Gewitterstille - Sandra Gladow - E-Book

Gewitterstille E-Book

Sandra Gladow

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Beschreibung

Staatsanwältin Anna Lorenz ermittelt wieder

Ganz Lübeck leidet unter der hochsommerlichen Hitze, als Staatsanwältin Anna Lorenz vom unerwarteten Tod ihrer Nachbarin erfährt. Zunächst sieht alles nach einem natürlichen Ableben der alten Dame aus, doch als Anna auf eigene Faust Nachforschungen anstellt, entdeckt sie merkwürdige Ungereimtheiten. Sie erhält Unterstützung von dem attraktiven Kommissar Bendt, der ihr auch zur Seite steht, als die sechzehnjährige Sophie, Annas Untermieterin, plötzlich verschwindet. Hat jemand das Mädchen entführt, weil es Zeugin eines Verbrechens wurde? Gemeinsam machen Bendt und Anna sich auf die Suche, denn alles deutet darauf hin, dass ein eiskalter Killer Sophie in seiner Gewalt hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Die Autorin Sandra Gladow im Gespräch

Nach Ihrem erfolgreichen Krimidebüt Eiswind folgt nun mit Gewitterstille der zweite Fall für Staatsanwältin Anna Lorenz. Was hat sich seit Eiswind in Annas Leben verändert?

Anna ist inzwischen Mutter geworden, und das stellt ihr Leben – wie das einer jeden Mutter – gewaltig auf den Kopf. Außerdem steht sie emotional zwischen zwei Männern: ihrem Jugendfreund Georg, der auch der Vater ihrer kleinen Tochter Emily ist, und dem attraktiven Kommissar Bendt. Das alles könnte Anna sicher problemlos meistern, wäre da nicht ihre Untermieterin, die achtzehnjährige Sophie, für die sie sich verantwortlich fühlt. Als Sophie plötzlich verschwindet, droht Annas Leben aus den Fugen zu geraten.

Sie arbeiten selbst als Staatsanwältin in Hamburg und sind Mutter von zwei kleinen Kindern. Wie finden Sie die Zeit für Ihre Romane? Haben Sie einen Lieblingsplatz, an den Sie sich zum Schreiben zurückziehen?

Das Gerücht, dass Beamte im Dienst durchschlafen und nicht arbeiten müssen, kann ich nicht bestätigen. Meine Verabredungen mit Anna Lorenz finden unter der Woche nie vor acht Uhr abends statt – Anna und ich sind also quasi Nachtmenschen. Meinem Mann Kai verdanke ich es, den einen oder andern Sonntag am PC sitzen und schreiben zu können, während er unsere Kinder im Safari-Park oder andernorts vergessen lässt, dass sie mich vermissen könnten.

An meinem Lieblingsplatz zum Schreiben – einer traumhaften Villa in der Provence mit Blick auf die Weinberge – arbeite ich übrigens täglich. Gegenwärtig schreibe ich allerdings noch an unserem Küchentisch mit Blick auf einen Kinder-Kaufmannsladen nebst vollautomatischer Registrierkasse aus lila Hartplastik. Mag meine Fantasie mich auch manchmal entführen, mein Lebensglück liegt genau hier.

Welche Ihrer Figuren sind Ihnen beim Schreiben ganz besonders ans Herz gewachsen?

Anna, die Kommissare Bendt und Braun, aber auch Georg sind Menschen, die mir mit jedem Anna-Lorenz-Krimi vertrauter werden und deren Stärken, aber vor allem auch kleine Schwächen ich schätzen und lieben gelernt habe. In jeder dieser Figuren steckt ein Stück von mir selbst oder von Menschen, die mir am Herzen liegen.

Zur Autorin

Sandra Gladow, geboren 1970, war als Anwältin beschäftigt, bis sie 2002 in ihrer Geburtsstadt Hamburg zur Staatsanwältin ernannt wurde. Parallel zu ihrer juristischen Tätigkeit arbeitete sie bereits als Konzeptentwicklerin, Redakteurin und Drehbuchautorin. Nach Eiswind (2011) ist Gewitterstille ihr zweiter Kriminalroman um die Lübecker Staatsanwältin Anna Lorenz. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hamburg.

SANDRA GLADOW

Gewitterstille

Kriminalroman

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Copyright © 2012 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Redaktion | Angelika Lieke Umschlaggestaltung | t.mutzenbach design, München Umschlagmotiv | © mauritius images/imagebroker/Katja Kreder Satz | Leingärtner, Nabburg ISBN 978-3-641-08757-9V003
www.diana-verlag.de

Für Jan und Martha

Prolog

Christoph Kessler hatte sich in sein Arbeitszimmer im Souterrain zurückgezogen. Die Gewitterwolken, die sich zuvor so verheißungsvoll am Himmel versammelt hatten, waren vorübergezogen, und die Hitze lag wie ein schwerer, dunkler Teppich über der Stadt. Aber hier unten war es wenigstens einigermaßen erträglich. Er ließ sich in seinen Schreibtischstuhl sinken, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich damit über das schweißnasse Gesicht. Angewidert bemerkte er die großen Flecke, die sich unter den Achseln dunkel vom Hellblau seines Oberhemdes absetzten. Als er noch jung war, hatten ihm die heißen Sommer lange nicht so zu schaffen gemacht. Schnaufend zog er die unterste Schreibtischschublade auf und griff nach der Cognac-Flasche. Er füllte sein Glas drei Fingerbreit, schwenkte es unter der Nase hin und her und genoss den Moment, als die goldene Flüssigkeit schließlich seine Kehle hinunterrann. Erschöpft schloss er die Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er einen weiteren Knopf seines Hemdes öffnete. Wieder einmal hatte er zu viel gegessen. Er schaffte es einfach nicht, sich zurückzuhalten. Das Steak lag ihm wie ein Stein im Magen, als wolle es ihn für seine Fresssucht bestrafen. Er füllte sein Glas ein weiteres Mal, bevor er nach Briefblock und Füllhalter griff und zu schreiben begann.

Liebe Luise,

ich danke Dir für Deinen Brief und Dein Angebot, zu uns zu kommen, um mich zu unterstützen. Ich fürchte nur, die Reise wird gerade jetzt schon wegen der Temperaturen allzu beschwerlich für Dich sein und uns am Ende auch nicht weiterbringen. Denn auch Du wirst sie nicht umstimmen können. Die Zustände hier sind unverändert, und ich bin in größter Sorge. Ich glaube, dass es das Beste sein wird, wenn …

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie war kalt und schweißnass. Mit zittrigen Fingern kramte er erneut sein Taschentuch hervor. Die Übelkeit packte ihn mit nie da gewesener Heftigkeit. Vor seinen Augen hingen dichte dunkle Schleier. Mit zitternden Beinen stand er auf, tastete sich zum Sofa hinüber, sackte jedoch unmittelbar davor zu Boden. Es war, als trüge er eine unsichtbare Krawatte, die ihm erbarmungslos die Luft abschnürte. Keuchend stieß er einige verzweifelte Hilferufe aus, aber niemand schien ihn zu hören. Im Haus blieb es still. Der Angstschweiß drang jetzt aus jeder Pore seines Körpers. Seine Augen, vor denen der Raum zu verschwimmen begann, suchten nach dem Telefon. Stöhnend kroch er auf allen vieren den endlos erscheinenden Weg zurück zum Schreibtisch, aber er hatte nicht genug Kraft, sich aufzurichten. Er reckte den Arm in die Höhe und tastete nach dem Apparat. Endlich gelang es ihm, das Telefon neben unzähligen weiteren Gegenständen vom Schreibtisch zu wischen. Die Ziffern der Anzeige flimmerten vor seinen Augen. Panisch versuchte er seinen Blick zu fokussieren und den Notruf zu wählen. Sein Keuchen wich schließlich einem verzweifelten Wimmern, bevor seine Angst endlich von einer herrlichen Ruhe abgelöst wurde, die sich wie ein schützender Mantel über ihn legte.

1. Kapitel

Anna ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallenund atmete auf. Draußen war es seit Tagen brütend heiß, und allein der Weg vom Auto zum Haus hatte ausgereicht, um ihr den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Sie streifte ihre Flip-Flops ab. Der Steinfußboden war angenehm kühl. Bei dieser Hitze schien selbst ihr kurzes Sommerkleid noch zu viel zu sein.

»Ich bin wieder da«, rief sie.

»Hallo, wir sind im Wohnzimmer.« Georgs angenehme Stimme klang gut gelaunt.

»Ich bin gleich bei euch!« Anna beeilte sich, die Lebensmittel in dem großen amerikanischen Kühlschrank zu verstauen, den sie aus ihrem Haus am Priwall mitgenommen hatte. Das Gerät mit den Edelstahlfronten sah in der kleinen Küche mit den weißen Einbauschränken zwar etwas deplatziert aus, bot allerdings unglaublich viel Platz.

»Was ist das denn?«, fragte sie, während sie vorsichtig über den Karton und die Plastikteile stieg, die überall auf dem Parkett im Wohnzimmer verstreut lagen.

»Das ist eine Kinderküche mit integriertem Grill und Tiefkühlschrank – super, oder?« Georg war sichtlich begeistert.

Anna hob die kleine Emily hoch, die ihre Ärmchen sofort um ihren Hals schlang und ihre Hände in der dunklen Lockenmähne ihrer Mutter vergrub. Anna nahm ihr ein Stück des Pappkartons aus der Hand, an dem Emily gerade genüsslich kaute. Ihr Kopf war schweißnass, und in ihrem Nacken kräuselten sich die Babylöckchen. Auch ihr machte die Hitze sichtlich zu schaffen.

»Mama da!« Emily streckte den Arm in Georgs Richtung aus.

»Papa«, berichtigte Georg, während er eifrig weitere Teile auspackte und das Verpackungsmaterial links von sich zu einem hohen Berg auftürmte.

Die Begeisterung, die Emily empfand, wenn Georg in ihrer Nähe war, rührte Anna. Emily vergötterte ihren Vater. In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass er seine Mittagspause oder angeblich ausgefallene Kundentermine nutzte, um unangemeldet in ihrer Tür zu stehen und Emily einen spontanen Besuch abzustatten.

»Guck mal, Anna, ist das nicht toll? Zu der Küche gehört ein komplettes Kochset. Wenn du willst, könnte Emily dir gleich ein Steak oder auch ein Spiegelei braten.« Georg hob eine Tüte mit diversen Plastiklebensmitteln in die Höhe und wedelte damit durch die Luft.

»Mama, jamjam.« Emily begann auf Annas Arm ungeduldig zu strampeln. Anna stellte sie vorsichtig auf ihre nackten Füßchen, auf denen sie prompt wie ein betrunkener Seemann auf Georg zuwankte, der sie auffing und zwischen seine Beine auf den hellen Flokatiteppich setzte. »Der Papa muss arbeiten.« Georg fischte die Aufbauanleitung unter seinem offenbar achtlos zu Boden geworfenen Businesssakko und seinen Schuhen hervor und klemmte sich diese zwischen die Zähne, während er sich weiter durch den Wust von Gegenständen arbeitete. Die Ärmel seines weißen Oberhemdes hatte er ebenso aufgekrempelt wie seine helle Anzughose. Er lachte, als Emily seine nackten Füße kitzelte, und revanchierte sich gleich darauf bei seiner Tochter, die vor Vergnügen laut quietschte. Wieder einmal musste Anna feststellen, wie sehr Emily ihrem gut aussehenden Vater glich. Schon jetzt war zu erahnen, dass sie einmal ein bildhübsches Mädchen werden würde. Sie besaß Georgs kluge dunkle Augen ebenso wie seine hohen Wangenknochen und die schmale, markante Nase, die Georg sein aristokratisch anmutendes Äußeres verlieh.

Dann fiel Annas Blick wieder auf das Chaos aus überdimensionierten Plastikteilen und den riesigen Karton auf dem Fußboden.

»Woher hast du dieses Monstrum? Und was zum Teufel soll ich damit?«, rief sie aus.

»Wieso du?«, gab Georg ungerührt zurück. »Diese Küche ist nicht für dich, sondern für Emily. Das gehört zur unverzichtbaren Grundausstattung.«

»Zur Grundausstattung? Falls es dir entgangen sein sollte, Emily ist erst ein Jahr alt, und die Kinder auf dem Karton dort sind mindestens vier.« Anna deutete auf die Verpackung und begann, die Plastikhüllen aufzusammeln und in den leeren Karton zu werfen. Georg zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht mehr, wo ich mit dem ganzen Krempel hinsoll, den du uns dauernd anschleppst. Wir brauchen wirklich noch keine Küche für Emily. Ich hatte überhaupt keine Küche als Kind und bin auch zurechtgekommen.«

Anna setzte eine betont strenge Miene auf, konnte sich jedoch ein Schmunzeln nicht verkneifen. Georg blickte sie herausfordernd an.

»Das bestätigt mir, dass ich mit diesem Einkauf goldrichtig liege. Dann wird Emily mit etwas Glück vielleicht eine bessere Köchin als du. Man kann gar nicht früh genug damit anfangen, ein Mädchen in die richtige Richtung zu lenken«, sagte er mit einem Zwinkern.

»Sehr witzig. Ganz ehrlich, Georg, ich habe überhaupt keinen Platz für dieses Ding.« Anna konnte anhand der Größe der Bauteile erahnen, welche Dimensionen das Spielzeug haben würde, wenn es erst einmal aufgebaut war. Und ganz abgesehen von der Größe fand sie auch den lila Farbton des Monsters einfach grauenvoll.

»Emily und ich finden schon einen Platz dafür. Wir könnten ja den riesigen Kleiderschrank in Emilys Zimmer gegen einen kleineren austauschen. Ach, entschuldige – dann hättet ihr ja nicht mehr genug Platz für die unzähligen Kleider, die du für Emily und dich kaufst, denn die braucht ihr natürlich dringend.« Georg lächelte verschmitzt. »Auf wie viele Kleider kommt ihr wohl gemeinsam? Hundert? Zweihundert?«

Emily ersparte Anna einen Rechtfertigungsversuch.

»Nicht, Emily!«, schrien Anna und Georg gleichzeitig, als ihre kleine Tochter eine Menükarte mit lautem Krachen durchbrach.

»Nein«, stöhnte Georg.

»Ab!«, entgegnete Emily stolz und streckte die kaputten Teile triumphierend in die Höhe.

»Emily findet offenbar auch, dass sie noch keine Küche braucht«, sagte Anna trocken, bevor sie das Thema wechselte.

»Wo ist überhaupt Sophie?«

»In ihrem Zimmer. Sie wollte telefonieren.« Georg verzog das Gesicht.

»Na und? Teenager telefonieren immer.«

»Nicht alle Teenager. Weibliche Teenager telefonieren immer den ganzen Tag. Und warum tun sie das?« Georg ließ ihr keine Gelegenheit zu antworten. »Weil sie noch nicht genug Geld haben zum Schuhekaufen. Wenn sich das irgendwann ändert, telefonieren sie nur noch den halben Tag.«

»Ich schau mal nach ihr«, sagte Anna lachend und wandte sich ab. Das Zusammenleben mit Sophie gestaltete sich um einiges komplizierter, als Anna es sich anfangs vorgestellt hatte. Und das lag nicht nur daran, dass Sophie von Geburt an behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen war. Daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Aber Sophie war gerade erst achtzehn geworden und hatte die Pubertät offenbar noch längst nicht hinter sich gelassen. Zudem war es schwer für sie, ohne ihren Vater zurechtzukommen, der vor nunmehr knapp zwei Jahren tragisch verunglückt war. So lautete jedenfalls die offizielle Version zu den schrecklichen Geschehnissen jener regnerischen Nacht. Nur Anna wusste, was damals wirklich geschehen war. In einem Anfall von Eifersucht und Wahnsinn hatte Sophies Vater einen Mordanschlag auf Anna verübt und war dabei selbst zu Tode gekommen. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, Sophie diese grausame Wahrheit zuzumuten. Und was spielte es schließlich auch noch für eine Rolle?

Anna lief zurück in den Eingangsbereich, von dem links die Tür zu Sophies kleiner Wohnung abging. Die dröhnende Musik, die in den Flur drang, war ein untrügliches Zeichen dafür, dass Sophie zu Hause war. Anna klopfte mehrfach, es rührte sich aber nichts. Sie rief Sophies Namen und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür, bevor sie sich entschloss, unaufgefordert einzutreten. Die Tür war nicht verriegelt. Sophie lag ausgestreckt auf ihrem Bett. Sie sah sich die Aufzeichnung einer Folge von »Popstars« an. Mehrere Teenager rockten in zuckenden Bewegungen über die Bühne. »Hallo!« Anna ging zum Apparat und drehte ihn leiser.

»Kannst du nicht anklopfen?«, maulte Sophie.

»Anklopfen? Ich bin gerade mit einem Bulldozer gegen deine Tür gefahren, ohne dir eine Reaktion zu entlocken.«

Sophie war anzusehen, dass sie eigentlich keine Lust hatte, sich mit Anna zu unterhalten. Sie war noch im Schlafanzug. Rund um ihr Bett und auf ihrem Rollstuhl türmten sich ihre Klamotten, und die Türen ihres unaufgeräumten Kleiderschranks standen offen. Anna verkniff sich einen Kommentar. Stattdessen ging sie zum Fenster hinüber und öffnete es.

»Hier ist ja eine Luft wie im Affenhaus. Willst du nicht mal aufstehen? Du könntest rüberkommen, und wir essen ein paar Erdbeeren mit Milch.«

Sophie stützte sich auf ihre Hände und schob sich mühsam gegen die Rückwand ihres Bettes, um sich aufzusetzen. Sie strich sich ihre störrischen Locken aus dem Gesicht und blickte Anna mürrisch an. Anna musste grinsen.

»Du siehst aus wie ein Hippie«, frotzelte sie.

»Es ist Samstag, ich will das sehen.« Sie deutete auf den Bildschirm, auf dem sich die Kandidaten beim Tanzen krümmten, als litten sie an schmerzhaften Magenkrämpfen. Anna war selbst ein wenig erstaunt darüber, dass sie sich mit Mitte dreißig schon Lichtjahre von dieser Generation entfernt fühlte.

»Natürlich ist Samstag. Aber es ist auch nach zwölf. Eine durchaus akzeptable Zeit, um aufzustehen – finde ich jedenfalls.«

Sophie verdrehte die Augen und gähnte.

Anna spürte, dass Sophie sich bevormundet fühlte, und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich sollte mir wirklich abgewöhnen, mich wie ihre Mutter aufzuführen, dachte sie. Immerhin hatte sie selbst als Teenager gern am Wochenende den ganzen Tag im Bett herumgelungert und ebenso wie Sophie keinerlei Mühe gehabt, vierzehn Stunden am Stück zu schlafen.

»Ich wollte nur sagen, dass wir uns freuen würden, wenn du uns Gesellschaft leistest.«

Sophie schien über Annas Angebot nachzudenken, und beide verfolgten für einen Moment das Treiben auf dem Bildschirm.

»Weißt du, was ich nicht verstehe?«, fragte Anna. »Warum die Jungs Hosen tragen, die aussehen, als hätten sie eine dicke Windel drunter an.«

Über Sophies Gesicht huschte ein Grinsen.

»Also, wenn du mich fragst«, fuhr Anna fort, »es sieht total beknackt aus.«

»Ich find es cool.«

»Georg hat übrigens eine Küche für Emily gekauft. Emily hat gleich eine Menükarte kaputtgemacht.«

Sophie grinste. Sie liebte Emily, und Emily liebte Sophie. Anna war froh, dass sich das Mädchen bei Emily die Streicheleinheiten abholte, die es so dringend brauchte.

»Was, zum Teufel, soll Emily jetzt schon mit einer Küche?«

»Eine hervorragende Frage«, lobte Anna. »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich darin unterstützen würdest, Georg dazu zu überreden, das – übrigens lilafarbene – Monstrum für die sagen wir mal nächsten eineinhalb Jahre mit nach Hause zu nehmen.«

Sophie lächelte. Anna wusste, dass sie es genoss, wenn Anna sie in ihren Neckereien mit Georg zu einer Verbündeten machte.

»Was krieg ich dafür, wenn ich Georg überrede?«

Anna ließ ihren Blick über die mit Andy-Warhol-Drucken gepflasterten Wände schweifen, während sie nachdachte.

»Zunächst mal Erdbeeren mit Milch!«

2. Kapitel

Im Keller war nichts zu finden gewesen. Er musste sich beeilen. Die ausziehbare Treppe, die auf den Dachboden führte, krachte mit einer Wucht herunter, dass er zusammenzuckte. Mit zittrigen Fingern legte er den Zugstab zur Seite und hielt einen Moment lang inne. Er lauschte angespannt, vernahm jedoch nichts außer dem heftigen Pochen seines Herzens. Er atmete auf. Die Hitze schlug ihm entgegen, als er den oberen Treppenabsatz passierte, und der Staub kroch ihm in Mund und Nase, was die Trockenheit in seiner Kehle noch unerträglicher machte. Er verspürte eine unbändige Lust auf eine kalte Cola. Seine Hände tasteten eine gefühlte Ewigkeit nach dem Lichtschalter. Die Glühbirne, die schmucklos am Ende eines Deckenkabels herunterbaumelte, spendete ihm endlich surrend ein wenig Licht und gab den Blick auf das verstaubte Sammelsurium hier oben frei: Kartons, Holzkisten, Leuchten und Haushaltsgeräte vergangener Jahrzehnte fanden sich hier und schienen längst in Vergessenheit geraten zu sein. Zu beiden Seiten des Giebels musste er besonders achtgeben, um sich nicht an den schrägen Dachbalken zu stoßen. Er hob die verstaubten Laken an, die in der Mitte des Raums über wuchtigen Gegenständen hingen und im diffusen Licht geradezu gespenstisch aussahen. Was sich darunter verbarg, waren eine alte Leuchte mit einem übergroßen beigefarbenen Lampenschirm aus Samt, ein bemaltes hölzernes Schaukelpferd, unzählige Ölbilder und eine hohe Wanduhr, hinter deren geborstener Glasscheibe die verbogenen gusseisernen Zeiger auf kurz vor neun stehen geblieben waren. Eine nahezu mannsgroße afrikanische Figur aus Ebenholz, die hinter einer Reihe aufgestapelter Kartons in der Ecke stand, schien ihn mit ihrem Blick zu durchbohren und erhöhte sein Unbehagen. Er näherte sich einer Reihe aufgestapelter Kartons, um nachzusehen, was sich darin befinden könnte. Es kostete ihn Mühe, die mit dünnem Filzstift aufgebrachte Beschriftung zu entziffern: »Tischwäsche«, »Firmenunterlagen Peter seit 1967«, »Fotos Österreich« und andere Anmerkungen, die wenig Hoffnung auf einen lohnenswerten Fund machten. Die alte Frau hatte sechzig Jahre lang in diesem Haus gelebt, und der Dachboden barg ganz offenbar die Reliquien eines jeden Jahrzehnts. Es würde Tage dauern, sich da durchzuarbeiten, und zudem war ungewiss, ob hier überhaupt noch etwas Brauchbares zu finden war. Er entschied sich, den Rückzug anzutreten, knipste das Licht aus, stieg vorsichtig rückwärts die Treppe hinab und schloss die Luke zum Dachboden wieder. Den Zugstab stellte er zurück an seinen Platz neben dem Einbauschrank im Flur des Obergeschosses. Hastig lief er über die mit dunkelgrünem Webteppich bezogene Treppe zurück ins Erdgeschoss, wo er beinahe über einen der unzähligen Orientläufer stolperte, die auf dem rustikalen Eichenparkett verteilt waren. Es war inzwischen fast zehn, und er musste pünktlich bei dem nächsten Patienten sein. Er raffte die Tüten zusammen und warf einen letzten Blick zurück ins Wohnzimmer. Sie saß ganz friedlich in dem großen Ohrensessel, fast so, als würde sie schlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Kopf ruhte zur Seite geneigt auf einem der schweren Kissen aus Brokatseide. Die großen roten Pantoffeln standen geduldig wartend neben dem kleinen Hocker, nicht ahnend, dass sie bereits ihren letzten Gang getan hatten. Ihr Anblick ließ ihn einen Moment innehalten. Sie war daheim. Hinter ihr lag ein langes, erfülltes Leben, dessen stille Zeugen in Form von Bildern, Nippes und Vasen überall auf der Anrichte und in den Borden des wuchtigen Mahagonischranks aufgereiht waren. Es schien ihm, als würden die barocken Engel aus Meissener Porzellan sie in stiller Andacht betrachten, entschlossen, neben ihr auszuharren, bis man sie fand. Er setzte seine Schirmmütze auf, ging zur Haustür und spähte durch die Glasscheibe seitlich davon. Im gegenüberliegenden Garten spielten Kinder, und am Ende der Straße konnte er den Postboten auf seinem Fahrrad ausmachen. Er änderte seinen Entschluss und lief zurück ins Wohnzimmer, wo er durch die Verandatür verschwand.

3. Kapitel

Anna kannte das Auto des Hausarztes von Frau Möbius. Er besuchte sie mehrmals in der Woche und verabreichte ihr die notwendigen Spritzen, die ihr Rückenleiden lindern sollten. Es beunruhigte sie daher auch nicht, dass er seinen Wagen am Morgen in der Auffahrt des Nachbargrundstücks parkte. Umso heftiger fuhr Anna der Schreck in die Glieder, als nur wenig später ein Leichenwagen vor Frau Möbius’ Haus hielt. Sie bat Sophie, für eine Weile auf Emily aufzupassen, streifte ihre Sandalen über und lief zum Nachbarhaus hinüber. Die Haustür war nur angelehnt. Zögernd trat Anna in den kühlen Hausflur.

»Hallo?« Niemand antwortete.

Sie hielt einen Augenblick inne, bevor sie durch die kleine Diele in das gegenüberliegende Wohnzimmer ging.

»Mein Gott«, entfuhr es Anna, als ihr Blick auf den Ohrensessel fiel. Frau Möbius saß zusammengesunken darin, und die bläuliche Blässe in ihrem Gesicht dokumentierte untrüglich, dass sie nicht mehr am Leben war.

Dr. Jung ließ den Stift sinken, mit dem er gerade den Totenschein ausfüllte, und stand von seinem Sessel auf. Der sympathische Hausarzt, den gerade die älteren Damen in der Gegend sehr schätzten, reichte Anna die Hand.

»Guten Morgen. Sie sind Frau Lorenz, richtig?«

Anna nickte nur und versuchte den dicken Kloß hinunterzuwürgen, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte. Auch wenn zu erwarten gewesen war, dass Frau Möbius aufgrund ihrer langjährigen Erkrankung nicht mehr allzu viel Zeit vergönnt gewesen war, traf Anna ihr Tod unvermittelt heftig. Zugleich tröstete es sie, dass ihre Nachbarin ganz offenbar genau so gestorben war, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Der wuchtige Sessel im Wohnzimmer war stets ihr Lieblingsplatz gewesen. Trotz der Blässe sah sie beinahe noch genauso aus wie am Tag zuvor, als sie Anna von ihrem Briefkasten aus zugewinkt hatte. Nun bedauerte Anna, die an dem Morgen mit Emily im Buggy auf dem Weg zum Einkaufen an Frau Möbius’ Haus vorbeigeeilt war, nicht wenigstens ein paar Worte mit ihr am Zaun gewechselt zu haben. Sie hatte die alte Dame gemocht, die immer Bonbons für die Kinder aus der Nachbarschaft in der Tasche gehabt und sich nie über deren Lärm beschwert hatte.

»Mein Gott, das kommt jetzt so plötzlich. Gestern habe ich sie noch vor dem Haus gesehen und gedacht, dass sie richtig gut aussieht.«

Anna musste zur Seite treten, als zwei schwarz gekleidete Herren eine Bahre in den Raum trugen und sie für den Abtransport der alten Dame vorbereiteten.

»Tja, seien wir froh, dass man derartige Dinge nicht vorhersehen kann, Frau Lorenz. So einen Tod kann man wirklich jedem alten Menschen nur wünschen. Sie ist offenbar ganz friedlich eingeschlafen. Trotz ihrer Krankheit ging es ihr letztendlich in Anbetracht ihres stolzen Alters einigermaßen gut, und das Letzte, was sie im Leben gesehen hat, war nicht irgendein Altenheim oder ein Krankenhaus.«

Anna nickte. »Das denke ich auch. Vermutlich hat ihr diese fürchterliche Hitze ordentlich zu schaffen gemacht, oder?«

»Ich gehe davon aus, dass die drückenden Temperaturen sicher ihr Übriges getan haben. Die Hitze ist für ältere Menschen, die zudem noch wie Frau Möbius kein allzu starkes Herz haben, selbstverständlich eine große Belastung.«

Anna nickte und blickte ein letztes Mal auf den leblosen Körper. Außer dem Ticken der schweren Wanduhr im Wohnzimmer war nichts zu hören, während die Männer Frau Möbius auf der Bahre festschnallten. Dr. Jung hatte die weißen Untergardinen zugezogen, damit sich der Raum nicht so stark aufheizen konnte. Die schweren bordeauxfarbenen Samtüberhänge verliehen dem Wohnzimmer eine feierliche Würde. »Standen Sie ihr denn sehr nahe?« Dr. Jung sah Anna offenbar an, dass der Tod der alten Frau sie stärker mitnahm, als sie es selbst vermutet hatte, und nahm eine Packung Taschentücher aus seinem Arztkoffer. Anna griff danach, weil ihr jetzt wirklich die Tränen in die Augen stiegen.

»Nein, das kann man so nicht sagen. Aber ich habe sie als Nachbarin sehr geschätzt. Ab und zu haben wir uns am Gartenzaun unterhalten, und ich habe ihr manchmal mit den Einkäufen geholfen. Es ist einfach furchtbar traurig, wenn jemand stirbt, den man gekannt hat.«

Dr. Jung lächelte freundlich und legte Anna für einen kurzen Moment tröstend die Hand auf die Schulter. Für ihn als Hausarzt gehörte es selbstverständlich zur Routine, Totenscheine auszufüllen und Angehörigen und Freunden von Verstorbenen Mut zuzusprechen. Er wirkte nicht unbeteiligt, aber dennoch abgeklärt genug, um nicht allzu stark emotional berührt zu werden.

»Mir ist irgendwie ganz schwindelig«, sagte Anna leise. »Ich kann sie gar nicht mehr anschauen.«

Der Arzt, der gerade begonnen hatte, seine Tasche wieder einzuräumen, sah auf. »Sind Sie nicht Staatsanwältin?«

»Doch, doch, das bin ich. Ich muss aber gestehen, dass ich mir die Bilder in den Obduktionsberichten nur wenn es zwingend nötig ist näher anschaue und mich ansonsten lieber auf die Schriftlage konzentriere.«

Sie blickten den Männern nach, die Frau Möbius auf ihrem letzten Weg aus ihrem Haus begleiteten.

»Wer hat sie denn überhaupt gefunden?« Erst jetzt fiel Anna ein, dass der junge Mann vom Pflegedienst eigentlich hätte dort sein müssen.

»Das war ich.«

»War denn der Pflegedienst heute nicht hier?«

»Offenbar nicht. Es ist ja noch recht früh, vielleicht kommt noch jemand.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Schlüssel haben.«

»Ich habe keinen Schlüssel, ich bin über die Terrasse ins Haus gekommen.«

»Über die Terrasse?«, fragte Anna verwundert.

Der Arzt nickte, legte seine Lesebrille zurück in das Etui und blickte auf die Uhr. Er schien unter Zeitdruck zu sein.

»Ganz offenbar hat Frau Möbius die Hitze im Obergeschoss meiden und die Nacht bei offenen Türen in ihrem Sessel verbringen wollen. Wissen Sie, wie wir die Angehörigen von Frau Möbius erreichen können – oder besser, können Sie das gegebenenfalls erledigen?«

Anna dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß, dass sie eine Tochter hat. Ich glaube, sie lebt irgendwo bei Berlin.«

»Ja, richtig. Sie heißt Petra. Petra Kessler, wenn ich mich recht erinnere. Frau Möbius hat manchmal von ihr erzählt. Wir sollten mal in ihrem Telefonbuch nachschauen. Sie wird die Nummer sicherlich notiert haben.« Dr. Jung deutete auf den Beistelltisch neben dem Fernsehsessel, auf dem das Telefon auf einem Häkeldeckchen abgestellt war. Anna nahm vorsichtig das in dunkelrotes Leder eingebundene Büchlein zur Hand und begann darin zu blättern.

»Petra – hier steht sie.« Anna zögerte, selbst zum Apparat zu greifen. Sie wollte nur ungern die Überbringerin der traurigen Nachricht sein, zumal sie überhaupt nicht einschätzen konnte, wie die Frau am anderen Ende reagieren würde. Dr. Jung erkannte anscheinend ihr Unbehagen und stellte seine Tasche wieder auf dem Boden ab.

»Ich mache das, Frau Lorenz. Sie müssen mir nur die Nummer ansagen.« Der Arzt griff nach dem Apparat und begann zu wählen.

4. Kapitel

Petra Kesslers Hände zitterten, als sie den Telefonhörer sinken ließ. Sie legte den Apparat zurück in die Aufladestation, zog ihre weiße Bluse zurecht und strich über die makellos weiße Tagesdecke ihres Bettes. Dann begann sie, ihrer täglichen Routine folgend, die Kissen auf dem Bett zu dekorieren. Jedes Kissen hatte seinen Platz, jede Falte und jeder Kniff musste sitzen. Nicht einmal der Anruf des Arztes vermochte sie daran zu hindern, alles perfekt herzurichten. Sie warf einen letzten kritischen Blick auf ihr Werk und ging ins Bad. Dort öffnete sie den Spiegelschrank und rückte eine der nach links ausgerichteten Parfümfläschchen im obersten Regal zurecht. Dann nahm sie einen der Lippenstifte zur Hand, die nach Farben geordnet neben den unzähligen Tiegeln und Tuben ihres Make-ups aufgereiht waren. Die verlässliche Ordnung in ihrem Schrank erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit. Sie schürzte die Lippen und trug das dunkle Rot auf, das die vornehme Blässe ihres schmalen Gesichts unterstrich. Dann griff sie nach ihrem Handspiegel und zog ihren Lidstrich nach. Ihren wachsamen Augen entging das winzige Härchen nicht, das sie am Vorabend bei der Korrektur ihrer Augenbrauen offensichtlich übersehen hatte. Sie zupfte es mit der Pinzette heraus und war endlich zufrieden. Ihr Make-up und Puder verbargen die Spuren des Alters, gegen die sie verzweifelt, aber nicht zuletzt dank der Hilfe ihres plastischen Chirurgen erfolgreich ankämpfte. Endlich legte sie den kleinen Spiegel, mit dem sie eine der schmerzvollsten Erinnerungen ihres Lebens verband, wieder an seinen Platz zurück. Obwohl sie viele Jahre zurücklagen, sah sie die Ereignisse an jenem Schultag im Dezember in diesem Moment wieder vor sich, als wäre sie immer noch das stille, dickliche Mädchen von damals.

Sie war aufgeregt. Liebevoll strich sie über den Geschenkeinband des kleinen Päckchens, an dessen Unterseite sie eine Herzoblate mit dem Namen »Juliane« aufgeklebt hatte. Vorsichtig schlug sie ein weiches Handtuch darum, bevor sie es in ihrem Schulranzen verstaute. Petra wollte mit ihrem Julklapp-Geschenk Eindruck machen. Sie hatte gespart, um das kleine weiße Porzellanpferd kaufen zu können, das sie selbst für ihr Leben gern besessen und in ihrem Setzkasten untergebracht hätte. Eigentlich sprengte der Preis den vorgesehenen Rahmen erheblich, aber das war Petra gleichgültig gewesen. Sie hatte ein Ziel: Juliane war neu in der Klasse, und vielleicht hatte Petra eine Chance, in ihr endlich eine Freundin zu finden. Denn nichts wünschte sie sich sehnlicher. Eine Freundin, der sie ihre Geheimnisse und Träume anvertrauen könnte. Vor allem einen Traum, den Traum von Christoph. Petras Herz begann heftig zu klopfen, wenn sie an ihn dachte. Er war mit fünfzehn einer der Ältesten in der Klasse. Petra fand ihn – wie die meisten anderen Mädchen auch – einfach umwerfend. Und obwohl er für sie unerreichbar schien, konnte sie nicht aufhören, an ihn zu denken. In ihr lebte ein winziger Funke Hoffnung, dass er anders war als die anderen. Dass er – wenn auch nur vielleicht – imstande war, mehr in ihr zu sehen als das blonde pummelige Mädchen mit den viel zu dicken Brillengläsern.

Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. Nach der Schule wollte ihre Tante sie abholen und mit ihr auf den Weihnachtsmarkt in der Altstadt gehen, den sie so sehr liebte. Ihre Mutter war weggefahren, aber sie würde die Nacht nicht allein mit ihrem Vater verbringen müssen. Tante Gerda würde sie mit zu sich nach Hause nehmen, das Gästezimmer sei schon für sie hergerichtet, hatte sie am Vorabend am Telefon gesagt. Petra träumte davon, gemeinsam mit Juliane über den Weihnachtsmarkt zu schlendern, der jährlich rund um das Rathaus, in der Fußgängerzone und auf dem Koberg stattfand. Sie liebte das Rathaus, das mit seiner Schaufassade an der Südwand und seinen Türmen und Windlöchern besonders im Winter wie ein Märchenschloss aussah. Wie schön wäre es, Juliane, die nicht aus Lübeck kam, die Stadt zu zeigen und mit ihr durch die verwinkelten Gassen um St. Petri zu streifen. Eine Freundin, die mit ihr kichern würde, wenn sie sich vorstellten, mit Christoph auf dem Weihnachtsmarkt unter einem Mistelzweig zu stehen. Beschwingt ging sie die Treppe der Oberschule am Dom hinauf.

Sie betrat als eine der Ersten an diesem Morgen den Klassenraum und ging direkt zu ihrem Platz. Vorsichtig nahm sie das Paket aus ihrem Ranzen und befreite es behutsam von dem Handtuch. Ihre Augen glitzerten angesichts ihrer Vorfreude, die sie bei dem Gedanken empfand, das filigrane weiße Pferdchen, das sie mit so viel Liebe ausgewählt hatte, zu verschenken. Juliane liebte Pferde genau wie sie. Bestimmt würde sie vor Freude und Entzücken aufspringen und sich überschwänglich für das großzügige Geschenk bedanken, sobald Petra sie wissen ließ, wem sie das Pferd zu verdanken hatte. Der Klassenraum füllte sich rasch. Unter der Anleitung der Lehrerin verwandelte er sich binnen Minuten in einen weihnachtlichen Festsaal. Petras Augen wanderten über die zu einer Tafel zusammengerückten Tische. Die Anordnung der sternförmigen Lebkuchenteller, Tannenzweige und Teelichter schien ihr in diesem Jahr besonders schön. Der Raum wurde von einem betörenden Duft aus Lebkuchen, Tanne und Kerzenwachs erfüllt. Endlich war es so weit, und sie nahmen an der Tafel Platz, bereit, sich von dem weihnachtlichen Zauber einfangen zu lassen. Petras Wangen glühten. Christoph und Juliane saßen ganz nah beieinander auf der gegenüberliegenden Seite ihres Tisches. Ihre Klassenlehrerin, Frau Dr. Hagentreu, legte den Zeigefinger auf die Lippen, und das fröhliche Stimmengewirr wich dem vereinzelten Tuscheln und Flüstern der Jugendlichen.

»Da wären wir also«, sagte die Lehrerin feierlich und schlug das dicke Buch auf, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Ich habe wie in jedem Jahr eine Weihnachtsgeschichte mitgebracht, die ich euch vorlesen möchte, bevor wir die Geschenke verteilen.«

Petra ignorierte das unwillige Grunzen einiger der Jungen, die dieses Ritual inzwischen furchtbar langweilig fanden. Sie selbst liebte Märchen und Geschichten nach wie vor und ließ sich von ihnen nur allzu gern davontragen. Nur heute fiel es ihr schwer, dem Märchen von dem Mädchen mit den Schwefelhölzern zu lauschen. Sie nippte an ihrem heißen Tee, der ihre Hände wärmte, und ihre Gedanken kreisten um Christoph und Juliane. Endlich bat Frau Dr. Hagentreu den Klassensprecher, das erste Geschenk auszuwählen und weiterzugeben. Jeder von ihnen hatte die Aufgabe gehabt, entweder selbst ein Gedicht für den Beschenkten zu schreiben oder ein Gedicht aus einem Gedichtband auszuwählen, und selbstverständlich sollte niemand das Geschenk übergeben, das er selbst gekauft hatte. Theo wählte eines der größeren Pakete, zog ein Briefchen aus dem Einband und las:

»Arne hat ’ne Banane, lang wie ’ne Platane.«

Die Jungs in der Klasse brüllten vor Lachen und schlugen sich auf die Schenkel. Frau Dr. Hagentreu schwante spätestens jetzt, dass ihr Aufruf, Gedichte zu verfassen, sein Ziel kräftig verfehlt hatte. Die Weihnachtsstimmung wich dem Gejohle pubertierender Halbstarker. Arne wickelte wiehernd vor Lachen eine Packung Prince Denmark aus, die von Frau Dr. Hagentreu prompt konfisziert wurde. Jetzt war es an ihm, das nächste Geschenk auszuwählen. Er tauschte einen verschwörerischen Blick mit seinen Kumpels und griff nach einem weiteren Paket. Dann las er:

»Er steht auf Brüste vom Kopf bis zur Hüfte, er lebt im Wittauer Forst und heißt: …«

»Horst«, brüllten die Jungs begeistert und krümmten sich wieder albern, während sie sich gegenseitig auf die Schultern klopften. Horst nahm sein Paket fröhlich johlend entgegen und wickelte es aus. Es war ein Buch darin, auf dem ein Wellensittich abgebildet war. Der Titel lautete: »Viel Spaß mit Vögeln«, was die Jungen wieder ausrasten ließ. Frau Dr. Hagentreu war inzwischen ziemlich sauer, wenngleich sie gegen das Geschenk in der Sache natürlich schwerlich etwas einwenden konnte. Horst griff auf der Tischmitte nach dem nächsten Geschenk. Ihm standen vor Lachen die Tränen in den Augen, und was er vorlas, war kaum zu verstehen.

»Er ist klein, sein Herz ist fein, denn ein Mädchen müsst’ er sein, drum fehlt seinem Namen nur ein ›a‹, dann wär’ er endlich Johann-a!«

Der etwas schmächtig geratene Johann fand das Gedicht weit weniger witzig als die anderen und lief vor Scham knallrot an. Für Petra war jetzt nicht nur die Weihnachtsstimmung dahin, sondern in ihr wuchs auch die Angst vor dem Gedicht, das an sie gerichtet sein würde. Sie betete zu Gott, dass eines der Mädchen ihren Namen bei der Verlosung gezogen hatte. Mit zittrigen Fingern wickelte Johann sein Geschenk aus und fand ein Barbie-Kleid darin. Frau Dr. Hagentreu wurde langsam richtig wütend und kündigte an, den Julklapp abzubrechen, wenn sich nicht umgehend alle beruhigten. In der Tat wurde es schließlich ein wenig ruhiger, und Johann und danach noch drei Mitschülerinnen lasen harmlose Gedichte vor und überreichten ihre harmlosen kleinen Geschenke. Marianne war mit dem nächsten Päckchen an der Reihe:

»Dies ist ein Geschenk für Petra.« Petras Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Zu ihrer Erleichterung blieb die Katastrophe aus.

»… das Geschenk wird einschlagen wie eine Granate!« Marianne überreichte Petra das Paket, die sich wieder setzte und den Knoten des Paketbandes zu lösen begann. Es war totenstill in der Klasse – zu still. Petra brauchte einen Moment, bevor sie begriff, was sie in Händen hielt. Es war ein kleiner Handspiegel, und darunter lag eine Spielzeugpistole. Es klebte ein Zettel darauf, auf dem geschrieben stand: »Schau in den Spiegel, und du weißt, was du zu tun hast.«

Für einen kurzen Moment war es so still, dass man die sprichwörtliche Stecknadel auf den Boden hätte fallen hören können, dann grölten die Jungen wieder los. In Petras Kopf drehte sich alles, und ihr wurde übel.

»Wer, zum Teufel, war das?«, brüllte Frau Dr. Hagentreu fassungslos. »Ich will augenblicklich wissen, wer das getan hat, ansonsten bleiben alle, ich wiederhole – alle – mit Ausnahme von Petra heute Nachmittag hier und können sich auf ein Gespräch mit dem Schulleiter einstellen.«

Es dauerte eine Weile, bis sich das Tohuwabohu legte.

»Ich frage das jetzt zum letzten Mal«, wiederholte die Lehrerin drohend. »Wer war das?«

Die Jungs starrten auf ihre Hände und den Boden und sagten keinen Ton.

»Also gut.« Frau Dr. Hagentreu holte eine Plastiktüte aus ihrer Ledertasche und sammelte die Geschenke ein. Petra war einfach zu schwach, um darauf hinzuweisen, dass ihr Geschenk für Juliane zerbrechlich war. Sie starrte einfach nur auf die Lehrerin, die wütend die Geschenke zusammenraffte und achtlos in ihre Tasche warf. Petra hörte es weniger, aber sie spürte, dass das kleine Porzellanpferd genau wie ihre Träume in tausend Stücke zerbrach.

Niemand würde von dem von ihr ausgewählten Gedicht Notiz nehmen:

Die Jugend lernt im Fallen geh’n.Sie muss sich halb verbrennen, halb versehnenund zwischen Sturm und wilden Klippen steh’n.

(Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau)

5. Kapitel

Ich komm ja schon«, rief Anna und lief zur Haustür, an der nun schon zum zweiten Mal jemand klingelte. Sie warf gewohnheitsmäßig einen kurzen prüfenden Blick in den Flurspiegel und öffnete dann.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche Frau Möbius – ist sie vielleicht bei Ihnen?«

Anna brauchte einen Moment, bis sie wusste, wer der junge Mann war, der mit einer tief in die Stirn gezogenen Basecap in Turnschuhen und ausgeblichenen Jeans vor ihr stand.

»Ach, Herr Asmus, kommen Sie doch einen Moment herein.« Anna kannte den Mitarbeiter des Pflegedienstes, der Frau Möbius inzwischen wohl schon über ein Jahr lang täglich betreut hatte, nur flüchtig. Ihre Nachbarin hatte ihn allerdings, nach allem, was Anna wusste, sehr gemocht. Sie war trotz ihres hohen Alters eine moderne Frau ohne Vorurteile gewesen, die sich nicht mit Äußerlichkeiten aufhielt und folglich auch keinen Anstoß an dem jugendlichen Schlabberlook des Pflegers genommen hatte. Der junge Mann blieb in der Tür stehen. Ihm war anzusehen, dass ihn Annas Aufforderung hereinzukommen irritierte.

»Ich versuche seit heute Morgen, Frau Möbius zu erreichen. Ich dachte, sie wäre vielleicht bei Ihnen.« Er lugte an Anna vorbei in den Flur, als erwarte er, die alte Frau dort jeden Moment zu entdecken.

»Nein, das ist sie nicht, aber jetzt kommen Sie doch erst mal rein«, beharrte Anna, die ihm die traurige Nachricht nicht zwischen Tür und Angel überbringen wollte.

Asmus blickte auf seine ausgetretenen Turnschuhe und trottete dann zögerlich hinter Anna her. In der Küchentür blieb er erneut stehen.

»Nehmen Sie doch einen Moment Platz«, bot Anna an und deutete auf den eckigen Küchentisch aus Glas, an dem neben Emilys Kinderstuhl zwei gelbe und zwei orangefarbene Schalenstühle standen. Der junge Mann schien sich nicht sehr wohl in seiner Haut zu fühlen. Offenbar wusste er nicht recht, welchem Umstand er diese Einladung zu verdanken hatte. Anna entschied sich, ihn nicht länger im Ungewissen zu lassen:

»Ich habe eine traurige Nachricht, Herr Asmus. Frau Möbius ist verstorben. Herr Dr. Jung hat sie heute Morgen gefunden. Ich war auch kurz drüben. Es tut mir leid.« Sie deutete auf einen der Küchenstühle. »Jetzt setzen Sie sich doch wenigstens einen Moment. Ich brühe Ihnen auf den Schreck auch gern einen Espresso auf.« Anna drückte den blassen jungen Mann sanft auf einen Stuhl und ging zur Espressomaschine hinüber.

»Ich habe mich schon gewundert, dass sie nicht erreichbar war«, sagte Asmus nach einer kleinen Pause. »Ich habe heute Morgen versucht, sie anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich mich verspäten würde. Ich fühlte mich nicht gut und habe verschlafen.«

»Und dann auch noch das«, sagte Anna mitfühlend. Tatsächlich sah Asmus müde und nicht sehr wohl aus.

Anna musterte ihr Gegenüber aus dem Augenwinkel, während sie den Espresso vorbereitete. Sie fragte sich, wie sich ein Pflegedienstmitarbeiter wohl fühlte, zu dessen Routine neben der Pflege eines alten Menschen auch dessen Tod gehörte. Was auch immer Asmus empfand, so schien er sein Gefühlsleben jedenfalls nicht mit Anna teilen zu wollen. Er saß auf der Kante seines Stuhls und sah aus, als wolle er jeden Moment aufspringen. Seine Beine wippten leicht nervös unter dem Tisch, während er mit den Händen an einem Blütenblatt herumnestelte, das von dem in der Mitte ihres Tisches stehenden, kurz gebundenen Strauß Sonnenblumen heruntergefallen war. Anna reichte ihm seinen Espresso, setzte sich mit ihrer Tasse ebenfalls an den Tisch und schob die Zuckerdose in seine Richtung.

»Ich stelle mir Ihren Beruf sehr schwer vor«, sagte sie. »Ich glaube, ich könnte das nicht. Mich nimmt der Tod von Frau Möbius schon mit, obwohl sie nur meine Nachbarin war. Wenn ich mir vorstelle, dass Sie sie täglich gepflegt haben und jetzt mit ihrem Tod konfrontiert werden, wo Sie ja ganz zwangsläufig mit der Zeit eine Beziehung zu ihr aufgebaut haben müssen …« Anna versuchte vergebens, Blickkontakt mit dem jungen Mann herzustellen. »Es ist sicher nicht leicht für Sie.«

»Nein, das ist es auch nicht«, sagte Asmus, schien aber mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

Anna forschte in seinen Zügen erfolglos nach einer deutbaren Gefühlsregung. Sie wollte gerade von den Umständen des Todes berichten, als Sophie in der Küchentür auftauchte. Sie stoppte ihren Rollstuhl abrupt auf der Schwelle.

»Komm ruhig rein. Herr Asmus war auf der Suche nach Frau Möbius. Er ist …«

»Hallo, Jens.« Sophie blickte Asmus, der trotz seiner von Aknenarben übersäten Haut nicht unattraktiv war, kaum an. Dennoch konnte Anna an ihrer Körpersprache sofort erkennen, dass sie sich in seiner Gegenwart gehemmt fühlte. Offenbar hätte sie am liebsten kehrtgemacht und wäre verschwunden. Wie pubertär sie doch noch wirkt, dachte Anna. Sophie strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Offenbar hatte sie gerade geduscht und war noch unfrisiert. Zudem hatte sie sich noch nicht geschminkt, ein Zustand, in dem sie nach eigenen Bekundungen nicht einmal Georg gern gegenübertrat, obwohl er in Sophies Augen »uralt« war. Anna konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie als Teenager ebenso eitel gewesen war und es als unerträglich empfunden hatte, Jungen zu begegnen, ohne zurechtgemacht zu sein, wenngleich sie das ebenso wenig nötig gehabt hatte, wie es jetzt bei Sophie der Fall war.

»Ihr kennt euch?«

»Von einer Abi-Party«, erklärte Sophie knapp und errötete, was Anna ausgesprochen neugierig machte. Anna hätte gern die Gelegenheit genutzt, Näheres zu erfahren, aber Sophie hatte augenscheinlich absolut nicht vor, eine längere Unterhaltung zu führen. Auch Jens Asmus schien neben seinem eigenen Unbehagen auch Sophies zu spüren und trank hastig seinen Espresso aus.

»Ja, also dann … Danke, dass Sie mich eingeladen haben.Jetzt muss ich aber weiter.« Er stand auf.

»Ich bring ihn raus«, sagte Sophie hastig, als Anna aufstand, um sich zu verabschieden. Sie war mit ihrem Rollstuhl schon wieder aus der Tür, bevor Anna noch etwas sagen konnte. Asmus verabschiedete sich und folgte Sophie. Nur zu gern hätte Anna Mäuschen gespielt und in den Flur gehorcht. Nicht nur die leichte Röte in Sophies Gesicht war ihr aufgefallen, sie meinte auch ein Glitzern in ihren Augen gesehen zu haben, das ihr bisher unbekannt war. Sie nahm sich vor, herauszufinden, ob Sophie mehr in dem Jungen sah als eine Partybekanntschaft. Sophie erzählte Anna nur wenig über ihre Freunde, dabei wünschte Anna sich so sehr, stärker an Sophies Welt teilnehmen zu dürfen. Es war nicht leicht, eine Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen, das, wie Anna wusste, in seiner Kindheit nur wenig liebevolle Wärme erfahren hatte. Ihr Vater war ein sehr zugeknöpfter, allzu sachlicher Mensch gewesen, der nicht in der Lage gewesen war, mit einem Kind oder gar einem Teenager offen über Gefühle zu sprechen. Und so war Sophie nicht daran gewöhnt, viel von sich preiszugeben.

Es dauerte eine ganze Weile, bevor Anna die Haustür ins Schloss fallen hörte.

»Ein netter Junge«, eröffnete sie das Gespräch, als Sophie in die Küche zurückkehrte.

»Mmmm«, brummte Sophie nur und nahm eine Packung Cornflakes aus dem unteren Küchenschrank. Anna hatte die Küche mit Rücksicht auf Sophies Behinderung so eingerichtet, dass sie sich die Dinge, die sie brauchte und gerne aß, ohne Probleme selbst nehmen konnte.

»Kennt ihr euch schon länger?«

Sophie stieß einen unwilligen Seufzer aus. »Nö!«

»Ach, Sophie«, Anna seufzte, »nun erzähl doch mal was.«

In diesem Moment erschien Georg in der Küchentür. »Hallo«, begrüßte er Sophie.

»Hi, Georg. Wo ist Emily?«

»Sie ist eingeschlafen. Ich habe sie im Buggy in den Garten gestellt.«

»Hoffentlich hast du sie nicht noch zugedeckt«, warf Anna besorgt ein. »Es ist so wahnsinnig heiß. Die Karre steht doch im Schatten, oder?«

»Nein«, antwortete Georg, und seine Stimme klang leicht gereizt. »Ich habe ihr einen Schneeanzug angezogen und ihr eine Wollmütze aufgesetzt, und jetzt steht sie in der prallen Sonne.«