Getötet - Jim Ford - E-Book

Getötet E-Book

Jim Ford

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Beschreibung

Newcastle ist zwar ein raues Pflaster, doch die tödliche Schlägerei im Park war Teil eines perfiden Plans ...

In einem Park der nordenglischen Arbeiterstadt Newcastle werden zwei Männer erschlagen aufgefunden. Der Fall scheint rasch gelöst: Sofort gerät der Exboxer Walter Oyston, ein notorisch aggressiver Säufer, ins Visier der Ermittler. Unklar ist allenfalls, warum einer der Toten ein ehemaliges Bandenmitglied war, der andere jedoch ein harmloser Bibliothekar. Waren es Zufallsopfer? Oder lag eine Verwechslung vor? Oysten selbst kann dazu nicht mehr befragt werden: Er stirbt an einem Herzinfarkt. Inspector Theo Vos argwöhnt, dass mehr hinter den scheinbar wahllosen Morden steckt. Um die Hintergründe aufzudecken, müssen er und sein Team tief in die Vergangenheit eintauchen. Und dabei wird Vos mit einigen dunklen Erinnerungen konfrontiert ...

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Buch

Newcastle upon Tyne – In einem Park werden zwei männliche Leichen gefunden: ein Bibliothekar und das ehemalige Mitglied einer Bande, die in den siebziger Jahren bewaffnete Raubüberfälle beging. Beide Opfer wurden erschlagen. Der Verdacht fällt sofort auf den ehemaligen Boxer Walter Oyston, der nach seiner Karriere zum brutalen Säufer wurde und durch aggressives Verhalten aufgefallen ist. Doch auch Oyston wird tot im Park aufgefunden; er starb kurz nach den beiden Männern an einem Herzinfarkt. Ist er seinen eigenen Gewaltexzessen zum Opfer gefallen? Und warum hat Oyston die zwei unterschiedlichen Männer ermordet? Oder steckt mehr hinter der Tat als Gewalt unter Alkoholeinfluss? Um die Hintergründe der scheinbar wahllosen Morde aufzudecken, müssen DCI Theo Vos und sein Team tief in die Vergangenheit eintauchen. Und dabei wird Vos selbst mit bösen Erinnerungen konfrontiert und droht die Kontrolle über den Fall zu verlieren …

Informationen zu Jim Ford

und weiteren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

JIM FORD

Getötet

Ein Inspector-Vos-Thriller

Aus dem Englischen

von Jochen Stremmel

Die Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel »Punch Drunk«

bei Constable & Robinson, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe November 2015

Copyright © der Originalausgabe 2014

by Jim Ford

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Gestaltung des Umschlags: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Mark Owen/Trevillion Images

Redaktion: Alexander Behrmann

BH · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-16286-3

www.goldmann-verlag.de

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Für die üblichen Verdächtigen

EINS

Die fünfundfünfzig Jahre von Walter Oystons Erdenzeit waren zum größten Teil von unbarmherziger, kalter Brutalität erfüllt gewesen. Aber er starb an einem perfekten Abend im Frühherbst: Vollmond, wolkenlos und für diese Jahreszeit ungewöhnlich mild, angekündigt von einem ziemlich eindrucksvollen Sonnenuntergang mit dunkelblauroten und goldenen Fäden.

Seine Leiche wurde gegen Viertel nach sechs entdeckt. Der Wachmann einer privaten Sicherheitsfirma, der mit seinem Van seine morgendliche Kontrollfahrt durch den Exhibition Park machte, bemerkte ein Ruderboot aus Holz, das ruhig mitten auf dem künstlich angelegten See lag. Walter Oyston saß vornübergesackt auf dem mittleren Sitzbrett über den Riemen, die immer noch in den Ruderdollen lagen. Um sechs Uhr fünfunddreißig traf ein Streifenwagen auf den Anruf des Wachmanns hin ein. Dreißig Minuten später tauchte die Wasserschutzpolizei mit einem Schlauchboot auf.

Inzwischen ist es zwanzig vor acht, und als Detective Chief Inspector Theo Vos am Tatort ankommt, ist der Park bereits abgesperrt, und ein Team der Spurensicherung richtet sich neben dem Bootshaus aus Beton häuslich ein. Uniformierte Polizisten marschieren paarweise durch die belaubte Einfassung des Sees, der die Form eines zwischen zwei Daumen gedehnten Gummibands hat. Andere durchsuchen den Spielplatz in der Nähe, den Par-3-Kurs, das nicht mehr genutzte Military Vehicle Museum auf dem gegenüberliegenden Ufer und die Ausläufer des Town Moor, das sich an den Park anschließt.

Walter Oyston ist, nachdem er von den Kriminaltechnikern in situ fotografiert und gefilmt worden ist, vom Boot zum Ufer transportiert worden, wo er auf einer Plastikplane auf dem asphaltierten Treidelpfad liegt. Er ist ein kleiner Mann, knapp ein Meter fünfundsechzig, mit einer drahtigen Figur. Er hat ein abgeflachtes Boxergesicht: die Nase dick und unförmig, die offenen Augen wenig mehr als Schlitze unter Polstern von Narbengewebe, der Unterkiefer falsch ausgerichtet, und die Vorderzähne fehlen. Seine Hände sind arthritische Klauen, die Knöchel geschwollen und unregelmäßig und mit Blut beschmiert, das nach oben auf die Ärmel seiner billigen Trainingsjacke aus Nylon und sein Gesicht gespritzt ist.

»Die Boote sind über Nacht in dem Bootshaus festgemacht, aber es sieht so aus, als sei er mit einem Stemmeisen eingebrochen und habe sich bedient«, sagt die diensttuende Detective Sergeant Bernice Seagram. »Die Spurensicherer haben das Stemmeisen. Gemessen an dem Blut daran wurde es auch als Waffe benutzt.« Sie hält einen Beweisbeutel aus durchsichtigem Plastik hoch, der eine zu drei Vierteln geleerte Whiskyflasche enthält. »Das hier war auch in dem Boot.«

»Queen of the Glen?«, sagt Vos, der vom Etikett abliest.

»Sechs Pfund der Liter in allen guten Wein- und Spirituosengeschäften.«

»Walter hatte schon immer Stil.«

Der Pathologe vom Innenministerium, ein Mann namens Tunderman, kniet neben der Leiche und nimmt eine oberflächliche Untersuchung vor, um einen ungefähren Todeszeitpunkt und eine mögliche Todesursache festzustellen.

»Kannten Sie ihn?«, fragt Tunderman, der ein Einstech-Thermometer aus Oystons Leber zieht und sich die Anzeige ansieht.

»Früher mal«, sagt Vos. »Er war Informant, als ich in North Shields stationiert war. Später habe ich gehört, er sei nach Newcastle umgezogen. Hauptsächlich war er einfach ein unangenehmer Zeitgenosse, der um Kleingeld für billigen Schnaps bettelte.«

»Also, er ist seit ungefähr sieben Stunden tot«, sagt Tunderman mit Blick auf die Anzeige. »Es gibt keine äußerlichen Anzeichen, die auf eine Todesursache schließen lassen. Es gibt Verfärbungen und Abschürfungen an den Knöcheln beider Hände – ich überlasse es den Kriminaltechnikern, die Herkunft des Bluts zu bestimmen.« Er steht auf und massiert sich das Kreuz durch das fadenscheinige Material seines Papieranzugs. »Ah, und dann auch noch so ein herrlicher Morgen«, sagt er betrübt, während er zum Himmel hochschaut und ans Golfspielen denkt.

»Mein alter Herr hat mich zum Exhibition Park mitgenommen, als ich klein war«, sagt Seagram. Sie ist eine pummelige Frau mit zackenförmig abstehenden Haaren und zu viel Eyeliner. »Wir haben uns mit all den anderen Samstags-Dads am Spielplatz getroffen.«

»Samstags-Dads?«, fragt Vos.

»Scheidungen, Chef. Arme Säcke, die ihre Kinder nur am Wochenende zu sehen bekamen.«

»Wie deprimierend.«

»Meiner Erinnerung nach war es ein ziemlich lebendiges, geselliges Beisammensein. Einer brachte das Bier mit, ein anderer brachte die Schweinefleischpasteten mit. Mein alter Herr und seine Kumpels saßen herum und hörten sich im Radio das Spiel von Newcastle an, während die Kinder sich austobten.«

Vos schaut auf das stumpfe, graue Wasser des Sees hinaus. »Sind Sie je rudern gewesen?«

Seagram zieht spöttisch eine Augenbraue hoch. »Rudern, Chef? Wir sind schwimmen gegangen.«

»Was? Da drin?«

»Allerdings.«

»Und Sie haben nicht die Cholera bekommen?«

»Sieht so aus. Aber wir waren eine zähe Bande. Ich glaube auch, dass nie einer ertrunken ist.«

»Wie tief ist es?«

»Keine Ahnung. In der Mitte vielleicht drei, vier Meter.«

Vos schüttelt sich. »Herr im Himmel.«

Vos hat eine private Phobie vor innerstädtischen Seen und Flüssen. Einige seiner Freunde sind Polizeitaucher, und er kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als blindlings in diesen Friedhöfen aus Schlick und Schutt herumzutasten, während Einkaufswagen und ausgebrannte Autos aus dem verdreckten Wasser ragen. Bei dem Gedanken daran, in der Dunkelheit nach den obszönen Wasserleichen zu stöbern – Leichen, die in unterirdischen Abflusskanälen, Rohren und Hohlrinnen so eifersüchtig bewacht werden –, wird ihm schlecht.

»Okay«, sagt er, froh, seine Aufmerksamkeit wieder der Leiche auf dem Boden zuwenden zu können. »Wenn das hier die erste des Tages ist, sehen wir uns besser mal die andere an.«

Der Musikpavillon ist knapp zweihundert Meter von dem See in Richtung der lauten Überführung entfernt, die Newcastles Stadtautobahn mit der Great North Road verbindet. Er ist das einzige Überbleibsel der Jubiläumsausstellung von 1887, die dem Park seinen Namen gegeben hat: ein achteckiges Bauwerk mit Kupferdach und kunstvollen, schmiedeeisernen Gittern um das Fundament herum.

Hier wurde an diesem Morgen gegen sechs Uhr vierzig die zweite Leiche gefunden.

»Ein Typ, der mit seinem Hund spazieren ging, hat ihn gefunden«, erklärt Seagram, während sie sich dem Pavillon nähern.

»Erinnern Sie mich dran, falls ich mir je ’nen Hund anschaffe, dass ich nie vor Mittag mit dem Scheißköter vor die Tür gehe«, sagt Vos.

»Der Hundehalter wollte gerade den Notruf wählen, als der Streifenwagen ankam, der nach dem Anruf des Wachmanns hierhergeschickt worden war.«

»Irgendwelche Ausweise?«

»Wir haben Türschlüssel und eine Brieftasche gefunden, in der sich ein Ausweis für die Bibliothek der Newcastle University befand. Der Name auf dem Ausweis ist Lawrence Darroch. Keine Adresse, aber wir werden es an der Uni nachsehen lassen, sobald sie aufmacht.«

»Die Brieftasche war bei dem Toten?«

»In seiner Innentasche. Außerdem waren dreißig Pfund darin.«

Um den Musikpavillon herum sind Stellwände errichtet worden. Drinnen widmet sich ein zweites Team von Kriminaltechnikern dem Tatort. Sie haben einen Trampelpfad aus erhöhten Metallplatten auf dem Betonboden gebaut, um den Tatort nicht zu kontaminieren, und irgendwelche Abfälle und Ablagerungen auf dem Boden mit nummerierten Plastikschildchen gekennzeichnet.

»Für einen Studenten sieht er ein bisschen alt aus«, sagt Vos.

Lawrence Darroch ist ein weißer Mann von Mitte bis Ende fünfzig. Er trägt eine Windjacke, eine Jeans aus dem Supermarkt und ein hellblaues Hemd, das blutgetränkt und aufgeplatzt ist, sodass man einen großen, blassen Bauch sehen kann. Er hat einen graumelierten Bart und einen dichten, silbernen Haarschopf, die beide mit getrocknetem Blut verklebt sind. Sein Gesicht ist geschwollen und von Blutergüssen entstellt, und um seine Augen, Wangenknochen und Schläfen herum gibt es tiefe Risswunden. Die Leiche liegt mit dem Gesicht nach oben gegen einen der Gitterabschnitte gelehnt. Obwohl nicht der Versuch gemacht wurde, sie zu verstecken, wäre sie von dem Pfad aus nicht sofort zu sehen gewesen.

»Tunderman hat ihn schon gesehen, nehme ich an?«, sagt Vos.

Seagram nickt. »Er glaubt, der Todeszeitpunkt war ungefähr der gleiche wie bei Oyston. Die Ursache ist anscheinend ein Kopftrauma.«

Vos schaut sich in dem Pavillon um. Er fühlt sich an einen Boxring erinnert, in dem ein besonders brutaler und einseitiger Kampf stattgefunden hat.

»Glauben Sie, Walter Oyston hat das hier getan, Chef?«, fragt Seagram.

»Unter diesen Umständen müssen wir uns meiner Ansicht nach nicht zieren, Bernice«, erwidert Vos.

Sein Blick fällt auf den Leichenspürhund, der auf der anderen Seite des Pavillons mit seinem Führer aus den Büschen aufgetaucht ist. Der Hund heißt Max, ein Golden Retriever, der Vos an den Hund erinnert, den er als Kind hatte – abgesehen davon, dass Hector die meiste Zeit damit verbrachte, Speisereste in der Küche zu erschnüffeln, während Max darauf trainiert ist, den Geruch von verwesenden Menschenleibern zu entdecken. Max scheint eine ziemlich optimistische Berufsauffassung zu haben. Wenn er nicht sein Training absolviert hätte, könnte er die Büsche genauso gut nach dem verräterischen Duft von Hundepisse durchstöbern, mit der ein Konkurrent einen Baumstamm markiert hatte. Er hat es anscheinend mit seiner Tätigkeit nicht besonders eilig. Er sucht einfach den ihm zugewiesenen Bereich ab, bis er sich davon überzeugt hat, dass er leichenfrei ist, und geht dann weiter zum nächsten. In dieser Hinsicht erinnert er Vos an sich selber. Schließlich sind sie beide in der gleichen Branche tätig. Sie sind beide aus demselben Grund hier im Exhibition Park – um Leichen zu erschnuppern.

Die Mitglieder der Major Crime Unit von DCI Vos verrichten ihre Schreibtischarbeit in einem trostlosen Großraumbüro im zweiten Stock der Polizeistation West End an der Westgate Road. Offiziell wird der Raum als 23E bezeichnet, aber jeder kennt ihn unter seinem inoffiziellen Namen: das Bug House. Seinen Spitznamen hat es von dem Porträt eines seit Langem toten Stadtverordneten namens W. James Buglass, das in einem verschnörkelten Goldrahmen neben der Tür hängt. Stadtverordneter Buglass spielte bei der Entstehung der Stadtpolizei von Newcastle upon Tyne im neunzehnten Jahrhundert eine entscheidende Rolle, und sein Porträt hatte in der alten Polizeidirektion West End am Arthur’s Hill einen Ehrenplatz; vor nicht allzu langer Zeit gewann Detective Constable Phil Huggins es bei einer Pokerpartie, und mittlerweile sind die Unterschriften aller Detectives, die derzeit in der Abteilung arbeiten, auf Buglass’ üppigen, weißen Koteletten verewigt.

Es ist dreizehn Uhr. Seitdem die Leichen im Park gefunden wurden, sind knapp sieben Stunden vergangen, und Buglass’ bärtiges Antlitz blickt Huggins und seinen Kollegen DC John Fallow quer durch den Raum finster an. Huggins ist ein großer Mann von eins sechsundneunzig mit einer von Natur aus langgliedrigen, kräftigen Figur; Fallow ist von durchschnittlicher Größe und mit einem Körperbau gestraft, der den Eindruck erweckt, als hätte er seinen Babyspeck noch nicht verloren. Sie betrachten eine kleine Collage von Verbrecher- und Tatortfotos, die an einem großen Whiteboard an der Wand angebracht sind.

»Hast du ihn gekannt?«, fragt Fallow. »Walter Oyston?«

»Warum sollte ich ihn kennen?«

»Du hast früher drüben in der Central Division gearbeitet, oder?«

»Er war ein Säufer«, sagt Huggins. »Ich bin wahrscheinlich ein paarmal über ihn gestolpert, aber gekannt habe ich ihn garantiert nicht.«

»Anscheinend war er vor langer Zeit einer der Informanten vom Chef.«

»Ist das der Grund, weshalb uns die Ermittlungen übertragen worden sind?«

»Vielleicht. Vielleicht ist der Chef nach all diesem Scheiß mit Alex auch nur scharf darauf, sich mit was anderem zu beschäftigen.«

Huggins nickt, während er an Vos’ sechzehnjährigen Sohn denkt und daran, was ein Verrückter namens Jimmy Rafferty vor knapp einem Monat mit ihm angestellt hat.

Die Tür zum Großraumbüro der Major Crime Unit geht auf, und DC Kath Ptolemy kommt mit grimmigem Gesicht hereinmarschiert. Ptolemy ist vierundzwanzig, schlank und blond, und sie ist das neueste Mitglied des Bug-House-Teams. Hinter ihr betritt DC Mayson Calvert den Raum, ein Mann mit Hornbrille, schütterem Haar, einem schlecht sitzenden Anzug von der Stange und dem Aussehen eines Bücherwurms. Den ganzen Vormittag sind sie in Brandling Park gewesen, dem ausschließlich Reichen vorbehaltenen Viertel nördlich des Stadtzentrums, das dem Exhibition Park und den Schauplätzen der beiden Morde am nächsten liegt, um von Tür zu Tür zu gehen und die Anwohner zu befragen.

»Morgen, Cleo«, sagt Huggins. Er stupst Fallow an, der müde den Kopf schüttelt. Huggins kann es nicht lassen, seine lahmen Anspielungen auf den ägyptischen Beiklang von Ptolemys Nachnamen zu machen, obwohl ihr Mann ein aus Zypern stammender Grieche ist. »Wie ist die Befragung gelaufen?«

»Was glaubst du denn?«, sagt Ptolemy mürrisch und wirft die Handtasche auf ihren Schreibtisch. »Niemand hat irgendwas um Mitternacht gehört oder gesehen, und dann streitet sich Mayson auch noch mit einer hochnäsigen Kuh über Polizeimethoden.«

»Ich hab mich nicht gestritten«, sagt Mayson gleichmütig. »Die Dame hat für mehr Polizeibeamte auf den Straßen plädiert. Ich hab sie nur über die Tatsachen informiert.«

Noch einmal schüttelt Fallow den Kopf. »Nicht wieder die Drohnen, Mayse!«

»Doch, schon wieder die verdammten Drohnen«, sagt Ptolemy.

Mayson Calvert hat seine Recherchen durchgeführt und ist felsenfest davon überzeugt, dass die gegen Terroristenorganisationen in Pakistan und im Nahen Osten verwendete Technologie der Überwachung durch Drohnen weitaus effektiver und wirkungsvoller bei der Verbrechensbekämpfung hierzulande wäre als das traditionelle Patentrezept, mehr uniformierte Polizisten auf Streife zu schicken.

»Die statistischen Daten sind verfügbar, wenn ihr euch nur die Mühe machen wollt, sie zu lesen«, sagt Calvert mit dem ungehaltenen Ton eines Mannes, der sein Leben damit verbringt, Ungläubigen das Offensichtliche zu predigen, während er sich auf den Weg zu seinem Schreibtisch macht.

»Ich wäre nur interessiert, wenn die Drohnen mit Waffen ausgestattet sind«, sagt Huggins. »Unser Job wäre viel einfacher, wenn man drei oder vier stadtbekannte Tyneside-Schlitzohren mit einem oder zwei gezielten Angriffen ausschalten könnte. Finden Sie nicht auch, DC Ptolemy?«

Ptolemy ist zu sehr damit beschäftigt, sich in ihren Computer einzuloggen, um zuhören zu können. »Wo ist der Chef?«

»Mit Bernice im Leichenschauhaus«, sagt Fallow. »Sie sind auf dem Weg zurück.«

»Egal«, sagt Huggins, der sich Ptolemy nähert und mit einer Arschbacke auf der Ecke ihres Schreibtischs Platz nimmt. »Du hast gar nicht gefragt, wie Johnny-Boy und ich den Vormittag verbracht haben.«

Ptolemy schenkt ihm ein süßes Lächeln. »Ich bin davon ausgegangen, dass du es inzwischen erwähnt hättest, wenn ihr etwas rausgefunden hättet.«

Als Vos zurückkehrt, ist es halb zwei. Er geht direkt in sein Büro und wirft sein Jackett über die Rückenlehne des nächsten Stuhls, bevor er sich das Telefon schnappt. Hinter ihm kommt Bernice Seagram, das rundliche Gesicht gerötet von der Hitze und der Anstrengung, die Treppe zum zweiten Stock hochzulaufen, ohne sich vom entschlossenen Schritt ihres Chefs abhängen zu lassen.

»Besprechung in fünf Minuten«, sagt sie, bevor sie Vos in sein Büro folgt und die Tür hinter sich zumacht.

»Ich bin mir nicht sicher, ob mir das runderneuerte Schoßhündchen Bernice Seagram gefällt«, sagt Huggins nachdenklich.

»Es wird schlimmer, falls sie den Job bekommt«, stellt Fallow fest.

»Natürlich bekommt sie den Job«, sagt Ptolemy.

Huggins zuckt mit den Achseln. »Besser das Übel, das man kennt, vermute ich.«

Nach ein paar Minuten tauchen Vos und Seagram aus dem Büro auf. Seagram stellt sich neben die Wandtafel, während Vos auf der Ecke eines Schreibtischs Platz nimmt.

»Okay, das Ergebnis der vorläufigen Obduktion läuft darauf hinaus, dass Oyston einen schweren Herzinfarkt erlitten hat«, beginnt Seagram. »Lawrence Darroch ist an stumpfer Gewalteinwirkung auf Kopf und Unterleib gestorben. Eine Kombination aus Fäusten, Stiefeln und etwas Hartem und von Menschenhand Gemachtem, höchstwahrscheinlich das Stemmeisen, das wir in dem Boot gefunden haben. Das Blut an Oystons Händen und an seiner Kleidung wird derzeit daraufhin untersucht, ob es mit dem von Mr Darroch übereinstimmt.«

Huggins pfeift leise. »Das ist eine herbe Tracht Prügel für einen simplen Raubüberfall.«

»Wir wissen nicht, ob es ein Raubüberfall war, Phil«, sagt Seagram. »Die Brieftasche des Opfers war noch in seinem Jackett, und es waren dreißig Pfund drin.«

»Was ist denn sonst das Motiv?«

»Ihr solltet nicht davon ausgehen, dass es ein Motiv für diesen Totschlag gibt«, sagt Vos grimmig, wobei er das verzerrte Gesicht Walter Oystons, das vor ihm an der Tafel hängt, nicht aus den Augen lässt. Dann dreht er sich um. »Phil? John? Was wissen wir über Lawrence Darroch?«

Fallow geht zu der Wandtafel und klopft mit dem Fingernagel gegen eine vergrößerte Fotokopie vom Gesicht des Toten, die von dem Bibliotheksausweis gemacht wurde, den man in seinem Jackett gefunden hat. Das Bild ist eine körnige Reproduktion und weist kaum eine Ähnlichkeit mit dem zermalmten Sack aus Blut und zertrümmerten Knochen auf, der das Gesicht auf dem Tatortfoto daneben darstellt. Tatsächlich sind der Bart und der dichte Haarschopf die einzigen sichtbaren Ähnlichkeiten zwischen den beiden Köpfen.

»Lawrence Edward Darroch, achtundfünfzig Jahre alt. Derzeitige Adresse: Apartment 31, Claremont Road. Dem Personalbüro der Universität zufolge arbeitet er dort seit drei Jahren als Bibliothekar. Sie wollen uns alle seine Unterlagen schicken, und wir überprüfen seinen Hintergrund nach irgendwelchen früheren Arbeitsplätzen.«

»Claremont Road? Das ist nicht weit vom Exhibition Park«, sagt Seagram.

Fallow nickt. »Das ist ein Spaziergang von knapp zwanzig Minuten zu Fuß vom Musikpavillon. Phil und ich haben ihn heute Morgen gemacht.«

»Und?«

»Stinknormales möbliertes Zimmer im ersten Stock«, sagt Huggins. »Da fehlt unverkennbar die Hand einer Frau.«

»Du musst dich wie zu Hause gefühlt haben«, sagt Seagram lächelnd.

Huggins erwidert das Lächeln eisig. »Die alte Lady im Erdgeschoss meinte, das Opfer hätte allein gewohnt und die Gesellschaft anderer gemieden. Sie scheint zu glauben, dass er verheiratet war, seine Frau aber vor einiger Zeit gestorben ist.«

»Was ist mit Vorstrafen?«, fragt Vos.

Fallow schüttelt den Kopf. »Nicht mal ein Strafzettel wegen Falschparken, Chef.«

»Ich will alles über diesen Mann wissen, zum Beispiel aus welchem Grund er mitten in der Nacht durch den Park gegangen ist. Er klingt nicht wie jemand, der Walter Oyston in seinen Bekanntenkreis aufnehmen würde, aber ich traue auch Männern nicht, die allein wohnen und anderen Menschen aus dem Weg gehen.« Er wendet seine Aufmerksamkeit Ptolemy und Mayson Calvert zu. »Was ist mit der Befragung der Anwohner? Irgendwelche Erkenntnisse?«

Ptolemy zuckt mit den Achseln. »Es gibt zwei Pubs in Brandling Park, beide in fußläufiger Entfernung vom Pavillon; ein paar Anwohner haben gesagt, sie hätten laute Stimmen um die Rausschmeißzeit herum gehört, aber daran ist offenbar nichts Ungewöhnliches. Ist eine Art Studentenkneipe.«

»Ich hab die Aufzeichnungen der Überwachungskameras von gestern Nacht«, sagt Mayson Calvert. »Außerdem werde ich Downloads von den Straßenkameras in der Nachbarschaft anfordern.«

Vos sagt eine Weile nichts, dann geht er zu der Wandtafel und starrt die Fotos der beiden Toten an. »Was ist mit den nächsten Angehörigen von Darroch?«, fragt er.

»Bis jetzt nichts«, erwidert Fallow.

»Nun ja, es muss irgendwelche Leute geben, denen es nicht am Arsch vorbeigeht, dass er tot ist«, sagt Vos. »Die müssen wir finden. Das sind wir dem armen Schwein schuldig.«

Vos wohnt in einem schmalen dreistöckigen Haus am St. Peter’s Basin, ungefähr eine Meile östlich von der Tyne Bridge. Der Balkon vor seinem Schlafzimmer bietet eine Aussicht über die Boote im Jachthafen, und an den drei oder vier Tagen, wenn die Temperaturen in Newcastle dreißig Grad erreichen, kann er die Sonne über der Stadt untergehen sehen und sich fast einbilden, er wäre in Monaco oder Saint-Tropez. Aber heute Abend ist es knapp sechs Grad kalt, und ein scharfer Westwind kommt über den Fluss herein, und Vos sitzt mit einem Whisky, einer Café-Crème-Zigarre und einer Decke über den Knien auf einem Campingstuhl, und gelegentlich durchfährt ihn ein Schauer, während er über die Ereignisse des Tages nachdenkt.

Vos ist zweiundvierzig Jahre alt, und er ist lange genug bei der Polizei gewesen, um zu wissen, dass der Beruf Mist mit sich bringt. Er hat sich nie modischer Existenzangst hingegeben; er konnte immer schon gut abschalten und eine Trennungslinie zwischen Beruf und Privatleben ziehen. Seine Laufbahn als Detective wurde nie von einem schwermütigen Jazz-Soundtrack begleitet, und er versucht, seinen Alkoholkonsum in vernünftigen Grenzen zu halten. Heute Abend kann er allerdings die Trostlosigkeit nicht abschütteln, die sich seiner bemächtigte, als er heute Morgen in das zerschlagene Gesicht Lawrence Darrochs blickte. Er kann aber auch nicht erkennen, aus welchem Grund ihm die Ermordung Darrochs derart zu schaffen macht. Es ist weder die ungeheure Sinnlosigkeit seines Todes – Herrgott, gab es denn ein Mordopfer, dessen Tod keine heillose Verschwendung eines Lebens war – noch dessen Schäbigkeit; Darrochs Leiche hatte in dem Musikpavillon im Exhibition Park gelegen wie eine weggeworfene Chipstüte, aber das war nichts Ungewöhnliches. Er hat den gleichen Anblick hundert Mal in hundert Gassen und Gräben und auf brachliegenden Grundstücken gesehen.

Vielleicht liegt es an Darroch selbst, denkt er. Die Geschichte, die sich aus der Akte des Opfers ergibt, ist die eines Mannes, dessen schwindelerregender Absturz durch seine brutale Ermordung sein krönendes Ende findet. Bis vor vier Jahren hatte Darroch einen kleinen, unabhängigen Verlag im County Durham betrieben, aber der war bankrottgegangen, und Darroch hatte ihn am Ende praktisch über Nacht verloren. Ungefähr um die gleiche Zeit wurde seine Frau krank. Brustkrebs. Darroch verkaufte das Haus und gab alles Geld, was er noch übrig hatte, dafür aus, dass sie sich in den Vereinigten Staaten einer besonderen Therapie unterziehen konnte, aber zwei Jahre später war sie tot. Seitdem hatte er zur Miete in einem möblierten Zimmer gewohnt, das auf die Stadtautobahn hinausging, und in der Universitätsbibliothek für einen Hungerlohn gearbeitet, wobei er zweifellos sein Möglichstes versucht hatte, ein bisschen Freude in sein tristes Leben zu bringen.

Und dann war er in einer dunklen Nacht Walter Oyston über den Weg gelaufen.

Natürlich würde das Ermittlungsteam seine Bemühungen fortsetzen, eine Art Verbindung zwischen dem Opfer und dem Mörder herzustellen, irgendwas, das den Ereignissen im Exhibition Park einen Sinn verleihen könnte, aber sowohl sein Verstand als auch sein Gefühl sagen Vos, dass Darroch aller Wahrscheinlichkeit nach einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Warum? Weil Vos Walter Oyston kannte. Er weiß, was Oyston mit seinen bloßen Händen anrichten konnte und dass er eine Zeitbombe war, die jeden Tag explodieren konnte.

Und da ist noch etwas. Am späten Nachmittag war ein vorläufiger gerichtsmedizinischer Bericht im Bug House eingetroffen. Dass das Blut an Oystons Händen und an dem Stemmeisen mit dem des Opfers übereinstimmte, hatte niemanden überrascht. Aber im Labor waren auch Spuren entdeckt worden, die weder zu Darroch noch zu Oyston gehörten – was entweder nichts zu sagen hatte oder aber bedeuten konnte, dass es mehr als ein Opfer gab. Ein Opfer, das sich entweder noch nicht gemeldet hat oder dessen Leiche noch darauf wartet, entdeckt zu werden.

ENDE DER LESEPROBE