an vietnamesischen Restaurants zum Überleben. Er mochte Galerieeröffnungen und das IFC Center. Er experimentierte mit seiner Gesichtsbehaarung und trug spektakulär souverän auch die schrillsten Farben. Vor langer Zeit hatte er Plattsburgh verlassen, weil er schlichtweg zu schräg für seine Flanell und Jeans tragende Familie gewesen war. Walker, inzwischen erwachsen, machte sich nicht mehr über ihn lustig und begrüßte seine Rückkehr in den Norden. Aber angesichts dieser Isolation begriff Orla, dass diese neue Lebensweise nichts war, bei dem man einfach so mitspielen konnte. Shaw hatte Walkers Geschenk von zwei Gewehren ihres Vaters angenommen – ein Jagdgewehr mit Zielfernrohr und eine doppelläufige Schrotflinte – und plante zu jagen. Er schwor, dass er sich noch daran erinnerte, wie man ein Reh ausnahm, etwas, das er seine ganze Kindheit lang gemacht hatte, aber Orla kannte ihn nur als einen Mann, dessen Hände von Malfarbe gerötet waren, nicht von Blut.
Es würde Konsequenzen haben, wenn das Essen knapp würde: kein Gang zum Supermarkt an der Ecke, keine Bestellung bei einem beliebigen Restaurant, ganz gleich wonach ihnen der Sinn stand. Und was, wenn sich eines der Kinder ernsthaft verletzen würde? Wie lange müssten sie warten oder fahren, um Hilfe zu bekommen? Sie hatten sich gut vorbereitet, aber das konnte die Angst nicht lindern.
Es fühlte sich nicht richtig an.
Es fühlte sich nicht richtig an, und sie konnte Shaw diese Vorahnung (diese weibliche Intuition?) nicht erklären. Er würde sagen, dass sie es einfach nicht gewohnt war. Und er hätte recht damit. Er würde sie an ihre Anfangszeit in New York City erinnern, als Teenager, der Kurse besuchte, zum Vortanzen ging und Tag für Tag überfordert war. Aber sie hatte ihren Platz gefunden, ihr Zuhause gefunden. Das war es, was er nun hier von ihr erwartete, und sie wollte ihn nicht enttäuschen, also behielt sie die unaussprechlichen Befürchtungen für sich.
Sie richtete sich mit einem Ruck auf und ließ das abgekühlte Badewasser an ihrem Körper hinunterlaufen. Sie hatte sich an Shaw und ihre Familie gebunden, sich ihnen verpflichtet. Ihre Kinder brauchten ihre Stärke, ihre Flexibilität, und sie musste die hohe Kunst der Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen. Mit mehr Entschlossenheit, als sie den ganzen Tag über empfunden hatte, schnappte sich Orla ein Handtuch und trocknete sich schnell ab.
Ihr Schlafanzug war bequem und warm. Die Hose ließ ihre Knöchel frei, aber die Ärmel hingen ihr über die Hände, weil sie den Stoff ständig lang zog und damit die Fäuste ballte. Das Design auf der Vorderseite erinnerte an das 35-jährige Bestehen des Empire City Contemporary Ballet; die Buchstaben waren bröckelig und verblasst, abgenutzt durch Alter und häufiges Waschen. Als sie aus dem Schlafzimmer kam, schloss Shaw gerade leise die Tür von Eleanor Queen, nachdem er ihr Gute Nacht gesagt hatte.
»Ich bin in meinem Studio«, flüsterte er und warf Orla einen Luftkuss zu. »Geräumig!« Er breitete freudig seine Arme aus, und das Wort hallte im Treppenschacht wider, als er hinunterging.
Sie ging zu Tychos Zimmer, das rechts von ihrem und Shaws Zimmer lag und am weitesten von der Treppe entfernt war. Es roch noch nach Mottenkugeln aus seinem letzten Leben als begehbarer Kleiderschrank, aber das Etagenbett passte gerade so hinein, sodass daneben noch ein Meter Platz zum Gehen war und genug Platz, um die Tür zu öffnen. Orla trat vorsichtig ein, und tatsächlich lag er zusammengekauert auf dem unteren Bett und schlief tief und fest, seinen Plüsch-Elch dennoch sicher in der Hand.
Sie blieb einen Moment lang am Fenster stehen und blickte hinaus zur Garage und ins Dunkel dahinter, betrachtete den unheimlichen Schein des von Wolken verhüllten Mondes und die langsam herabfallenden dicken Schneeflocken. Obwohl Shaw und der Immobilienmakler ihr gesagt hatten, in welche Himmelsrichtung das Haus ausgerichtet war, konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Ihre alten Gewohnheiten saßen eben tief: Norden bedeutete für sie Harlem, die Bronx; Süden bedeutete Tribeca, Battery Park. Vielleicht würde sich die Sonne am Morgen in Tychos Zimmer stehlen und mit ihren geschmolzenen Fingern seine Augen gewaltsam öffnen. Vielleicht würde es ihn auch gar nicht stören; er besaß die Gabe kleiner Kinder, in seltsamen Positionen und unter jeglichen Umständen tief zu schlafen. Trotzdem mussten sie Jalousien oder Vorhänge für alle Fenster besorgen. Sie hatte vor, am Montagnachmittag, wenn Satelliteninternet und -telefon installiert waren, eine Menge Online-Einkäufe zu machen. Es würde eine Erleichterung sein, wieder mit der Zivilisation verbunden zu sein, mit ständigem Zugang zur Außenwelt und Streaming-Unterhaltung.
Das Internettelefon war eigentlich nur ein Back-up, eine weitere Sicherheitsvorkehrung, denn der Satellit dürfte eine zuverlässigere Verbindung bieten als der lückenhafte Empfang, den sie mit ihren Handys hatten. Sobald sie wieder online waren, konnte Eleanor Queen wieder zur »Schule« gehen – in diesem Schuljahr wurde sie mit Online-Unterstützung zu Hause unterrichtet, während sie ihre Möglichkeiten in Saranac Lake Village ausloteten. Ein Schulwechsel wäre schon schwer genug für sie, ohne dass sie mitten im Jahr irgendwo einsteigen müsste. Sie hatten beschlossen, ihre sensible Tochter so sanft wie möglich an die Veränderungen heranzuführen.
Orla unterdrückte ein Lachen, als sie sich umdrehte und sah, dass ihr Sohn beim Auspacken »geholfen« hatte, indem er jedes einzelne seiner Stofftiere und sonstigen Spielsachen auf das obere Bett geworfen hatte, in dem seine Schwester bisher geschlafen hatte. In den nächsten Tagen würde sie seine bunten Milchkisten herauskramen und ihm helfen, Ordnung zu schaffen. Oder … Immerhin lagen seine Spielsachen jetzt nicht auf dem Boden, und es gab sowieso kaum Platz, um seine Kleidung zu verstauen. Wenn es Tycho so gefiel, würde sie ihm vielleicht erlauben, den Haufen auf dem oberen Bett so zu lassen, wie er war. Sie kniete sich neben ihn, küsste ihn auf die Wange und zog ihm die gestreifte Bettdecke über den Arm, damit ihm nicht kalt wurde. Das Haus war warm, aber sie würden den Thermostat für die Nacht herunterdrehen. »Gute Nacht, mein Schätzchen.«
Sie ließ seine Tür einen Spalt offen, damit das Licht im Flur ihm den Weg zum Bad weisen konnte, falls er in der Nacht aufwachte. Wahrscheinlich würde er nach einem von ihnen rufen, denn er fürchtete sich schnell, wenn er an einem unbekannten Ort aufwachte. Orla ging am Schlafzimmer – groß genug für ein französisches Bett und ihre Kommode – und am Badezimmer vorbei und klopfte leise an die Tür von Eleanor Queen, bevor sie sie öffnete.
Das Fenster im Zimmer ihrer Tochter wies auf die andere Seite des Grundstücks hinaus und gab den Blick frei auf einen schmalen Streifen Hof und eine Wand aus Bäumen. Ihr neues Bett mit der ebenso neuen geblümten Bettwäsche war in der Ecke aufgestellt. Daneben stand ein kleiner weißer Tisch, an den sie ihre Lampe mit den regenbogenfarbenen Hologrammen im rosa- und lilafarbenen Schirm geklemmt hatte. Als sie noch in der Koje über Tycho geschlafen hatte, war die Lampe ans Kopfteil geklemmt gewesen.
Eleanor Queen saß mit ihrem Kissen im Rücken da und las in einem ihrer Lieblingsbücher. Bei ihren Cousins hatte sie Bücher aus deren Regalen gelesen, Abenteuer- und Wissenschaftsbücher für etwas ältere Kinder. Orlas linke Faust hielt ihren Sorgenstein verborgen, die Muskeln spannten sich um ihre eigene innere Unruhe. Wie würde es ihnen ohne eine Bücherei in der Nachbarschaft ergehen? Eleanor Queen war eine begeisterte Leserin, aber es verhieß nichts Gutes, dass sie ihre alten Bücher immer noch dem E-Reader vorzog, den ihre Großeltern ihr zum Geburtstag geschenkt hatten. Sie, Shaw und Eleanor Queen hatten Stunden damit verbracht, das Gerät mit Büchern zu bestücken, damit ihr der Lesestoff nicht ausging, bevor sie sich hier richtig eingelebt hatten.
Orla setzte sich neben sie auf das Bett. »Du magst deinen E-Reader nicht?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Der ist für den Fall, dass mir die Bücher ausgehen. Keine Sorge …«
»Ich bin nicht besorgt.«
»Doch, das bist du.« Als Eleanor Queen die Hand ausstreckte und die Faust ihrer Mutter ergriff, wurde Orla erst klar, was sie getan hatte, und sie entspannte ihre Hand. »Es gibt nichts Schöneres, als mit einem dicken Buch auf dem Schoß im Bett zu liegen.«
Orla lachte. »Du klingst wie eine 50-jährige Bibliothekarin.« Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Ihre Tochter sah aus wie sie, dieselbe Hautfarbe, aber ihre Glieder und Gesichtszüge waren nicht so lang gezogen, nicht so übertrieben. Tycho sah mit seinem widerspenstigen Haar und dem blassen Teint aus wie Shaw. Sie sprachen in ruhigen Momenten darüber, dass jeder von ihnen ein Kind hatte, das ihn bevorzugte. Die körperlichen Ähnlichkeiten schienen bedeutsam, wie eine Mahnung, dass die Kinder auch andere Eigenschaften von ihnen geerbt haben könnten. Teil ihrer Erziehungsstrategie war es, sich daran zu erinnern, wie sie sich als Kinder gefühlt hatten, was sie sich gewünscht hatten, wie sie behandelt werden wollten.
»Viele große Veränderungen«, sagte Orla. »Fühlt es sich komisch an, wenn man nicht mehr auf eine Leiter klettern muss, um ins Bett zu kommen?«
Eleanor Queen grinste und presste ihre Lippen fest auf die vorstehenden Vorderzähne. »Ich mag die Wände.«
»Die Farbe?«
Sie nickte, als wäre es ihr peinlich, sich so zu freuen. Sie hatten alle vier Wände in einem hellen Türkis gestrichen. In dem Zimmer, das sie mit Tycho geteilt hatte, hatten sie einen Kompromiss eingehen müssen: zwei hellgrüne Wände für ihn, zwei lilafarbene Wände für sie. Aber sie mochte Lila nicht mehr so sehr.
»Gewöhnst du dich daran, nicht mehr in der Stadt zu sein?«
Eleanor Queen zuckte mit den Schultern. »Einiges davon ist schön. Aber es fühlt sich komisch an.«
»Wie denn komisch?« Komisch-schlecht? Komisch-gruselig?
»Komisch, als ob man nirgendwo hingehen könnte.«
Orla lachte. »Ja, meine Liebe, wir beide werden einige Zeit brauchen, um uns daran zu gewöhnen. Aber das werden wir. Und wir werden magische Dinge finden – die Natur ist voller Wunder, das sagt Papa auch immer. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich freue mich darauf, erstaunliche Dinge zu entdecken.«
»Ich auch. Aber vielleicht werden sie nicht wirklich magisch sein, also keine echte Magie. Es werden echte Dinge sein. Andere Dinge als in der Stadt.«
»Ja, ich glaube, da hast du völlig recht.« Sie rieb ihre Nase an der ihrer Tochter, was Eleanor Queen zum Kichern brachte. »Mein kluges Mädchen. Ich habe dich lieb.«
»Ich habe dich auch lieb.«
»Gute Nacht.«
»Nacht.«
Orla wollte die Tür schließen, hielt dann aber inne. »Soll ich sie angelehnt lassen?«
»Nein, das ist schon okay …« Die Stimme des Mädchens schwankte vor Unsicherheit, doch Orla sah ihre Entschlossenheit, ihre Angst zu überwinden.
»Es tut mir leid, dass dein Nachtlicht nicht in der Kiste war, aber wir werden es schon noch finden. Warum lassen wir die Tür nicht einfach heute Nacht angelehnt?«
»Okay«, grinste Eleanor Queen erleichtert und steckte ihre Nase wieder in ihr Buch.
Orla warf ihr einen Luftkuss zu und ließ die Tür einen Spalt offen, als sie hinausging. Sie brauchte Eleanor Queen nicht zu sagen, wann sie das Licht ausmachen sollte; ihre Tochter würde es tun, wenn sie müde war, und Orla vertraute auf ihr Urteilsvermögen. Ihre Tochter schien trotz des fehlenden Nachtlichts zufrieden zu sein, aber Orla konnte nicht so leicht abschütteln, was sie vorhin in ihrem Gesicht gesehen hatte, bevor sie selbst vom Wind erschreckt wurde. Was lauerte in so einem Wald? Gefräßige Tiere? Entflohene Sträflinge? Sie hatten keine unmittelbaren Nachbarn, also sollte theoretisch niemand nahe genug sein, um sie zu sehen oder auszuspionieren. Aber ihr Stadt-Ich (ihr durch dumme Filme voreingenommenes Ich) glaubte, dass einige Leute, die im tiefsten Hinterland lebten, an Mutanten grenzten. Inzüchtige Kannibalen und dergleichen.
Winzige Fingernägel kitzelten ihre Wirbelsäule, während sie sich mit ihren Gedanken selbst aus der Fassung brachte; sie wünschte, sie hätte bereits Verdunkelungen für die Fenster gekauft. Was, wenn irgendetwas oder irgendjemand in diesem Moment da draußen war? Sie beobachtete, wie sie von Raum zu Raum ging.
Sie begann, die Stufen der hölzernen Wendeltreppe hinabzusteigen, blieb aber nach drei Stufen stehen und hielt auf dem dreieckigen Treppenabsatz inne. Das Fenster dort blickte auf den hinteren Teil des Grundstücks, aber der Blick nach unten war durch die sanfte Dachschräge der Küche im ersten Stock versperrt – ein Anbau, der in den 1960er-Jahren hinzugefügt worden war. Der Schneefall hatte vorerst aufgehört, und der wolkenfreie Mond beleuchtete den weißen Boden und hob die Krallen der Bäume hervor, deren Äste sich im leisen Wind wiegten. Und der Riese war da draußen – die einsame Weymouth-Kiefer (Shaw hatte es bestätigt) –, mit einer fast bizarren Größe. Was, wenn er so groß geworden war, weil er kleinere Bäume verschlungen hatte? Hatte sie nicht einmal Tycho eine solche Geschichte vorgelesen? Was, wenn er im Schutz der Dunkelheit seine Gestalt veränderte und nachts auf Zehenspitzen über das Land schlich, um Kaninchen und Mäuse unter seinen Füßen zu zermalmen?
Eine Eule rief und ihr Körper reagierte unwillkürlich, die Muskeln spannten sich an und sie stellte voller Bitterkeit fest, dass sie diese Kreaturen nicht verstand. Hupende Autos machten einen Sinn. Nachbarn, die auf Chinesisch schrien, machten Sinn. Sie hätte nie gedacht, dass sie solche alltäglichen, einst lästigen Geräusche vermissen würde.
Sie war überrascht gewesen, als Shaw die Waffen von Walker so bereitwillig annahm. Aber nach einem kurzen Streit, geflüstert in Julies aufgeräumter Abstellkammer, hatten sie sich darauf geeinigt, dass Shaw einen Waffenschrank kaufen würde. Der Gedanke, dass die Kinder Zugang zu solch tödlichen Waffen haben könnten, war erschreckend. Aber vielleicht hatte er im Gegensatz zu ihr eines verstanden: die Notwendigkeit dieser Waffen.
Als sie den Rest der Treppe hinuntereilte, rief sie ihm zu: »Schatz? Weißt du, wo die Gewehre sind?«
5
Orla blickte sich auf dem Weg zu Shaws Atelier im Wohnzimmer um, dessen Wände erst kürzlich grau gestrichen worden waren, mit weißen Zierleisten. Sie hatten gedacht, die Farbe würde den Geruch von Holzrauch überdecken oder absorbieren. Sie hatten den Holzofen noch nicht benutzt; er war plump und glich einem trägen Tier, sein Revier war eine Ecke des Zimmers auf einem Bett aus Ziegeln. Aber die jahrzehntelange Nutzung des Ofens war in den Holzböden und an den Decken zu spüren. Das Schlafsofa und der hässliche, aber bequeme karierte Sessel, die Beistelltische, Lampen und das Bücherregal standen bereits an ihrem Platz, ebenso wie der derzeit leblose Smart-TV. Aber ein großer Teil der noch ungeöffneten Kisten stapelte sich hier an der Wand, gefüllt mit Büchern, gerahmten Bildern, Nippes, zufälligen Kleidungsstücken und dem größten Teil des Küchenzubehörs. Ihre Augen begutachteten alles und suchten unter den Kisten eine, die lang genug war, um die Waffen zu enthalten.
Shaws Tür stand weit offen, und sie fand ihn am Fenster, das nach vorn hinausblickte. Er blickte von dort nach draußen. Eleanor Queen mochte zwar körperlich ihrer Mutter ähneln, doch in anderer Hinsicht – in ihrer Sensitivität – war sie ganz und gar die Tochter ihres Vaters. Shaws Gesichtsausdruck glich dem von Eleanor Queen am Nachmittag, als sie versucht hatte, ihre neue Umgebung zu lesen, zu entschlüsseln.
»Hast du mich gehört?«, fragte sie leise, als befürchtete sie, ihn aus seiner Trance zu reißen.
»Ja, nein …« Er blinzelte und wandte sich zu ihr um.
»Die Gewehre.« Orla war sich nicht sicher, ob sie paranoid war. Aber ein praktisch veranlagter Teil von ihr wusste, dass die Suche einen triftigen Grund hatte. »Wir haben den Waffenschrank ja noch nicht.«
»Nein, nein, keine Sorge. Sie sind hier drin.« Shaw nickte in Richtung des Wandschranks im Atelier und nahm ihre Hand. »Ich dachte, dass die Kinder sowieso nicht hier drin sein werden, also liegen sie erst einmal oben im Regal. In ein paar Tagen kann ich einen in Plattsburgh besorgen oder nächste Woche einen bestellen.«
Orla nickte, nicht gerade erleichtert. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass eines ihrer Kinder einen Trittschemel herbeischleppte, um bei den persönlichen Dingen seines Vaters nach einer Waffe zu suchen. Aber wie viele Familien hatten schon ähnliche Gedanken gehabt und waren dann eines Besseren belehrt worden? Ein anderer Teil von ihr wollte die Waffen gar nicht verstecken, sondern an Haken über der Eingangstür aufhängen. War das nicht in Western so üblich? Damit der Held sich eine schnappen konnte, wenn die Bösewichte angeritten kamen?
»Hey, was ist los?« Shaw legte eine Hand auf eine ihrer Wangen und küsste die andere, sein Körper presste sich wie ein Schatten an ihren.
»Ich fühle mich nicht … gänzlich sicher«, gab sie zu.
»Was denkst du, was passieren könnte?« Er stellte die Frage mit sanfter Besorgnis.
Sie zuckte die Achseln. »Bären?«
Sie traten zurück, legten die Arme um die Taille des jeweils anderen und blieben vor seinem Atelier stehen. Orlas Blick wanderte umher und nahm den Fortschritt seiner Auspackerei wahr. Vielleicht lag es an dem zusätzlichen Platz, aber die neue Wohnung hatte bereits einen positiven Effekt auf ihn: Alles war so ordentlich und gut aufgeräumt. Seine Gitarren, eine akustische und eine elektrische Hohlkörpergitarre, die in ihrer alten Wohnung zu einem weggeräumten Leben verurteilt gewesen waren, präsentierten sich jetzt in einer Ecke neben seinem kleinen Verstärker. Er hatte seine Staffelei neben das Fenster an der Vorderseite gestellt, und eine leere Leinwand stand bereit. Seine Gemälde lehnten hinter der Tür, die Farbseite zur Wand gedreht. Am kleineren Fenster stand sein zierlicher, ehemals unordentlicher Schreibtisch, auf dem sein Laptop und eine halb leere Kiste mit Malsachen standen. Auf dem Boden standen, noch mit Klebeband gesichert, eine Schachtel mit der Aufschrift »Fotos usw« und zwei Schnapskartons, die, wie sie wusste, seine CDs enthielten.
In ihrer alten Wohnung waren seine Sachen in jede verfügbare Nische des Wohnzimmers gestopft gewesen, das schließlich der Raum war, in dem sie lebten: essen, fernsehen, lesen, Kunst erschaffen, spielen, schlafen. Hier mussten seine Sachen nicht ganz oben auf Bücherregalen liegen oder in einer Ecke wie ein Jenga-Spiel gestapelt werden. Orla schnappte nach Luft, als sie zum ersten Mal etwas begriff, weil sie es sah: Kein Wunder, dass es ihm schwergefallen war, bei einer Sache zu bleiben; ihr Zuhause war das Gegenteil von inspirierend gewesen. Es war ein Chaos gewesen.
»Es ist toll«, sagte sie. Ein klein wenig neidisch wollte sie eine tragbare Ballettstange auf ihre Online-Einkaufsliste setzen.
Vielleicht könnten sie diese im Wohnzimmer aufstellen, dann hätte sie einen Ort, an dem sie Pliés,Ronds de Jambe und Développés machen könnte. Während er sein Handwerk verbesserte, wollte sie nicht auf ihren geübt-geschmeidigen Körper verzichten. »Ich sehe es vor mir. Das Licht wird tagsüber großartig sein … Das ist der Raum, der Platz, den du gebraucht hast.«
»Das stimmt.« Er grinste, aber dann wurde er wieder ernst, als er sie ansah. »Machst du dir wirklich Sorgen wegen Bären?«
»Vielleicht, ja. Ich habe die Liste gesehen. Am Kühlschrank von Julie und Walker. Alle Tiere und ihre Jagdsaison. Bären. Rotluchse. Kojoten.«
»Nun, ich habe meinen Jagdschein, ich kann sie erschießen, wenn sie zu nahe kommen. Und es gibt auch viele harmlose Tiere. Rehe. Gänse. Frösche.« Er drückte sie ein wenig stärker an sich. Ein Grinsen. Ein weiteres Küsschen auf die Wange. Aber seine Bemühungen, ihr die Sorgen zu nehmen, blieben erfolglos. Orlas Blick blieb auf die Fensterfront gerichtet, auf die dunklen Geheimnisse, die hinter der dünnen Membran lauerten. Was hatte er da draußen gespürt? Dasselbe, was ihre Tochter gespürt hatte? »Du bist wirklich besorgt«, stellte er fest.
Er trat in ihr Blickfeld, und sie kehrte in die Gegenwart zurück, in den Raum.
»Ich weiß nicht … Das ist mir alles so fremd. Werde ich vor die Tür gehen und einen Bären im Hof vorfinden? Werden Leute auf unserem Grundstück jagen? Ist es für die Kinder sicher, draußen zu spielen?«
»Halt, halt, Moment. Dies ist der Ort, an dem es sicher ist. Hier wird niemand überfallen. Fußgänger werden nicht von Arschloch-Rasern überfahren. Baukräne fallen nicht um und erdrücken Menschen; Gebäude stürzen nicht ein. Und es wimmelt nicht überall von bewaffneten Wachen, die zum Heimatschutz gehören. Ich weiß, dass du das hier nicht gewohnt bist, aber es ist nicht das, was an der Welt so beängstigend ist. Verstehst du?« Er meinte es liebevoll aufrichtig.
»Ich weiß. Ich meine, ein Teil von mir weiß es.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
Er wiegte sich mit ihr hin und her; die beiden bewegten sich von einem Fuß auf den anderen, wie sie es oft taten, wenn sie sich umarmten.