Gewöhnliche Leidenschaften - Ivan Petrov - E-Book

Gewöhnliche Leidenschaften E-Book

Ivan Petrov

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Beschreibung

Nach drei Erzählungssammlungen präsentiert der bulgarische Schriftsteller Ivan Petrov den Lesern seinen ersten Roman "Gewöhnliche Leidenschaften" in zweisprachigem Format. Ist es ein Liebesroman? Ja. Ist es ein Kriminalroman? Ja. Er verknüpft auf dynamische und fesselnde Weise außergewöhnliche menschliche Schicksale, umgeben von den Themen Leidenschaft und Fetischismus. Der Autor hinterfragt die Erwartungen des Lesers, indem er ihn in ständiger Spannung hält und ihm viele Überraschungen bietet. Dies ist ein moderner Roman, der jeden Leser faszinieren wird.

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Seitenzahl: 319

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ivan Petrov

Gewöhnliche Leidenschaften

Roman

© 2022 Ivan Petrov

Covergrafik von Boyana Nikova

ISBN Softcover: 978-3-347-75192-7

ISBN E-Book: 978-3-347-75194-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

ERSTER TEIL

LINBÉR

Unergründlich sind die Wegeder menschlichen Leidenschaft…

I

Freitag, der sechsundzwanzigste September.

Ich bin süchtig nach dieser Stadt, nach ihren Straßen, Plätzen, Cafés, Restaurants, Lokalen, Geschäften; nach dieser ständigen Bewegung von Menschen, die hier leben, oder die sie besuchen. Meine Sucht nach Linbér ist noch nicht vergangen und wird es auch nie sein, weil es Gegenden gibt, in denen ich noch nicht gewesen bin, auf deren Straßen ich nicht gegangen bin; Seen und Kanäle, die ich nie aufgesucht habe, Menschen, mit denen ich noch nicht gesprochen habe.

Ich habe das Gefühl, und ich denke, ich kann es richtig beschreiben, dass meine Leidenschaft, mehr und mehr Straßen, Gebäude und menschliche Charaktere in dieser Stadt kennenzulernen, niemals schwächer werden wird. Linbér ist eine Stadt von vielen, eine Stadt, in der die Schicksale vieler Menschen, die nur wenige Jahre hier gelebt haben oder für immer dageblieben sind, miteinander verflochten sind.

Natürlich könnte ich auch woanders hingehen. Zum Beispiel nach Rom. Oder mich in die Einsamkeit einer kleinen Stadt im Harz zurückziehen. Aber ich habe Linbér nicht gut genug kennengelernt, daher zieht mich Linbér immer noch an. Meine Sucht nach ihr wächst mit meinem Gefühl der Zugehörigkeit.

Ich kann auch einen anderen europäischen Ort aufsuchen! Paris, Madrid, Lyon, Wien, Mailand, Nizza oder Florenz… Aber wenn ich jetzt Linbér verlasse, wird sie immer noch als ein leidenschaftlicher Ort in meiner Biographie bleiben – ungenügend bekannt und genau so wird sie weiter existieren. Der Gedanke an sie wird mich kaum jemals verlassen…

Ich hatte nie das Gefühl, zu einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Stadt eine so starke Bindung zu haben wie zu Linbér, zum Leben in ihr und zu meiner Existenz als eine Verhaltensweise und eine Reihe von Empfindungen. Im Gegenteil, früher konnte ich es in einer Wohnung nicht länger als ein, zwei Jahre aushalten, manchmal sogar nur wenige Monate, in einer konstanten Umgebung von Häusern, Gegenständen, Freunden und Nachbarn. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich zum ersten Mal Leidenschaft für einen bestimmten Ort fühle, eine Leidenschaft, die sich in der täglichen Notwendigkeit des Kontakts nicht nur mit Menschen, sondern auch mit leblosen Objekten wie Parks, Straßen, Plätzen, Bäumen, Bussen und Taxis ausdrückt, und das finde ich überhaupt nicht seltsam. Ich genieße die ankommenden Bilder und Erinnerungen, die durch bewegte Stadtmalereien, Silhouetten und Gesichter entstehen.

Bevor ich nach Linbér kam, lebte ich in einer östlichen Stadt, in einem östlichen Land…

Ich halte meine Verbundenheit mit der Stadt geheim. Selbst Anne-Marie weiß nichts davon. Wenn sie eine gemeinsame Reise an die spanische Riviera, nach Tunesien, Griechenland oder nach Zypern vorschlägt, erinnere ich sie immer wieder daran, dass eine Änderung des Klimas bei mir Migräne, Müdigkeit oder ein Gefühl der inneren Unruhe hervorrufen würde.

Nur ein einziges Mal stimmte ich zu, an die Nordküste zu fahren. Ich wollte meine Leidenschaft prüfen und herausfinden, ob sie stärker war als ich.

Der Tag verging unmerklich – wir gingen barfuß an der Küste entlang und schwammen. Zu Mittag aßen wir Fisch und fütterten die Möwen. Anne-Marie redete in einem fort, wobei sie nicht auf Antworten auf die von ihr gestellten Fragen wartete. Vielmehr bewegte sie sich von einem Thema zum nächsten, ohne ein Interesse an einer echten Unterhaltung. Sie benahm sich wie als hyperaktives Kind, dessen Aufmerksamkeit nicht lange bei einer Aktivität oder einem Thema verweilt. Von Zeit zu Zeit fragte sie mich so nebenbei wie ich mich fühlte – ich nehme an, um zu zeigen, dass sie um mich besorgt war…

Kurz nachdem Anne-Marie eingeschlafen war, bekam ich plötzlich zwar nur leichte, aber unangenehme Kopfschmerzen. Ich lag still neben ihr und beobachtete sie. Ihr nackter Körper zeichnete sich im Halbdunkel ab, silbern und oval, vor dem Hintergrund des schwachen Lichts, das durch die Fenster des Mehrdeckschiffes hereinfiel. Ich konnte nicht schlafen. Sobald ich meine Augen schloss, meditierte ich. Ich flog über Linbér hinweg und niemand bemerkte mich. Tegel, Wedding, der Fernsehturm, Alexanderplatz, Friedrichstraße, Charlottenburg, der Tiergarten, Europa-Center und die Gedächtniskirche…

Und so ging es die ganze Nacht. Meine Kopfschmerzen nahmen mit jeder verstrichenen Stunde zu. Ich konnte nicht einschlafen – in meinen Gedanken entstanden nur halb reale Gesichter, imaginäre Bilder von Linbér bei Nacht von oben gesehen… Linbér – die Stadt für alle.

Am Morgen erzählte ich Anne-Marie, dass es mir nicht gut ginge und ich gleich nach dem Frühstück zurückfahren wollte. Sie war enttäuscht, weil sie bereits ein Programm für zwei weitere Tage geplant hatte. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie hätte eifersüchtig werden können. Doch wenn sie erkannt hätte, wie seltsam diese Geschichte war, hätte sich ihre Eifersucht in Mitleid verwandelt. Ich kenne sie ziemlich gut – Einerseits ist sie oft eine prinzipientreue Realistin, dann wiederum schreibt sie romantische Gedichte.

Die erste Wohnung, die ich nach meiner Ankunft in Linbér mieten konnte, lag in Neukölln. Diese Gegend hat zwei Gesichter. Tagsüber ist sie gastfreundlich, die Sonnenallee ist lebhaft und angenehm. Aber am Abend wirkt die Gegend verlassen, die Lichter schwinden und die Dunkelheit legt sich langsam auf die kleinen ungepflegten Seitengassen. Ein Gefühl der Angst und der Unsicherheit überfiel mich jede Nacht. Ich, ein Mann, der daran gewöhnt war, bis Mitternacht durch die Straßen zu schlendern, in der Hoffnung, dass es in dieser Stadt noch etwas anderes geben könnte, stand in meiner Wohnung und sah heimlich aus dem Fenster hinaus in die trüben Lichter der Stadt.

Ich bemerkte bald, dass auch andere dies taten. Natürlich war das keine Lösung. Ich fühlte mich bedrückt und versuchte einen Weg zu finden, um mich loszureißen, um aus dieser Isolation herauszukommen, ich konnte nicht schreiben…

Ich hatte noch nie einen solch starken Drang verspürt, mich von einem bestimmten Ort zu distanzieren, wie damals…

Das dauerte also drei Monate und dann zog ich nach Charlottenburg. Ich kannte die Gegend ein wenig, aber der Bezirk hatte mich schon lange mit seinen zahlreichen Cafés, der ununterbrochenen Bewegung von Autos und Menschen, dem hell erleuchteten Ku'damm und der Kantstraße angezogen.

Mein neues Zuhause befindet sich in der Bleibtreustraße 7, im sechsten Stock rechts – ein relativ ruhiger und friedlicher Ort. Ich habe von meinen Fenstern eine gute Aussicht und komme mit den Nachbarn klar. Zuerst nannten sie mich „den Neuen“, womit sie offensichtlich betonen wollten, dass sie bereits seit langer Zeit in ihren Häusern lebten und ich ihnen fast wie ein Eindringling vorkam. Aber natürlich haben sie sich an meine Anwesenheit gewöhnt. Das wurde mir besonders in einem Gespräch mit Herrn Kohl auf der Haustreppe klar, als ich ihm antwortete: „Es ist egal, wann und wo – irgendwann kommen die Menschen!“, und dann stimmte er mir zu.

Das Linbér Stadtzentrum liegt nur eine U-Bahnstation vom Savignyplatz entfernt. Wenn ich wollte, müsste ich die U-Bahn nicht benutzen. Die Bleibtreustraße verbindet den Ku'damm mit der Kantstraße. Das Dreieck zwischen Bleibtreustraße, Savignyplatz und Grolmannstraße bleibt dabei ruhig und auf seine Art attraktiv.

Meine Wohnung befindet sich gegenüber dem Café Zillemarkt. Weitere kleine Cafés, Pizzerien, Lokale und Restaurants befinden sich neben Boutiquen, deren Schaufenster das Gesicht der Bleibtreustraße bunt und weltoffen erscheinen lassen. Man kann hier im Café Zillemarkt oder in Cousin Français frühstücken, im indischen Restaurant sein Mittagessen einnehmen und wenn man keine asiatische Küche mag, kann man im Restaurant Ljubic oder im Don Quijote spanisch essen. Das Restaurant San Marino auf dem Savignyplatz besuchen die Leute meist erst abends. Am späten Nachmittag wird es im Bierhaus Zwölf Apostel viel zu laut.

Ich persönlich bevorzuge das Terzo Mondo – es befindet sich im Besitzt eines griechischen Gastwirtes und ist ein unaufdringliches und vernachlässigt aussehendes Lokal, das an der Grolmannstraße liegt. Dort kann man bisweilen jungen Dichtern begegnen, die Wein trinken und über die Werke berühmter Schriftsteller sprechen.

„Wenn ich das Lokal renovieren lasse, verliere ich sofort die Stammkunden!“, sagt der alte Grieche Aris. Er spricht immer mit einer gewissen Theatralik. „Die Menschen sind an die grauen Wände und an die zerkratzten Tische gewöhnt. Wenn sich auch nur ein Millimeter des Innenraums ändert, ist es mit mir vorbei! Das wäre der schnellste Weg, um die Kundschaft zu verscheuchen. Und wer will das schon?“ Es ist wirklich wahr – kaum jemand könnte sich vorstellen, dass das Terzo Mondo anders aussehen würde. Ich habe das Glück, an einem der reizvollsten Orte Linbérs zu leben.

Irgendwo in der Nähe lebt Michael Hudson mit dem Künstlernamen Medina. Michael Medina spielt in der Deutschen Oper. Wir lernten uns zufällig letzte Woche im Cousin Français kennen, frühstückten an demselben Tisch und unterhielten uns.

„Ich warte auf einen Freund. Er… Er ist ein bisschen merkwürdig… Verstehst du?“, fragte Michael.

Nein, ich habe es nicht verstanden, aber ich nickte zustimmend und mit vollem Mund sagte ich: „Aha!“

Als Stephan kam, warf er mir mit leicht gespitzten Lippen einen sehr unfreundlichen Blick zu, dann lächelte er Michael an, begrüßte ihn und ließ unwillig seine Hand fallen.

„Stephan ist ein seltsamer Typ. Aber bitte, ziehe keine falschen Schlüsse…“, erklärte Michael später. „Er bedeutet mir viel. Vor einiger Zeit war ich in einer sehr schwierigen Situation. Dann habe ich ihn getroffen. Er hat mir geholfen.“

„Solche Leute trifft man heute selten.“, merkte ich an.

Michael ist viel gereist. In Europa hatten ihn die verschiedenen Traditionen beeindruckt und das einzigartige Kolorit jedes europäischen Landes, das er besucht hatte. Alle Küchen Europas haben ihm geschmeckt. Doch die bulgarische Volksmusik hielt er für die Schönste. Gleichzeitig konnte er aber seinen Stolz, Amerikaner zu sein, nicht verbergen. Obwohl er einmal erwähnte, dass seine Großmutter Mexikanerin war.

Eines Tages zog Familie Tschechow vom ersten Stock überraschend aus. Sie waren Auswanderer aus der Ukraine. Es gab Gerüchte, sie hätten sich gefälschte jüdische Dokumente besorgt, mit denen ihnen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war. Es hieß, sie seien zu einer anderen Adresse gezogen, weil sie befürchteten, jemand vom Haus könnte sie verraten. In den letzten Monaten vor ihrem Auszug seien sie zu ihren Nachbarn besonders höflich gewesen. Man habe eine eigenartige Spannung und einen beunruhigten Ausdruck in den Augen von Tatjana Tschechow feststellen können. Ich kannte sie nicht gut, denn sie verließen bereits kurz nach meiner Ankunft ihr Zuhause. Familie Tschechow verließ ihre Wohnung, ohne dass jemand wusste, wohin sie gingen. Vielleicht wollten sie einen Ort finden, an dem sie niemand kannte…

Die Alliierten verlassen die Stadt. Es gibt Abschiedsparaden und Feuerwerke… Aber irgendwie ist es auch traurig, die Stadt verliert an Magie ihrer Sprachenvielfalt. Es bleiben nur die Spuren die Zeit. Tausende Teile von Linbér sind auf der ganzen Welt verstreut und beginnen unabhängig voneinander zu existieren, um Raum und Zeit zu trennen. Die Stadt wird in den Biographien vieler Menschen lange ein Meilenstein bleiben – Leben in Linbér und darüber hinaus, Leben vor und nach der Mauer…

In letzter Zeit tauchen immer weniger klare Erinnerungen in meinem Gedächtnis auf. In den meisten Fällen sind sie mit Bildern und Gesichtern aus verschiedenen Perioden verflochten. Die gleichzeitige Überlagerung inkompatibler Ereignisse und Tatsachen wird nur dadurch gerechtfertigt, dass sie Teile aus meinem Leben sind, wenn auch chronologisch verschoben.

So ist es auch mit meinen Träumen… Bilder, Farben, Straßen und Gebäude aus den verschiedenen Städten, in denen ich war, sind harmonisch in meine Nachtträume verwoben und stapeln sich in sagenhafte, schön rekonstruierte Muster, imaginäre Projekte für neue Städte. Ich habe schon mehrmals davon geträumt, dass ich solche Städte überfliege oder durch ihre Straßen fahre. Diese seltsame Neuverteilung von Raum und Zeit, die Platzierung voneinander entfernter Gebäude von einem Ort zu einem anderen, ist wahrscheinlich ein lustiges Spiel für mein verschlafenes Bewusstsein.

Als ich eines Tages darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich die Kontrolle über meine eigene Vergangenheit verloren hatte. Diese Schussfolgerung bereitete mir Gänsehaut. Dann beschloss ich, etwas in diese Richtung zu tun. In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war Anne-Marie.

Vor kurzer Zeit begann ich an Sarah zu denken. Ich erfuhr von ihr durch anonyme Nachrichten, die an den Bäumen der Straßen angebracht waren. Genau gesagt, auf den Bäumen, die entlang der Bleibtreustraße und der Knesebeckstraße wachsen. Vielleicht waren die Nachrichten anderswo auch, aber ich habe sie zumindest auf den anderen Straßenbäumen der Umgebung nicht gefunden.

Hat Sarah vielleicht hier in der Nähe gelebt? Vielleicht im Hotel Elba in der Bleibtreustraße 26? Wir könnten gemeinsam im selben Café gesessen haben. Sie rauchte vielleicht eine Zigarette und sprach mit Freunden und ich saß am Nebentisch, ohne ihre Gelassenheit zu bemerken. Oder habe ich nur darauf gewartet, dass Sarah eine Telefonzelle verlässt, damit ich Anne-Marie, Bärbel oder… egal wen anzurufen konnte?

Der Text war sehr sentimental, schmerzhaft aufrichtig, gefüllt mit den Ausdrücken „komm zurück“, „ich liebe dich“, „kann nicht vergessen“, „ich bitte dich“. Da er auf Englisch geschrieben war, nahm ich an, dass Sarah eine Engländerin sein könnte.

Warum ist sie fortgegangen? Wen hat sie verlassen? Die Antwortmöglichkeiten in dieser Richtung waren zu zahlreich und führten zu neuen Fragen. Ich fand es lustig, an Sarah als eine Frau zu denken, die aus dem einen oder anderen Grund nach meiner Ankunft in Linbér in meinem Kopf geblieben war. Vielleicht war Sarah die Engländerin, der ich zeigte, wo der Zug nach Malmö abfuhr, während ich darauf wartete, dass Anne-Marie am Hauptbahnhof ankam… Nein, sie war die blonde Kellnerin, die nur eine kurze Weile im Café Bogen gearbeitet hatte… Aber war es nicht dieses Mädchen, das die überfüllte U-Bahn benutzte, um mich unbemerkt von den anderen zu küssen und sofort danach zu verschwinden? Sarah könnte auch in einer Gruppe umherreisender Musiker vor Christos verhülltem Reichstag gesungen haben…?

Nein, nein… Die Wahrheit über Sarah muss sich auf den sechs kleinen Blättern versteckt haben, die ich im Café Aedes gefunden habe. Tatsächlich lagen sie auf dem Boden unter dem Tisch. Das Geschriebene fand ich interessant und als ein begeisterter, schreibwütiger Mensch, habe ich sie behalten. Die Blätter, wahrscheinlich aus einem persönlichen Tagebuch herausgefallen, waren der Versuch einer Selbsttherapie oder ein Teil eines nicht verschickten Briefes… Wer weiß?

Wir leben seit fünf Jahren zusammen. Olaf liebt mich. Ich weiß es. Aber ich weiß auch, dass er nicht der Mann ist, mit dem ich mein Leben verbringen werde. Meine Liebe verblasst, sie ist verloren… Wie kann ich ihm sagen, dass alles zwischen uns vorbei ist…?

DIENSTAG:

Er ist so nett zu mir. Er glaubt, dass es lange dauern wird, vielleicht – für immer… Es wird ihm sehr weh tun… Ich muss es ihm erklären…

DONNERSTAG:

Olaf ist nicht in guter Stimmung. Er hatte Probleme in der Arbeit… Er war verärgert, wollte eine Lösung finden und er hat laut mit sich selbst geredet. In einem solchen Moment kann ich mich nicht dazu entschließen, über ernsthafte Dinge zu reden…

FREITAG:

Das Ende der Woche. Fünfzig Stunden mit Olaf! Zwei Tage Sex, Frühstück im Bett, nette Worte… Schatz, Liebling… Früher mochte ich alles davon, aber jetzt nervt es mich. Er ahnt nichts. Ich fühle mich beschämt. Der Gedanke, dass ich ihn bald verlassen werde, lenkt mich ab – ich bin nicht anwesend. Ich überlege, wohin ich gehen könnte… Der Mann, der diese Bewegungen vor und zurück macht, ist mir fremd…

SONNTAG:

Ich hasse mich! Ich hasse mich, weil ich noch in der Wohnung bin und weiter mit ihm schlafe! Es ist schrecklich, mit jemandem zu leben, den du nicht mehr liebst. Seine Stimme, sein Atem, seine Finger… Ich zittere bei der Berührung seiner behaarten Brust… Ich kann ihn nicht anfassen… Ich tat so als ob… Und am Abend lief ich ziellos ein paar Stunden lang herum, einfach damit ich nicht zusammen mit ihm sein muss, damit ich weglaufen kann, zumindest für eine Weile…

MONTAG:

Ich habe am Telefon mit meiner Mutter gesprochen. Sie war verschreckt. Sie dachte, er wäre meine beste Wahl. Sie war verwirrt… Sogar mehr als ich… Ich sollte gegen meine Gefühle ankämpfen. Sie seien vorübergehend… Sie riet mir zu warten, nichts zu überstürzen… Der Abend ist ein neuer Test. Seine Küsse verursachen mir Schmerzen. Ich fühle sein Ding zwischen meinen Beinen – der Abgrund zwischen uns ist unüberwindbar…

MITTWOCH:

Alles an ihm nervt mich. Wie er isst, wie er kaut, sein selbstbewusstes Aussehen… Es macht mich wütend!

FREITAG:

Ich werde es ihm heute sagen. Ich kann meine Gefühle nicht länger unterdrücken. Aber wie fange ich an? Während ich in der Küche koche, bei einem Glas Wein…? Oder gleich nachdem er die Wohnung betritt…?

SAMSTAG:

Seine Eltern haben uns überrascht. Sie kamen, einfach so – um zu sehen, wie es uns ging… Sie waren zufällig in der Nähe… Ich spielte die Rolle einer glücklich verliebten Frau… Warum warte ich noch? Warum sage ich ihm die Wahrheit auch jetzt noch nicht? Was erwarte ich mir noch von ihm?

MONTAG:

Als wir am Abend zusammensaßen, habe ich es ihm einfach so gesagt. Es war unerwartet für ihn. Auch für mich. Er wurde blass. Er fragte, ob es einen anderen Mann gäbe. Nein, sagte ich. Vielleicht sollte ich mindestens vier Wochen alleine verbringen. Ich brauche etwas Zeit zum Nachdenken… Seelische Krise oder so etwas… Er schlug vor, gemeinsam die Wohnung zu wechseln. Eine Abwechslung würde uns vielleicht helfen… Ich sagte ihm, dass das nicht nötig sei. Ich hatte Angst, dass ich ihn verletzen würde. Ich habe die ganze Schuld auf mich genommen. Ich versprach ihm, eine gemeinsame Reise zu unternehmen, sobald ich wieder zurück bin… Wir weinten den ganzen Abend…

NACH ZWEI WOCHEN:

Es ist vorbei! Ich weiß, dass ich nicht zurückkommen werde. Ich vermisse ihn – das habe ich nicht vermutet. Wenn es sein muss, werde ich alleine leben. Nur weit entfernt von Olaf kann ich meine geistige Integrität und innere Balance bewahren…

Das Telefon von Herrn Schukert, meinem Verleger, schweigt beharrlich. Ich habe seit mehreren Wochen keinen Kontakt zu ihm. Anne-Marie ist bei Verwandten in Hessen abgefahren. Ich halte es in der Wohnung nicht mehr aus und gehe hinaus. Im Winter ist Linbér ganz anders. Sie erscheint auf den ersten Blick ein wenig langweilig, aber nur für diejenigen, denen die Stadt fremd ist. Linbér hat seinen eigenen Puls und ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, der ihn fühlt, ihn hört, der ihn fangen kann…

Es ist bereits Abend. Die Gebäude sind des Tratschens müde und schlafen nebeneinander. In diesem Winter haben sich aufgrund der extrem niedrigen Temperaturen in der Rinde der Bäume Risse gebildet. Nur die Straßen kommunizieren mit einem seltsamen Gewirr aus Klang und visuellen Spuren – eine anmutige Symphonie des urbanen Körpers. Indem ich an dieser Grenze zwischen imaginären und greifbaren Welten stehe, verspüre ich immer ein Gefühl der Bewunderung und eine besondere Art emotionaler Erregung…

Die Sucht zu beobachten, Bilder und Ereignisse von Linbér zu versiegeln, taucht mit jedem Schritt wieder auf, mit jedem neuen Atemzug der Morgenluft auf der Terrasse, mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Ästhetischer Voyeurismus, verschwommene Bewegungen im Raum, dem Schein nach konzentriert um der Gedächtniskirche herum, schwebende Schwarz-Weiß-Gemälde von Kriegsfilmen, vage Umrisse, welche an meiner Neugierde kratzen, trotz meines Wunsches, sie zu erkennen, sie einzuordnen…

Durch meinen Kopf kriecht ein absonderlicher Gedanke, dass die schwere Last von Erinnerungen, Bildern und Gesichtern, die aus anderen Zeiten kommen, wahrscheinlich vererbt wird…

Viele Linberaner besuchen am Wochenende einen der zahlreichen Flohmärkte der Stadt, auf denen überwiegend alte, meist ausrangierte Gegenstände verkauft werden. Und ich kann mir die Sturheit der Verkäufer, mit der sie wochenlang alle möglichen Sachen anbieten, nicht erklären: von Würmern zerfressene Tische und Schränke, Schallplatten, Knöpfe, Wasserhähne, Porzellanwaren, Gemälde, Besteck, Teller, Militärorden, Hüte, Uniformen, Bücher, Puppen und Teppiche… Wahrscheinlich hegen sie die Hoffnung, dass ihre Vergangenheit weiterleben wird, Platz in einer anderen Existenz finden wird… in einer anderen Zeit und in einem anderen Raum…

Eines Tages bemerkte ich auf dem Straßenmarkt des Viertels einen ungewöhnlichen Gegenstand – einen Spiegel, auf dem ein Porträt einer jungen Dame, die einen randlosen runden Hut und einen Minirock aus die Jazz-Ära der 1920-er trägt, eingraviert war. Man konnte auch einen Teil eines alten Autos erkennen.

Der Spiegel war nicht teuer. Während ich bezahlte, überzeugte mich der irische Verkäufer, dass ich einen guten Kauf machen würde. Der Spiegel habe früher seinem reichen Großvater gehört und wenn man sich öfter darin betrachte, würde einem dasselbe Schicksal widerfahren wie dem Vorbesitzer.

Gutes Essen, ein großer Bekanntenkreis und geschmackvolle Bekleidung sind ein unbestreitbares Zeichen von Luxus. Aber Leidenschaft für eine bestimmte Stadt zu fühlen, den Wunsch nach ständigem Kontakt mit ihr zu spüren, ist nur wenigen möglich. Meine Leidenschaft zu Linbér ist auch mein Versuch, die Harmonie von den Klängen der Monotonie zu trennen, ein Versuch, der meiner Existenz Sinn und Zweck verleiht und mich vielleicht glücklich macht. Ich gehe meiner Leidenschaft nach… Heimlich und unbemerkt von den anderen bin ich stolz, im Besitz dieser Akquisition zu sein…

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen Gedanken, den ich vorher nicht ganz verstanden habe: „Die Geheimnisse, die wir in uns verbergen, halten unsere Beziehungen zu anderen im Gleichgewicht.“

Es gibt keinen Aufzug in meinem Wohngebäude. Wenn ich abends die Treppen hinaufgehe, tauchen die Namen aller Mieter der Bleibtreustraße 7 vor meinen Augen auf: Schmidt, Rösske, Bowman – im Erdgeschoss; Dr. Kol, Zimmermann, Grass – im ersten Stock…

Warum ist die Tür von Herrn Grass jetzt offen? Es ist nach zehn Uhr. Gibt es einen Einbruch? Oder einen Mord?

„Herr Grass!?“

Ich rief vorsichtig und leise, um die Aufmerksamkeit der Nachbarn nicht zu erregen. Und ich muss gestehen, dass ich unsicher war. Ich fühlte mich selbst wie ein Verbrecher. Ich ging ungebeten in eine fremde Wohnung…

„Herr Grass!?“, rief ich erneut leise, konnte mich aber noch nicht dazu entschieden, hineinzugehen. Es kam mir vor, als könnte ich Keuchen, Schnauben, Knurren und andere ähnliche Geräusche wahrnehmen.

„Herr Grass, darf ich reinkommen?“

Das unwillkürliche Knurren wiederholte sich, wurde sogar lauter. Das trieb mich an und ich trat über die Türschwelle. Ich stieß die halboffene Tür mit dem Ellbogen auf, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Herr Grass, ein ungefähr fünfzigjähriger Mann mit dünnem weißem Haar und einem kahlen Kopf, lag ganz nackt auf seinem Bett und war an Armen und Beinen gefesselt. Sein Mund war geknebelt. Der abscheuliche Anblick dieses kleinen Mannes – hilflos, mit Augen voller Angst, mit seinem erschlafften Penis zwischen den Beinen – überraschte mich sehr! Ich zögerte keinen Augenblick und beeilte mich, ihn rasch zu befreien.

„Was ist passiert, Herr Grass? Wurden Sie angegriffen? Soll ich die Polizei rufen? Oder ihre Frau?“

„Nein, bitte, keine Polizei! Nur einen Augenblick… ich muss zuerst nach frischer Luft schnappen. Versprechen Sie mir… niemanden etwas davon zu erzählen! Meiner Frau auch nicht!“, Herr Grass atmete unregelmäßig, teils aus Angst, teils aus Verwirrung, teilweise wegen seiner misslichen Lage…

„Ich verspreche es!“, antwortete ich, unfähig festzustellen, wer von uns verwirrter war.

Herr Grass bedeckte sich wahllos mit einem Kleidungsstück, ging zur Wohnungstür und schloss sie zu. Dann holte er zwei Bier aus der Küche und kam wieder zurück in das Schlafzimmer.

„Wie konnte meine Frau vergessen, die Tür zu versperren!?“

Herr Grass öffnete die beiden Bierflaschen und setzte sich auf das Bett. Ich wollte nicht sitzen.

„Ich wohne hier mit Renate, meiner Frau. Nachdem meine Firma bankrott gegangen ist, das ist ungefähr ein Jahr her, hat sich Renate verändert. Sie sagte mir, ich müsse die Wohnung verlassenen, wenn ich keinen Job habe. Und wo soll ich hingehen? Wer braucht mich? Unsere Kinder haben ein eigenes Leben. Ich würde nur stören…

Herr Grass erzählte mit sanfter und flacher Stimme seine Geschichte, als hätte er sich schon lange darauf vorbereitet, sie mit jemandem zu teilen. Nur sein Widerwille mir in die Augen zu sehen, verriet mir, dass es ihm peinlich war und er sich schämte. Sein Blick wanderte ziellos im Schlafzimmer umher und kehrte immer wieder zu der Bierflasche zurück, die er in seiner rechten Hand hielt.

„Renate hat einen Liebhaber – Albert. Sie geht zu ihm, wann immer er es will. Albert ruft oft spät in der Nacht an. Sie nimmt das Auto und fährt zu ihm. Es dauert nicht lange. Nur ein paar Stunden und dann kommt sie zurück… Sie kommt immer zurück, übernachtet nicht dort… Damit sie mich demütigt, das ist für sie ein Vergnügen. Von Tag zu Tag verstärkt sich dieser Drang und er wird immer größer. Wie eine Sucht. Und glauben Sie mir, es gibt keinen Weg heraus… Es war ihr nicht genug, mich zu demütigen, sondern sie kam auf die Idee, mich zu fesseln, während sie abends weg ist. Sie demonstriert ihre Macht über mich, betont meine sklavische Hilflosigkeit… Und er, Albert, schlägt sie dort, in seiner Wohnung. Ihr Körper ist mit Prellungen übersät. Er ist grob zu ihr und sie dann zu mir… Mindestens zwei Mal pro Woche. Unsere Hochzeitstage, Geburtstage und andere Festtage, feiern wir zu dritt. Immer zusammen. Das will ich natürlich nicht. Ich sterbe beinahe vor Demütigung und Schmerz…“

Herr Grass schüttelte seinen jämmerlichen Körper und weinte, er konnte seine Gefühle nicht mehr beherrschen, obwohl er sich die ganze Zeit bemüht hatte. Er stellte die Bierflasche auf den Boden und wischte sich mit beiden Händen das Gesicht ab.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich auf die Straße hinausgehe, bettle, mich nicht wasche… Sie verdient sehr gut und zahlt die Miete, andere Rechnungen, der Kühlschrank ist immer voll… Aber sie kocht nicht, wäscht das Geschirr nicht ab, reinigt die Wohnung nicht. Ich muss das alles tun. Das ist der Preis für meinen „Wohnkomfort…“

„Und trotzdem muss es einen Ausweg geben“, versuchte ich, die Situation zu entspannen.

„Oh ja! Vielleicht gibt es einen“, antwortete Herr Gras widerwillig, „aber nicht für mich. Ich habe viel darüber nachgedacht… Ich habe keine andere Wahl… Wohin kann ich gehen? Wir leben seit dreißig Jahren hier… Auch Renate kann nicht ohne mich. Sie werden seltsam finden, was ich Ihnen jetzt sage, aber ich liebe sie. Trotz alledem liebe ich sie… Oh! Sie kommt bald zurück!“, sagte Herr Grass erschrocken, nahm die leeren Flaschen und verließ den Raum. Seine Kleider waren auf dem Boden verstreut – abgenutzt, alt, voller Flecken. „Bitte, binden Sie mich wieder fest!“, sagte er, nachdem er zurückgekommen war. Er lag wieder nackt auf dem Bett, mit gespreizten Armen und Beinen. „Renate wird wütend sein, wenn sie herausfindet, dass ich mit jemandem Bier getrunken und geredet habe, während sie weg war. Binden Sie mich fest und bitte, kein Wort zu irgendjemand! Sie verstehen meine heikle Situation… hoffe ich… Und schließen Sie die Tür hinter sich. Sie hat sie versehentlich offen gelassen… Wahrscheinlich… oder nicht? Was denken Sie?“

„Ich schließe die Tür, Herr Grass! Andere Nachbarn sollen Sie so nicht sehen! Und falls ihre Frau bemerkt, dass jemand bei Ihnen war, sagen Sie ihr einfach die Wahrheit!“

„In Ordnung! Sie haben recht! Danke vielmals! Renate hat sie versehentlich offen gelassen… Ich bin mir sicher! Eines Tages, hoffe ich, werden wir beide zusammen ein Bier trinken und uns wieder darüber unterhalten, aber unter anderen Umständen.“

„Bestimmt! Mit Vergnügen!“, antwortete ich, aber ich hoffte, dass dies nicht passieren würde. Kaum einer von uns wird noch einmal darüber reden wollen.

Niemand wird wohl nach solchen Fotos suchen, wie ich sie in meinem Zimmer in der Bleibtreustraße gefunden habe. Und trotzdem habe ich sie behalten. Genauer gesagt, habe ich sie dort gelassen, wo sie waren – im Einbauschrank.

Vielleicht gehörten die Fotos und die Postkarten einem Studenten aus Baden-Württemberg, denn die meisten von ihnen beinhalteten Weihnachtsgrüße aus Stuttgart, Urbach, Freiburg, Tübingen, Heidelberg oder Salzburg… Es waren Familienbilder – Gesichter in verschiedenen festlichen und zufälligen Momenten, an die man sich erinnern musste. Aber jetzt sind sie vergessen, verlassen. Nicht mehr nötig? Inger, Karsten, Oliver, Kathy, Wilhelmine, Marcus, Horst, Hella… Die Namen stehen auf den Rückseiten der Bilder und der Weihnachtskarten.

Heute bin ich mit Anne-Marie zu Fuß durch die Kantstraße geschlendert – Boutiquen, kleine Lebensmittelgeschäfte, Antiquitätenläden, Luxusvitrinen berühmter Modedesigner, Hotels, Bücherständer auf dem Gehsteig, Cafés… Jahrelang sind viele Linberaner den gleichen Weg gegangen – von der Schule, dem Theater, dem Kino oder der Oper… Der Nachmittag ist warm. Ich ziehe mein Sakko aus und schwinge es auf meine Schulter. Eine unerwartete Welle der Traurigkeit erfüllt plötzlich meinen ganzen Körper. Ich gehe mit einer unbestimmten Angst weiter, dass mir etwas entgehen könnte, dass etwas nach und nach mit der Zeit an mir vorbeilaufen würde…

„Wir sind schon da“, sagt Anne-Marie in Hochstimmung.

Ich hatte vergessen, wohin wir gingen.

Schell war der Tag vorüber gegangen. Ich war müde, aber ich hatte keine Schmerzen. In der Nacht konnte ich kaum schlafen. Der Mond, der am Nachthimmel majestätisch aufgegangen war, beleuchtete die Stille der Stadt. Ein beeindruckender Anblick. In der Früh sah ich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne und meine Augen streifen die Baumkronen des Tiergartens. Bald würde Anne-Marie aufwachen. Ich ging in die Küche und begann das Frühstuck vorzubereiten. Später, vielleicht gegen neun Uhr, werden wir wieder Kaffee trinken – in Terzo Mondo oder wo auch immer, irgendwo, wo Anne-Marie es wünscht.

Die Familien Held, Jeske und Mayer wohnen im zweiten Stock. Die Familien Binner, Dilmar und Vogel – im dritten…

Günther Vogel ist jung, vielleicht um die dreißig. Es gibt kaum einen Mieter, der seine Geschichte dieses Sommers nicht kennt. Seine Frau, Patricia Vogel, glaubte blind an Horoskope. Sie kaufte regelmäßig Bella, Brigitte, Lisa und vermutlich auch andere ähnliche Magazine und sprang sogleich leidenschaftlich auf die Seiten mit den Horoskopen. Sie erstellte anhand ihres Horoskops einen Tagesplan, an den sie sich dann auch strickt hielt. Patricia glaubte, dass das „Horoskopleben“, wie sie es nannte, der beste Weg sei, sich vor Unglück zu schützen und dass sie nur auf diese Weise die Chancen, die ihr das Schicksal zu bieten hatte, voll ausnutzen konnte.

Der junge Günther schenkte ihren Aktivitäten wenig Aufmerksamkeit. Sie schnitt Seiten von Zeitungen und Zeitschriften aus und klebte sie in ein spezielles Buch. Was Patricia in ihr Buch hineinschrieb, interessierte Günther nicht. Daher nahm er es nicht ein einziges Mal in die Hand, um auch nur eine Zeile darin zu lesen. Die beiden führten eine durchaus glückliche Ehe und es gab nie Grund zur Sorge, bis Patricia eines Tages Folgendes in ihrem Horoskop las: „Heute werden Sie eine Zugfahrt unternehmen. Im Zug werden Sie einen alten Freund treffen. Zögern Sie nicht! Denn er wird ihr Leben in eine positive Richtung verändern.“

Patricia hatte an diesem Tag keine Zugfahrt geplant, aber trotzdem entschied sie sich, aus reiner Neugier oder aus Naivität – wie auch immer – der Vorherbestimmung ihres Schicksals zu folgen. Sie ging zum nächsten Bahnhof und kaufte ein Ticket für den ersten Zug, den sie nehmen konnte. Die Richtung war ihr dabei nicht wichtig. Und tatsächlich traf sie im Zug Christian wieder, ihre große Liebe aus der Schulzeit.

Zwei Tage später teilte die Polizei dem beunruhigten Ehemann mit, dass sie Patricias Auto zwar gefunden hatten, es von ihr selbst aber keine Spur gab. „Vermutlich nahm sie den Zug und ist in irgendeine Richtung abgefahren“, teilte der Polizeiinspektor Günther telefonisch mit.

Nach weiteren zwei Wochen verlor Günther jede Hoffnung… Da er sich nicht alleine um die Kinder kümmern konnte, kam seine Mutter, um auf sie aufzupassen. Sie mussten Patricias Sachen verstauen, um Platz für seine Mutter zu schaffen. Dabei entdeckte Günther das Buch mit den eingeklebten Horoskopen aus den Zeitschriften. Er konnte sofort eine Verbindung zum Auto am Bahnhof herstellen und es wurde ihm schlagartig klar, was passiert war. Da er Patricia sehr liebte, überlegte er beinahe die ganze Nacht lang, was er tun konnte, um sie wieder nach Hause zu holen.

Am nächsten Tag schickte er Briefe an die Redaktionen sämtlicher Frauenzeitschriften, in denen er seine Geschichte erzählte. Er bat darum, in einer der nächsten Ausgabe an das Sternzeichen Krebs zu appellieren, dass ihnen die Rückkehr zu einem geliebten Menschen, den sie verlassen haben, bevorstehen würde. Günther hegte die Hoffnung, dass Patricia immer noch die Horoskope in ihren Lieblingszeitschriften verfolgte. Zwei der Magazine zeigten Verständnis – oder „Mitleid“, wie Frau Held sagte – und druckten die gewünschte Nachricht ab.

Patricia kam natürlich sofort zurück. Aber es waren nicht nur die Horoskope, die ihr den Weg nach Hause wiesen, sondern es waren auch Günther und ihre Kinder, die ihr so sehr fehlten.

Am nächsten Morgen wollte sie Bella, Brigitte, Lisa und all die andere Magazine kaufen. Doch Günther konnte sie davon abhalten und er erzählte ihr die Wahrheit. Von diesem Tag an schenkte Patricia den Horoskopen keine Beachtung mehr, sondern hörte nur noch auf sich selbst.

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Kinder sind bereits groß und wohlauf. Das klingt doch wie ein zeitgenössisches Märchen, nicht wahr? Aber ich versichere ihnen, dass sich diese Geschichte genau so zugetragen hat.

Familie Rotherman wohnt im vierten Stock. Sie hat alle drei Wohnungen dort gemietet. Eigentlich weiß ich nicht. Vielleicht haben sie sie gekauft. Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns kennenzulernen. Sie sind bei Mercedes beschäftigt und ständig im Ausland unterwegs.

Und für die Mieter im fünften Stock weiß ich fast nichts. Dieter Metzing ist Student, ich sehe ihn oft im Café Bogen. Er ist nicht redselig und meistens liest er eines seiner Lehrbücher und macht sich Notizen bei einem Glas Bier in der Hand.

Frau Hase ist schon seit langer Zeit ans Bett gefesselt, daher bin ich ihr noch nie begegnet. Eine nette junge Frau kümmert sich aber um sie.

Herr Graf, der auch im fünften Stock wohnt, pflegt keinen Kontakt mit der Nachbarschaft. Ich habe einmal versucht, mit ihm zu sprechen.

„Ich arbeite in einem Theater, aber mehr werde ich nicht sagen!“, sagte er abrupt und beendete damit meine Versuche, ihm näher zu kommen. Er war froh, unbehelligt zu bleiben.

Ich wohne alleine im sechsten Stock. Die anderen zwei Wohnungen sind versperrt. Aber jemand kommt und holt regelmäßig die Post aus den Briefkästen.

Alle Menschen, die ich getroffen habe, alle Gesichter, die ich in Neukölln gesehen habe, sind in meiner Erinnerung verblasst. Als gehörten die drei Monate, die ich in dieser Gegend verbrachte zu einer bleibenden Zeitlosigkeit, als wären sie Teil einer schlechten Erinnerung, zu der ich nur widerwillig zurückkehren möchte…

Manchmal wünschte ich mir dorthin zu gehen, dieselben Straßen entlang zu flanieren und die neuen Mieter meiner früheren Wohnung kennenzulernen… Ich habe es so oft hinausgezögert, darüber nachzudenken. Oder habe ich einfach nicht die Gelegenheit dazu ergriffen, ihr nicht die notwendige Bedeutung gegeben? – Ich weiß es heute nicht mehr so genau. Aber ich habe begriffen, dass es jetzt nicht mehr notwendig ist… Ich muss das nicht tun…

In jüngster Zeit verfolgt mich der Wunsch, die Nähe bestimmter Orte zu suchen und gleichzeitig Distanz zu anderen zu halten. Das dürfte der Grund dafür sein, warum ich meine Heimatstadt so lange nicht besucht habe, dort – in diesem östlichen Land…

Ich habe Angst, die Schreie der Kinder an den Orten zu hören, an denen ich gespielt habe, Angst vor den veränderten Gesichtern der Straßenhändler… Ist das Haus, in dem ich gelebt habe, noch da? Ist der Walnussbaum im Garten ausgetrocknet?

Würde ich sehen, wie sich meine Stadt verändert hat, würde ich die vergleichsweise nachhaltige, wenn auch idealisierte Harmonie meiner Kindheitserinnerungen zerstören. In Gesprächen mit früheren Freunden würden viele Träume zerstört werden, wie Luftschlosser, die wir einst hatten, einstürzen… Die Geschichte meiner Jugend ist dort geblieben…

Ich habe immer noch die Schlüssel des leeren Hauses – unbewohnt, einsam, als würde es auf jemanden warten… vielleicht auf mich, voller Hoffnung, wie eine alte Mutter…

Oft sind Worte nicht genug. Sie sind nur ein Versuch, die Gefühle zu erklären, sie zu materialisieren. Vergeblich! Zwischen mir und meiner Heimatstadt gibt es keine Worte – es gibt nur Gefühle, Erinnerungen, in denen Dutzende von Stimmen widerhallen, und diese von meiner Mutter ist klar und einzigartig. Ich könnte sie niemals mit einer anderen Stimme verwechseln…

Ich bin bei Herrn Koll zum Abendessen eingeladen. Seine Wohnung ist voll von Büchern – in allen Zimmern, wo sie sich sogar auf den Fußboden stapeln. Von der Anwesenheit einer Frau ist nichts zu bemerken. Überall Staub. In Badezimmer – in Plastikeimern eingeweichte Wäsche. „Oh! Verzeihung für die Unordnung! Meine Waschmaschine funktioniert seit gestern nicht mehr. Ich habe eine neue bestellt, aber Sie wissen schon, wie es mit den Lieferungen ist. Mir wurde ein Lieferungstermin vereinbart und keiner ist gekommen. Es ist nervig! Telefongespräche… Machen Sie keine Sorgen um meine Probleme!“, sagte Herr Koll, als ich mir die Hände wusch. Das alles war mir sehr seltsam und entsprach überhaupt nicht meiner momentanen Stimmung…

„Wenn man Junggeselle ist, kann man seine eigenen Entscheidungen treffen, ein unabhängiges Leben führen. Wenn man heiratet, verliert man sofort seinen Frieden. Ich bin ein Mann mit Gewohnheiten… Wie kann ich denn wissen, dass gerade SIE die Person ist, an die ich mich binden möchte? Es würde mir keine Ruhe lassen zu wissen, dass meine Beziehung mit einer anderen Frau passender wäre… Man kann nicht vorhersagen, welche Folgen eine falsche Ehe oder ein falscher Schritt haben würden. Wie Remarque sagt: „Der allein ist, kann nicht verlassen werden.“

Manfred Koll ist körperlich immer noch in guter Verfassung, mit einfachen Gesichtszügen und sehr eitel. Er ist Journalist eines Fernsehsenders.

Das Abendessen wurde im Restaurant La Raza bestellt.

Mit der Zeit wird er nicht merken, wie sich die Langeweile langsam heranschleicht und ihn die Gleichgültigkeit überwältigen wird. Vorläufig ziehen ihn Frauen immer noch an. Er reiste viel, traf unterschiedliche Menschen. Er war freundlich zu mir, offen und herzlich.

Trotz der Müdigkeit versuche ich der Unterhaltung zu folgen. Aus Anstand? – Ja! Aus Neugier? – Nein!

Ich möchte mich an das Gesicht einer Frau erinnern, die ich seit meiner Kindheit kenne. Sie war nach meinen damaligen Vorstellungen sehr schön. Ich liebte sie auf eine seltsame Weise, jenseits der Liebe, besonders und unbewusst. Ich hatte nie die Gelegenheit oder den Wunsch, mit ihr über meine Gefühle zu reden. Wir hatten einen Altersunterschied von zehn Jahren…

Heute kann ich ihre Gesichtszüge in meinen Gedanken nicht wiederherstellen, ich erinnere mich nicht einmal daran, wie sie lächelte… Von ihr ist nur eine zerbrechliche Erinnerung geblieben, ein kaum darstellbarer Schatten…

Egal ob eine Erinnerung aus einer fernen Vergangenheit abgerufen wird oder aus dem unmittelbaren Kontakt mit Menschen, Objekten und Orten, die sie bewahren, es gibt immer ein unerklärliches Gefühl der Leere, obwohl ich weiß, dass ich immer noch existiere und ich versuchen kann, diese Erinnerungen wiederherzustellen. Ereignisse, Gesten, Worte… soweit es mir möglich ist, natürlich…

Im Schiller Theater probt man eines meiner Stücke. Nur noch zehn Tage bleiben bis zur Premiere. Die Schauspieler warten auf meine Beurteilung.

„Bravo!“, sage ich. „Ausgezeichnet!“