18,99 €
Die Gymnasiasten Juna, Liana und Connor haben es nicht leicht im Leben. Juna muss für ihre alleinerziehende Mutter die Betreuung ihrer kleinen Schwestern übernehmen. Ihre Freundin Liana ist ungewollt schwanger und kämpft mit ihrem Gefühlschaos. Connor leidet unter den Stimmungsschwankungen seines alkoholkranken und deshalb gewalttätigen Vaters. Um sich abzulenken, besuchen sie eine Party, auf der das Unfassbare geschieht: Sie stolpern unabsichtlich durch ein Portal in eine andere Dimension. In dieser Welt kämpfen zwei Königreiche erbittert gegeneinander. Die Jugendlichen geraten zwischen die Fronten. Die Ereignisse überschlagen sich. Werden sie jemals wieder in ihre Welt zurückkehren oder sind sie für immer in dieser Dimension gestrandet?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0441-5
ISBN e-book: 978-3-7116-0442-2
Lektorat: Klaus Buschmann
Umschlagabbildung: Judith Flemming
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Kapitel 1
Connor
Krampfhaft versuchte er, seinen Kopf mit den Armen zu schützen. Er lag mit angewinkelten Beinen auf dem Boden der staubigen Garage und presste beide Ellbogen dicht an seine Ohren. Ausgerechnet am Abend vor der beschissenen Mathearbeit morgen muss der Alte wieder abdrehen …, dachte er und versuchte sowohl seine Schmerzen als auch seine Wut unter Kontrolle zu halten, während die Schläge und Tritte unbarmherzig auf seinen Rücken und seine Rippen niederprasselten.
„Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass ich abends meine Ruhe will“, brüllte sein Vater über ihm, „irgendwann schmeiß ich deine verdammte Gitarre auf den Müll!“ Connor wusste, dass er es nicht ernst meinte. Das tat er nie. In einer Stunde würde er zusammengesunken auf der Wohnzimmercouch sitzen und entweder Rotz und Wasser heulen oder abwesend Löcher in die Luft starren, nachdem er versucht hatte, sich bei ihm zu entschuldigen.
Connor war es leid – die immer wiederkehrende Routine, die er mindestens ein Mal pro Woche erdulden musste, seit seine Mutter vor zwei Jahren gestorben war. Er vermisste sie auch. Doch während sein Vater seine Emotionen im Alkohol ertränkte, was ihn entweder lethargisch oder gewalttätig machte, blieb Connor nur die Musik. Seine Gitarre war sein Ein und Alles. Auch wenn er wusste, dass er mit seiner Musik seinen Vater zur Weißglut trieb, konnte er nicht damit aufhören. Seine Mutter war so stolz auf ihn gewesen und hatte ihn unerbittlich angetrieben, etwas mit seinem Talent anzufangen. Auch sein Vater erkannte Connors Gabe in den hintersten Winkeln seines benebelten Hirns. Vermutlich war es gerade das, was ihn jedesmal so aus der Fassung brachte, wenn er ihn spielen hörte. Die Erinnerungen an die Zeit, als sie eine Familie gewesen waren. Als sie Connor zu Auftritten begleitet hatten und seine Mutter vor Stolz auf und ab gehüpft war mit dem breitesten Grinsen auf den Lippen und einem Strahlen in den braunen Augen.
Er hatte ihre Augen – dasselbe Hellbraun, das fast schon einen bernsteinfarbenen Stich besaß. Auch das erinnerte seinen Vater mit Sicherheit an sie, wenn er seinen Sohn ansah. Auch er hatte braune Augen. Seine waren jedoch dunkelbraun. Connor erinnerte sich an die Tage seiner Kindheit, als er immer ein schelmisches Funkeln in den dunklen Augen seines Vaters gesehen hatte. Teddybäraugen hatte er sie genannt, da sie entweder absolute Wärme und Geborgenheit ausgestrahlt oder vor Albernheit geleuchtet hatten. Es war, als sei diese Seite an seinem Vater zusammen mit seiner Mutter gestorben.
Natürlich war er schon vor ihrem Tod oftmals emotional überfordert und manchmal regelrecht cholerisch gewesen, aber sie hatte immer gewusst, wie sie mit ihm umgehen musste. Sie hatte immer das Gute in ihm zum Vorschein gebracht und jede schwierige Situation zwischen ihnen mit Humor entspannt. Früher hatte es Connor cringen lassen, wenn seine Eltern wie Kinder gekichert hatten und sich gegenseitig mit ihren Witzen hochschaukelten oder ewig knutschend auf dem Sofa saßen. Heute vermisste er sogar das. Er wusste, sie hatten einander geliebt, das hatte ihm Sicherheit gegeben. Nun fehlte der Kleber, der seine Familie zusammengehalten hatte.
Gefangen in seinen Gedanken hatte er zunächst gar nicht bemerkt, dass die Schläge aufgehört hatten. Vorsichtig ließ er seine Arme sinken und hörte ein gedämpftes Schluchzen aus einer Ecke der Garage kommen. Na prima, diesmal hat er’s nicht mal bis ins Wohnzimmer geschafft …, dachte Connor. Diesen Teil der wöchentlichen Routine verabscheute er sogar noch mehr als die Prügel, die er jedesmal stoisch über sich ergehen ließ. Langsam versuchte er sich auf die Knie zu rappeln, um aufzustehen. Dabei fuhr ihm ein scharfer Schmerz in die Seite. Scheiße, dachte er, morgen ist auch Sport. Das wird ein Spaß! Aus dem Augenwinkel sah er auch, dass sein Arm etwas abbekommen hatte. Also würde er wieder einen Sweater in der Sportstunde tragen, sich dabei totschwitzen und den verständnislosen Blicken seiner Klassenkameraden standhalten müssen.
Seufzend kämpfte er sich schließlich zum Stehen und schritt auf wackeligen Beinen hinüber zu der zusammengesunkenen Gestalt in der Ecke, die einst sein Papa gewesen war. Connor war sich nicht sicher, was er heute für ihn darstellte. Er wusste jedoch, dass er ihn nicht sich selbst überlassen konnte.
Im Vorbeigehen fiel sein Blick auf die achtlos auf den Boden geworfene Gitarre, die sein Vater ihm entrissen hatte, als er wutentbrannt in die Garage gestürmt war. Mit Willenskraft schluckte er den Zorn, der bei dem Anblick in ihm hochkochte, herunter. Er würde sie hinterher stimmen und die Saiten nachziehen.
„Mein Gott, es tut mir so leid. Es tut mir so leid“, nuschelte sein Vater undeutlich vor ihm. „Geht es dir gut, ja? Sag mir, dass alles o. k. ist.“ Connor ging umständlich vor ihm in die Hocke, um ihm aufzuhelfen. Als ihm dabei seine Alkoholfahne entgegenschlug, musste er sein Gesicht unwillkürlich zur Seite drehen. Sein Vater versuchte, ihn an sich zu ziehen, um ihn zu umarmen. Das war das Letzte, was Connor jetzt wollte. Er biss die Zähne aufeinander, bis seine Kiefermuskeln hervortraten, und zwang sich dazu, ihm zu antworten: „Es ist alles o. k. Es geht mir gut. Kannst du aufstehen? Lass uns in die Wohnung gehen. Ich mach dir was zu essen.“
Sein Vater nickte und sah dabei aus wie ein Häufchen Elend. Sein Gesicht war gerötet. Connor konnte nicht sagen, was tiefer war – die Ringe unter seinen Augen oder die Falten daneben. Sein schwarz-graues halblanges Haar, das er normalerweise am Hinterkopf zusammengebunden trug, stand in alle Richtungen ab und gab ihm zusammen mit seinem ungepflegten Bart den Anschein eines Obdachlosen, der nächtelang im Freien verbracht hatte. Connor schluckte seinen Ekel hinunter und half seinem Vater aus der Garage in die Erdgeschosswohnung nebenan. Er setzte seinen Erzeuger auf der Wohnzimmercouch ab und ging daraufhin in die Küche, um den Wasserkocher anzustellen. Aus dem Hängeschrank darüber griff er eine Packung Hühnernudelsuppe. Ihm war der Appetit vergangen, aber er wusste, dass sein Vater etwas essen sollte, um den Alkohol besser zu verdauen.
Während das Wasser allmählich warm wurde, zog Connor sein Handy aus der Jeanstasche. Er sah mehrere Benachrichtigungen von Chris auf dem Display. Chris war sein einziger richtiger Freund am Gymnasium. Er war der Einzige gewesen, der sich nicht hatte abschrecken lassen, als Connor vor zwei Jahren stiller und teilnahmsloser geworden war. Offenbar war er nicht nur eine Intelligenzbestie, er hatte in der Unterstufe eine Klasse übersprungen, sodass er mit seinen 16 Jahren nun ebenso in der 11. Klasse war wie Connor mit seinen 17, sondern auch ein Fachmann auf emotionaler Ebene. In der ersten Nachricht, die Connor nun öffnete, fragte er ihn, ob er am Wochenende auf die Party seiner Cousine Liana kommen wolle. Er brauchte die anderen Nachrichten gar nicht erst lesen, um zu wissen, dass sie allesamt von dieser Party handeln würden. Chris wusste ganz genau, dass das nicht sein Ding war: Leute treffen und sich besaufen. Davon hatte er bei Weitem schon genug zu Hause. Außerdem war Chris’ Cousine absolut durchgeknallt. Sie hatte bunt gefärbte Haare und schminkte sich die Augen so dick mit Kajal, dass man sie in der Tat für koreanisch halten konnte wie die K-Pop-Musikgruppen, nach denen sie verrückt war. Und das war schon das nächste Problem. Niemals konnte Connor einen ganzen Abend diese Schrottmusik ertragen. Er wollte gerade eine Absage tippen, als er ein lautes Schnarchen aus dem Wohnzimmer vernahm. Er steckte das Handy weg und blickte in das gegenüberliegende Wohnzimmer. Sein Vater lag mit offen stehendem Mund ausgebreitet auf der Wohnlandschaft, die den Großteil des Raumes einnahm und schnarchte vor sich hin. Connor schüttelte den Kopf, stellte den Wasserkocher wieder aus und überlegte es sich aus einem Impuls heraus anders. „O.k., ich komme mit. Wann geht es los?“, tippte er in den immer noch geöffneten Chat mit Chris.
Kapitel 2
Juna
„Ich muss jetzt gleich los. Keine Ahnung, wann ich heute Abend wiederkomme. Ich muss den Laden abschließen und die Abrechnungen machen. Es kann spät werden. Du musst Lea ins Bett bringen und Luisa von der Nachmittagsbetreuung abholen, o. k.?“, wies ihre Mutter sie an. Wie immer hatte sie ihre dunkelblonden Haare mit den deutlich hervortretenden, grauen Strähnen für die Arbeit zu einem straffen Dutt zusammengebunden. Ungeduldig stand sie in der Tür zu Junas Zimmer und zog ihre Stirn in Erwartung einer Antwort kraus.
Juna war gerade dabei, ihre Hausaufgaben zu erledigen. Wieder einmal würde sie sie nicht fertigstellen können, da sie sich stattdessen um ihre jüngeren Schwestern kümmern musste, während ihre Mutter eine weitere 10-Stunden-Schicht in ihrem unterbezahlten Job als Verkäuferin antrat. Juna war mit ihren 17 Jahren zu einer Ersatzmutter für ihre 9- und 5- jährigen Schwestern geworden. Sie hatte es aufgegeben, darüber Trübsal zu blasen und ihren Alltag mit dem ihrer Klassenkameradinnen zu vergleichen. Sie mussten nun einmal das Beste aus der Situation machen, seit ihr Vater seine Familie vor zwei Jahren verlassen hatte.
„Geht klar, Mama“, antwortete sie, ohne aufzuschauen. Sie spürte jedoch, wie der Blick ihrer Mutter ihr förmlich Löcher in den Hinterkopf brannte. Also drehte sie sich schließlich zu ihr um und zwang ein beruhigendes Lächeln auf ihre Lippen, als sie sagte: „Wirklich, Mama, ich habe alles im Griff. Mach dir keine Sorgen! Ich kann dir ja später schreiben, wenn Lea im Bett ist.“ Damit gab sie sich anscheinend zufrieden, denn sie verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung und überließ Juna wieder ihren Mathebüchern.
Sie seufzte auf, klappte die Bücher und ihren Ordner geräuschvoll zu und strich sich mit beiden Händen durch die dunkelblonden, langen Haare. Es war zwecklos, sie hatte weder die Zeit noch die Gehirnkapazität, die Aufgaben zu beenden. In einer Stunde musste sie Luisa von der Nachmittagsbetreuung abholen und gleichzeitig Lea dazu motivieren mitzukommen, da sie eine 5-Jährige schlecht alleine zu Hause lassen konnte.
Nein, sie würde die verbleibende Stunde nicht für Geometrie verschwenden, sondern lieber weiter in dem Buch lesen, das sie gestern angefangen hatte. Es war eine Fantasygeschichte, die in einer Welt spielte, in der nur die Frauen magische Fähigkeiten besaßen und sich gegen eine Bedrohung von seelenlosen Wesen zur Wehr setzen mussten. Juna liebte diese Art von Büchern – soweit wie möglich von der Realität entfernt, von ihrer Realität, die von Pflichten und Verantwortung dominiert wurde.
Gerade als sie das Buch aufschlagen wollte, klingelte ihr Handy, das auf dem Fensterbrett neben ihrem Schreibtisch lag. Sie befürchtete schon, es sei die Schule ihrer Schwester, die ihr mitteilen wolle, dass Luisa früher abgeholt werden müsse. Umso erleichterter atmete Juna die Luft aus, die sie unwillkürlich angehalten hatte, als sie sah, dass es ihre Freundin Liana war.
Noch bevor Juna sich melden konnte, plapperte Liana bereits drauf los: „Bitte sag mir, dass deine Mum am Freitag frei hat! Du musst zu meiner Party kommen. Luca hat zugesagt, dass er kommt. Ich schaffe das nicht alleine. Ich brauche unbedingt seelische Unterstützung, sonst blamiere ich mich total.“ Juna musste bei dem Redeschwall ihrer Freundin grinsen. Sie wusste, dass Liana seit Langem ein Auge auf Luca geworfen hatte, der bereits in die Abschlussklasse ihres Gymnasiums ging und sich normalerweise nicht mit jüngeren Mädchen abgab.
„Jetzt bleib erst mal ganz ruhig. Wenn du einen Herzinfarkt bekommst, wirst du nichts davon haben, dass er zugesagt hat“, lachte Juna ins Telefon, „ich denke, ich werde vorbeischauen können. Aber du weißt, dass ich nicht lange bleiben kann. Ich muss am Samstag früh meine Werbeblätter austragen.“ Eine weitere ihrer vielen Verpflichtungen, dachte sie kapitulierend.
„Ja, ja, ist mir schon klar“, erwiderte Liana. Ihre Freundin war sich Junas Lage sehr wohl bewusst und nahm Rücksicht auf sie, wo sie konnte. Dafür war sie ihr sehr dankbar, denn die meisten ihrer anderen Freundinnen hatten sich von Juna abgewandt, da sie ihnen immer wieder Absagen erteilen musste und kaum Zeit hatte.
Unvermittelt klopfte es an Junas Zimmertür. Ein hellblonder Lockenkopf erschien im Türrahmen und große braune Augen starrten sie an. „Mir ist schlecht, Juna. Ich glaube, ich muss spucken“, sagte ihre kleine Schwester Lea mit zitternder Stimme, während sie ihren Lieblingsteddy im Arm hielt. Sie war ganz blass und sah so aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu würgen.
„Ich muss Schluss machen“, sprach Juna schnell ins Handy und legte auf, ohne auf eine Reaktion von Liana zu warten. Ihre Freundin würde das verstehen. Sie war es gewohnt.
Geistesgegenwärtig griff Juna nach ihrem Papierkorb, der unter dem Schreibtisch stand und hielt ihn Lea unters Kinn. Gerade noch rechtzeitig, dachte sie erleichtert, während ihre Schwester sich erbrach.
Resignierend stieß sie die Luft aus. „Das war’s dann wohl mit Lesen“, murmelte sie.
Kapitel 3
Connor
Was tat er hier eigentlich? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Connor stand in seinem Metallica- Shirt, zerrissenen schwarzen Jeans und schweren Boots vor Lianas Haustür. Es hatte ihn eine circa zehnminütige Überwindung gekostet, überhaupt die Treppe hinauf zu ihrer Tür zu schreiten. Davor hatte er etwas abseits am Wegesrand gestanden und zugesehen, wie unzählige andere junge Leute – manche in Gruppen, einige allein – geklingelt hatten und von der Gastgeberin nach einer überschwänglichen Umarmung ins Haus gebeten worden waren.
Und was für ein Haus es war! Es musste mindestens 15 Zimmer haben, die sich über drei Stockwerke erstreckten. Um das Haus herum befand sich ein weitläufiger Garten und daneben sowohl ein Carport als auch zwei Garagen, die jeweils doppelt so groß waren wie die, die den alten Ford Mondeo seines Vaters bei ihm zu Hause beherbergte.
Connor atmete geräuschvoll ein und aus und drückte seinen Zeigefinger schließlich auf die Klingel, die neben der roten, mit einem Kranz verzierten Haustür angebracht war. Er würde den Abend schon irgendwie überstehen. Chris wartete schließlich drinnen auf ihn. Er hatte ihm das hier eingebrockt, als sollte er es gefälligst auch erträglich für ihn machen.
„Wer stört?“, lachte eine angeheiterte Mädchenstimme ihm plötzlich aus der Gegensprechanlage entgegen. Connor rollte entnervt die Augen. Er war nicht in der Stimmung für Späße. Doch ehe er sich eine schlagfertige Antwort zurechtlegen konnte, wurde die Tür bereits vor seiner Nase aufgerissen. Natürlich hatte er vorher schon einen kurzen Blick auf Liana erhaschen können, aber als er ihr nun direkt gegenüberstand, stand ihm trotzdem vor Sprachlosigkeit der Mund offen.
Sie trug einen übergroßen schlumpfblauen Kapuzensweater und weite hellrosa Jeans mit blutroten Herzchen drauf. Ihre zuckerwatterosa Haare waren an den Seiten zu Schnecken gedreht, die ihn schwer an Lea aus ,Star Wars‘ erinnerten, wenngleich Liana wohl eher einer asiatischen Version davon glich, da sie ihre Augen dick und schräg mit Eyeliner geschminkt hatte, sodass sie mandelförmig wirkten. Ihre Lippen, die knallpink angemalt waren, verzogen sich zu einem Lächeln, als sie ihn von oben bis unten musterte. „Bist du sicher, dass du zur richtigen Party gekommen bist?“, kommentierte sie lachend, ehe sie ihn in eine kurze Umarmung zog und weitersprach: „Nein, ehrlich, ich bin positiv überrascht, dass du überhaupt gekommen bist. Konnte meinem Lieblingscousin gar nicht glauben, als er sagte, dass du vorbeischauen willst. Ist schön, dass du mal an was teilnimmst.“ Er wusste, dass ihm der Ruf eines Eigenbrötlers vorauseilte, der sich nichts aus sozialen Events machte. Die Gründe dafür kannte aber nur Chris – und selbst der nur im Ansatz. Unbehaglich kratze Connor sich am Kopf, wobei ihm seine dunkelbraunen, leicht gewellten Haare in die Stirn fielen. Er brauchte dringend mal wieder einen Haarschnitt. Immerhin lenkte das von seinen geröteten Wangen ab, als er um eine Erwiderung rang.
Liana kam ihm zuvor. Er wusste, dass sie trotz ihrer großen Klappe und ihres extravaganten Erscheinungsbildes ein gutes Herz hatte. Sie musste wohl gemerkt haben, dass er sich unwohl fühlte. Sie zog ihn kurzerhand ins Haus und plapperte dabei ungerührt weiter: „Ich fürchte zwar, dass die Musik hier nicht so dein Ding sein wird, aber ich bring dich erst mal zu Chris. Dann ist er wenigstens nicht der Einzige, der sich über fehlende Gitarrenklänge aufregen muss …“ Connor folgte ihr dankbar durch den geräumigen Eingangsbereich, der zu beiden Seiten mit prunkvollen Spiegeln und Gemälden behangen war. Hatte er bereits die Kommoden und die Garderobe für exquisit gehalten, so verschlug ihm der Anblick des Esszimmers, durch das sie nun gingen, die Sprache. Der Esstisch glich mehr einer Tafel, an der locker zwölf Gäste Platz finden würden. Der weiße Hochflorteppich davor schien so kostbar zu sein, dass es schon fast ein Frevel war, darüber zu laufen. Auf den Massivholzmöbeln befanden sich teuer aussehende Ornamente. An den Wänden hingen gerahmte Fotos von Liana und ihren Eltern, aber auch Landschaftsaufnahmen und Porträts, mit denen ihr Vater sein Geld verdiente. Ein Kristallkronleuchter, der von der Decke hing, rundete das Gesamtbild ab. Connor konnte nicht glauben, dass Lianas Eltern ihr das Haus für eine Party überließen. Sie mussten wirklich ein gutes Verhältnis haben.
„Guck nicht so!“, riss ihn Liana aus seinem Staunen. „Die Party findet im Keller statt. Komm schon.“ Sie zog ihn durch eine Tür, die in einen weiteren Flur führte und von dort eine Treppe hinunter. Connor konnte bereits die schmerzlichen Klänge einer Mischung aus Rap und elektronischer Popmusik aus den Boxen dröhnen hören, bevor er überhaupt den Partykeller betrat. Liana dirigierte ihn durch die Tür. Connor stellte wenig überrascht fest, dass auch der sogenannte Kellerbereich eher einem Haus im Haus glich. Es gab mehrere Räume, die ineinander übergingen und sogar eine Bar mit Zapfhahn und Coca-Cola-Kühlschrank. „Er ist da hinten“, sagte Liana und deutete auf seinen Freund, der neben einem Mädchen auf der Eckbank saß und einen Energydrink in der Hand hielt. „Danke“, erwiderte Connor. Es war das erste Wort, das er herausgebracht hatte, seit er die Türklingel betätigt hatte. Liana grinste ihn freundlich an. Er bemühte sich, ihr Lächeln zu erwidern. Dann wurde sie auch schon von einer Gruppe Mädchen weggezogen, die ähnlich bunt angezogen waren wie sie. Sie fingen laut zu kichern an und stupsten einander an.
Connor wendete sich ab und bahnte sich seinen Weg auf die Eckbank zu. Dabei wurde er immer wieder von anderen Gästen angerempelt, die bereits sichtlich angeheitert waren. Er fühlte sich zutiefst fehl am Platz.
Wenigstens sah Chris zu ihm auf und winkte, als er sich ihm näherte. Es war schwer vorstellbar, dass er und Liana verwandt waren. Chris hatte rotblonde Haare und sommersprossige, blasse Haut sowie eine schlaksige Statur, was ihn nicht gerade begehrenswert bei der Damenwelt machte. Umso überraschter war Connor, dass er seinen Freund neben einem Mädchen sitzen sah. Zugegeben, sie war nicht die hübscheste, die er hier gesehen hatte, aber immerhin schien Chris angetan von ihr zu sein. Er vermutete, dass sie der Grund war, warum er unbedingt auf diese Party hatte gehen wollen.
„Hey, das ist Jule. Sie kennt Liana vom Reiten. Stell dir vor, sie hasst dieses K-Pop-Gedöns genauso wie wir!“, stellte Chris ihm seine Begleitung mit strahlenden Augen vor. Connor nickte dem dunkelhaarigen, dünnen Mädchen zu und ließ sich dann neben seinem Freund auf der Bank nieder.
Für eine Weile entspannte sich Connor und fand die Idee, den Abend hier zu verbringen, um Längen besser, als zu Hause das Erbrochene seines Vaters aufzuwischen oder zu versuchen, ihn zu einer Dusche zu überreden. Chris und er machten sich über die Musik und die Tanzperformances ihrer Mitschüler lustig, während sie sich die Bäuche mit Pizzastücken und Chips vollschlugen. Jule war nett und unaufdringlich. Allerdings merkte Connor nach einiger Zeit, dass Chris wohl gerne etwas näher an sie herankommen wollte. Schließlich gingen die beiden los, um Getränke zu holen. Connor entging nicht, dass sie sich dabei an den Händen hielten. Er erwartete nicht, sie sobald wieder zu Gesicht zu bekommen. Überhaupt schien sich der Raum in ein Paradies für Liebende verwandelt zu haben. Überall sah er knutschende Pärchen, denn die Musik war nun auch ruhiger geworden.
Das unbehagliche Gefühl in Connors Magengrube kehrte zurück. Er hatte kein Interesse an den Mädchen hier. Weder wollte er seine Zunge in jemandes alkoholgeschwängerte Mundhöhle stecken noch wollte er betatscht werden. Sein Rippenbogen war immer noch empfindlich vom letzten Zusammentreffen mit seinem Vater vor ein paar Tagen, außerdem erstreckten sich blau-schwarze Blutergüsse über seinen gesamten Oberkörper.
Dennoch wollte er auch nicht alleine in der Ecke hocken. Noch während er überlegte, ob er Liana suchen sollte, um sich zu verabschieden, wurde das ungute Magengefühl stärker. Möglicherweise hatte das Ganze doch eher eine körperliche Ursache. Vielleicht hatte er schlicht zu viele Chips in sich hineingestopft oder die Pizza war nicht mehr ganz so frisch gewesen, wie sie ausgesehen hatte. Kurzerhand stand er auf, um ein Badezimmer zu suchen. Entweder würde er sich übergeben oder Wasser ins Gesicht spritzen müssen, um wieder fit zu werden.
Er hatte keine Ahnung, wo die Gastgeberin steckte. Konnte er einfach so im Haus umherwandern, um ein Bad zu suchen? Er entschied sich dafür. Sicher würde sie es ihm mehr verübeln, wenn er auf ihren Boden reiherte.
Schwerfällig bahnte er sich seinen Weg durch die tanzende Menge und an eng umschlungenen Paaren vorbei. Er öffnete die Kellertür und fühlte sich bereits merklich besser. Sicher hatte die abgestandene Luft da unten auch eine Rolle gespielt …
Unsicher ging er den Flur entlang, durch den er mit Liana gekommen war. Eine Treppe führte rechts ins obere Stockwerk. Connor entschied sich dafür, ihr zu folgen. Oben angekommen sah er sich mehreren Türen gegenüber. Glücklicherweise erspähte er auf einem ein handbemaltes Schild, auf dem das Wort „Bad“ zu lesen war. Erleichtert atmete er aus und öffnete die Tür.
Als er eintrat, vergaß er für einen Augenblick seine Übelkeit. Das hier hatte absolut nichts mit einem Badezimmer, wie Connor es kannte, gemein.
Es gab insgesamt drei Waschbecken, die roségoldene Armaturen aufwiesen, sowie den dazu passenden frei stehenden Badezuber. Eine weitere kleine Badewanne mit Whirlpoolfunktion stand weiter hinten sowie eine begehbare Dusche, deren blickdichte Tür geschlossen war. Das Skurrilste war jedoch das etwa anderthalb Meter breite Aquarium, das direkt gegenüber der Toilette an der Wand stand. Wer bitte wollte von Fischen beobachtet werden, während er seinen menschlichen Bedürfnissen nachging? Connor konnte seinen Gedankengang nicht zu Ende bringen. Sobald er in die Kloschüssel sah, meldete sich der Brechreiz in ihm mit aller Gewalt zurück. Er konnte sich gerade noch vor die Toilette knien, bevor die halbverdaute Pizza sich ihren Weg nach oben bahnte.
Außer Atem betätigte er die Spültaste und griff nach der Klopapierrolle, um sich das Gesicht abzuwischen. Für einen Augenblick saß er benommen auf dem Boden und versuchte, wieder zu Kräften zu kommen, als er plötzlich ein leises Räuspern aus dem hinteren Teil des Raumes vernahm. Shit!, schoss es ihm panisch durch den Kopf. War er etwa nicht alleine hier drinnen? Langsam blickte er in Richtung der abgetrennten Dusche, als sich die Schiebetür auch schon öffnete und ein Kopf mit langen dunkelblonden Haaren dahinter zum Vorschein kam. Fuck! Er hatte sich gerade in Anwesenheit eines Mädchens die Seele aus dem Leib gekotzt … Wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre, wäre er sicherlich augenblicklich rot angelaufen. Das Mädchen strich sich die Haare nach hinten. Er erkannte das Gesicht. Sie ging nicht in seine Klasse, aber er glaubte, sie definitiv schon auf dem Schulhof gesehen zu haben. Vermutlich ging sie in Lianas Klasse. Kein Wunder, dass ihm ihr Gesicht aufgefallen war. Sie hatte eisblaue Augen, die so durchdringend waren, dass man sich ihrem Blick kaum entziehen konnte. Ihre Haare waren so lang, dass er sich fragte, ob sie sie jemals in ihrem Leben hatte schneiden lassen und ihre perfekt geschwungenen Lippen komplettierten das Bild. Connor wäre am liebsten im Boden versunken.
„Hi“, sagte das Mädchen schüchtern und winkte mit der Hand, in der sie ein dickes Taschenbuch hielt. Was?, schoss es Connor durch den Kopf. Warum hatte sie ein Buch im Badezimmer bei sich? Und was machte sie überhaupt vollständig angezogen hier in der Dusche? Doch ehe er etwas sagen konnte, richtete sie eine Frage an ihn: „Hast du zu viel getrunken?“ Sie deutete mit der freien Hand in Richtung Kloschüssel und Connor wurde augenblicklich defensiv. Er verabscheute Alkohol.
„Ich trinke nicht“, antwortete er und spürte dabei, wie sich seine Miene unwillkürlich verfinsterte. „Die Frage ist eher, welchen Fraß Liana ihren Gästen vorsetzt. Man müsste meinen, sie hätte genug Geld für gutes Essen“, fügte er noch hinzu, wobei er sich augenblicklich schlecht fühlte, Liana übel nachzureden – immerhin war sie so gastfreundlich zu ihm gewesen.
Das Mädchen vor ihm hob abwehrend die Hände und machte einen Schritt zurück. „Schon gut, ich wollte dir nichts unterstellen“, sagte sie. Ihr Blick fiel auf seinen Bauch. Als er ihm folgte, stellte Connor mit Schrecken fest, dass sein Oberteil verrutscht war und nun seine nackte Haut preisgab – seine dunkelblau verfärbte Haut. Hektisch zog er sein Shirt zurecht, während sie sich unbehaglich räusperte. Glücklicherweise vermied das Mädchen es, ihn darauf anzusprechen.
Er entschied, dass Angriff die beste Verteidigung war und lenkte den Fokus auf sie, indem er sie fragte, warum sie mit einem Buch in der Dusche gesessen war. Connor konnte nun deutlich sehen, dass auch sie peinlich berührt war. Verlegen räusperte sie sich erneut, ehe sie antwortete: „Ich weiß auch nicht, irgendwie bin ich nicht so die Partygängerin. Ich bin nur Liana zuliebe gekommen, aber sie scheint ganz gut ohne mich klarzukommen.“ Sie machte eine kurze Pause und zuckte mit den Schultern, dann sprach sie weiter: „Ich lese einfach gerne. Deswegen habe ich immer ein ,Notfall-Buch‘ dabei. Und die Dusche schien mir bei Weitem der abgeschiedenste Ort dafür zu sein.“
Connor musste angesichts ihrer Offenheit lächeln. Auch wenn er selbst kein großer Leser war, war ihm das Mädchen sympathisch. Er bereute, dass er sie so angefahren hatte. „Ich bin auch kein großer Fan von Partys und nur wegen eines Freundes hier“, erklärte er. „Ich bin übrigens Connor.“
„Ich weiß. Du bist mit Lianas Cousin befreundet“, sagte sie. Connor war mehr als verwundert, dass sie wusste, wer er war. Seit wann schenkte ihm irgendwer Beachtung?
„Ich heiße Juna“, lenkte das Mädchen ihn von seinen Gedanken ab.
Er wollte gerade etwas erwidern, als er plötzlich ein lautes Donnern vernahm. Juna und er drehten sich simultan zum Fenster neben der Dusche um und sahen, wie der dunkle Himmel sogleich von hellen Blitzen erleuchtet wurde. „Das kam aber plötzlich! Ich glaube nicht, dass für heute ein Gewitter angesagt war …“, bemerkte Juna. Connor zuckte mit den Schultern.
Im nächsten Moment wurde das ganze Badezimmer in grellgelbes Licht getaucht und ein weiterer Donnerschlag ertönte.
Connors Aufmerksamkeit wurde auf das Aquarium gelenkt. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sich kleine Lichtblitze im Wasser bildeten. So etwas hatte er noch nie gesehen. Die kleinen Neonfische hörten auf einmal auf sich zu bewegen, während die größeren Fische umso hektischer umherschwammen und sich ihre Farbe in ein fluoreszierendes Blau veränderte. Er drehte den Kopf zur Seite und sah, wie Juna genauso ungläubig das Aquarium anstarrte. Unwillkürlich streckte er seine Hand aus und nahm den Deckel des Aquariums ab. Das blaue Licht der Fische erstrahlte nun noch heller. Connor fühlte sich magisch von ihrem Glanz angezogen. Ohne weiter darüber nachzudenken, tauchte er seine Hand ins Wasser. Wie aus weiter Ferne hörte er das Mädchen neben sich rufen: „Was machst du denn? Tu das nicht!“ Das Letzte, was er spürte, war Junas Hand, die an seinem anderen Arm zog. Dann durchzuckte ihn ein gewaltiger elektrischer Schlag und alles um ihn herum wurde plötzlich schwarz.
Kapitel 4
Liana
Liana stand vor dem Spiegel im kleinen Gästebadezimmer im Erdgeschoss und dachte über Brokkoli nach. Ja, sicherlich hatte Brokkoli wichtige Nährstoffe, die gut waren für das Knochenwachstum. Oder war es die Entwicklung der Organe? Egal, jedenfalls hatte sie in den letzten beiden Wochen wenigstens ein grünes Gemüse zu sich genommen. Sie dachte darüber nach, dass das kleine Wesen in den Tiefen ihrer Gebärmutter, das zum jetzigen Zeitpunkt wohl nicht viel mehr als eine Zellenanhäufung war, nun davon profitierte und eifrig noch mehr Zellen bildete. Gleichzeitig wunderte sie sich darüber, dass dieses kleine Wesen vorrangig nach Donuts, Schokoladencroissants und Krapfen verlangte, obwohl deren Nährwert vermutlich gegen null ging. Noch verwunderlicher war es, dass sie trotz der Mengen, die sie in den letzten beiden Wochen von diesem Zeug in sich hineingestopft hatte, nicht zunahm, sondern eher dünner wurde. Wie ein Parasit, dachte sie, der mir alle Nährstoffe entzieht. Übergeben musste sie sich nicht. Allerhöchstens fühlte sie hin und wieder eine leichte Reiseübelkeit und bleierne Müdigkeit. Vorgestern wäre sie beinahe im Geografieunterricht eingeschlafen. „Alles völlig normal“, hatte die Ärztin gesagt, bevor sie sie mit Broschüren und Handzetteln überschüttet hatte, von denen Liana nur einer wichtig erschienen war – der mit der Nummer der Abtreibungsklinik. Halt, Schwangerschaftsabbruch heißt das, verbesserte sie sich im Kopf, bloß alles politisch korrekt halten. Noch auf dem Heimweg von der Ärztin hatte sie einen Termin gebucht. Aber sie benötigte eine Begleitperson. Am besten sollte das ein Elternteil sein, der Vater des Zellenbündels oder am besten beide … Nur dass der Vater nicht einmal wusste, dass sein Genmaterial gerade dabei war sich zu vervielfältigen – sei es mit oder ohne der Hilfe von Brokkoli.
Unvermittelt liefen Liana erneut dicke Tränen die Wangen hinab und verteilten ihren Eyeliner über das Gesicht. Sie unterdrückte ein lautes Schluchzen und wischte sich mit einem Waschlappen die Spuren des Make-ups weg. Ohne ihre Schutzschicht aus bunten Farben sah ihr ein fast schon kindliches Gesicht aus dem Spiegel entgegen. Wem spielte sie hier was vor? Sie war noch nicht einmal volljährig, aber nun war sie schwanger, allein und keine dumme Party konnte an ihrer Situation etwas ändern. Warum hatte sie nur diese Schnapsidee gehabt? Als ob Luca Interesse an ihrer kindischen Hausparty haben würde? Wenn er doch offensichtlich kein Interesse an ihr hatte. Na ja, kein Interesse MEHR. Mal ganz davon abgesehen, wäre es wohl auch keine gute Idee gewesen, mit ihm auf einer Party über so etwas sprechen zu wollen.
Am liebsten würde sie alle heimschicken und sich den Rest des Abends die Augen aus dem Kopf heulen. Nur müsste sie dazu erst einmal das Klo wieder verlassen und zurück in den Partykeller gehen. Es führte kein Weg daran vorbei. Sie hatte keine Kraft mehr, die immer lustige Gastgeberin zu spielen – das quirlige K-Pop-Mädchen, das zu allen lieb und nett war. Niemand wusste, was wirklich in ihr vorging – nicht einmal Juna. Sie hatte ihre Freundin nicht mit ihren Sorgen belasten wollen, wo sie doch selber schon genug Bürden zu tragen hatte. Doch während Liana nun ihr ungeschminktes, blasses Gesicht aus dem Spiegel entgegenblickte, wurde ihr klar, dass sie es nicht mehr alleine schaffte. Sie musste sich zumindest einer anderen Person offenbaren. Juna war die Einzige, der sie in ihrem jetzigen Zustand gegenübertreten wollte. Also schniefte sie ein letztes Mal in die Klopapierreste, die sie in der Hand hielt, und verließ das Gästebadezimmer, um sich auf die Suche nach ihrer Freundin zu begeben. Sicher hat sie sich wieder irgendwo mit einem Buch verschanzt …, dachte Liana und stieg die Treppe hinauf ins obere Stockwerk.
Zuerst hatte sie alle Schlafzimmer und sogar das Arbeitszimmer ihres Vater durchkämmt, aber nirgends war Juna zu finden. Sie konnte doch nicht einfach gegangen sein, ohne sich zu verabschieden? Das sah ihr nun wirklich nicht ähnlich. Schließlich warf Liana einen Blick in das große Badezimmer, das sie sich mit ihren Eltern teilte. Natürlich war auch dieser Raum leer. Halt, nicht ganz. Vor dem Aquarium ihres Vater lag ein dickes Buch – dem Einband nach zu urteilen Fantasy. Das musste eindeutig Junas sein. Niemals würde sie einen ihrer heiligen Schinken einfach so unachtsam auf dem Boden zurücklassen … Wo war sie so eilig hingegangen?
Dann erregte noch etwas anderes Lianas Aufmerksamkeit. Auf dem Boden des Aquariums lag ein Handy, das leicht auf dem körnigen Sand hin und her wippte. Lianas Nackenhaare stellten sich auf und ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht. War Juna vor jemandem geflüchtet und hatte ihre Sachen dabei verloren? Unsicher, wonach sie suchte, ließ Liana ihren Blick durch das Badezimmer schweifen. Sie konnte keine Anzeichen eines Kampfes oder sonst etwas ausmachen.
Sie entschloss sich, das Handy aus dem Aquarium zu fischen, um nachzusehen, ob es sich dabei überhaupt um Junas handelte. Es würde zwar mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr funktionieren, aber sie würde es an den Stickern mit den Buchzitaten erkennen, die Juna auf der Rückseite der Schutzhülle angebracht hatte.
Noch während sie ihre rechte Hand in das Wasser tauchte, spürte Liana ein unangenehmes Prickeln, das sich stetig ihren Arm hocharbeitete. Ihr Blick blieb an einem der Fische hängen, die sie noch nie gemocht hatte. Ihr war es immer schon erschienen, als würden sie diese riesigen Diskusfische mit ihren Glubschaugen hypnotisieren wollen. Diesmal waren es jedoch nicht die Augen dieses einen Fisches, die Lianas Aufmerksamkeit auf sich zogen, sondern vielmehr seine Farbe. War er schon immer so grellblau gewesen? Noch bevor sie näher über diese Frage nachdenken konnte, wurde ihr so schwindlig, dass sich alles um sie herum zu drehen schien. Das Wasser des Aquariums verschmolz mit den Badezimmerarmaturen, die sie umgaben, bevor ihre Wahrnehmung für mehrere Sekunden komplett aussetzte. Ihr war, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.
Kapitel 6
Elandis
Bei allen Göttern, wie er Schnee doch hasste. Seine Fußzehen waren in seinen dünnen Wildlederstiefeln zu Eiszapfen verkümmert und seine blonden Locken ringelten sich durch die Nässe noch mehr und ließen ihn weit jünger aussehen, als er es mit seinen zwanzig Jahren war. Noch etwas, womit sie ihn wieder aufziehen würden. Er konnte Gelen und die anderen bereits vor ihm hören. „Na, Goldlöckchen, wird’s bald oder sollen wir dich in einer Sänfte tragen?“ Gelächter ertönte und Elandis zwang sich, ruhig zu bleiben. Er war beinahe auf gleicher Höhe mit seinen sogenannten Kameraden, als er erneut Gelens Stimme vernahm, die sich in halbherzigem Flüsterton an seinen Nebenmann wandte: „Ich wette seine Hurenmutter hat ihn verlassen, weil sie ihn für ein Mädchen hielt, dem versehentlich ein Schwanz gewachsen war.“
Elandis zögerte keine Sekunde. Sich über ihn lustig zu machen, war eine Sache, aber seine Mutter in den Dreck zu ziehen, war etwas, das er nicht ertragen konnte. Sicherlich, Gelen hatte recht. Sie hatte ihn verlassen, als er kaum mehr als ein Kleinkind gewesen war. Möglicherweise stimmte sogar Gelens Mutmaßung über ihren Beruf. Schließlich hatte er nie einen Vater zu Gesicht bekommen. Dennoch würde er nicht zulassen, dass man so über die Frau sprach, die ihn zur Welt gebracht hatte. Mit beiden Händen packte er den kleineren, jedoch wesentlich breiteren Mann am Kragen seines Wamses und zog ihn erst zu sich heran, nur um ihm dann sein Knie in die Magengrube zu rammen. Gelens bärtige Miene zeigte zunächst Überraschung, verfinsterte sich dann jedoch augenblicklich und spiegelte seine bodenlose Wut wider. Er schien keinen Schmerz zu spüren, das musste man dem Dreckskerl lassen. Wie Elandis erwartet hatte, holte er stattdessen sofort zu einem Kinnhaken aus, unter dem er sich gerade so wegducken konnte. Die anderen hatten bereits angefangen, Anfeuerungsrufe von sich zu geben, die natürlich ausschließlich Gelen galten. Der schwerere Mann warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn, Elandis hatte keine Chance. Er versuchte vergeblich, einen Schlag zu landen, aber Gelen verdrehte ihm bereits seine Hände hinter dem Rücken. Er spürte, wie seine Gelenke kurz davor waren zu bersten. Ein dunkles Lachen drückte die Siegessicherheit seines Kontrahenten aus. Aber so leicht würde Elandis nicht aufgeben. Er hatte es satt, immer wieder gepiesackt zu werden. Er hatte genauso viel Recht, Teil dieser Armee zu sein, wie alle anderen auch. Der Feldherrin war seine Abstammung egal. Gelens Körper und die seiner reichen Freunde würden auf dem Schlachtfeld genauso bluten wie seiner. Es war an der Zeit, das klarzustellen.
Mit aller Kraft trat er mit seinem rechten Fuß nach hinten und traf Gelen am Schienbein. Überrascht von der unerwarteten Attacke lockerte dieser seinen Griff um Elandis’ Handgelenke für einen kurzen Moment, den Elandis nutzte, um sich Gelens Griff zu entwinden. In Windeseile drehte er sich zur Seite und rammte seinen Ellbogen in Gelens Nierengegend. Der kräftige Mann ging zwar nicht zu Boden, gab aber immerhin den ersten Schmerzenslaut von sich. Davon ermutigt boxte Elandis ihm in den Magen. Das Gesicht seines Kontrahenten lief dunkelrot an – ob vor Schmerz oder Entrüstung konnte Elandis nicht sagen. Wie eine wildgewordene Bestie stürzte er plötzlich auf Elandis zu und rammte seinen Kopf frontal in dessen Mitte. Der Aufprall fegte Elandis von den Füßen, er blieb rücklings im Schnee liegen. Er befürchtete schon, Gelen würde nun – angeheizt von den Jubelrufen seiner Gefährten – das Schwert ziehen und ihn aufspießen, als ein schrilles Pfeifen durch die Luft schnitt und alle augenblicklich verstummten. Gelen hielt mitten in der Bewegung inne, was seinem teigigen Gesicht einen törichten Ausdruck verlieh. Hätte er sich nicht selbst vor Schmerzen krümmen müssen, wäre Elandis bei dem Anblick vermutlich ein Lachen entwichen. Stattdessen bemühte er sich um eine ernste Miene und versuchte sich aufzusetzen, als Hauptmann Nekros auf seiner schwarzen Stute in sein Blickfeld ritt.
„Was denkt ihr, dass ihr hier tut?“, donnerte er. Als Befehlshaber trug er natürlich eine vollständige Rüstung, deren Helm er jedoch abgenommen hatte, was seine autoritäre Erscheinung angesichts des grauen, penibel gestutzten Bartes und der eiskalten, blauen Augen jedoch nur noch verstärkte. Erwartungsvoll presste er seine schmalen Lippen zusammen und ließ den Blick abwechselnd zwischen ihm und Gelen hin- und herwandern.
Natürlich ergriff Gelen zuerst das Wort und redete sich auf unterwürfige Art und Weise heraus. Es sei einzig und allein die Schuld des Bastards gewesen, der ihn völlig grundlos angegriffen hatte. Er, Gelen, hatte sich nur verteidigt, was der Hauptmann doch sicher verstehen würde. Verdammter Stiefellecker, dachte Elandis nur. Er wusste, es würde sinnlos sein, seine Sichtweise der Dinge vorzubringen, da Nekros ihn ebenso wenig leiden konnte wie Gelen. Der Hauptmann entstammte einer langen Linie Adliger. Während ein solcher Mann es durchaus tolerieren konnte, wenn Menschen durch ihr wirtschaftliches Geschick, Reichtum anhäuften und so in der Gesellschaftshierarchie aufstiegen, wie es bei Gelen und seiner Familie der Fall gewesen war, so hatte er keinerlei Verständnis für die Anwesenheit von Männern in der königlichen Armee, die weder wohlhabend waren noch eine klare Abstammungslinie vorweisen konnten, wie es bei Elandis der Fall war.
Elandis wusste zwar, dass der Hauptmann in diesen Dingen selbst kein Mitspracherecht hatte, da es der Feldherrin zustand zu entscheiden, wie und welche Männer angeworben wurden. Aber letztlich hatte er es tagtäglich nicht mit der aufgeschlossenen Feldherrin zu tun, sondern mit kleingeistigen Menschen wie Gelen und Nekros. Daher wusste er, es war besser, den Mund zu halten, als einen noch größeren Streit vom Zaun zu brechen. Also wich er dem fragenden Blick des Hauptmannes aus und schwieg.
Wenn er Glück hatte, käme er mit einer Woche Latrinendienst davon. Wenn er Pech hatte und Nekros in der Stimmung war, ein Exempel zu statuieren, dann würde er möglicherweise zehn Peitschenhiebe erhalten, von denen die Hälfte sicherlich nur halbherzig ausgeführt werden würden. Schließlich würde Nekros seine eigenen Soldaten – ob sie nun reiner Abstammung waren oder nicht – nicht lebensgefährlich verletzen, da der Feind ohnehin schon in der Überzahl war.
Mit der Antwort, die der Hauptmann nach einigem Abwägen von sich gab, hatte Elandis allerdings überhaupt nicht gerechnet. „Da dies beileibe nicht der erste Vorfall ist, Elandis Turgau, ist es an der Zeit, dich der Feldherrin vorzuführen. Sie wird entscheiden, wie mit dir weiter verfahren wird.“
Mit einem selbstzufriedenen Halblächeln verharrte Nekros zunächst unbeweglich auf seiner schwarzen Stute, ehe er ungeduldig mit der Hand wedelte, was Elandis als Aufforderung aufzustehen und ihm zu folgen deutete.
Er folgte der Anweisung und fragte sich mit leichtem Unbehagen, ob er sich nun über diesen Ausgang der Auseinandersetzung freuen sollte oder nicht.
Die Feldherrin galt gemeinhin als gerecht und fortschrittlich, schließlich war sie es doch selbst gewohnt, ihre Position in einer von Männern dominierten Welt immer wieder zu verteidigen. Sicher, es half natürlich, dass sie die Nichte des Königs war, dennoch war sie einigen hochrangigen Offizieren ein Dorn im Auge.
Natürlich war er der Feldherrin noch nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten, aber Elandis kannte die Gerüchte zur Genüge. Soldaten waren auf einem langen Marsch schlimmer als Waschweiber.
Wie dem auch sei, er glaubte nicht, dass sie ihn körperlich bestrafen würde, für so etwas waren Offiziere wie Nekros zuständig. Was aber, wenn sie sich gezwungen sah, ihn aus der Armee zu werfen? Womit würde er dann seinen Lebensunterhalt bestreiten?
Mit einem zunehmend mulmigen Gefühl trottete er neben Nekros her, der seine Stute im leichten Schritttempo in Richtung des temporären Zeltplatzes der Feldherrin steuerte. Immer wieder musste er sich dabei an seine Magengegend fassen. Gelen hatte einen verdammt dicken Schädel, Elandis konnte noch immer nicht gleichmäßig atmen.
„Elandis Turgau, tritt ein!“, forderte ihn eine beinahe zarte Stimme wenige Minuten später auf. Nekros war zunächst alleine in das geräumige Zelt der Kriegsherrin gegangen, um ihn anzukündigen und ihr den Sachverhalt darzulegen. Als er nun an ihm vorbeischritt, um sich zurück zu seinen untergebenen Soldaten zu begeben, würdigte er ihn keines Blickes. Elandis meinte jedoch, ein schadenfrohes Grinsen auf den Lippen des Hauptmannes zu erkennen.
Unsicher betrat Elandis das Zelt. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, da er nie eine höfische Ausbildung genossen hatte. Verbeugte man sich vor ihr, da sie der Königsfamilie angehörte oder salutierte man wie vor den anderen Offizieren, da sie die ranghöchste Position in der Armee innehatte? Bevor er sich entscheiden konnte, erhob sich die Feldherrin von ihrem Schemel und trat mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, die sie kurz auf seine Schultern legte, ehe sie wieder einen Schritt zurück machte, um ihn zu mustern.
Elandis hatte seine Augen gesenkt gehalten, als er eingetreten war. Nun riskierte er einen Blick in ihr Gesicht. Die Feldherrin war eine imposante Erscheinung – eine Frau in mittleren Jahren, deren sehnige, muskulöse Statur ihre Stärke und Kampferprobtheit widerspiegelte, während die silbergrauen Strähnen in ihren langen Haaren, die sie in mehreren Zöpfen geflochten und zurückgebunden hatte, ihr Alter zeigten. Ihr Gesichtsausdruck war offen und freundlich. Nichts deutete darauf hin, dass sie ihn zu pfählen beabsichtigte.
Sie räusperte sich, was ihrer Stimme jedoch nichts von ihrer Zartheit raubte, als sie das Wort ergriff. „Hauptmann Nekros sagt mir, dass du ein, wie er es nennt, Unruhestifter bist, der die Einigkeit unserer Truppe gefährdet.“ Sie verzog ihre Mundwinkel und rollte leicht die Augen, ehe sie weitersprach: „Ich für meinen Teil denke, Hauptmann Nekros ist ein griesgrämiger Miesepeter, der alle Sachverhalte grundsätzlich in Schwarz und Weiß unterteilt.“ Sie zuckte kurz mit den Schultern, die trotz der Winterkälte entblößt waren und ihre Muskeln zeigten. „Was natürlich keine schlechte Einstellung ist. Es macht das Leben wesentlich einfacher. Nur leider wird man es so niemals gänzlich verstehen … Was ich damit sagen will, Elandis Turgau, ist, dass ich mir sehr wohl vorstellen kann, dass mehr hinter diesen Auseinandersetzungen zwischen dir und einigen deiner Kameraden steckt, als es auf den ersten Blick ersichtlich ist. Was du aber verstehen wirst, ist, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, welche Beweggründe vorliegen, wenn das Resultat darin besteht, dass meine Soldaten sich untereinander verletzen.“ War ihre Miene bisher verständnisvoll und freundlich gewesen, so wurde sie nun ernst. Sie richtete ihre grünen Augen direkt auf seine braunen. „Ich kann so etwas nicht tolerieren. Wir dürfen uns nicht untereinander bekriegen, wenn es einen gemeinsamen Feind zu besiegen gilt, der noch dazu in der Überzahl ist.“ Abwägend bewegte sie ihren Kopf von rechts nach links und flüsterte mehr zu sich selbst als zu ihm: „Was also soll ich mit dir anstellen?“
Elandis schwieg. Er war sich sicher, es handelte sich um eine rhetorische Frage. Sicherlich hatte die Feldherrin bereits eine Entscheidung getroffen. Abwartend sah er ihr in die Augen, die die seinen sorgfältig taxierten.
Ein leichtes Nicken zeigte, dass sie zu einem Entschluss gekommen war. „Du gefällst mir, Elandis Turgau. Du winselst nicht herum, wie so viele deiner Kameraden und versuchst dich herauszureden oder mir mit endlosem Geschwätz zu schmeicheln. Vielleicht bist du der Richtige für einen ganz bestimmten Auftrag, der unser beider Probleme lösen würde. Du wärst deine verhassten Kameraden los. Mir würde sich vielleicht die Chance bieten, einen langjährigen Krieg zu beenden, bevor er richtig angefangen hat …“ In Gedanken versunken neigte sie den Kopf, während Elandis’ Augen groß wurden und die Überlegungen in seinem Kopf sich überschlugen. Wie sollte ein einzelner Soldat den Krieg verhindern können – noch dazu einer ohne besondere Ausbildung? Gleichzeitig beschwingte ihn die Vorstellung, dass ihm eine solch tragende Rolle zufallen könnte. Dass diese Rolle ihn womöglich in den Tod führen konnte, schreckte ihn nicht ab. Es gab niemanden, den er zurücklassen würde. Niemand würde um ihn trauern.
„Ich wäre überaus geehrt, mich in dieser Hinsicht als nützlich zu erweisen, verehrte Feldherrin“, antwortete Elandis in der Hoffnung, die richtigen Worte gewählt zu haben. Es schüchterte ihn immer noch ein, einer solch hochrangigen Persönlichkeit gegenüberzustehen, auch wenn sie ihm bisher in keiner Weise das Gefühl vermittelt hatte, ihm überlegen zu sein.
„Das freut mich“, erwiderte sie und bestätigte sogleich seine Vermutungen, was seinen Verbleib anging. „Ich hoffe jedoch, dir ist klar, dass eine solche Mission tragisch für dich enden könnte und du auf dich allein gestellt sein wirst. Du bist der Herr deines Schicksals.“ Natürlich war Elandis klar, dass diese philosophisch verpackten Worte der Feldherrin im Grunde nur bedeuteten, dass sie nicht bereit war, ihre Armee zu seiner Hilfe zu schicken, sollte er in Schwierigkeiten geraten. „Das ist mir bewusst“, erwiderte er pragmatisch.
Sie nickte wohlwollend und legte ihm dann in aller Ruhe ihren Plan dar.
Mehr als verblüfft starrte Elandis sie an. Er hatte Mühe, nicht wie ein Trottel den Mund offen stehen zu lassen. Als er sich gefasst hatte, fragte er: „Aber Magie ist doch seit zwei Jahrzehnten von dieser Welt verschwunden. Jeder Magier, der seitdem gesichtet worden ist, stellte sich als Scharlatan heraus.“
„Seit 18 Jahren, um genau zu sein. Seit dem Tag, als meine Schwester verschwand. Ich glaube, du bist zu jung, um dich an die Zeit der großen Magier zu erinnern, nicht wahr?“, fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten, denn sie sprach nahtlos weiter: „Es war eine großartige Zeit, aber auch eine äußerst Furcht einflößende, denn lass mich dir sagen, Elandis Turgau, nicht alle Magiebegabten waren durch und durch gut wie mein Schwester Senga. Sie war jedoch eine der Besten. Sie hatte die Gabe, Portale zu öffnen, die in andere Welten, andere Dimensionen, andere Zeitlinien – wie auch immer du es nennen möchtest – führten. Es war ihr zu verdanken, dass auf diese Art und Weise einige ihrer Gegenspieler verbannt werden konnten.“ Elandis hörte diese Geschichten nicht zum ersten Mal. Es handelte sich um Volksgut. Allerdings hatte er sich schon immer gefragt, wie viel von den Geschichten und Legenden, die man sich inzwischen erzählte, nur ausgeschmückt waren und was wirklich der Wahrheit entsprach. Er hatte Magie nie erlebt und konnte sich all das nur bedingt vorstellen.
„Doch der Preis, den meine Schwester für ihre Gabe zahlen musste, war hoch. Sie war einsam. Ein normales Leben war für sie nicht möglich, so sehr sie es auch versuchte. Vor 18 Jahren verschwand sie spurlos. Sie hat weder mir noch unserem Onkel ein Wort gesagt. Wir konnten nur feststellen, dass ihr Verschwinden das Ende der Ära der Magie einläutete. Es wurden keine Magieträger mehr geboren und diejenigen, die sich noch unter uns befanden, verloren nach und nach ihre Kräfte. Ohne Magie begann der ganz normale Wettstreit um Ressourcen und weltliche Macht, der uns nun an die Schwelle dieses Krieges geführt hat.“
Elandis wusste das alles. Was ihn interessierte, war, was die Feldherrin dazu veranlasste zu glauben, ihre Schwester sei zurückgekehrt. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Seit zwei Jahren gibt es immer wieder Meldungen von Zeitverschiebungen, von Menschen, die verschwinden oder einfach auftauchen. Anfangs dachte ich auch, das seien nur wieder Gerüchte und Ammenmärchen, wie man sie immer wieder hört. Aber ich habe Grund zur Annahme, dass zumindest eines dieser Gerüchte der Wahrheit entspricht. Du sollst dich dessen vergewissern. Sollte meine Schwester tatsächlich zurück sein und mit ihr ihre Gabe, dann würde uns das einen entscheidenden Vorteil in diesem Krieg verschaffen, womöglich würde es gar nicht zu Kampfhandlungen kommen, wenn man die Führung unseres Gegners verschwinden ließe, wenn du verstehst, was ich meine …“
Elandis verstand und stimmte zu. Natürlich tat er das. Er ließ sich von der Feldherrin die Details seines Auftrages erläutern. Ein Auftrag, der ihn tief in feindliches Gebiet führen würde, wo er Senga, die vermisste Schwester der Feldherrin, aufspüren und sie nach Möglichkeit zurück an die Seite ihrer Schwester bringen sollte. Nichts leichter als das, dachte er zynisch, wurde aber gleichzeitig von einem aufgeregten Flattern in seiner Brust erfasst. Hier bot sich ihm eine Chance, die ihm in seinem normalen Leben niemals zuteilgeworden wäre. Er hatte die Möglichkeit, Geschichte zu schreiben. Er hatte die Möglichkeit, als Held in die Geschichte einzugehen.
Voller Tatendrang machte er sich am nächsten Morgen auf einem stattlichen braunen Wallach in die entgegengesetzte Richtung seiner Kameraden auf. Über Umwege würde er sich in das feindliche Gebiet begeben und dort als Söldner verdingen, während er in Wahrheit Erkundigungen einziehen und – so die Götter es wollten – Senga finden würde. Er hoffte, er würde es rechtzeitig schaffen, bevor die Armeen aufeinandertrafen. Die Feldherrin würde ihren Marsch verlangsamen, aber viel Zeit blieb ihm dennoch nicht. Während er seinen Gedanken nachhing, nahm er aus dem Augenwinkel war, wie Gelen am Rande des Feldlagers die Latrinen säuberte. Der Muskelprotz warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Elandis konnte nicht anders, als in sich hineinzulächeln. Es schien, die Feldherrin hatte ihre Strafen gerecht verteilt. Er wusste, welche Strafe er bevorzugte, besonders, da sich seine ganz und gar nicht wie eine anfühlte. Als er schon weit entfernt war, hörte er, wie Gelen ihm hinterherrief: „Das wirst du mir büßen! Wir beide sind noch nicht fertig miteinander!“ Elandis lachte nur und trieb seinen Wallach in einen Galopp.
Kapitel 7
Juna
Junas Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen. Vorsichtig öffnete sie ein Auge nach dem anderen. Sie hatte wirklich erwartet, wieder das Aquarium in Lianas Badezimmer vor sich zu sehen. Stattdessen blickte sie immer noch in einen schneeverhangenen Himmel, der zur Hälfte von dichten Baumkronen verdeckt war. Ihre Zähne klapperten angesichts der Kälte, die in ihren Körper kroch. Sie konnte Schnee unter sich spüren und war dankbar dafür, dass sie sich doch dazu entschieden hatte, eine Strumpfhose unter ihr weißes Strickkleid zu ziehen, bevor sie zu Lianas Party gegangen war. Ihre Jacke hing allerdings an der Garderobe ihrer Freundin mitsamt ihres Handys. Bevor Juna aufgrund der Tatsache vollends in Panik geraten konnte, dass sie nun für ihre Mutter und Schwestern unerreichbar war, lenkte sie eine Bewegung etwas weiter zu ihrer Rechten ab. „Wo zur Hölle sind wir hier?“, hörte sie Connor, ihre Badezimmerbekanntschaft, neben sich fragen. Auch er hielt sich den Kopf und blinzelte immer wieder. Er musste in seinem T-Shirt und den zerrissenen Jeans noch mehr frieren als sie. Wenigstens hat er dicke Boots an und keine dünnen Stiefel vom Discounter wie ich, dachte Juna. „Ich hab keine Ahnung“, antwortete sie. „Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass so viel Schnee lag, als ich zu Lianas Party aufgebrochen war.“ Sicher, Schnee im Februar war nicht ungewöhnlich. Schließlich hatte es doch dieses Unwetter gegeben, während sie miteinander gesprochen hatten. Die Erinnerungen kamen jetzt deutlicher zurück an die Fische im Aquarium, die ihre Farbe verändert hatten, und die Art und Weise, wie Connors Haut geglüht hatte, als sie ihn am Arm gepackt hatte. Das war das letzte klare Bild, das sie vor sich hatte.
„Das sieht mir hier nicht nach Lianas Straße aus. In der Nähe ihres Hauses gibt es doch gar keinen Waldweg, oder?“, riss Connor sie aus ihren Gedanken. „Nein“, bestätigte sie, obwohl sie sich sicher war, dass der Junge inzwischen zu der gleichen Erkenntnis gekommen war wie sie. Entweder war das hier ein äußerst realer Traum und sie lagen bewusstlos in Lianas Badezimmer – getroffen von einem Blitzschlag – oder … Über das Oder wollte sie gar nicht nachdenken, denn augenblicklich keimte die Panik wieder in ihr auf. Ihre Mutter, ihre Schwestern, ihr Handy … „Connor, hast du dein Handy bei dir?“, fragte sie unvermittelt. Er schüttelte den Kopf. „Ich war mir sicher, ich hatte es in meiner Hosentasche, aber jetzt ist sie leer.“
Er schüttelte den Kopf erneut, ehe er feststellte: „Es ist hell. Was meinst du, wie lange wir bewusstlos waren?“
Juna antwortete: „Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir das nicht immer noch sind.“ Er erwiderte ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen und bemerkte: „Ist es dann nicht ungewöhnlich, dass wir beide denselben ,Traum‘ haben? Mal ganz abgesehen davon, ich FÜHLE mich wach. Du nicht?“ Sie musste sich eingestehen, dass sie das auch tat. Besonders Schmerzen würde man doch sicher nicht so real spüren, wenn man bewusstlos war?
Sie ließ das Thema fallen und fragte stattdessen: „Was sollen wir jetzt tun?“ Connor kratze sich am Kopf. „Keine Ahnung. Schauen, ob es hier irgendwo Leben gibt? Wir sollten keine Zeit verlieren und in Bewegung kommen. Meine Lippen werden bestimmt schon blau.“ Er hatte es sicher nur scherzhaft gemeint, doch Juna war sich sehr wohl der Gefahr bewusst, dass sie sich beide den Tod holen konnten (wenn sie es nicht schon getan hatten), sollten sie hier weiter bewegungslos auf dem Boden verharren.
Sie beschlossen, dem Pfad zu folgen, der zwar kaum unter der Schneedecke erkennbar war, aber definitiv aus dem Wald führte. Juna hatte erwartet, irgendwann eine Straße oder Häuser zu sehen. Aber es gab hier absolut keine Anzeichen von Zivilisation. Unter anderen Umständen hätte sie die Kulisse, die sich ihnen bot, als wunderschön beschrieben: schneebedeckte Felder, die teilweise von Baumgruppen gesäumt wurden, darüber ein Himmel, der allmählich von Sonnenstrahlen durchbrochen wurde, die den Schnee glitzern ließen. Immer wieder verschränkte sie ihre Arme unter der Brust oder rieb ihre Hände aneinander, um sich warm zu halten, doch es half kaum.
„Sind das Pferde?“, fragte Connor plötzlich und zeigte auf ein paar braun-schwarze Umrisse in der Ferne. Es war schwer zu sagen, doch es erschien ihr möglich. Vielleicht näherten sie sich einem Bauernhof. Je näher sie kamen, desto mehr Leben konnten sie ausmachen. Neben den Pferden erkannte Juna nun auch deutlich Zelte, obwohl sie sich wunderte, wie jemand in dieser Jahreszeit ein Zeltlager veranstalten konnte. Was war das? Ein Reitlager für Abgehärtete?
Unvermittelt blieb Connor vor ihr stehen. Sie wäre fast gegen ihn gelaufen. Er hob warnend einen Arm. „Siehst du die Leute weiter hinten? Ich kann es nicht genau erkennen, aber es sieht für mich aus, als hätten sie Waffen. Schau mal ganz rechts. Das sieht doch aus wie ein Schwert, oder?“
Die Panik kam zurück. Mit voller Wucht schnürte sie Juna die Kehle ab. Sie musste sich dazu zwingen, weiter zu atmen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Connor mutmaßen: „Ist das eine Art Mittelalterfestival oder so was? Es gibt doch so Rollenspiele, wo die Leute sich komplett verkleiden und irgendwelche Schlachten nachspielen.“ An Connors Stimme konnte Juna erkennen, dass er nur versuchte, sich selbst Mut zuzureden. Sicherlich würde niemand so etwas im tiefsten Winter veranstalten. Sie wollte gerade etwas erwidern, als sie spürte, wie ihr jemand von hinten um die Taille fasste und sich eine große Hand über ihren Mund schob. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Connor ebenfalls von hinten attackiert wurde und auf seine Knie sank.
Kapitel 8
Connor
Ein Schlag aus dem Nichts traf ihn seitlich an den Rippen, die immer noch von der letzten Auseinandersetzung mit seinem Vater in Mitleidenschaft gezogen waren. Ihm blieb sofort die Luft weg und er ging in die Knie. Mit einer Hand griff er an seine schmerzende Seite und spürte einen stumpfen Gegenstand unmittelbar neben der Stelle. Er neigte den Kopf und sah, wie ein großer Mann in Lederrüstung Juna umklammert hielt, deren Augen kurz davor standen, aus ihren Höhlen zu fallen, so schreck geweitet waren sie. Connor wagte es, langsam über seine Schulter zu sehen. Er erspähte das scharf geschnittene Gesicht seines Angreifers, der ebenfalls eine Lederrüstung trug und das Schwert, das er mit dem Griff voran in Connors Seite gedrückt hatte. Selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, zusammenhängende Worte zu fassen, hätte er nicht gewusst, wie er den Mann adressieren sollte. Dieser packte ihn nun mit seiner anderen Hand an den Haaren und zischte in sein Ohr: „Wer seid ihr? Wer hat euch geschickt?“ Dasselbe hätte er gerne sein Gegenüber gefragt. Gleichzeitig merkte er an dem Druck des Schwertes an seiner Seite, dass er diesem Kerl besser schnell irgendeine Antwort geben sollte. Er entschied, so nah an der Wahrheit wie möglich zu bleiben und antwortete: „Mein Name ist Connor, das ist Juna. Uns hat niemand geschickt. Wir sind …“, er kam ins Stocken, unsicher, wie er sich ausdrücken sollte, „… von unserem Weg abgekommen“, endete er schließlich schwach.
Glücklicherweise hatte der zweite Mann inzwischen seinen Klammergriff um Juna gelockert. Sie sog die Luft ein wie eine Ertrinkende. Beide Männer musterten sie von oben bis unten mit halb amüsiertem, halb argwöhnischem Blick. „Das ist ein seltsamer Aufzug. Hattet ihr ein Stelldichein im Schnee? Wo sind eure Sachen? Reisende ohne Gepäck? Ohne Pferde?“ Weder er noch Juna erwiderten etwas. Sein Gehirn hatte selbst alle Mühe, den Aufzug der Männer einzuordnen – Lederrüstungen, Schwerter, Pferde … Er war sich auch immer noch der Bedrohlichkeit bewusst, die von ihnen ausging, auch wenn sie jetzt scherzten. Ihre Blicke wanderten zu ihm hinüber und blieben an seinem T-Shirt hängen. Der Mann, der Juna gepackt hatte, bewegte die Lippen und versuchte offensichtlich den Bandnamen auf dem Shirt zu entziffern. Plötzlich kam ihm ein Geistesblitz – ein dummer möglicherweise, aber es war alles, was er zu bieten hatte, also sagte er: „Metallica. Das sind wir. Wir sind Musiker. Das ist der Name unserer Truppe.“ Als er erst einmal angefangen hatte zu sprechen, kamen die Worte leichter über seine Lippen und er fuhr fort: „Wir ziehen von Ort zu Ort. Aber wir wurden auf unserem Weg überfallen, haben unsere Ausrüstung verloren und uns nun offensichtlich verlaufen.“ Vage nahm er wahr, wie Junas Augen erneut groß wurden und ihn ungläubig anstarrten. Sie widersprach ihm jedoch nicht. Die beiden Männer sahen sich unsicher an. Es war klar, dass sie ihm seine Geschichte nicht ganz abkauften, dennoch sagte sein Angreifer: „Wie dem auch sei. Lass sie uns ins Lager bringen. Kantor kann entscheiden, was mit ihnen passieren soll.“ Connor hatte keine Einwände. Wohin hätten sie auch sonst gehen sollen? Außerdem brauchten sie irgendwann wirklich wärmere Kleidung und Verpflegung. Es sah nicht so aus, als würden sie hier in absehbarer Zeit auf einen Supermarkt treffen.
Die beiden Rüstungsträger trieben sie in gemächlichem Tempo vor sich her. Juna flüsterte ihm kaum hörbar, doch deutlich gereizt, zu: „Metallica – das Mittelalterduo? Ist das dein Ernst? Ich kann nicht mal ein Instrument spielen!“ Connor zischte ihr nicht minder gereizt ins Ohr: „Was hätte ich denn sonst auf die Schnelle sagen sollen? Wäre es dir lieber gewesen, sie hätten dich für mein ,Stelldichein‘ gehalten?“ Eine Erkenntnis traf ihn aus dem Nichts und er fügte hinzu: „Außerdem kannst du singen. Du bist im Chor. Ich habe dich gesehen.“ Er erinnerte sich nun endlich, warum ihm ihr Gesicht so bekannt vorgekommen war. Sie übernahm meistens die Soloparts bei den Chorauftritten ihrer Schule. Sie erwiderte nichts mehr, sondern richtete den Blick stur geradeaus. Er konnte jedoch erkennen, wie ihre Schultern leicht zitterten. Weinte sie?