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Jonas hütet das Geheimnis um die vier Vermissten. Schon im fortgeschrittenen Alter entschloss er sich, die Geschichte in einem Roman zu erzählen als der Fall längst in den Polizeiakten begraben war. Die vier vermissten Personen wurden zuletzt im Café Portal der Zeit gesehen. Jonas ist der einzige, der die Wahrheit über die Vermissten kennt.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ivan Petrov
Portal der Zeit
Roman
© 2023 Ivan Petrov
Coverdesign von: Boyana Nikova
Verlagslabel: tredition
Druck und Distribution im Auftrag der Autoren: tredition GmbH,
Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
ISBN Softcover: 978-3-347-97069-4
ISBN E-Book: 978-3.347-97070-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich
geschützt. Für die Inhalte sind die Autoren verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autoren, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Was war, wird wieder sein, und was
entschieden wurde, wird wieder getan –
es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Prediger /1.9./ HFA
Die meisten Namen hier wurden geändert. Diese Vorsicht ist vielleicht unnötig, denn seitdem sind mehrere Jahre vergangen, und ich bin mir über den richtigen chronologischen Ablauf und die wirklichen Namen der beschriebenen Personen, die ich hier erwähne, nicht mehr ganz sicher. Im Laufe der Jahre wurden die meisten Mitarbeiter in den Ermittlungs- und Kriminalabteilungen ausgetauscht, und es ist unwahrscheinlich, dass der Fall der vier vermissten Personen jemals wieder aufgenommen wird. Ich gehe davon aus, dass nicht nur direkt an dem Fall beteiligte Ermittler diesen Fall vergessen haben, sondern dass auch die ehemaligen Besucher das Café Portal der Zeit, die etwas mehr oder weniger gehört hatten, bereits aufgehört haben, das Wort „Fluch“ in den Mund nehmen, sobald es um diesen ruhigen und schönen Ort am Rande der Stadt geht.
Für mich ist das schon sehr lange her. Zu diesem Zeitpunkt war ich der Einzige, der eine Erklärung für den Fall geben konnte. Aber wenn ich mich damals zu Wort gemeldet hätte, hätte das nicht zu einem vernünftigen Ergebnis geführt. Im besten Fall wäre ich für den Rest meines Lebens in einer hochmodernen psychiatrischen Klinik eingesperrt.
Ich nehme an, dass es noch Menschen aus dieser Zeit gibt, die gerne die Wahrheit über den Fall erfahren würden, und solange mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt, werde ich erzählen, was ich weiß. Nichts ändert sich so oft, wie unsere Erinnerungen.
Es kommt immer der Zeitpunkt, an dem die Wahrheit ans Licht kommt. Und wer, wenn nicht ich, würde sich sonst dazu entschließen, sie zu enthüllen?
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Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
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Kapitel I
Kapitel III
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I
Das Taxi hielt vor dem Café Portal der Zeit. Ich stieg aus und ging langsam darauf zu. Da ich schon lange nicht mehr hier war, wusste ich nicht, was mich erwarten würde. Ich hoffte inständig, das Café wäre voller Gäste und Rosalie liefe wie immer hektisch um die Tische herum und nähme die zahlreichen Bestellungen entgegen. André würde Cocktails mixen, während er sich an der Bar mit jemandem unterhielt. Und das strahlende Lächeln in seinem Gesicht ihn keinen Augenblick verlassen…
Ich freute mich, es wiederzusehen – das Café Portal der Zeit. Es war über ein Jahr her, seit ich dort angefangen hatte zu arbeiten. Jetzt waren Tür und Fenster mit Holzbrettern vernagelt. Das ganze Gebäude war mit Unkraut umgeben. Die wenigen zerbrochenen Tische und Stühle im Garten des Caféhauses waren übereinander gestapelt und wirkten wie eine surreale Komposition. Ich erinnere mich sehr gut an alles, was ich jetzt beschreibe. Ich erinnere mich an Teile von belauschten Gesprächen zwischen den Gästen im Café, ich kann das meiste von dem, was passiert ist, rekonstruieren ... Aber das heißt natürlich nicht, dass ich die ganze Wahrheit kenne. Die Menschen erzählen alle möglichen Geschichten, vor allem, wenn sie betrunken oder in die Jahre gekommen sind ... Sie wollen zeigen, wie wichtig sie im Leben von jemandem waren oder wie wichtig andere Menschen in ihrem Leben waren. Schließlich hat sich das Leben eines jeden Men-schen immer wieder mit bekannten und unbekannten Menschen ge-kreuzt und verflochten, die vergessene oder bleibende Eindrücke in unserem Gedächtnis hinterlassen haben. So viel von der Vergangen-heit ist bei mir geblieben, dass ich sie nicht als etwas anders als die Gegenwart akzeptieren kann.
Ich könnte jedes einzelne Gesicht der Café-Besucher beschreiben, ebenso wie ihre üblichen Bestellungen, die Anordnung der Tische und Stühle wiederherstellen. Ich kann mich noch an die Melodien aus der Jukebox erinnern und sie mit dem Mund pfeifen ... So unglaublich es auch klingt, es gab eine Jukebox im Café Portal der Zeit. Ich habe André, den Besitzer des Cafés, nie gefragt, woher er diese Antiquität hatte.
Ich hoffte es inständig, dass die Jukebox noch drinnen sei, und obwohl sie wahrscheinlich mit Staub versunken war, immer noch die alten Lieder spielen konnte, die schon damals nur Nostalgie über längst vergangene Zeiten brachten ... Ich lief umher und hoffte, dass ich von irgendwoher hineingelangen konnte. Nein, das war nicht möglich. Das Zeitportal existierte nicht mehr. Zumindest nicht in dieser Stadt. Manchmal versteht man nach langer Zeit, was passiert ist, und dann ist es oft zu spät…
„Verzeihung! Was machen Sie hier? Warum sehen Sie sich im Gebäude um?“, ich konnte vor Überraschung nicht gleich antworten. Ich hatte nicht bemerkt, dass der junge Mann auf mich zukam.
„Ich wollte mir die Gegend ansehen. Hallo! Sie sind Andrés Bruder, nicht wahr?“, fragte ich. „Ich habe Sie an der Stimme erkannt. Und Sie sehen ein bisschen aus wie Ihr Bruder. Suchen Sie immer noch nach ihm?“
„Das verstehe ich nicht! Woher kennen wir uns?“
Ich schwieg, wollte ihm etwas Zeit geben, um sich an mich zu erinnern.
„Ja, das ist richtig! Ich erinnere mich an Sie!“, sagte der junge Mann etwas unsicher und studierte mein Gesicht mit seinen Augen. „Sie waren der Barmann, nicht wahr?“
„Richtig! Sie kamen damals einmal vorbei, als ich im Café gearbeitet hatte. Ich habe jetzt längeres Haar und einen Bart. Vielleicht war es deshalb so schwer für Sie sich zu erinnern, wer ich war. Und Sie sind Daniel?“
„Ja, ich bin Daniel. Entschuldigen Sie bitte! Ich habe Ihren Namen vergessen.“
„Jonas!“
„Ah ja! Wie konnte ich das vergessen?“
Es war einer der letzten Septembertage, aber die Sonne brannte stark, zumindest kam es mir so vor. Nach neun Monaten Gefängnis hatte ich längst vergessen, wie es ist, in der Sonne zu sein. Ich sagte Daniel, dass wir besser in den Wald gehen sollten, um Schatten zu finden. Er folgte mir. Wir setzten uns auf eine der Bänke der leiden-schaftlichen Waldwanderer.
„Stimmt es, dass die Polizisten damals hierherkamen und sie das Café schlossen?“, fragte Daniel.
„Ja, das ist wahr. Es war lange her ... Neun Monate sind seitdem vergangen.“
„Warum?“
„Wissen Sie das nicht? Aufgrund des spurlosen Verschwindens vie-ler Menschen. Einige von ihnen waren Stammgäste des Cafés. Die Polizei nahm das gesamte Café Personal fest. Mich auch ... Heute haben sie uns aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie hatten keine Beweise und die Ermittlungen kamen nicht voran. Sie mussten uns freilassen.“
„Oh! Die Polizei hat Sie sehr lange in Gewahrsam gehalten!“
„Ja, aber hier ist kein Platz für Ärger und Groll. Die Polizisten haben nur ihre Arbeit geleistet...“
„Ich verstehe … Ich war mehrmals bei der Polizei. Sie haben mir immer wieder das Gleiche gesagt, immer wieder, dass sie noch an dem Fall arbeiten würden. Aber ich habe keine Einzelheiten erfahren. Ich wusste nicht, dass sie das Café Personal verhaftet hatten. Ich dachte, nur mein Bruder wäre spurlos verschwunden.“
„Ich, Georg und Rosalie waren ihre einzigen Anhaltspunkte. Vier Personen verschwanden ohne jede logische Erklärung ... Die Ermittlungen zogen sich hin ...“
„Es tut mir leid! Neun Monate sind keine kurze Zeit. Haben Sie keine persönliche Erklärung dafür, was mit meinem Bruder und den anderen Vermissten passiert ist?“
„Es tut mir auch leid, Daniel!“, antwortete ich. „Aber ich kann Ihnen nicht helfen.“
„Das haben Sie mir auch beim letzten Mal gesagt. Ich hatte gehofft, Sie wüssten etwas mehr über André. Ich fürchte, ich habe ihn für immer verloren...“
„Die Menschen bewegen sich ständig von einem Ort zum anderen ...“, versuchte ich, das Gespräch abzulenken. „Sie treffen nachdenk-liche und oft spontane, überstürzte Entscheidungen.“
„Ja, ich stimme Ihnen zu. Aber André muss einige Spuren hinter-lassen haben. Sie können verfolgt werden“, gab Daniel nicht auf.
„Ja, so ist es! Wir können den Spuren folgen, aber zuerst müssen sie gefunden werden.“
„Ich habe das Gefühl, dass Sie mehr wissen, als Sie sagen. Warum sind Sie so zurückhaltend? Ich habe ein Jahr lang nach ihm gesucht und niemanden gefunden, der etwas über meinen Bruder weiß. Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, mit dieser Ungewissheit zu leben.“
„Tja! Es ist bitter, seinen Bruder zu vermissen, wenn man von ihm getrennt wird“, sagte ich. „Ich weiß es, wie schwer das für Sie ist. Mir es ist auch schwer. Ich verstehe Sie vollkommen. Aber ich kann Ihnen nicht alles so einfach erklären. Nein, nein! Schauen Sie mich nicht so traurig an! Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Wenn Sie zwei oder drei Tage freihaben, kann ich Ihnen alles sagen, was ich weiß. Daniel, wo übernachten Sie?“
„In der Wohnung meines Bruders. Drei Querstraßen von hier.“
„Ich wohne in diesem Haus, mit Garten und Balkon zur Straße. Ich lade Sie morgen früh zum Frühstück ein.“
„Ich danke Ihnen! Ich würde gerne kommen!“
„Jetzt müssen wir uns trennen. Ich brauche etwas Zeit für mich. Sie wissen ja, wie das ist ...“
„Ja, natürlich! Erholen Sie sich!“, sagte Daniel, stand von der Bank auf und fügte hinzu: „Also, wir sehen uns morgen!“
„Ja. Morgen um zehn!“
Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, bis Daniel mich aus den Augen verlor. Dann stand ich auf und ging zu meinem Haus. Heute Morgen rief ich den Gärtner an, um den Pool vorzubereiten. Ich hatte erwartet, dass das Wasser frisch wäre. Ich hatte ein überwältigendes Verlangen, zu schwimmen.
Ich schloss das Gartentor auf und ging einen der Wege, die direkt zum Pool führen, hinunter. Damals hatte ich das Gefühl, in einem Traum zu sein und konnte vor Freude fliegen. Ich war wieder zu Hause! Der Garten war gut gepflegt und mit neuen Blumen bepflanzt. Der Buchbaumzaun, der mein Grundstück von dem meines Nachbarn Jacob Krems trennte, war sorgfältig getrimmt und zu einer langen grünen Mauer geformt worden, so wie es schon immer der Fall war. Ich ging langsam und genoss jede einzelne Blume im Garten, roch an einigen von ihnen und streichelte ihre grünen Blätter.
Das Wasser im Pool war sauber. Ohne lange zu warten, entledigte ich mich meiner Kleidung und sprang splitternackt hinein. Als ich auf-tauchte, begann ich zu lachen und vor Freude und Wonne zu schreien.
„Jonas! Ich bin froh, dich wiederzusehen! Willkommen zu Hause! Lange Haare stehen dir gut!“, stand der Gärtner breit lächelnd etwas abseits des Pools.
„Pablo, ich hatte nicht erwartet, dass du so spät noch hier bist! Ich freue mich auch dich zu sehen! Bringst du mir bitte den Bademantel?“
„Sofort!“, sagte Pablo und betrat das Haus. Er war um die fünfzig, aber trotz des Altersunterschieds kamen wir gut miteinander aus. Ich nutzte die wenigen Minuten, bis Pablo zurückkam, um zu schwimmen. Die Gartenbeleuchtung ging automatisch an. Es war bereits dunkel geworden.
„Ich habe die ganze Zeit, während du weg warst, den Garten und den Pool gepflegt“, sagte Pablo und reichte mir den Bademantel. „Alles, was im Kühlschrank war, habe ich vor Monaten weggeworfen. Ich habe heute frische Lebensmittel gekauft. Es sind nicht viele, aber fürs erst werden sie reichen.“
„Danke, Pablo! Das hast du gut gemacht! Wie geht’s deiner Familie?“
„Uns geht es gut, Jonas! Danke! Ah ja! Falls du dich fragst, wo dein Nachbar Jacob Krems ist, er wohnt nicht mehr hier. Er hat das Haus verkauft, aber ich kenne den neuen Besitzer nicht. Ich weiß nichts über ihn.“
„Das ist schade! Jacob Krems war ein guter Nachbar! Er hat bestimmt das Richtige getan.“
„Ich weiß nichts über den Grund seines Hausverkaufs.“
„Wie auch immer! Das ist jetzt nicht so wichtig. Vielen Dank, Pablo! Gehe jetzt nach Hause zu deiner Familie! Es ist schon spät. Sie werden dich zum Abendessen erwarten.“
„Ich habe nie an deiner Unschuld gezweifelt, Jonas!“
„Danke, Pablo! Bitte, entschuldige mich, aber jetzt möchte ich allein sein. Wir sehen uns am Dienstag wieder. Dann werden wir weiter reden.“
„Ja, natürlich! Gute Nacht, Jonas! Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist und alles wird so sein wie vorher!“, sagte Pablo, bevor er wegging.
„Gute Nacht, Pablo!“
Nein, nichts würde mehr so sein, wie es vorher war, dachte ich, zog meinen Bademantel aus und sprang wieder in den Pool. Ich schwamm langsam, das Wasser hüllte mich sanft ein. Ganz allein zu sein, fand ich gut. Ich konnte mit meinen Gedanken allein sein. Jacob Krems musste Angst gehabt haben. Hier wollte er nicht mehr wohnen. Er hatte Angst vor mir? Wahrscheinlich hatte er andere Ängste…
Kaum jemand wollte mehr als ich, dass alles wieder so wäre, wie es vorher war … Ich wusste, dass alles, was beginnt, eines Tages enden muss … Aber ich hatte mich selbst in die Irre geführt. Selbstvergessen in meinem Glück, bemerkte ich nicht, wie dieses mir von Tag zu Tag, Schritt für Schritt, leise entglitt…
André und Thea bleiben unauffindbar, aber warum auch die beiden Schwestern Hellmann? Gab es eine Verbindung zwischen den Vieren? Würde ich jemals die Antworten auf diese Fragen erfahren oder würden sie im Schatten der Zeit begraben bleiben? André war mein bester Freund. Ich kenne niemanden, der mir so wichtig war, wie er mir. André und ich konnten uns den ganzen Tag unterhalten, sogar bis spät in die Nacht, ohne dass es langweilig wurde. Die Zeit, die ich mit André verbrachte, war immer sinnvoll und die Gespräche interessant. Ich werde ihn nie wieder sehen. Aber ich kann immer mit ihm reden, denn ich weiß, was er mir sagen würde … Auch Theas Stimme werde ich nie wieder hören, fesselnd und fließend wie eine Welle … Und gleichzeitig kann ich sie immer noch vor mir sehen, wie sie an einem der Tische im Café Portal der Zeit sitzt. Manchmal allein, traurig und nachdenklich, manchmal impulsiv und energisch, in bester Laune ... Sie war wie die Schatten, die bei Sonnenuntergang verschwinden …
Ich stieg aus dem Pool, weil ich Hunger hatte und ging eingehüllt in nur meinem Bademantel in die Küche, um mir etwas zu essen zu holen. Im Kühlschrank gab es Brot, Butter, Wurst und frische Tomaten. Ich machte mir ein paar Sandwiches und öffnete ein Bier. Pablo hatte irgendwo spanisches Bier gekauft, das ich nicht besonders mochte, aber ich trank eine Flasche.
Ich hatte meine Eltern angerufen. Sie mussten wissen, dass es mir gut ging, dass ich wieder zu Hause war. Die Anwesenheit meiner Mutter war irgendwie unauffällig, ruhig und sanft, aber sie war mir immer wichtig.
„Hallo Mama! Ich bin wieder zu Hause ... Ja, mir geht es gut! Ja ... freut mich auch! Geht es dir und Papa gut? ... Ich freue mich für euch beide! ... Natürlich! ... Ich komme! ... Natürlich! Ja, am Wochenende …
Nein, nein! Das ist nicht nötig, Mama! Vorbereite nichts! … Ja! ... Am nachmittags ... Am Sonntag ... Ich liebe euch!“
Ich duschte im Badezimmer und rasierte mich. Ich war es nicht gewohnt, einen Bart zu tragen. Dann ging ich in mein Arbeitszimmer, mit meinem Manuskript in der Hand. Auf dem Schreibtisch lag eine dünne Staubschicht. Zuerst habe ich sie abgewischt, dann setzte mich auf den Stuhl und begann die letzten Seiten meines unvollendeten Romans zu lesen. Ich merkte bald, dass ich müde war und weder lesen noch schreiben konnte. Ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren und sollte besser ins Bett gehen. Der Mond war aufgegangen.
Ich hörte jemanden Klavier spielen. Ich stand auf und ging zum Fenster. Mit einem Finger schob ich den dicken Vorgang ein wenig zur Seite und sah durch diesen schmalen Spalt nach draußen. Die Melodie kam aus dem Haus, in dem Jacob Krems gewohnt hatte. Die Fenster leuchteten. Der Klavierspieler war nirgendwo zu sehen.
Am Morgen kam Daniel etwas früher als zur verabredeten Zeit. Er war ein wenig besorgt, trat von einem Fuß auf den anderen, sein Blick war müde.
„Ich hoffe, ich bin nicht zu früh dran“, sagte Daniel. Es war kurz nach neun. „Natürlich hätte ich vorher anrufen sollen, aber ich konnte einfach nicht schlafen. Ich stand morgens sehr früh auf und hielt es alleine zu Hause nicht lange aus.“
„Ich verstehe Ihre Aufregung! Es macht nichts! Kommen Sie herein! Sonst geht es Ihnen aber gut?“
„Danke! Es geht mir ganz gut!“, sagte Daniel und lächelte mit roten Augen.
Ich brachte den Kaffee in die Gartenlaube und die noch warmen Brötchen, die ich beim nahe gelegenen Bäcker gekauft hatte.
Daniel konnte seine Neugierde nicht verbergen, und ich wusste nicht, wo ich am besten mit meiner Geschichte beginnen sollte. In der Tat zögerte ich aber immer noch, da ich nicht sicher war, ob ich ihm vertrauen konnte. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das Richtige tue. Aber Daniel musste die Wahrheit über seinen Bruder erfahren. Wenn auch nicht die ganze Wahrheit, so doch zumindest einen Teil davon. Es lag ganz an ihm, wie sehr er meinen Worten Glauben schenken würde. Und nein, ich hatte nicht die Absicht, ihn anzulügen.
„Daniel, kommen Sie oft hierher?“, fragte ich.
„Ja. Das Café Portal der Zeit ist der letzte Ort, an dem André war. Deshalb komme ich oft hierher. Ich hoffe, er kommt bald zurück ... Was meinen Sie, Jonas? Ist er tot?“
„Also ...“, begann ich mit etwas zögerlicher Stimme. „Nachdem ich Ihnen alles, was ich weiß, erzähle, werden Sie selbst entscheiden. Ich glaube, Ihr Bruder ist eher lebendig als tot“, nickte ich und lächelte ihn aufmunternd zu. „Meine Geschichte wird lang sein. Ich kann Sie nicht dazu bringen, mir zu glauben. Deshalb bitte ich Sie, Augen und Ohren zu öffnen, damit Sie gut verstehen, was ich sage.“
„Das klingt interessant!“
„Und wie es oft kommt, ist auch an dieser Geschichte eine Frau beteiligt.“
„Ich wusste es!“, rief Daniel aus. „Das habe ich schon immer ver-mutet! Wissen Sie, wo mein Bruder und diese Frau hingegangen sind?“
„Ha-ha-ha!“, lachte ich, obwohl mir in diesem Moment nicht zum Lachen zumute war. „Sie haben es sehr eilig, Daniel. Die Antwort ist nicht so einfach. Jedes Wort, das Sie von mir hören, wird ein kleiner
Schritt in Richtung Wahrheit sein. Sie müssen Geduld haben. Ich verspreche, dass Sie sich nicht langweilen werden.“
„In Ordnung! Tun Sie, was Sie für richtig halten!“
„Wenn ich mich zu kurz halte, werden Sie wahrscheinlich enttäuscht und böse auf mich sein.“
„Ich werde ganz bestimmt nicht sauer auf Sie sein“, sagte Daniel. „Was würde mir das denn nutzen?“
„Na großartig! Aber damit sie die ganze Geschichte verstehen können, muss ich Monate zurückgehen und die Zeit chronologisch bis heute aufrollen. Das erleichtert mir das Erzählen und die Geschichte wird für Sie verständlicher.“
„Ich kann es kaum noch erwarten. Fangen Sie bitte an!“
II
Es war meine Entscheidung, mich in diesem ruhigen und friedlichen Viertel am Stadtrand niederzulassen. Ich war innerlich überzeugt, dass dieses Haus mit dem Garten und dem Pool, das ich gekauft hatte, der beste Ort zum Leben war. Ich könnte hier für den Rest meines Lebens bleiben, oder zumindest lange genug, um die Ruhe zu nutzen, zu schreiben und zu lesen. Die Stadt zog mich nicht mehr an. Sie hatte sich mit dynamischen Menschen gefüllt, frech und kompromisslos, die das große Geld machen oder versuchen es zu machen. Niemand hatte Zeit für irgendjemanden, und ich sah keinen Sinn darin, bei diesem beginnenden Zerfall der menschlichen Gesellschaft, wie er in den dystopischen Romanen vieler Science-Fiction-Autoren so lange beschrieben wurde, weiterhin die Rolle des Zuschauers zu spielen. Jede Stadt pulsiert nach ihren eigenen, spezifischen größeren und kleineren Regeln. Nur diese nicht.
Ich war nicht der erste Besitzer dieses Hauses. Bei der Besichtigung mit dem Makler war von außen zu erkennen, dass das Grundstück verwahrlost war. Der Garten war mit hohem Gras bewachsen. Nur drei Bäume hatten überlebt. Der Pool sah eher aus wie ein verlassener Graben voller Blätter und Äste. Die Wände der Zimmer waren mit dunklen, feuchten Flecken bedeckt. Überall waren Spinnweben und Staub. Aus den Fenstern hingen dicke, morsche Gardinen. Eine der Scheiben war kaputt. Irgendein Obdachloser muss sich eingeschlichen haben, um hier zu übernachten. In der zum Wohnzimmer zählenden Küche standen ein altes Bett, ein kleiner Esstisch und zwei Stühle. Das Panoramafenster war schmutzig, aber intakt.
Wir gingen in den oberen Stock. Er war von dem mutmaßlichen Obdachlosen verschont geblieben. Die Zimmer dort waren sauber und leer, ohne Möbel.
„Entschuldigung! An diesem Haus hat sich schon lange niemand mehr interessiert. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt hier war“, sagte mir der Immobilienmakler. „Es gibt wenige, die am Stadt-rand wohnen wollen. Ich hatte sogar das Haus vergessen. Ich kann die Renovierung auf unsere Kosten veranlassen. Was denken Sie?“