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Max, geplagt von Rückenschmerzen und schmerzlichen Erinnerungen an seine tote Freundin, streift als Grenzpatrouille durch eine triste neue Welt, die sich nach einer Naturkatastrophe nur noch auf das Festland von Europa beschränkt. Eingeschlossen durch eine künstliche Atmosphäre – das Dome – leben die verbliebenen Menschen von den Überresten der alten Zivilisation. Doch die Vorräte werden knapp. Als Max von einer Lücke im Dome erfährt, macht er sich auf den Weg. Auf seiner Mission trifft er auf Fera – das Mädchen aus dem verfeindeten Osten, das sich auf der Flucht vor ihrem machthungrigen Adoptivvater befindet. Während ihrer strapaziösen Reise kommen die beiden sich immer näher und Max sieht sich schließlich vor die Frage gestellt, wie weit er zu gehen bereit ist, um sein Ziel zu erreichen.
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Seitenzahl: 410
Veröffentlichungsjahr: 2023
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2023 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-217-0
ISBN e-book: 978-3-99146-218-7
Lektorat: Alexandra Eryiğit-Klos
Umschlagfotos: Anna Maria Angress, Francosmphotos | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Kapitel 1: MAX
„Fuck“, stöhnte er, als er versuchte, sich hinunterzubeugen, um sich seine Skechers zusammenzubinden. Skechers mit Memory Foam – Laufsohle mit orthopädischen Einlagen. Einst waren sie türkisblau mit mintgrünen Schnürsenkeln. „Total girly“, hatte Marilyn gesagt, als er mit ihnen angekommen war, „jetzt brauchst du nur noch die passenden Neon-Lycra-Leggings dazu und dann kannst du dich sofort in meiner Damen-Aerobicgruppe anmelden.“ Marilyn …„Fang jetzt bloß nicht an, dich wieder in irgendwelchen Tagträumen zu verlieren. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt“, ermahnte er sich selbst, „sieh lieber zu, dass du diese verdammten Schuhe zusammenbindest und weiterkommst!“
Langsam beugte er den Rücken, wartete auf den vertrauten Schmerz in der Lendengegend, biss die Zähne zusammen und versuchte, seine Füße zu erreichen. Ein schneidender Schmerz durchzuckte seine Hüfte und ließ ihn in der Bewegung innehalten. Nichts ging mehr. Er konnte sich weder aufrichten noch ganz hinunterbeugen. „Atme“, redete er sich in Gedanken gut zu, „spann deine Bauchmuskeln an. Nimm den Druck vom Rücken.“ Es funktionierte nicht immer, aber heute war das Schicksal ihm wohl milde gestimmt. „Okay dann machen wir das eben so“, sagte er laut und hievte sein rechtes Bein auf einen nahe gelegenen Baumstumpf. In diesem veränderten Winkel war es ihm endlich möglich, die Schnürsenkel zu erreichen und zusammenzubinden. Mintgrün waren sie schon lange nicht mehr, eher ein Camouflage-Schlammbraun – ein Wunder, dass sie überhaupt noch hielten, genauso wie die ganzen Schuhe, die von kleinen Löchern und Kratzern nur so übersät waren. Aber es waren die einzigen Schuhe, in denen er einigermaßen gut längere Strecken laufen konnte – und laufen musste er hier … laufen, laufen … und Ausschau halten nach allem, was eine Bedrohung für die westliche Union darstellen könnte, aber vor allem natürlich nach Spähern der „Macht des Ostens“.
Heute hatte er jedoch eine kleine Detour auf seiner Runde geplant. Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg durch das dichte Geäst. Obwohl es nicht winterkalt war, hatten die Bäume und Sträucher keinerlei Blätter. Die würden sie auch nicht mehr bekommen. Das Dome schaffte es nicht sehr gut, Jahreszeiten und die damit einhergehenden Temperaturveränderungen zu simulieren. Die Natur war in einem immerwährenden Frühlingszustand gefangen, ohne jedoch Pflanzen zum Erblühen zu bringen oder zum Wachstum anzuregen, was Caspar und sein Team von Pseudowissenschaftlern regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Max hatte kein Verständnis für biologische Zusammenhänge. Er hatte sich nie für Naturwissenschaften oder gar Mathematik interessiert. Vor dem „Ewigen Sonnenuntergang“ jobbte er in einem glorifizierten Tante-Emma-Laden und studierte Musikwissenschaft und Literatur. Eine Fächerkombination, die ihm schon damals kaum Aussicht auf beruflichen Erfolg verlieh. In einer Welt, in der Musikinstrumente und Bücher Relikte aus fernen Zeiten waren, schon gar nicht. Was ihm zu seiner jetzigen Position verhalf, war vielmehr seine Zähigkeit und natürlich die Tatsache, dass er einer der wenigen „Alten“ war. Wenn man jemanden, der sich dem 40. Lebensjahr näherte, als alt bezeichnen konnte. Nun, nach heutigem Maßstab sicher. Alt waren all jene, welche die alte Welt noch kannten.
Ein Rascheln ließ Max aus seinen Gedanken aufschrecken. Behutsam scannte er mit den Augen seine Umgebung nach der Ursache des Geräuschs. Er konnte nichts erkennen, nur die vertrauten Baumskelette, die sich gespenstisch vom nachtschwarzen Himmel abhoben, sowie der ebenso vertraute dunkelbraune, matschige Boden unter seinen Füßen. Doch da ganz oben in einem der Baumwipfel sah er etwas. Es hatte Flügel und die Größe eines Eichhörnchens, obgleich es die natürlich nicht mehr gab, genauso wenig wie Vögel oder Fledermäuse. Doch ehe er genau ausmachen konnte, worum es sich handelte, war es auch schon wieder verschwunden. Er machte sich eine gedankliche Notiz, dem Colonel davon zu berichten. Vielleicht eine neue Erfindung der „Macht des Ostens“?
Unbeirrt bahnte er sich weiter seinen Weg, bis er schließlich die vertraute Blockhütte hinter einer kleinen Anhöhe erspähte. Leise klopfte er an die Tür. Niemand öffnete, doch Max wusste aus Erfahrung, dass die Tür nicht abgeschlossen sein würde. Der Doc hatte einen unbeirrten Glauben an das Gute im Menschen. Einen Glauben, den Max ganz und gar nicht teilte.
„Bist du wach, Anselm? Ich bin’s, Max, kann ich reinkommen?“ Es widerstrebte Max, trotz der verschlossenen Tür einfach so einzutreten. Es fiel ihm schwer, die anerzogenen Umgangsformen einer längst überholten Gesellschaftsform abzulegen.
Als er jedoch auch nach erneutem Rufen keine Antwort bekam, betrat er die kleine Hütte, die lediglich aus zwei Zimmern und einem großen Kamin bestand.
Besorgt sah er sich nach dem alten Anselm um. Wenn Max bereits als „alt“ galt, so musste man den Doc wohl als „antik“ bezeichnen. Sein echtes Alter kannte dieser vermutlich nicht einmal selbst mehr. Nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, was er alles gesehen hatte. Der Mensch neigte dazu, Unwichtiges zu vergessen, und für Anselm war das Alter nur eine Zahl. In Anbetracht seiner schlohweißen, gewöhnlich in alle Richtungen abstehenden Haare und dem dazu passenden weißen Rauschebart ging Max allerdings davon aus, dass Anselm bereits viele Jahre in Rente gewesen wäre, wenn es so etwas noch gegeben hätte.
Obwohl er von allen nur „der Doc“ genannt wurde, hatte er keineswegs eine medizinische Ausbildung im eigentlichen Sinne absolviert. Nein, sein alter Beruf war etwas gewesen, was ihn in der heutigen Zeit zu etwas viel Wertvollerem machte – er war Apotheker gewesen. Vorausschauend, wie er gewesen war, hatte er bereits in den Jahren der Unruhe vor dem „Ewigen Sonnenuntergang“ angefangen, ein gut gefülltes Lager an privaten Medikamenten aufzubauen, das nun nahezu das gesamte zweite Zimmer seiner Blockhütte in Beschlag nahm. Sicher würde Max ihn dort finden.
Schnellen Schrittes ging er an dem leeren Bett und der Feuerstelle vorbei und trat in Anselms Medikamentenraum. Hier fand er den alten Mann tief über einen dampfenden Topf gebeugt. Sein Kopf war nahezu vollständig mit einem Handtuch bedeckt, was erklärte, warum der Alte ihn nicht gehört hatte. „Anselm, du solltest dich nicht bei unverschlossener Tür in eine derartig verletzliche Position begeben. Du könntest genauso gut ein Neonschild an deiner Tür mit den Worten ‚Raubt mich aus‘ anbringen!“
Der Doc hob langsam den Kopf und blickte Max aus tiefrotem Gesicht und mit verschleierten Augen an. „Ah, Max, mein Junge“, begrüßte der Alte ihn sichtlich erfreut, „was führt dich zu mir? Zwickt dein Rücken wieder, ja? Komm, komm, setz dich, ich bin gleich bei dir.“
Anselm deutete in die Ecke auf einen Schemel von fragwürdiger Stabilität. Während sich Max darauf zubewegte und abzuschätzen versuchte, ob er sich aus eigener Kraft von diesem wieder würde erheben können, fiel sein Blick auf eine Tube neben dem immer noch dampfenden Topf. „Anusol“ stand darauf. „Hämorrhoidensalbe? Really? Bist du sicher, dass du die Einnahmeanweisung richtig verstanden hast?“, lachte Max. „Meiner Meinung nach sollte man die nicht inhalieren …“
„Die Packungsbeilage habe ich in der Tat nicht gelesen, mein lieber Max, da sie auf Englisch geschrieben ist, und wie du weißt, bin ich des Englischen nur ansatzweise mächtig. Im Grunde bestehen aber alle Salben zu einem Großteil aus Glycerin, und das stellt zumindest bedingt eine Alternative zu herkömmlichen Zigaretten dar, die, wie du weißt, heutzutage noch schwieriger zu bekommen sind als dein heiß geliebtes Ibuprofen.“ Anselm setzte sich kurzerhand selbst auf den Schemel, wobei er jetzt wieder wesentlich frischer aussah und Max mit aufmerksamen Augen musterte.
Max mochte die Schlagfertigkeit des alten Mannes, konnte sich aber einen weiteren Seitenhieb nicht verkneifen. „Ein Doktor, der raucht … tz, tz, tz …“
„Ach Max, wie du ebenfalls weißt, bin ich mitnichten ein Doktor. Wir sind alle nur Menschen und müssen versuchen, diesem erbärmlichen Leben das eine oder andere Positive abzugewinnen.“
Max fiel es schwer, in seinem Dasein etwas Positives zu finden. „Und ja, ich bin wegen des Ibuprofen hier“, sagte er deshalb nur und ließ das vorangegangene Thema ruhen.
„Du weißt, ich mag dich, Jüngchen, du hast Charakter und Resilienz, das mag ich an Leuten, aber was du brauchst, ist nicht Ibuprofen. Du brauchst eine Alternative, eine Hoffnung, ein … eine … wie sagt ihr Angelsachsen immer … an escape … Ja, das ist es, was du brauchst.“
„Und was soll das bitte schön sein, Doc? Hast du eine Zeitmaschine erfunden, mit der ich mich 50 Jahre in die Vergangenheit katapultieren kann, damit ich mein Leben so leben kann, wie ich es geplant hatte?“
Anselm sah Max aus leuchtenden Augen an und versprühte dabei die Aura eines Sektenführers. „Nein, etwas viel Besseres, ich kann dir eine Zukunft schenken. Vor ein paar Wochen kam ein junges Ding von der nördlichen Grenze zu mir. Periodenbeschwerden, nichts Tragisches. Aber sie erzählte mir von ihrem Bruder, der für Colonel Burns an der Nordwestgrenze patrouilliert, und der soll gesehen haben, wie zwei Männer das Dome verlassen haben …“
„Aber das ist unmöglich, Doc, und selbst wenn, würden sie sofort sterben“, unterbrach Max ihn.
„Lass mich ausreden, Jungchen, hast du deine Manieren an der Tür stehen lassen?“, ereiferte Anselm sich. „Besagter Bruder hat besagte Männer zwei Tage später wieder quicklebendig beim Abendessen getroffen. Es ist also möglich, außerhalb des Dome zu überleben, und nicht nur das. Es gehen Gerüchte um, dass es dort eine ganz neue Zivilisation gibt. Oder vielleicht ist die alte gar nicht untergegangen. Weißt du, was das bedeutet? Ärzte, Medizin … man könnte deinen Rücken heilen. Denn dass das, was du hast, nur Verspannungen sind, glaubst du doch wohl selbst nicht. Du musst nur einen Weg finden, an die Nordwestgrenze zu gelangen.“
Max wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er wusste, dass der Doc ein Sucker für solche Altweibermärchen war, immer der Optimist, der Träumer. „Wenn das alles so traumhaft einfach ist, warum bist du dann noch hier, Doc?“, fragte er deshalb nur.
„Aber Jungchen, ich habe doch alles hier, was ich brauche“, sagte Anselm und deutete auf sein Medikamentenarsenal. „Außerdem finde ich das, was mir wirklich fehlt, auch nicht in einer, sagen wir mal, ansprechenderen Zivilisation.“
Max wusste, worauf der Doc anspielte. Es war unübersehbar, seine Hütte war voll von vergilbten Fotos von seiner Frau Theodora. Max kannte mittlerweile Anselm und Theodoras gesamte Lebensgeschichte, inklusive ihres Todes vor fünf Jahren in ebendieser Hütte. Und genau da lag der Unterschied zwischen Max und Anselm. Er hatte ein Leben gehabt. Ein Leben mit seiner Frau, einen Beruf, eine Erfüllung. Und er konnte Abschied nehmen. Abschied von der Liebe seines Lebens. Max hatte nichts dergleichen gehabt. Sein Leben wurde ihm entrissen, bevor es richtig Gestalt angenommen hatte. Was blieb, waren Erinnerungen und Tagträume. Marilyn. Nicht einmal dem Doc hatte er von ihr erzählt. Er fragte sich, ob er sich besser fühlen würde, wenn er es täte. Nein. Nein, Marilyn war sein „escape“. Etwas, das er nicht teilen würde. Etwas, das ihn verletzlich erscheinen lassen würde. Und es war schon schlimm genug, dass der Doc das wahre Ausmaß seiner Rückenprobleme kannte.
„Na gut, Anselm, ich werde sehen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann“, schloss Max das Thema ab. Er wollte dem Alten nicht seinen Glauben an eine bessere Welt zerstören, hatte aber auch keine Lust, sich falschen Hoffnungen hinzugeben. „Und nun bitte, bitte, sieh zu, dass du mir das Ibuprofen gibst“, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
Max hatte sich dazu entschlossen, den Rest der Nacht bei dem alten Apotheker zu verbringen. Einerseits, weil er ihn mochte und sicherstellen wollte, dass er keiner Gefahr von marodierenden „scumbags“ ausgesetzt war, andererseits auch deshalb, weil Anselm ein überaus bequemes Bett mit einer gut erhaltenen Matratze besaß, das er selbst kaum nutzte – „zu viele Erinnerungen, Jungchen …“, pflegte der Doc zu sagen –, das für Max’ Rücken aber eine wahre Wohltat war. Dies und die Wirkung des überdosierten Ibuprofen – „Nimm ruhig die doppelte Dosis, schließlich sind sie schon ein paar Jahre abgelaufen und wir wollen ja nicht, dass der Effekt geschmälert wird“, hatte ihn Anselm mit einem Zucken seiner Mundwinkel angewiesen – führten dazu, dass Max so tief schlief wie schon lange nicht mehr.
Er wusste, dass er träumte, denn Marilyn war bei ihm. Sie waren in ihrem Auto unterwegs. Sie hatte ihren Führerschein noch nicht sehr lange gehabt, was man an ihren waghalsigen Überholmanövern erkennen konnte. Im Radio lief eine Bluesband mit Folkrock-Elementen – eine ihrer Lieblingsbands. „And if you never let me go, I will never let you down“, sang sie laut und schief den Text mit. „Warum müssen wir uns immer diese irischen Deppen anhören, wenn wir irgendwohin fahren?“, kommentierte er mit gequältem Gesichtsausdruck, um sie zu ärgern. „Weil, mein Freund, diese Songs absolut pure Poesie sind … außerdem sind sie nicht irisch, das hab ich dir schon hundertmal gesagt“, antwortete sie mit Nachdruck und einem gespielt bösen Seitenblick. Ihr dunkles Haar fiel ihr dabei leicht ins Gesicht und die Sonne brach sich in ihren hellbraunen Augen, was sie auf äußerst verführerische Art funkeln ließ. Er liebte sie in diesem Moment und widersprach nicht, als sie das Radio noch lauter drehte. Auch jetzt hörte er den Song noch immer in seinem Kopf, obwohl er wusste, dass der Traum langsam verblich. Vage dachte er darüber nach, wie ironisch die Lyrics waren – denn sie hatte ihn gehen lassen und er hatte sie zurückgelassen –, als ein immer stärker werdender Windzug ihn schließlich gänzlich erwachen ließ.
Einen Moment um Orientierung ringend, sah er sich nach der Quelle des Luftzuges um und fand die Hüttentür offen stehen. Hatte der alte Idiot etwa seine Tür wieder nicht verriegelt? Max rollte sich über die Seite von der Matratze, war erfreut darüber, dass er sich einigermaßen bewegen konnte, und griff vergeblich nach seinen Skechers, die er an der Seite des Bettes abgestellt hatte.
Als Nächstes wurde sein Kopf abrupt zur Seite gerissen und ein allumfassender Schmerz schoss ihm durch den Kiefer. Darum ringend, das Bewusstsein nicht zu verlieren, spannte er jeden einzelnen Muskel seines Körpers an und atmete tief ein. Allmählich klärte sich seine Sicht und er erkannte zwei Männer vor ihm stehen, die provisorische Schlagstöcke in der Hand hielten – das erklärte den Schmerz in seinem Kiefer … Er hatte keine Zeit, die Situation tiefergehend zu erfassen, denn Gestalt Nummer eins holte gerade zu einem erneuten Schlag gegen ihn aus.
Am Rande nahm er wahr, wie der andere ins Hinterzimmer eilte und dabei seinem Kompagnon unverständliche Worte zurief.
Trotz seiner Bewegungseinschränkungen war Max kein schwacher Mann und er hatte gelernt, nie unbewaffnet auf seine Patrouillen zu gehen. Blitzschnell griff er in seine Jeanstasche und zog sein Klappmesser hervor. Er konnte gerade noch sehen, wie der Gesichtsausdruck seines Angreifers von Entschlossenheit zu Panik wechselte, als ihm der Schlagstock aus dem erhobenen Arm fiel und Max’ Messer ihn unter dem ungeschützten Rippenbogen traf. Max hatte keine Ahnung, ob er ein lebenswichtiges Organ getroffen hatte oder eine Arterie punktiert hatte, für ihn zählte nur, dass der Angreifer zu Boden fiel und nicht wieder aufstand.
Trotz der besorgniserregenden Geräusche aus dem Nebenzimmer nahm Max sich die Zeit, sich umständlich hinzuknien, um den Puls des Kerls zu fühlen. Nichts. Gut. Dabei fiel sein Blick auf das Gesicht des Mannes – nein, des Jungen, erkannte Max nun. Der Bursche war höchstens 16. „Fuck“, dachte Max, hatte aber keine Zeit für Reuegefühle, denn selbst wenn sein Kumpel ebenfalls ein Teenager war, würde Anselm sicherlich nicht allein mit ihm fertigwerden. Außerdem wollte er den Zweiten lebend, um herauszufinden, was es mit diesem Überfall auf sich hatte.
Bereits als er einen Schritt in das Zimmer gemacht hatte, erfasste er jedoch, dass dieses Unterfangen sinnlos war. Junge Nummer zwei – er sah sogar noch jünger aus als der Erste – lag regungslos auf dem Boden. Neben ihm der schwere Topf, den der Doc gestern für seine dubiosen Inhalationszwecke verwendet hatte.
Max drehte sich lächelnd – halb vor Erleichterung, halb im Angesicht der Absurdität dieser ganzen Situation – zu Anselm um. Das Lächeln im Gesicht gefror ihm jedoch innerhalb von Sekundenbruchteilen. Anselm lag ebenfalls auf dem Boden und hielt sich die Brust. Max konnte kein Blut oder andere oberflächliche Verletzungen erkennen. „Was, was ist es, Doc, was brauchst du, sag mir, was ich holen soll!“, schrie Max den Alten förmlich an. Dieser versuchte, seine Lippen zu bewegen, aber keine Worte verließen seinen Mund. Max sah, wie sein linker Arm völlig verkrampft abstand, während er den rechten weiterhin auf seine Brust drückte. „Herzinfarkt“, schoss es Max durch den Kopf. Verdammt, was tat man in so einem Fall? 999 wählen … Tja, diese Zeiten waren vorbei. Absolut hilflos kniete sich Max neben seinen Freund – denn das war er für ihn geworden, wurde Max nun klar, vermutlich sein einziger – und hielt ihm seine verkrampfte Hand. Es dauerte nicht lange, bis die Hand schlaff wurde und die wasserblauen Augen des Docs von panisch zu friedlich und schließlich zu leer übergingen.
Ausdruckslos verharrte Max einen Moment über dem leblosen Körper. Er hatte keine Tränen, die waren schon lange versiegt. Stattdessen verfiel er in einen Autopiloten. Er konnte sich nicht die Zeit nehmen, Gräber auszuheben, davon abgesehen gab es in Anselms Hütte sicherlich nicht die geeigneten Utensilien dafür. Er würde dem Colonel Bescheid geben und ihn bitten, ein paar Männer vorbeizuschicken, die sich dann um alles kümmern sollten. Allerdings wollte er vorher sicherstellen, dass er einen guten Ibuprofen-Vorrat abbekam, bevor die Medikamentenkammer geplündert wurde. Auf dem Weg zu den provisorischen Regalen des Docs fiel sein Blick auf eine Art Jutesack, den Angreifer Nummer zwei wohl fallen gelassen hatte – sie waren also in der Absicht hier gewesen, den Apotheker auszurauben, natürlich, was auch sonst? Max hob den Sack vom Boden auf, um hineinzusehen. Darin lagen seine Skechers. „Really, Jungs?“ Jedes Gefühl von Reue verließ Max’ Körper. „Einem armen, kranken Mann seine orthopädischen Schuhe klauen!“, murmelte er kopfschüttelnd zu sich selbst.
Zehn Minuten später hatte er alles an Medikamenten, was ihm sinnvoll erschien, eingesammelt und in den Jutesack gesteckt, seine Schuhe befanden sich wieder an seinen Füßen und er wollte sich gerade die Kapuze seines Softshellmantels über die kurz geschorenen Haare ziehen, um die Hütte zu verlassen, als sein Blick auf ein Buch in der hintersten Ecke eines der Regale fiel.
Bücher waren in dieser Zeit rar gesät, was sofort Max’ Neugierde erweckte. Er ergriff das Buch mit einer Hand, schlug es auf und stellte enttäuscht fest, dass es sich um eine Art Notizbuch des Alten handelte. Undeutliche Skizzen seiner Frau Theodora wechselten sich mit Gedichten und kryptischen Formeln ab. Er wollte das Journal schon weglegen, als eine Zeichnung ganz am Ende des Buches seine Aufmerksamkeit erregte. Es handelte sich um ein Tier, das in etwa die Größe eines Eichhörnchens hatte, aber durch seine Flügel eher an eine Fledermaus erinnerte. Ein Tier, ganz ähnlich dem, was er letzte Nacht auf dem Weg hierher gesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er ausgeschlossen, dass es sich wirklich um ein Tier gehandelt hatte, da Säugetiere und Vögel schon seit Jahren nicht mehr gesichtet worden waren. Er hatte eher an eine optische Täuschung oder gar an eine Drohne gedacht. Was aber, wenn es wirklich ein Tier war? Was, wenn der Doc es auch gesehen hatte, nah genug, um es zu zeichnen? Hieße das, es gab doch noch Säugetiere oder Vögel unter dem Dome? Flügel, es hatte Flügel – was, wenn es gar nicht hier lebte, sondern von AUßERHALB hereingekommen war? „… soll gesehen haben, wie zwei Männer das Dome verlassen haben …“, gingen Anselms Worte von letzter Nacht Max durch den Kopf. Er hatte diese Gedanken als Tratsch abgetan. Was aber, wenn es die Wahrheit war? Ein merkwürdiges Gefühl von Enge und Schwindel machte sich in Max’ Brust breit. War dies Adrenalin, das durch seinen Körper schoss, oder war es Hoffnung, die seine Seele durchflutete?
Kapitel 2: FERA
Lustlos schob sie ihr Abendessen von einer Seite des Tellers auf die andere. Es war für sie schwer vorstellbar, dass das Stück Fleisch, das da vor ihr lag und frisch aus einem 3-D-Drucker gekommen war, früher aus einem Lebewesen herausgeschnitten worden sein sollte. Sie hatte Kühe oder Schweine nie selbst gesehen. Ihre frühste Kindheitserinnerung war die an eine streunende Katze, die sie vergeblich einzufangen versucht hatte. Ihre Eltern waren ein paar Jahre danach gestorben und seitdem lebte sie im Krom.
Sie hatte keine Erinnerung mehr an ihre Heimat – Finnland hatten ihre Eltern sie genannt. Für sie gab es nur Ost und West, das Konzept von Ländern war ihr fremd. Sie wusste, dass sie sich glücklich schätzen konnte, hier im Schutz des Krom zu wohnen unter einflussreichen Wissenschaftlern und Fürsten. Und sie hatte Vlad. Seine Eltern und ihre Eltern hatten zusammen mit anderen Wissenschaftlern am Dome gearbeitet. Damals hatte sie vieles nicht verstanden, es war ihr alles wie ein großes Abenteuer vorgekommen. Sie waren ständig auf Reisen gewesen, Erinnerungen an Labore wechselten sich ab mit solchen an andere Kinder, mit denen sie Lesen und Rechnen gelernt hatte. Englisch, Deutsch, Französisch und natürlich Russisch hatten sie gelernt. Nicht dass sie die anderen Sprachen heute noch benötigte. Im Einflussgebiet der „Macht des Ostens“ wurde ausschließlich Russisch gesprochen, darauf legten die Oligarchen höchsten Wert. Vlads Vater Jaroslaw war ein solcher. Die Wissenschaft hatte er schon lange aufgegeben und war dieser Tage zu einem der einflussreichsten Geschäftsmänner aufgestiegen – Fürsten, wie sie sich selbst nannten.
Nun saß Fera ebendiesem gegenüber, während Vlad neben ihr saß und ihre Hand hielt.
„Also, was sagst du, Fera Sokrovisce? Wirst du den alten Igor treffen und ihm ein paar angenehme Stunden bereiten?“
Fera legte ihr Besteck ab und schluckte schwer. Er meinte es ernst, er meinte es absolut ernst, und Vlad saß nur daneben und sagte nichts.
Sie wusste, dass sie mit Bedacht antworten musste. Menschen verschwanden immer wieder aus dem Krom, einstmalige Günstlinge wurden von einem Tag auf den anderen nicht mehr gesehen. Würde er für die Geliebte seines Sohnes eine Ausnahme machen, sollte sie ihn enttäuschen? Sie glaubte nicht.
Sie versuchte, auf Zeit zu spielen und sagte zögerlich: „Sicher wäre zunächst ein Treffen in der Gesellschaft anderer eine gute Idee. Möchte er mich nicht erst einmal kennenlernen?“
„Aber Fera, Zoika, darum geht es dem guten Igor doch nicht. Wenn er fachsimpeln möchte, geht er zu Juri ins Labor. Alles, was ihn an dir interessiert, ist dein engelsgleiches Aussehen, und das kennt er bereits“, grinste Jaroslaw sie aus seinen dicken Backen an.
Sie hasste es, wenn er sie so ansah, sie hasste es, wenn er sie „Schätzchen“ oder „Häschen“ nannte und sie behandelte, als sei sie nur eine Spielfigur auf einem der alten Brettspiele, die Juri so liebte. Juri – vielleicht hätte er eine Idee. Er war so etwas wie ein Ersatzvater für sie geworden. Wann immer sie konnte, ging sie ihm bei einfachen Arbeiten im Labor zur Hand und hörte sich seine Geschichten von der alten Welt an.
Ein sachtes Rütteln an ihrem Knie ließ sie aus ihren Gedanken auffahren. Vlad. Er schaute sie aufmunternd an und wollte sie damit wohl zu einer Antwort animieren.
„Ja, gut, arrangiere es. Gib mir nur bitte ein paar Tage vorher Bescheid, damit ich mich auf das Treffen vorbereiten kann“, brachte sie schließlich hervor. Sie war erstaunt, wie fest ihre Stimme dabei klang.
Sichtlich erfreut klatschte Jaroslaw in seine fetten Hände und lachte: „Aber natürlich, ich weiß ja, wie ihr Frauen so seid. Nicht wahr, Vlad?“
Vlad reagierte nicht auf den Seitenhieb seines Vaters, sondern wandte sich wieder seinem Essen zu. So verlief der Rest des Abendessens in Schweigen. Jaroslaw hatte bekommen, was er wollte, und niemand würde ihm widersprechen.
„Wie kannst du das alles nur so stoisch ertragen? Ich dachte, ich wäre dein Ein und Alles?!“, schrie Fera Vlad förmlich an, als sie ein paar Stunden später zusammen in seiner Kammer waren.
„Was soll ich denn tun? Du weißt, wie mein Vater ist, und du weißt auch, dass er nicht davor zurückschrecken würde, uns auseinanderzubringen. Ein Wort von ihm und ich bin morgen an der verdammten Westgrenze und patrouilliere im Schlamm.“
„Das würde er nicht tun, du bist immerhin sein Sohn und irgendwem will er schließlich seinen ganzen Pomp vererben. Ich dagegen bin absolut nichts für ihn. Das Versprechen, das er meinen Eltern gab, sich um mich zu kümmern, bedeutet nichts im Angesicht von mehr Reichtum und Macht. Als wenn einen das glücklich machen würde.“
Glück? Was war das überhaupt? Sie hatte gedacht, es mit Vlad gefunden zu haben. Er war stets an ihrer Seite gewesen, sie hatten als Kinder zusammen gespielt, sich gegenseitig Geschichten erzählt, er hatte sie im Arm gehalten, wenn sie abends in ihrem Bett um ihre Eltern geweint hatte … Es war ihr nur natürlich vorgekommen, dass ihre Beziehung zueinander sich mit der Zeit in eine Liebesbeziehung entwickelt hatte. An ihrem 16. Geburtstag hatte er sie das erste Mal geküsst. Das war nun über drei Jahre her. Seitdem hatte sie ihre Liebe zu ihm nie infrage gestellt. Gleichwohl hatte sie natürlich auch keinen Vergleich. War es Liebe oder war es einfach nur Gewohnheit, was sie an Vlad band? Etwas Vertrautes, etwas Konstantes in einer Welt, die sie nicht verstand, die ihr Sicherheit vorgaukelte, aber in Wahrheit zu einem Gefängnis geworden war?
Ihre Wut war verraucht. Vlad machte ebenfalls keine Anstalten, die Auseinandersetzung weiterzuführen. Hochgewachsen, aber mit hängenden Schultern stand er da und schaute traurig auf seine Füße. Sein langes Haar hatte sich aus seinem Zopf gelöst und hing ihm ins Gesicht. Auf einmal unendlich müde, schlang Fera ihre Arme um ihn und verschränkte seine in ihrem Nacken. Sie atmete Vlads vertrauten Geruch ein und spürte, wie ihr Herzschlag langsamer wurde. „Lass uns schlafen gehen. Ich will nicht mehr darüber reden“, wisperte sie in Vlads Armbeuge.
„Was in drei Teufels Namen ist dieser Krach?“, wollte Fera lachend wissen, als sie das Labor betrat. Jaroslaw sah es nicht gern, wenn sie ihre Zeit hier unten verbrachte. Seiner Meinung nach hatten Frauen hier nichts verloren. Sie fragte sich, was seine eigene Frau dazu zu sagen gehabt hätte, wäre sie noch am Leben gewesen. Von Vlad wusste sie, dass seine Mutter in Forscherkreisen weitaus mehr geschätzt worden war als sein Vater. Hatte das zu den Spannungen in ihrer Beziehung geführt?
„Das, Fera-Schatz, nennt man New Wave. The Smiths, um genau zu sein. Eine von Caspars Lieblingsbands. Glücklicherweise hat er seine Tonträger hiergelassen, bevor unsere Zusammenarbeit endete“, antwortete Juri. Ihr entging sein wehmütiger Blick dabei nicht. „Beendet WURDE, meinst du?“, fügte Fera daher wissend hinzu.
Sie wusste, dass Juri in Caspar einen guten Freund gehabt hatte. Sie waren ein ungleiches Paar gewesen, er der schweigsame Riese, der stets mit besessener Konzentration arbeitete, und Caspar, der schlaksige Kerl mit dunkler Hautfarbe und stets einem Witz auf den Lippen, derjenige, der die Atmosphäre im Labor auflockern konnte wie kein anderer. Und sie wusste, wie sehr Juri ihn nun vermisste. Er sagte es jedoch nie laut, denn das hätte Konsequenzen für ihn gehabt, allein schon das Abspielen dieser alten Musik wurde von den Oligarchen nicht gerne gesehen, woraus Fera schloss, dass Jaroslaw sich vermutlich derzeit nicht im Krom aufhielt.
„Wie lange wird er weg sein?“, fragte sie dennoch sicherheitshalber. Sie wusste, dass Juri klar war, von wem sie sprach.
„Oh, sicher ein paar Tage. Er trifft sich mit diesem Igor. Es geht um einen Waffendeal. Wobei mir nicht klar ist, wofür er die überhaupt braucht. Er hat die Menschen außerhalb des Krom ohnehin bestens im Griff. Er muss ihnen nur den Strom abstellen oder den Zugang zum Nahrungskonsortium weiter einschränken.“
„Nicht nur die Menschen außerhalb des Krom …“, murmelte Fera leise. Juri hörte sie dennoch. „Gibt es etwas, was du mir erzählen möchtest?“, fragte er und stellte die Musik nun aus, indem er ein paar Knöpfe an seinem Pult betätigte.
Fera überlegte, ob und wie viel sie Juri erzählen konnte. „Ich soll ihm einen ‚Gefallen‘ tun, den ich nicht wirklich tun möchte“, sagte sie daher nur kryptisch.
„Ich verstehe“, erwiderte Juri wissend, „hat der Gefallen mit dem alten Fettsack zu tun, mit dem er gerade eine Tour durch sein ‚Reich‘ unternimmt?“ Er bemühte sich sichtlich um einen lockeren Tonfall. Es entging Fera jedoch nicht, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. Er hatte, was sie betraf, einen Beschützerinstinkt entwickelt, von dem sie sich wünschte, Vlad würde sich eine Scheibe davon abschneiden.
Ihr war klar, dass das mit Juris Tochter zusammenhing, die noch vor dem „Ewigen Sonnenuntergang“ gestorben war. Er erzählte ihr oft, wie sehr sie ihr ähnelte, von den hellblonden Locken bis zu der langen Nase, die er immer als Aristokratennase bezeichnete. Fera hoffte jedoch, dass er sie auch um ihrer selbst willen mochte.
„Ja“, antwortete sie lediglich.
Juri seufzte, dimmte das Licht und ließ sich auf seinen Stuhl mit den Rollen fallen. Für heute schien er fertig mit seinen Aufzeichnungen und Einstellungen. Das Dome funktionierte auch ohne konstante Überwachungen und Anpassungen, aber Juri gab Aufgaben nur ungern ab, traute seinen eigenen Mitarbeitern nur bedingt und machte sich stets Sorgen, da er nicht mehr hundertprozentig überwachen konnte, was mit dem westlichen Teil der Kuppel geschah.
„Wirst du mir sagen, wenn du Hilfe brauchst?“, fragte er sie nun und sah sie eindringlich mit seinen grauen Augen an.
Fera verstand nicht, wie er ihr in dieser Sache helfen können sollte, ohne seine eigene Position zu gefährden. Ehe sie etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „Es gibt immer einen Weg … und meistens führt dieser gen Westen.“
Sie blickte auf und sah eine Entschlossenheit und eine Überzeugung in Juris Miene, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Was deutete er hier an? Der Westen war desolat, unstrukturiert, übersät von Vagabunden und marodierenden Gruppen – zumindest hatte man ihr das seit der Spaltung immer wieder eingetrichtert. Aber davon einmal ganz abgesehen, wie sollte sie überhaupt dort hinkommen, geschweige denn das Krom ungesehen verlassen?
„Juri, was …?“, fing sie an, als sie von Mikael unterbrochen wurden, der seinen Kopf durch die Tür streckte und sich, ohne Notiz von ihr zu nehmen, an Juri wandte: „Ich bin hier, um die heutigen Daten abzuholen.“ „Natürlich“, sagte Juri und griff hinter sich, um sein Tablet zu greifen. An Fera gewandt, sagte er: „Es tut mir leid, Fera-Schatz, wir müssen unser Schachspiel ein andermal beginnen.“ Instinktiv wusste sie, dass der alte Wissenschaftler damit keineswegs das Brettspiel mit den eigentümlichen Figuren meinte, das sie so gerne mit ihm spielte.
Kapitel 3: MAX
Der Rückweg zum Camp dauerte etwas länger als beabsichtigt. Ein feiner, aber stetiger Nieselregen hatte eingesetzt – die Art von Regen, die man kaum bemerkt, bis einem plötzlich die Füße durchnässt sind. Max würde seine Skechers vor dem Heizlüfter trocknen müssen, vorausgesetzt es war genug Strom verfügbar.
Am Außenzaun des Camps kam ihm bereits Felix entgegen. Der Junge war eigentlich viel zu jung, um hier an der Ostgrenze auszuhelfen. Der Dienst war freiwillig, niemand wurde gezwungen hierzubleiben. Viele taten es, um ihre Familien zu beschützen oder um ihre Freiheit zu bewahren, denn die Angst, die selbst ernannten Fürsten der „Macht des Ostens“ könnten ihr Gebiet weiter gen Westen ausweiten, war allgegenwärtig. Sie waren klar im Vorteil, hatten die Ressourcen und die bessere Kontrolle über das Dome, schließlich war es dort entwickelt worden. Damals als Meisterstück internationaler Zusammenarbeit gepriesen, war schnell klar geworden, dass sich das Machtstreben Einzelner niemals unterbinden lassen würde, sobald die unmittelbare Gefahr einer menschlichen Apokalypse gebannt gewesen war. Nun kam sie tröpfchenweise, die Apokalypse. Es war Max nicht entgangen, dass die Geburtenzahlen stetig sanken, dass die Lebenserwartung dieser Tage nicht gerade hoch war. Daher war Felix mit seinen zwölf Jahren ein seltener Anblick.
„Max, Max, was hast du gesehen? Was ist in dem Sack da? Wir haben uns schon Sorgen gemacht, du warst viel länger weg, als sonst!“, redete der Junge ohne Punkt und Komma auf ihn ein, als er sich dem Tor näherte. „Vergiss das Atmen nicht, Kleiner“, tätschelte Max ihm kopfschüttelnd den braunen Lockenkopf, „es gab leider einen kleinen Zwischenfall. Weißt du, wo der Colonel steckt? Ich muss ihm davon berichten. Und ich brauche dringend ein Paar andere Schuhe. Kannst du die für mich zum Trocknen bringen? Hüte sie mit deinem Augapfel, ja? Und sag in der Küche Bescheid, was zu essen wäre nicht schlecht.“ Felix nickte eifrig und wartete geduldig, bis Max jeden Schuh einzeln von seinen nassen Füßen gezogen hatte – sein schmerzverzerrtes Gesicht ignorierte der Junge dabei geflissentlich. Er wusste, dass Max nicht darauf angesprochen werden wollte. Dann eilte er mit vollen Händen in eines der Nebengebäude. Max seufzte tief und machte sich auf den Weg ins Hauptgebäude.
„Das ist nicht gut, das ist ganz und gar nicht gut“, schüttelte der Colonel seinen Kopf, als Max ihm von seiner Begegnung in Anselms Hütte berichtete. „Ich hab dem alten Kauz oft genug angeboten, ins Camp zu ziehen, wo wir viel besser auf ihn hätten achtgeben können. Aber er wollte ja nicht, der alte Freigeist, und ich zwinge hier niemanden, wir sind ja nicht im Osten“, witzelte er. Dann wurde er jedoch schlagartig ernst: „Ich werde umgehend ein Team zusammenstellen, wir müssen die Hütte sichern und die Medikamente ins Camp überführen.“ Max vermied es an dieser Stelle, seinen persönlichen Vorrat zu erwähnen.
„Und was waren das für Teenager, die euch überfallen haben? Bist du sicher, dass sie nicht Russisch gesprochen haben?“, fragte der Colonel ihn nun. „Ich kann es nicht hundertprozentig ausschließen, ich war zu dem Zeitpunkt, wie soll ich sagen, etwas abgelenkt“, schmunzelte Max, „aber es hat sich nicht wie eine slawische Sprache angehört. Es war auch kein Deutsch oder Englisch, da bin ich mir ganz sicher, aber vielleicht Flämisch oder so etwas.“
„Hm“, machte der Colonel nur. Er war im selben Alter wie Max und war vor dem „Ewigen Sonnenuntergang“ dabei gewesen, ein duales Studium im Einzelhandel zu absolvieren. Er hatte es nicht beenden können, war aber sehr gut im Organisieren von Arbeitskraft und war stressresistent. Außerdem witzelte er gerne mit Max über das Kaufverhalten der damaligen Kunden. Er hatte diese Ausstrahlung, die Sicherheit vermittelte, ob man ihn nun nach der Haltbarkeit von Erdbeeren fragte oder ob es um die drohende Gefahr aus dem Osten ging. Seine Führungskraft wurde von niemandem hier infrage gestellt, obwohl sich unter den selbst ernannten Schützern der westlichen Union durchaus auch ehemalige Soldaten befanden, denen zumindest in der Theorie Kampfhandlungen nicht fremd waren. Bei dem Großteil der Männer und Frauen des Camps handelte es sich jedoch um junge Leute in ihren frühen Zwanzigern, welche die alte Welt nur vage, wenn überhaupt, in Erinnerung hatten. Der Colonel war für sie ein Vorbild und verkörperte Stabilität.
Nun rieb er sich mit beiden Händen erst über die Augen und dann durch die immer schütterer werdenden, kurzen Haare. Auf einmal wirkte er unheimlich alt und müde – Eigenschaften, die Max selbst nur zu vertraut waren. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas höre. Die Jugendlichen werden rastlos, es gibt hier nichts für sie, keine Perspektive. Die Alten sterben uns weg, Max. Hier an der Grenze ist es besonders schlimm. Jeder nimmt sich, was er kann, und wir können nicht überall sein“, sagte er bekümmert.
Max dachte kurz an seinen heimlichen Medikamentenvorrat und fühlte sich ertappt. War jeder Mensch doch letztlich ein Egoist?
„Doch was ist die Alternative, frage ich dich, sollen wir hier einen Terrorstaat errichten, so wie die da drüben?“, fuhr der Colonel fort. „Der Hauptsitz der westlichen Union erwartet mich in ein paar Wochen. Was soll ich ihnen raten? Max, ich bin hier unabkömmlich, das weißt du. Aber die Kommunikationsverbindungen werden immer unzuverlässiger. Es ist Wochen her, dass ich das letzte Mal mit Caspar sprechen konnte. Die Stromausfälle nehmen zu und …“
„Ich kann für dich gehen“, unterbrach Max den Colonel wie aus heiterem Himmel.
Er wusste selbst nicht, was plötzlich in ihn gefahren war. Das entsprach nicht seiner normalen Verhaltensweise. Er meldete sich nie freiwillig für Einsätze. Er verrichtete, was man ihm auftrug – emotionslos, teilnahmslos, stoisch, verlässlich. Aber nie aus eigenem Antrieb. Hatten die Enthüllungen in Anselms Hütte etwas in ihm geweckt, das er nicht einmal selbst benennen konnte? Der Hauptsitz der westlichen Union lag im Nordwesten, nicht unweit von Colonel Burns’ Einflussgebiet. Anselms Worte kamen ihm unwillkürlich wieder in den Sinn: „Du musst nur einen Weg finden, an die Nordwestgrenze zu gelangen“, hallte es in seinem Kopf wider. Die Mission des Colonels bot ihm die perfekte Gelegenheit, Nachforschungen anzustellen, und auf eine irrationale Weise fühlte er sich dem alten Apotheker dazu verpflichtet.
Der Colonel sah Max überrascht an. „Bist du sicher? Ich muss zugeben, das würde mir ein großes Gewicht von der Brust nehmen.“
„Ja, wie du schon sagtest, du bist hier unentbehrlich, ich dagegen bin nur einer von vielen“, antwortete Max.
Der Colonel sah Max eindringlich an: „Das bist du nicht und das weißt du auch. Ich danke dir nichtsdestotrotz und nehme dein Angebot gerne an. Ich werde dir alle nötigen Daten geben und wir müssen uns die Karten gemeinsam ansehen, um den bestmöglichen Weg zu bestimmen. Du brauchst genügend Verpflegungsstellen und es wäre gut, wenn du zumindest für einen Teil des Weges die alte Bahn nutzen könntest, wenn sie noch fährt …“, abrupt hielt der Colonel inne und sein Blick fiel auf Max’ Füße, die immer noch in durchnässten, löchrigen Socken steckten (er hatte sich nicht die Zeit genommen, sich umzuziehen, bevor er den Colonel traf), „… und ein paar neue Schuhe wären vielleicht auch eine Idee“, endete dieser mit einem Augenzwinkern und hochgezogenen Mundwinkeln. Max antwortete nur: „Die alten sind absolut in Ordnung. Sag mir einfach, wann es losgehen soll.“
Was zur Hölle hatte er sich nur dabei gedacht? Die Nordwestgrenze des Dome war Hunderte von Meilen entfernt. Er befand sich hier im östlichsten Teil von dem, was einmal Deutschland gewesen war, und müsste praktisch in die ehemaligen Niederlande gelangen. Noch dazu müsste er sich erst einmal an der Ostgrenze entlang nach Norden vorarbeiten, um zur alten Bahnstrecke vorzustoßen, die vor der Spaltung eine direkte Verbindung zwischen den beiden Kommandozentralen des Dome im Westen und Osten darstellte. Es sei denn, er war gewillt, die komplette Strecke zu Fuß zurückzulegen. Jedoch würden ihm das wohl nicht einmal orthopädische Skechers ermöglichen.
Was hatte ihn nur geritten? Er war nicht gesund, weit davon entfernt. Jeder Muskel und jeder Knochen in seinem gottverdammten Relikt eines Körpers schmerzte ihn. „Nein, nicht Muskeln und Knochen“, verbesserte er sich, „Faszien. Faszien hatte sie es genannt.“
Er sah Marilyn lebhaft vor sich, wie sie in ihren Shorts und ihrem Sport-BH, den Kopf zwischen den Beinen, eine neue Yoga-Abfolge für ihre Gruppe einstudierte. Dabei lief Punkrock aus den Boxen. Er würde nie verstehen, wie sie sich dabei entspannen konnte. Nicht, dass er etwas gegen die Musik einzuwenden gehabt hätte – es war nur ein solch eigentümlicher Kontrast. Genau wie sie, Marilyn, der perfekte Gegensatz aus feurig und sanft.
„Weißt du, Max, das Problem ist, die meisten Leute denken, wenn der Rücken schmerzt oder das Knie wehtut, müssen sie sich schonen. Bloß nicht bewegen, Painkiller schlucken und gut. Aber das Gegenteil ist der Fall. Gelenke wollen bewegt werden, Muskeln wollen gedehnt werden. Die Faszien müssen sich lockern“, hatte sie ihm endlose Vorträge gehalten, während er nur mit halbem Ohr hingehört hatte, zu abgelenkt von ihren Grübchen, von der kleinen Falte zwischen ihren Augenbrauen, die immer dann erschien, wenn sie sich in Rage redete. Er liebte ihre Begeisterung für das, was sie tat. Beneidete sie gelegentlich sogar. Sie hatte gewusst, was sie mit ihrem Leben hatte tun wollen, während er einfach nur das studiert hatte, was ihm Spaß machte, ohne klares Ziel. Was für eine Verschwendung, dachte er. Und nun war er hier und sie nicht. Was für eine Ungerechtigkeit.
Nun, er würde in seine Schlafkammer gehen, seine Faszien dehnen – was auch immer das war – und auf das Beste hoffen. Vielleicht würde sich Felix auch daran erinnern, ihm etwas zu essen zu bringen. Ohne Frage wäre es ein köstliches Drei-Gänge-Menü, zusammengestellt aus den besten abgelaufenen Konserven, die sich in der Vorratskammer befanden. Früher hatte er versucht, sich gesund zu ernähren, und machte regelmäßig Sport, da er schon damals öfter Schmerzen in seinen Gelenken verspürt hatte. Was würde er nun für eine Pizza geben und einen verdammten frischen Kaffee! Hätte er gewusst, wie sich alles entwickeln würde, hätte er seine damalige Fitnessstudiomitgliedschaft gegen eine Bonuspunktekarte bei Starbucks oder Pizza Hut eingetauscht.
„Sorry, Marilyn, Bewegung hilft bei mir auch nichts mehr. Mein Skelett ist beyond help“, murmelte er zu sich selbst.
Als er die Tür zu seiner Schlafkammer öffnete, wurde Max von einem wimmernden Felix begrüßt, der in der Zimmermitte auf dem Boden hockte und ein undefinierbares Bündel in den Händen hielt. Bei näherem Hinsehen stellte Max fest, dass es sich dabei um seine Skechers handelte oder, besser gesagt, das, was davon noch übrig war. Er traute seinen Augen nicht. Die oberen Hälften beider Schuhe waren rußgeschwärzt, Schnürsenkel und Schuhzungen nicht mehr existent.
„Es tut mir so leid, Max, die Heizung war ganz schwach, also hab ich sie direkt druntergestellt und dann bin ich los, um in der Küche dein Essen zu holen, und als ich wieder kam, rauchten sie oben dran. Ich hab sie gleich weggezogen, ich schwöre es …“, stammelte Felix.
Max sah rot. „FUCK’s SAKE“, brüllte er den Jungen an. „Weißt du eigentlich, was du da getan hast? Nichts, nichts kann man dir anvertrauen, du bist einfach absolut nutzlos. Wie kann man nur so bescheuert sein??!!“
Felix’ Schluchzen wurde lauter und sein schmächtiger Körper schüttelte sich in unregelmäßigen Abständen. „Du solltest ihn nicht so anschreien, er ist ein Kind, und es sind nur ein verdammtes Paar uralte Schuhe“, schoss es Max am Rande seines Ausrasters durch den Kopf. Doch er konnte nicht einlenken. Stocksteif stand er da und starrte mit leeren Augen ins Nichts.
Schließlich beugte er sich vor, um Felix die Überreste der Schuhe zu entreißen. Es brauchte nur dieses leichte Heben seines rechten Arms, eine minimale Drehung seiner Hüfte und er gefror mitten in der Bewegung. Er konnte weder den Arm sinken lassen noch die Hüfte wieder eindrehen. Ein Schraubstock hatte sich um seine Wirbelsäule gelegt und das Epizentrum des Schmerzes sammelte sich in seinen untersten Wirbelgelenken, die sich mal wieder ineinander verhakt haben mussten. Paralysiert stand er da, sich der Absurdität des Ganzen bewusst, während Felix ihn mit tellergroßen Augen anstarrte. Er meinte, sie würden ihm aus den Augenhöhlen fallen, wenn er sich nicht bald rührte. Und dann brach es aus ihm heraus, ein schallendes, allumfassendes Lachen. Felix’ Blick wechselte von bestürzt zu irritiert und dann fing auch er an, zaghaft zu lachen.
„Komm her, Junge, nimm beide Hände und umfasse meine Taille so fest du kannst, ja?“, verlangte Max. Der Junge tat wie geheißen und Max atmete tief ein und senkte seinen Arm ganz langsam. Noch langsamer drehte er seine Hüfte zurück in die Ausgangsposition.
„Ich dachte für einen Moment, du würdest mich schlagen“, sagte Felix kleinlaut.
„Nein, never“, erwiderte Max. Zögerlich legte er seine Arme um den schmalen Körper des Jungen und zog ihn an sich. Es fühlte sich merkwürdig an, jemanden in den Armen zu halten. Er konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern.
„Vergiss, was ich gesagt habe. Es sind nur Schuhe“, beruhigte er Felix.
„Nein, sind sie nicht“, antwortete dieser trotzig, „ich weiß es, Max. Sie erinnern dich an dein altes Leben, oder? Sie sind wie Mrs Himi.“ Max wollte gerade fragen, wovon der Junge sprach, als dieser bereits fortfuhr: „Ich hab sie schon immer gehabt. Ich weiß, dass ich viel zu alt für Kuscheltiere bin, und ich weiß auch gar nicht, was sie für ein Tier sein soll, aber ich erinnere mich, dass meine Mama sie mir gegeben hat … und jetzt ist sie alles, was ich noch von ihr habe.“
Frische Tränen rollten Felix’ Wangen hinunter, als er ein kleines, ramponiertes Plüschtier unter seinem weiten Kapuzenpullover hervorzog. Max fühlte sich zu gleichen Teilen überfordert und gerührt. Fühlte es sich so an, wenn man ein Elternteil war? In einem fernen Winkel seines Kopfes dachte er, dass ihm diese Erfahrung für immer verwehrt bleiben würde. Dies war das Nächste zu einem Vater-Sohn-Moment, was er jemals bekommen würde, also konnte er sich auch anstrengen.
Vorsichtig wischte er Felix’ Tränen mit seinen Handflächen weg und sagte leise: „Zeig doch mal her. Ah, Mrs Himi ist ein Meerschweinchen.“
„Ein Meerschwein? Aber sie sieht gar nicht aus wie die Schweine auf den Bildern, die ich gesehen habe … und wenn, wenn sie im Wasser lebt, dann braucht sie doch Flotten“, bemerkte Felix irritiert. Max musste sich ein Schmunzeln verkneifen. „Du meinst Flossen. Und nein, braucht sie nicht, Meerschweinchen sind – waren – Säugetiere. Die Bezeichnung ergibt nicht wirklich viel Sinn, da hast du recht. In meiner anderen Sprache sogar noch weniger – da heißen sie ‚Guinea Pigs‘.“
„Gieee… was? … Erzählst du mir von ihnen, Max?“, bat Felix nun.
Max wollte den Jungen nicht enttäuschen und war froh, dass sein Kummer der Neugierde gewichen war, aber er spürte nun auch mehr und mehr die Erschöpfung des letzten Tages und seinen Hunger, also erwiderte er: „Okay, das werde ich, aber komm, wir setzen uns jetzt erst mal hin und verspeisen ein paar dieser ‚Köstlichkeiten‘, die du mitgebracht hast.“ Er deutete auf die Ansammlung von Konservendosen auf seinem schmalen Tisch, die der Junge wohl zuvor dort abgestellt hatte. „Mit vollem Magen lässt es sich besser erzählen.“
Felix hatte keine Einwände, also setzten sie sich beide an den Tisch, um die Dosen zu öffnen. Max’ Blick fiel dabei wehmütig auf seine Skechers am Boden. Vielleicht könnte er sie reparieren. Die Sohlen schienen noch genauso gut zu sein wie davor, und darauf kam es an. Die Schnürsenkel hatte er sowieso nie gemocht, er fand es viel zu anstrengend, sich zu bücken, um sie zu schnüren. „Warum habe ich wegen dieser Sache bloß nur so ein Fass geöffnet? Der Junge hat mir in Wahrheit einen Gefallen getan“, lachte Max stumm in sich hinein.
Kapitel 4: FERA
Fera hing mit zitterndem Oberkörper über dem Eimer. Es war das zweite Mal gewesen, dass sie sich an diesem Morgen übergeben hatte. Immer noch spürte sie Igors abgestandenen Atem an ihrem Ohr, als er sich beim Frühstück zu ihr gebeugt hatte, um ihr ins Ohr zu flüstern, dass er sie an diesem Abend in ihrer Kammer besuchen würde. Jaroslaw hatte ihm über den Tisch hinweg zugezwinkert, während Vlad den Blick stoisch auf seine Füße unter dem Tisch gerichtet hielt.
Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, Juri erneut zu treffen, um einen Plan auszuarbeiten. Völlig überraschend waren Jaroslaw und Igor bereits zwei Tage nach Feras Besuch im Labor in völliger Eintracht zurückgekehrt. Offensichtlich hatten sie sich viel schneller einig werden können als erwartet.
Nun blieb ihr keine Zeit mehr. Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen und diesen Abend irgendwie überstehen. Plötzlich kam ihr ein noch viel erschreckender Gedanke: Was, wenn es nicht bei diesem einen Abend bliebe? Was wenn er immer wieder zu ihr käme? Ein erneuter Würgereiz schüttelte sie und sie schmeckte Galle in ihrer Kehle. „Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!“, schalt sie sich selbst. „Es gibt Leute in dieser Welt, die machen weitaus Schlimmeres durch.“
Doch es half alles nichts. Sie rollte sich wie ein Igel auf dem Fußboden zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Von Vlad konnte sie keine Hilfe erwarten. Er hatte versucht, ihr über den Arm zu streichen und sie an sich zu ziehen. Als sie in seine hilflosen Augen blickte, hatten sich ihre Angst und Verzweiflung jedoch unvermittelt in Wut verwandelt und sie hatte ihn angeschrien, er solle verschwinden. Das hatte er kommentarlos getan und nun gab es nur sie in ihrer Kammer und den Eimer.
Es war weit nach 22.00 Uhr, als sie ein leises Klopfen an ihrer Tür vernahm. Erst dachte sie, es sei vielleicht Vlad. Sie hätte sich gefreut, ihn jetzt zu sehen und Trost in seiner vertrauten Umarmung zu finden, doch als sich die Tür ohne ein Wort von ihr öffnete, sah sie, dass es Igor war.
Es musste Frauen geben, denen er gefiel, die ihn möglicherweise sogar als „stattlich“ bezeichneten mit seiner hünenhaften Größe, den breiten Schultern und dem gepflegten Bart. Sie schüchterte das alles nur ein, während sein fassrunder Bauch und das gerötete Gesicht sie einfach nur abstießen. Er schien stets zu schwitzen. So auch jetzt, als er ihr die Hand zur Begrüßung hinhielt.
Sie fasste sie zaghaft und wollte ihre sogleich wieder wegziehen, als er vor ihr auf die Knie fiel und einen Kuss auf ihren Handrücken hauchte. „Was soll dieses Gehabe?“, dachte sie. „Warum tut er so, als wäre er kultiviert?“ Nichts an diesem Abkommen war kultiviert. Zorn stieg erneut in ihr auf und sie versuchte, sich an dieser Emotion festzuhalten. Zorn war weitaus besser als Angst.
„Wollen wir uns nicht hinsetzen, meine Liebe?“, fragte Igor. Fera ging automatisch Richtung Tisch und Stühle, während Igor zielstrebig das Bett ansteuerte. „Gott, er verlor wirklich keine Zeit!“, schoss es Fera durch den Kopf. Wie sollte sie sich verhalten? Sollte sie es schnell über die Bühne bringen oder versuchen, Zeit zu schinden, indem sie ihn in ein Gespräch verwickelte? Noch bevor sie sich für eine der beiden Optionen entschieden hatte, zog Igor sie an sich und presste seine schwammigen Lippen an ihren Hals. Sein Bart kitzelte sie auf unangenehme Art und ihr blieb vor Schreck die Luft weg. „Du bist so wunderschön, Fera, milaja, deine Haut ist wie die eines Engels, ich schwöre es“, nuschelte der Oligarch in ihre Haare.