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Komm mit auf eine epische Reise durch die fantastische Welt von Amyrantha!
Lukys, der älteste unter den Gezeitenfürsten, ruft die Unsterblichen von Amyrantha zusammen. Er will ein Tor zu einer anderen Welt öffnen. Dazu braucht er jedoch den Kristall des Chaos, den die Bruderschaft des Tarot einst gestohlen hat. Declan Hawkes und Prinz Cayal werden ausgeschickt, um den Kristall zu finden. Die Suche führt sie nach Glaeba, wo der Unsterbliche Jaxyn Declans große Liebe Arkady gefangen hält. Erneut gerät die junge Frau zwischen zwei rivalisierende Unsterbliche ...
Die Gezeitenstern-Saga bietet eine einzigartige Mischung aus Fantasy, Abenteuer und Ferne-Länder-Romantik. Jetzt als eBook von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.
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Seitenzahl: 838
Veröffentlichungsjahr: 2017
Auf Amyrantha steigen die Gezeiten, eine gewaltige Königsflut steht bevor. Lukys, der Pläneschmied unter den Gezeitenfürsten, will den Höchststand nutzen, um ein Portal zu einer anderen Welt zu öffnen. Dafür braucht er den verschollenen Kristall des Chaos. Dieser wurde vor langer Zeit von der geheimen Bruderschaft des Tarot vor den Unsterblichen verborgen. Es kommt zu einer seltsamen Allianz: Cayal, der unsterbliche Prinz, hofft, seinem Leben ein Ende machen zu können, wenn der Kristall gefunden wird. Und Meisterspion Declan Hawkes sieht darin eine Chance, die Unsterblichen loszuwerden. Also ziehen die einstigen Rivalen gemeinsam nach Caelum, um den mysteriösen Stein aufzuspüren. Dort aber herrscht Krieg. Declan Hawkes muss feststellen, dass der Gezeitenfürst Jaxyn seine große Liebe Arkady als Geisel gefangen hält. Und Cayal und Declan sind nicht die einzigen, die hinter dem Kristall des Chaos her sind. Die launische und grausame Elyssa scheint zu wissen, wo sich das mächtige Artefakt befindet. Während die Gezeitenfürsten sich gegeneinander auszuspielen versuchen, rückt der Höchststand der Gezeiten unerbittlich näher – und niemand weiß, wohin das Tor zwischen den Welten führen wird …
Jennifer Fallon wurde in Carlton, Australien geboren. 1990 begann sie mit dem Schreiben von Fantasy-Romanen. Zehn Jahre später hielt sie mit ihrer ersten Veröffentlichung, der »Dämonenkind«-Saga, auf den Bestsellerlisten Einzug und feierte ihren internationalen Durchbruch. Mit der »Gezeitenstern«-Saga konnte sie diesen Erfolg fortsetzen. Jennifer Fallon ist neben Trudi Canavan und Sara Douglass die dritte Fantasy-Bestseller-Autorin aus Australien.
JENNIFER FALLON
Der Kristall des Chaos
Die Gezeitenstern-Saga
Band 4
Aus dem Englischen von Katrin Kremmler und Rene Satzer
beBEYOND
Digitale Ausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Chaos Crystal« bei HarperCollinsPublishers Australia Pty Limited.
Die deutschsprachige Erstausgabe erschien 2010 bei LYX ausschließlich in gedruckter Form.
Copyright © 2008 by Jennifer Fallon
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Else Laudan
Karte: Russell Kirkpatrick
Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © Romanova Ekaterina/Shutterstock, © Vector Tradition SM/Shutterstock, © kiuikson/Shutterstock, © Juan Enrique del Barrio/Shutterstock
eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-7325-4573-5
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Prinzessin Lee – endlich
Die große Ironie des Lebens ist,dass es kaum jemand schafft, lebendig rauszukommen.
Robert A. Heinlein (1907–1988)
Sieben Jahre zuvor …
Aus den dicken Steinmauern des Kerkers von Lebec sickerte grundsätzlich eine Atmosphäre trostloser Verzweiflung, was diesen Tag höchst ungewöhnlich machte. Denn zum ersten Mal seit Monaten verspürte Bary Morel Hoffnung. Er hastete hinter dem Wächter her, der ihn zur Schreibstube des Kerkermeisters eskortierte, erfüllt von einer Empfindung, die er schon unwiderruflich verloren geglaubt hatte. Sie widersprach allem, was ihm widerfahren war, seit man vor einigen Monaten sein Haus durchsucht und ihn dabei erwischt hatte, dass er in seinem Keller eine entlaufene Felide ärztlich versorgte. Doch nun war plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Hoffnungsschimmer aufgetaucht.
Der Fürst von Lebec war hier und wollte ihn sprechen.
Morel konnte sich nicht erklären, warum ein so mächtiger Mann sich die Zeit nahm, einen überführten Gesetzesbrecher aufzusuchen. Zugegeben, einst hatte er sich einer gewissen unbedeutenden Beziehung zur Fürstenfamilie erfreut. Als der jetzige Fürst noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Morel ab und zu im Palast ärztliche Hilfe geleistet, wenn der Leibarzt des alten Fürsten gerade nicht in der Stadt weilte. Aber inzwischen hatte er Stellan Desean schon lange nicht mehr gesehen. Zuletzt, als man ihn vor Jahren einmal in den Palast rief, um einen jungen Mann zu behandeln – einen Freund des jungen Fürsten, der an einer Lebensmittelvergiftung fast gestorben wäre.
Bary konnte sich beim besten Willen keinen Grund vorstellen, warum Stellan Desean ihn besuchen sollte. Er wusste lediglich, dass er jetzt da war – und das konnte eigentlich nur Gutes bedeuten. Denn Fürsten machten sich im Allgemeinen nicht die Mühe, schlechte Nachrichten persönlich zu überbringen, das überließen sie ihren Untergebenen.
Vielleicht war es Arkady gelungen, eine Audienz zu ergattern. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie versprochen, es zu versuchen, obwohl er ihr von einem solch dreisten Unterfangen dringend abriet. Aber realistisch betrachtet gab es sonst nichts, was Arkady überhaupt noch tun konnte. Inzwischen waren sie praktisch am Bettelstab. Sie konnten sich nicht einmal mehr den dürftigsten Rechtsbeistand leisten, um vielleicht ein Berufungsverfahren einzuleiten. Und selbst wenn, es bestand ja nicht die geringste Chance auf einen Freispruch – nicht beim Kaliber des Hauptbelastungszeugen, der vor Gericht gegen ihn auftrat.
Für einen Augenblick blieb Bary stehen und hielt sich an der Wand fest, seine Lungen verkrampften sich schmerzhaft. Der Wächter hörte ihn husten und sah sich um.
»Alles in Ordnung?«
»Es geht schon … gebt mir bloß einen Augenblick … muss nur eben zu Atem kommen …«
Der Mann wartete, bis Bary sich so weit erholt hatte, dass es weiterging. Als der alte Arzt sich von der Wand abstieß, nahmen sie den Gang zur Schreibstube des Kerkermeisters wieder auf, wenn auch in deutlich gemäßigtem Tempo.
Der Kerkermeister war nicht in seiner Schreibstube, als sie dort ankamen. Offenbar hatte er sie an den Fürsten abgetreten. Stellan Desean, gegen die Kälte in einen pelzgefütterten Mantel gehüllt, stand am Fenster und starrte hinaus in den Regen, der in Bächen die Scheibe hinunterrann und leise gegen die Mauern trommelte. Als Bary eintrat, drehte er sich um und gab dem Wächter ein Zeichen, draußen zu warten.
»Doktor Morel.«
»Euer Gnaden.«
Stellan lächelte. »Bitte, setzt Euch. Ihr seht aus, als hättet Ihr es nötig.«
Bary tat wie geheißen und nahm dankbar auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz. Noch einmal hustete er in sein blutbeflecktes Taschentuch, dann richtete er die Aufmerksamkeit ganz auf seinen Besucher. Der runzelte bei den rasselnden Geräuschen aus seinem Brustkorb die Stirn.
»Wie ich sehe, hat Eure Tochter mit Eurem Gesundheitszustand nicht übertrieben«, bemerkte Stellan und musterte ihn prüfend.
»Sie hat es also geschafft, eine Audienz bei Euch zu bekommen?«, erwiderte Bary. »Ich nehme an, darum seid Ihr hier?«
Stellan nickte und setzte sich in den mächtigen, abgewetzten Ledersessel des Kerkermeisters. »Das als Audienz zu bezeichnen ist allerdings grob verharmlosend. Wenn Ihr schon danach fragt: Sie hat es irgendwie fertiggebracht, an sämtlichen Posten vorbeizustürmen, die ich eigens zu dem Zweck aufgestellt habe, solche Vorkommnisse zu verhindern. Dann ist sie in heller Empörung bei mir hereingerauscht und hat mir eine gesalzene Standpauke verabreicht, weil ich dulde, dass Ihr hier im Gefängnis sitzt, nur für das Verbrechen, ein Wohltäter von Menschheit und Crasii zu sein.«
Bary wünschte, er könnte aus Stellans neutralem Ton heraushören, wie er darüber dachte. Womöglich hatte Arkady mit ihrer Einmischung sein Todesurteil erwirkt, statt ihm zu helfen.
»Es tut mir Leid, Euer Gnaden. Sie hatte bestimmt nicht die Absicht, Euch zu beleidigen …«
Stellan lächelte und hob die Hand, um Barys Entschuldigung abzuwehren. »Schon gut, Doktor Morel. Ich habe ihre Petition für Eure Begnadigung mit Vergnügen angehört. Natürlich erst, als mir klar wurde, wen ich vor mir hatte. Zuerst habe ich Eure Tochter nämlich gar nicht wiedererkannt. Sie ist wirklich eine überwältigende junge Frau geworden. Ihr müsst sehr stolz auf sie sein.«
Bary nickte. Seine Sicht verschwamm, als er daran dachte, was sie noch alles getan hatte, um ihn zu schützen. Beim Fürsten von Lebec hereinzuplatzen und seine Freilassung zu fordern war noch das Geringste. »Sie ist eine wunderbare Tochter«, bestätigte er und wischte sich die Augen. »Ihr habt ja keine Ahnung.«
»Sie hat verlangt, dass ich Euch begnadige.«
Bary lächelte matt. »Optimistin ist sie auch.«
»Und äußerst wortgewandt. Wie sie mir sagt, studiert sie Geschichte und will sogar einen Doktorgrad erlangen.«
Bary nickte erneut. »Eigentlich wollte sie Ärztin werden, aber die medizinische Fakultät lässt keine Frauen zu.«
»Ich bin sicher, die Universitätsleitung hat dafür gute Gründe.«
Keiner davon kann Arkadys Überzeugung schmälern, dass unsere Gesellschaft in der Hand von frauenfeindlichen Schwachköpfen ist. Er zuckte die Achseln. Ihm war unklar, was die akademischen Ambitionen seiner Tochter mit seiner Lage zu tun hatten. »Nun ja, Euer Gnaden, sofern Ihr diese Gründe nicht genau kennt und überzeugend vertreten könnt, möchte ich davon abraten, dieses Thema in Gegenwart meiner Tochter anzuschneiden.«
Stellans Lächeln wurde breiter. »Ja, diese Lektion habe ich bereits gründlich gelernt.«
»Es war sehr gütig von Euch, sie anzuhören, Euer Gnaden. Und Euch die Zeit für einen Besuch bei mir zu nehmen.«
Stellans Lächeln schwand. »Ich muss gestehen, Doktor Morel, dass ich nicht gekommen bin, um mir die Zeit zu vertreiben oder einen alten Dienstmann meiner Familie zu besuchen, wenn man Euch ob Eurer gelegentlichen Palastbesuche überhaupt so nennen kann.«
Barys Herz setzte einen Schlag aus. Das klang nicht sonderlich ermutigend. Gezeiten, was hat sie nur zu dem Mann gesagt?
»Warum seid Ihr dann hier, Euer Gnaden?«
»Weil ich denke, dass wir einander einen Gefallen tun können, Doktor Morel«, verkündete der Fürst. »Jeder von uns hat etwas, das der andere will.«
Bary konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Nun ja, ohne Zweifel steht es in Eurer Macht, mir zu gewähren, was ich ersehne, Euer Gnaden«, sagte er. »Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ich Euch anzubieten hätte.«
»Ich könnte Euch wohl begnadigen«, stimmte Stellan zu und lehnte sich im Sessel des Kerkermeisters zurück. »Aber das würde nicht ohne Gerede abgehen. Man hat Euch auf frischer Tat ertappt, mein Freund. Ihr habt einer flüchtigen Sklavin geholfen, ihren Häschern zu entkommen. Und was noch schlimmer ist, der Hauptzeuge, der gegen Euch aussagt, ist eins der prominentesten Fakultätsmitglieder der Universität von Lebec. Ich kann Fillion Rybanks Aussage nicht einfach als haltlos vom Tisch wischen, nur weil ich Euch zufällig lieber mag als ihn.«
Als Rybanks Name fiel, fühlte Bary heißen Zorn aufwallen. Was dieser Mann seiner Tochter angetan hatte, war jenseits aller Skrupel. Allein der Gedanke daran machte ihn ganz krank. Arkady war natürlich nicht bekannt, dass ihr Vater Bescheid wusste. Sie glaubte immer noch, er habe keine Ahnung von der ganzen unseligen Affäre. Mit bitterer Ironie erinnerte er sich daran, was für Sorgen er sich gemacht hatte, als ihm vor ein paar Jahren aufging, dass seine Tochter wohl nicht so unerfahren war, wie ihm lieb gewesen wäre. Damals hatte er angenommen, dass sie mit dem jungen Hawkes schlief. Eigentlich ein ganz ordentlicher Bursche, wenn auch ein notorischer Unruhestifter. Und die beiden waren immerhin fast ihre ganze Jugend über unzertrennlich gewesen.
Heute wünschte sich Bary geradezu, dass seine Tochter mit dem jungen Hawkes geschlafen hätte. Damit hätte er sich noch irgendwie arrangieren können wie jeder andere Vater auch. Aber die Wahrheit – die bittere Gewissheit, dass seine kleine Tochter sich jahrelang einem Mann wie Fillion Rybank hingegeben hatte, um sein Schweigen zu erkaufen, weil sie glaubte, ihren Vater damit vor der Verhaftung bewahren zu können –, das war fast mehr, als er ertragen konnte.
Und nun sorgte sich Arkady um ihn, weil er an Schwindsucht litt. Sie hatte keine Ahnung, dass sein körperliches Elend nichts war im Vergleich zu den entsetzlichen Schuldgefühlen, die ihn wegen seiner Tochter plagten.
»Der Mann ist ein Verbrecher«, stieß Bary hervor und ballte die Fäuste. »Er hat ein unschuldiges Kind zu sexuellen Handlungen erpresst, und doch läuft er nach wie vor frei herum, während ich im Gefängnis sitze, nur weil ich einer verletzten Crasii geholfen habe.«
»Eure verletzte Crasii war eine geflohene Sklavin, Doktor«, erinnerte ihn Stellan. »Und auch wenn ich Fillion Rybank nur zu gern für seine Schandtat hinter Gitter bringen würde, seid Ihr ja wohl kaum bereit, seine Verbrechen vor einem öffentlichen Gericht zu bezeugen – und Eure Tochter schon gar nicht. Folglich sind mir in dieser Angelegenheit die Hände gebunden, meint Ihr nicht auch?«
»Warum seid Ihr dann hier? Um mir zu sagen, wie sehr Ihr bedauert, dass ihr mir nicht helfen könnt?«
Stellan schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Ich kann Euch helfen. Sogar sehr. Ich bin bereit, Euch zu begnadigen. Schon Ende nächster Woche könnt Ihr hier raus sein.«
»Aber es gibt eine Bedingung«, sagte Bary vorsichtig, nicht so naiv zu denken, dass für ein solch großzügiges Angebot keine Gegenleistung erwartet wurde.
»Nur eine kleine«, sagte Stellan. »Ich will Eure Tochter heiraten.«
Bary starrte den Fürsten an. »Ihr wollt was?«
»Ich brauche eine Gemahlin, Doktor. Genauer gesagt, ich brauche eine Gemahlin, die … gewisse Ansprüche nicht an mich stellt – Ansprüche, die ich nicht erfüllen kann. Arkady ist die ideale Kandidatin. Sie ist scharfsinnig, intelligent, beredt, sieht umwerfend aus und hat einen sehr guten Grund, mit mir einen Handel zu schließen, der uns beiden zugutekommt. So sind alle zufrieden. Ihr bekommt Eure Freiheit, ich meinen Erben – und nebenbei bemerkt auch noch den Zusatzbonus, dass der König mich nicht länger ständig fragt, wann ich endlich zu heiraten gedenke.«
Bary starrte ihn entgeistert an. Im ersten Augenblick ergab dieses Angebot überhaupt keinen Sinn für ihn. »Warum?« Der Mann war ein reicher, gut aussehender Fürst, Nummer drei in der königlichen Thronfolge. Was konnte er für einen Grund haben, jede hochwohlgeborene junge Frau in Glaeba zu verschmähen, nur um die mittellose Tochter eines überführten Gesetzesbrechers zu ehelichen? »Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass Ihr in meine Tochter verliebt seid?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte der Fürst. »Und sie genauso wenig in mich. Aber sie ist einverstanden.«
Gezeiten, was denkt das Mädchen sich bloß?
Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sein nächtlicher Besuch im Palast vor einigen Jahren, um den jungen Mann zu behandeln, der verdorbene Austern gegessen hatte. Damals hatte er sich nicht viel dabei gedacht, aber sein Patient war nicht einfach nur ein Gast im Palast von Lebec gewesen. Er hatte im Bett des Fürsten gelegen.
»Mich dünkt, Ihr braucht gar keine Gemahlin, Euer Gnaden. Ihr braucht ein Alibi.«
Stellan antwortete nicht sofort, aber als er es tat, versuchte er nicht, es abzustreiten. »Sie wird reich sein. Eine gesellschaftliche Stellung besitzen. Gezeiten, wenn es nötig ist, kann ich sogar die Universität finanziell unterstützen, damit sie sie dort behalten müssen. Ich verlange nichts von ihr, als diskret zu sein und sich zu verhalten, wie es einer Fürstin geziemt. Und ich gebe Euch mein Wort, dass ich mich ihr niemals aufzwingen werde, wie Rybank es getan hat. Doktor, ich werde dafür sorgen, dass es Eurer Tochter in ihrem Leben nie wieder an etwas mangelt.«
»Außer vielleicht an echtem Glück?«
»Was soll das heißen?«
»Meine Tochter liebt einen anderen, Euer Gnaden. Ihr könnt mir nicht einreden, dass sie sich ganz aus freien Stücken auf so eine Scharade einlässt.«
Stellan schüttelte den Kopf. »Wie sie mir sagte, hat ihr junger Mann Lebec verlassen, um einen Posten in Herino anzutreten, als Lehrling beim Ersten Spion des Königs. Declan Hawkes hat sich offenbar für eine Karriere bei Daly Bridgeman statt für Eure Tochter entschieden. So benimmt sich wohl kaum ein liebeskranker junger Mann mit dem Wunsch, sich zu verheiraten. Wie auch immer, Arkady hat mir versichert, dass er nur ein guter Freund ist und kein Hindernis darstellt.«
Du törichtes Mädchen! Du kannst doch dein Glück nicht für mich fortwerfen. Nicht schon wieder …
Bary schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Euer Gnaden. Ich weiß, Ihr meint es gut, aber ich kann dem nicht zustimmen.«
Verblüfft starrte Stellan ihn an. »Pardon?«
»Ich kann es nicht erlauben. Ich verweigere Euch die Hand meiner Tochter.«
Der Fürst wirkte entgeistert. »Seid Ihr des Wahnsinns? Ich biete Euch eine Begnadigung an, Ihr Narr. Eure Tochter wird eine der reichsten Frauen von Glaeba sein. Sie wird ein Leben führen, wie Ihr es ihr niemals bieten könnt. Ein Leben, das Ihr Euch nicht einmal vorstellen könnt!«
»Euer Gnaden, leider kann ich mir das nur allzu gut vorstellen. All Euer Reichtum, all der hübsche Tand der Welt bedeutet nichts, wenn meine Tochter ohne Liebe lebt und jeden Tag ihres Lebens etwas mehr von sich selbst verliert.« Er schüttelte den Kopf und stand auf. »Nein. Ich kann Arkady nicht erlauben, ihren Körper schon wieder einem Mann zu überlassen, nur um mich zu retten – ganz gleich, wie wohlmeinend dieser Mann auch sein mag.« Bary wandte sich zur Tür, dann blieb er stehen und sah sich zu Stellan um, in der Hoffnung, mit seinem Lächeln die Enttäuschung des Fürsten etwas lindern zu können. »Ich weiß, dass Ihr ein guter Mensch seid, Euer Gnaden. Und ich weiß, dass Ihr Arkady nie absichtlich wehtun würdet. Aber sie hat schon zu viel für mich durchgemacht. Ich werde ihr nicht erlauben, ihr Leben wegzuwerfen für einen weiteren fehlgeleiteten Versuch, meine Leiden zu lindern.«
»Ich denke, Ihr unterschätzt, wie wichtig mir die Sache ist«, sagte Stellan mit einer Stimme, die Bary noch nie an ihm gehört hatte. »Und wenn Ihr glaubt, dass ich hier bin, um Euch um Erlaubnis zu bitten, unterliegt Ihr einem gefährlichen Irrtum«, fügte er hinzu und erhob sich ebenfalls. »Ich bin heute aus Höflichkeit gekommen, Doktor, um Euch darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich Eure Tochter zu heiraten gedenke, und um ihr als Hochzeitsgeschenk Eure Begnadigung anzubieten, was niemand ungewöhnlich oder gar unverhältnismäßig finden würde. Die Erlaubnis des Königs für die Heirat habe ich bereits eingeholt. Ihr könnt sie nicht verhindern, also gewöhnt Euch lieber an den Gedanken.«
Bary starrte den Fürsten finster an. Dieser Starrsinn überraschte ihn. Stellan war Bary immer als ein so umgänglicher junger Mann erschienen. Der Arzt schüttelte störrisch den Kopf. »Wenn Ihr das tut, Euer Gnaden, wende ich mich direkt an den König. Ich könnte ihm sagen, was ich über Euch weiß.«
»Ihr wisst überhaupt nichts, Doktor.«
»Ich weiß, dass ich vor einigen Jahren zu nachtschlafender Zeit einen jungen Mann behandelt habe, der in Eurem Bett lag – in einer Nacht, als der fürstliche Leibarzt eigentlich verfügbar war. Wenn ich mich recht erinnere, habt Ihr kurz darauf gänzlich auf seine Dienste verzichtet.«
»Das beweist gar nichts«, sagte Stellan.
»Ihr hattet eigentlich keinen Grund, in dieser Nacht ausgerechnet mich zu rufen, Euer Gnaden, aber Euer Freund war krank und durfte nicht bewegt werden, und Ihr konntet nicht riskieren, dass man ihn in Eurem Bett entdeckt. Ich weiß vielleicht nichts mit Sicherheit, aber ich kann dem König sagen, was ich gesehen habe, und ihn seine eigenen Schlüsse ziehen lassen.«
Stellan überdachte dieses Dilemma einen Augenblick, bevor er antwortete. »Seid Ihr Euch darüber im Klaren, dass es in meiner Macht steht, Euch wegzusperren und dafür zu sorgen, dass Ihr das Tageslicht nie wiederseht?«
»Natürlich«, sagte Bary. »Aber ich halte Euch auch für einen guten Menschen, Stellan Desean, wie Euer Vater es war.«
Stellan zögerte unmerklich, dann schüttelte er den Kopf. Es wirkte bedauernd, aber unnachgiebig. »Dann lässt Eure Menschenkenntnis sehr zu wünschen übrig, Doktor. Ich bin meinem Vater nicht sonderlich ähnlich. Und bis ich nicht Euer Wort habe, dass Ihr dieser Hochzeit Euren Segen gebt und als Gegenleistung für Eure Begnadigung schweigt, wird der Bote, den ich nächste Woche zum Kerker von Lebec schicke, Euch nicht zum Hochzeitsempfang in den Palast geleiten, sondern vielmehr mit der tragischen Neuigkeit Eures Hinscheidens zurückkehren.«
Bary schüttelte den Kopf. »Das werdet Ihr nicht tun, Euer Gnaden. Ich bin überzeugt, Ihr werdet einsehen, wie ungerecht das wäre, und meine Tochter von diesem schrecklichen Arrangement entbinden, bevor jemand zu Schaden kommt.«
Wie sehr Bary sich damit täuschte, merkte er einige Tage später, als man ihn holen kam. Nicht um ihn in die Freiheit zu entlassen, sondern um ihn in eine Zelle im tiefsten Keller des Kerkers von Lebec zu werfen, wo er, wie Stellan Desean ihm angedroht hatte, das Tageslicht nie wiedersehen würde.
Lang in dieses Dunkel starrend, stand ich fürchtend, stand ich harrend, voll der Zweifel wagt’ ich Träume, wie kein Sterblicher zuvor.
»Der Rabe« – Edgar Allan Poe (1809–1849)
Dass ihr Vater noch am Leben war, ging über Arkadys Fassungsvermögen. Und noch unfassbarer war der Umstand, dass Stellan es die ganze Zeit über gewusst hatte; dass er sie so himmelschreiend und schamlos hintergangen hatte.
Zuerst wollte sie es schlicht nicht glauben. Nachdem man sie in die eisige Turmzelle des Kerkers von Lebec geworfen hatte, dauerte es Stunden, bis sie sich zu den Gitterstangen vorwagte, die ihre Zelle von der ihres Vaters trennte, um dieser völlig unmöglichen Wahrheit ins Auge zu sehen. Und als sie sich endlich dazu überwinden konnte, erkannte sie, dass sie weder glücklich noch erleichtert war, ihren Vater wiederzusehen. Sie war vielmehr wütend. So wütend wie noch nie in ihrem Leben.
Wie konnte ihr Vater es wagen, ihr das anzutun? Wie konnte er es wagen, sie all die Jahre in dem Glauben zu lassen, dass er tot war? Arkady hatte um ihren Vater getrauert, hatte ganze Tränenflüsse um ihn vergossen. Und die ganze Zeit über war er hier gewesen, direkt vor ihrer Nase, im Kerker von Lebec. Und diesen Arrest hatte er nicht etwa seinem Gesetzesbruch zu verdanken, sondern ausschließlich seinem fehlgeleiteten Ehrbegriff.
Er hätte bloß den Mund zu halten brauchen. Seine Begnadigung war längst unterzeichnet und besiegelt und hätte nur noch ausgehändigt werden müssen. Um sein Leben zu retten, musste Bary Morel nichts weiter tun als stillhalten und seiner Tochter erlauben, einen Mann zu heiraten, der ihr Wohlstand, Ansehen, einen Titel und überhaupt alles versprach, was sie sich je wünschen konnte. Dass ihr Gemahl nun mittlerweile in Ungnade gefallen war und sein politischer Untergang sie mitgerissen und in diese Kerkerzelle verschlagen hatte, tat hierbei nichts zur Sache. Was Arkady unendlich erboste, war die schiere Blödheit in der ganzen Affäre. Das edelmütige und völlig sinnlose Opfer, das ihr Vater für sie gebracht hatte. Und die wirklich schockierende Skrupellosigkeit ihres Gemahls, der bei diesem Betrug mehr als nur ein williger Komplize gewesen war.
Und dann war da noch Declan Hawkes. Hatte am Ende auch er davon gewusst und sie belogen? Konnte der Fürst von Lebec einen Häftling ohne Gerichtsverhandlung über sieben Jahre lang wegsperren, ohne dass der Erste Spion des Königs davon Wind bekam?
Arkady konnte nicht glauben, dass Declan bei so etwas mitgespielt hätte. Aber andererseits hätte sie auch Stellan nie für dermaßen herzlos gehalten. Oder ihren Vater für dermaßen halsstarrig.
»Willst du jetzt bis in alle Ewigkeit wütend auf mich sein?«
Arkady sah auf. Sie kauerte zitternd vor Kälte auf ihrer Pritsche, die Knie bis unters Kinn hochgezogen. »Ja.«
»Du musst verstehen, Arkady …«
»Was soll ich verstehen?«, fauchte sie. »Dass du mich lieber in dem Glauben gelassen hast, du seiest tot? Oder vielleicht, dass deine ach so noble Weigerung, zusätzlich zu der fürstlichen Begnadigung den Rest deines Lebens in Freiheit und gut versorgt zu verbringen, zu meinem Besten gedacht war?«
Ihr Vater stand am Gitter und hielt sich an den Stangen fest, als könnte sie das einander irgendwie näherbringen.
Alt sah er aus, so wie früher nie. Sein stoppeliges Haar war grau geworden, seine Haut wachsbleich und faltig.
»Es war zu deinem Besten, mein Liebes. Kannst du das nicht verstehen? Ich konnte doch nicht zulassen, dass meine eigene Tochter sich verkauft, nur um mich zu …« Seine Stimme zitterte unsicher.
»Um dich schon wieder zu retten?«, ergänzte sie den Satz für ihn. »War es das, was du sagen wolltest?«
Er seufzte. Inzwischen wusste Arkady, dass ihr Vater schon kurz nach seiner Verhaftung von ihrem Handel mit Fillion Rybank erfahren hatte. Was er allerdings ihr gegenüber mit keiner Silbe erwähnt hatte. Kein einziges Wort all die Male, die sie ihn im Kerker besucht hatte. Kein einfühlsames Kommst du damit klar? Keinerlei Anerkennung für ihre Tapferkeit, wie fehlgeleitet sie auch gewesen sein mochte. Nicht mal ein Wort des Dankes dafür, dass sie versucht hatte, ihn zu schützen.
Niemand sonst war damals bereit gewesen, etwas für ihn zu tun. Weder seine Freunde und Kollegen noch die Hunderte von Menschen, die ihm ihr Leben verdankten, nicht einmal die Crasii-Sklaven, denen er zu helfen versucht hatte – weswegen er immerhin verhaftet worden war. Trotz ihrer Wut konnte Arkady das den Crasii nicht mal übelnehmen. Sie hatten ihre eigenen Sorgen. Die von den Gezeitenfürsten magisch erschaffenen Mischwesen aus Tier und Mensch hatten wahrlich keine Muße, sich um die Probleme der Menschen zu kümmern. Die Gezeiten stiegen, und sie unterlagen mit Leib und Seele dem magischen Zwang, ihren unsterblichen Gebietern zu Willen zu sein.
All ihre Bemühungen, ihren Vater vor dem Kerker zu bewahren, indem sie sechs Jahre lang mit dem Mann schlief, der ihn ans Messer liefern konnte, bedeuteten für ihn lediglich, dass er als Vater versagt hatte. Mit Arkady hatte das Ganze offenbar gar nichts zu tun.
Gezeiten, was sind Männer doch für ichbezogene Geschöpfe.
»Arkady, das, was dieser Mann dir angetan hat …«
»Hat sich letztendlich als fruchtlose Zeitverschwendung erwiesen«, sagte sie und weigerte sich, ihn anzusehen. »Kam dir das nie in den Sinn, lieber Papa, während du hier in deiner einsamen Zelle geschmort hast, stolz auf den Edelmut deines Opfers? Hast du dir nie überlegt, dass ich meine Kindheit völlig sinnlos fortgeworfen habe, wenn am Ende doch nichts, was ich getan habe, dich retten konnte?«
Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihr das Recht absprechen, es so zu sehen. »Ich war dein Vater, Arkady. Es war meine Aufgabe, dich zu beschützen. Und ich habe versagt.«
»Und da hast du dir gedacht, eine ordentliche Buße wäre nur angemessen?«
Seine Augen schwammen vor unvergossenen Tränen. »Es macht mich krank, wie du gelitten hast, nur um mich zu schützen. Als ich von dem Handel zwischen dir und Desean erfuhr, konnte ich doch nicht tatenlos zusehen, wie du denselben Fehler noch einmal machst. Kannst du das nicht verstehen?«
Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Du hättest Stellans Begnadigung annehmen und mir dann persönlich sagen können, wie wenig dir dieser Handel gefällt. Hast du nie daran gedacht?«
Ihr Vater schwieg eine Weile. Schließlich sagte er kleinlaut: »Es klingt jetzt im Nachhinein töricht, aber um ehrlich zu sein, Arkady, ich hätte nie gedacht, dass er seine Drohung wirklich wahr macht. Ich war mir ganz sicher, dass er blufft. Noch als man mich in die Zelle im Keller verlegt hat, war ich überzeugt, dass der Fürst mich nur einschüchtern will, um meine Zustimmung zu erpressen. Als du plötzlich aufgehört hast, mich zu besuchen, traf mich das aus heiterem Himmel. Bis ich von der Hochzeit erfuhr. Der Stellan Desean, den ich aus seiner Kindheit kannte, schien mir nicht von dem Schlag, der aus blankem Eigennutz dem Unrecht frönt.«
»Du hast ihn nur ein paarmal getroffen, Papa. Wie konntest du dir einbilden, dass du Stellan gut genug kennst, um ihn zu durchschauen?«
»Du glaubtest ihn ja auch gut genug zu kennen, um seinen Antrag anzunehmen.«
Sie wandte den Blick ab und wünschte, sie könnte ihm ihre Gründe in Ruhe erklären, aber sie war einfach zu wütend, um es auch nur zu versuchen. »Stellan hat mir genau das gegeben, was er versprochen hat, Papa. Du warst derjenige, der sein Angebot ausgeschlagen hat.«
»Diesem Mann verdanken wir es, dass wir beide hier sind«, protestierte er, verärgert über ihre Unnachgiebigkeit. »Wie kannst du ihn noch in Schutz nehmen?«
Darauf hatte Arkady keine Antwort, denn damit zumindest hatte ihr Vater recht. Stellans Rolle in dieser jämmerlichen Geschichte war genauso unrühmlich wie seine. Aber irgendwie fiel es ihr leichter, ihrem Gemahl zu vergeben als ihrem Vater. Sie wusste selbst, wie es sich anfühlte, in die Enge getrieben zu werden. Sie wusste, wie es dazu kam, dass man alles tat, um zu überleben, und im Grunde hatte Stellan nur das getan. Er hatte gar keine Wahl mehr gehabt, als er ihrem Vater das Ultimatum stellte. Denn zu dem Zeitpunkt, als ihr Vater seine Begnadigung verschmähte, war Stellan längst beim König gewesen. Er hatte viel riskiert für die Genehmigung, sich mit dieser gemeinen Bürgerlichen zu vermählen, in die er angeblich verliebt war. Er konnte keinen Rückzieher mehr machen, ohne einen Skandal von monumentalen Ausmaßen heraufzubeschwören.
So wie sie Stellan kannte, hatte er ihren Vater vermutlich nicht gern weggesperrt, dachte Arkady. Aber als Bary Morel sich in den Kopf setzte, die Ehre seiner Tochter zu verteidigen und dem Fürsten seine Diskretion zu verweigern, ließ er ihm keinen anderen Ausweg. Stellan hatte zweifellos seine Fehler, aber ein Mangel an Entschlossenheit gehörte nicht dazu.
»Es tut mir leid, Arkady.« Ihr Vater stieß sich von den Gitterstäben ab. »Ich war sicher, dass ich das Richtige tue. Ich dachte, du wärst in den jungen Hawkes verliebt und wolltest in Wirklichkeit ihn heiraten.«
Arkady lächelte säuerlich. »Mir hast du damals immer gesagt, Declan sei ein Unruhestifter, aus dem nie etwas Anständiges wird. Ich erinnere mich nur zu gut, wie du mir erklärt hast, ich soll mich von ihm fernhalten.«
»Er hat es ja schließlich doch noch zu etwas gebracht«, räumte ihr Vater ein. »Zu einer respektablen Stellung. Wie man hört, hat er es im Dienste des Königs zu einigem Ruhm gebracht.«
Ach, Papa, wenn du wüsstest, was aus Declan geworden ist.
»Du willst mir also sagen, dir wäre es lieber, wenn ich einen mittellosen Unruhestifter geheiratet hätte statt eines reichen Fürsten?«
»Wenn du in den mittellosen Unruhestifter verliebt warst, dann ja.«
»Ganz schön altersmilde bist du geworden.« Sie wollte gar nicht so bitter klingen, aber sie konnte nicht anders.
»Es tut mir leid um ihn.«
»Um wen?«
»Declan. Ich habe um ihn getrauert, als ich hörte, dass er bei diesem Brand vor ein paar Monaten in Herino umgekommen ist.«
Arkady wandte den Kopf, um ihren Vater anzusehen. Allmählich wurde ihr klar, wie wenig er davon wusste, was sie im letzten Jahr getan und erlebt hatte. Wie wenig er überhaupt von ihr wusste. Wenn sie es genau bedachte, hatte ihr Vater keine Ahnung, was sie trieb, seit sie vierzehn war. Er hatte eine idealisierte Vorstellung von ihr. Er hatte sich Sorgen gemacht, dass Declan sie auf Abwege führen könnte; er sah in ihr nur das Opfer einer Reihe von Männern, die sie ausnutzten. Er hatte keine Ahnung, wie stark sie war und dass jede mühsam gewonnene Schlacht sie weiter abgehärtet hatte, bis es nicht mehr viel gab, was sie aus der Fassung bringen konnte. Er wusste nichts von den Unsterblichen. Seine kleinkarierten Sorgen erschienen ihm selbst so gewaltig, aber seine ganze Perspektive war bestimmt durch die Wände einer winzigen, engen Kerkerzelle.
Wen scherte es denn, ob sie den Richtigen geheiratet hatte oder nicht, wenn vielleicht demnächst die ganze Welt unterging?
Arkady stieß sich von der Pritsche ab und kam auf die Füße. Es war an der Zeit, ihren Vater über die Lage aufzuklären.
»Declan ist nicht tot, Papa«, sagte sie und trat an die Gitterstäbe heran.
Er lächelte sie traurig an. »Ich weiß ja, wie gern du das glauben möchtest, mein Liebes, aber …«
»Nichts aber«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß, dass er nicht tot ist, weil ich ihn gesehen habe. Gezeiten, Papa, ich hab mit ihm geschlafen. Als ich in Senestra war. Gleich nachdem ich als Lustsklavin dienen musste für einen ganz reizenden jungen Arzt, der sich dann als herzloser Massenmörder entpuppte.«
»Arkady …«
»Denkst du, die Zeit ist stehengeblieben, seit du hier drinhockst und dich in deinem verletzten Stolz und deinen Schuldgefühlen suhlst? Es gibt eine ganze Welt da draußen, von der du gar nichts weißt, Papa. Die Gezeiten steigen, die Unsterblichen versuchen die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ein paar von ihnen lauern um den Thron von Glaeba, und ein paar andere sind gerade dabei, sich Caelum unter den Nagel zu reißen. Noch ehe das Jahr um ist, wird Torlenien in den Händen eines Gezeitenfürsten sein. Ein Unsterblicher will sich partout umbringen, und wen er dabei mitnimmt, ist ihm völlig schnurz. Ach ja, und wie sich vor Kurzem gezeigt hat, ist Declan jetzt auch einer von ihnen.«
Sie sah, wie ihr Vater vor ihrem barschen Ton zurückwich, aber das war ihr egal. Sie hatte die Nase voll von seinem depressiven Selbstmitleid.
»Also rückblickend betrachtet, wen hätte ich deiner Meinung nach lieber heiraten sollen? Den Fürsten, der mich für eine Weile reich gemacht hat und mit dem ich ein annehmliches Leben führen konnte, aber durch dessen Niedergang ich als Hure in die Sklaverei verkauft wurde? Oder den Unruhestifter, der jetzt, wie ich zuletzt gehört habe, auf dem Weg nach Jelidien ist, um zu seinen unsterblichen Brüdern zu stoßen – die dort gerade einen Wahnsinnigen aus der Gefangenschaft befreit haben, um mit vereinten Kräften das Leben des Unsterblichen Prinzen zu beenden. Und für uns andere verheißt das alles gar nichts Gutes, denn ich habe den starken Verdacht, dass für seinen Selbstmord ein Weltuntergang erforderlich ist.«
Bary Morel starrte sie entsetzt an. »Du redest ja völlig wirr, Arkady.«
»Leider nicht, das ist die reine Wahrheit«, erwiderte sie. »Und wenn du dich zur Abwechslung einmal nützlich machen möchtest, statt nur dazusitzen und mich um Vergebung anzuflehen, weil du so ein Rabenvater warst, dann könntest du mir helfen, einen Plan zu machen, wie wir hier rauskommen.«
Bary schüttelte den Kopf. »Hier kommt niemand mehr raus, Arkady.«
»Wenn man so denkt, natürlich nicht«, gab sie zurück.
»Sie werden uns hier drin bei lebendigem Leib verfaulen lassen«, sagte er. »Das ist absolut sicher.«
Arkady hatte auf schmerzhafte Weise gelernt, dass nichts im Leben absolut sicher war. »Das glaube ich nicht, Papa. Früher oder später kommen sie uns holen.«
»Sie?«
»Vielleicht sollte ich sagen, er kommt uns früher oder später holen. Deshalb bist du hier, musst du wissen. Er braucht dich als Druckmittel gegen mich.«
Ihr Vater schüttelte verwirrt den Kopf. »Von wem sprichst du?«
»Vom neuen Fürsten von Lebec, Papa«, sagte Arkady und warf einen Blick zum Eingang der eisigen Turmzellen, als könne er sich dort materialisieren, sobald sein Name fiel. Zum Glück blieb die Tür geschlossen wie immer, außer einmal am Tag, wenn man ihnen ihre Mahlzeiten brachte. »Stellans ehemaliger Liebhaber, der Mann, der für den Tod des Königs von Glaeba verantwortlich ist. Der unsterbliche Gezeitenfürst Jaxyn Aranville.«
Die ganze Welt schien zu erzittern, wann immer sich ein neuer Eisbrocken von der Größe einer Kathedrale vom Schelf löste und in die eisigen schwarzen Gewässer des südlichen Ozeans stürzte. Jojo, die Crasii-Felide, taumelte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, obwohl sie ein gutes Stück abseits der Kante stand und – zumindest im Augenblick – nicht in unmittelbarer Gefahr war.
»Es wird schlimmer.«
Declan wandte sich von Jojo ab und sah die Gezeitenfürstin an, die das gesagt hatte. Ihre düstere Miene beunruhigte ihn. Arryl wirkte außerordentlich besorgt über das unzeitige Abschmelzen des Gletschers.
»Die Flut kommt so schnell«, sagte sie. Und damit meinte Arryl nicht das Meer, wie Declan nur zu gut wusste.
Sie waren am Nachmittag hierhergekommen, zum äußersten Zipfel von Jelidien, um sich ein Bild davon zu machen, wie schnell der Eiskontinent verschwand. Declan hatte den Ausflug angeregt, erfüllt von einer schrägen Mischung aus Beklommenheit und schuldbewusstem Entzücken über den rapiden Anstieg der kosmischen Flut. Als sie die Küste erreichten, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die rasant steigenden Gezeiten berührten nicht bloß die Unsterblichen und erst recht nicht nur einen frisch gebackenen Unsterblichen, der zum ersten Mal die wahre Auswirkung der kosmischen Flut erlebte. Ganz Amyrantha bekam ihre Macht zu spüren.
Declan hatte immer noch Mühe, die Wendung der Dinge zu begreifen, die ihn an diese Eisklippe geführt und einen Haufen legendärer Unsterblicher zu seinen Gefährten gemacht hatte. Es war noch gar nicht lange her, da war er ein Niemand gewesen. Nur seiner hart erarbeiteten Rolle als Erster Spion des Königs hatte er ein gewisses Ansehen verdankt. Und wäre ihm nicht ein schicksalsträchtiger Unfall widerfahren – ein Brand im Kerker von Lebec, in den er nicht hätte geraten dürfen –, so hätte Declan wohl sein Leben gelebt und wäre gestorben, ohne je von seinem unsterblichen Erbe zu erfahren. Doch als ihn das Feuer verzehrte, musste er feststellen, dass er nicht einfach bloß Declan Hawkes war, das Kind aus den Elendsvierteln, das es in eine höhere Laufbahn geschafft hatte. Er war Sohn und Urenkel von zwei mächtigen Unsterblichen, deren Stammbaum stärker war als die Flammen, stärker als alles andere. Er war nicht länger der uneheliche Bankert einer glaebischen Hure, er war ein Gezeitenfürst.
»Sollten wir nicht besser ein wenig Abstand halten, Herr?«
Declan unterbrach sein Gegrübel über die Tücken des Schicksals und warf über die Schulter einen Blick auf die ängstliche Crasii, die hinter ihnen wartete. Hier draußen auf dem Eis mit den Gezeitenfürsten – die völlig immun waren gegen jede Unbill des Wetters – war Jojo gezwungen, einen Pelzmantel zu tragen. Ihre saure Miene verriet deutlich, was sie davon hielt. Sie verabscheute den Mantel fast so sehr wie die Stiefel, die sie hier anziehen musste. Vermutlich hatte sie Krämpfe in den Füßen, und unter der langen schweren Pelzjacke, die sie vor der Kälte schützte, war nicht genug Platz, um ihren Schwanz bequem unterzubringen. Aber Jelidien war ein grimmiger Ort. Obwohl dies hier der Sommer war und Lukys behauptete, es würde wärmer – was die ins Meer stürzenden Eismassen durchaus belegten –, herrschte unvorstellbar grimmige Kälte. Also bestand Declan darauf, dass sie den Pelz trug, wenn sie in ihrer Gesellschaft bleiben wollte. Die Felide änderte erneut ihre Stellung und hoffte zweifellos, dass ihre Herren und Meister allmählich genug von der wegbrechenden Küste bekamen und endlich zum Palast zurückkehrten.
Nicht dass der Palast wesentlich wärmer wäre, dachte Declan, drehte sich wieder um und betrachtete weiter den fortschreitenden Verfall des Eisschelfs. Wobei das für ihn gar nicht leicht zu ermessen war. Declan hatte Unsterblichkeit erlangt und damit zugleich die Fähigkeit verloren, extreme Temperaturen zu empfinden. Es blieb abzuwarten, was für Fähigkeiten und Wahrnehmungen er sonst noch eingebüßt hatte.
»Ich wette, sie wünscht sich zurück nach Senestra«, sagte er beiläufig zu Arryl. Das arme Geschöpf hatte ja keine andere Wahl, als den Befehlen der Gezeitenfürsten zu gehorchen. Aber auch Crasii konnten sich schließlich dem Wunschdenken hingeben.
Arryl schüttelte den Kopf und warf nur einen flüchtigen Blick auf die schlotternde Felide. »Die vermisst Senestra nicht im Geringsten.«
»Im Ernst?«
»Ich bin sicher, sie war noch nie so glücklich.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Die Erfüllung, die sie dadurch verspürt, in der Gesellschaft von echten Unsterblichen zu sein, versüßt ihr noch die härtesten Umstände.« Arryl verzog das Gesicht. »Selbst die Tortur, Stiefel tragen zu müssen. Das ist ja eben ihre Tragödie, verstehst du das denn nicht? Das ist die große Schwäche, die ihnen angezüchtet wurde.«
»Sag ihr doch mal, sie soll sich ausziehen und still stehen, bis wir hier fertig sind, wenn du Arryl nicht glaubst«, mischte sich Taryx ein und trat vor bis an die äußerste Klippenkante. Am Bruch war das Eis schroff und zackig, auch davor war es schon von Haarrissen durchzogen, die sich bald ausweiten würden, um noch mehr vom Schelf abbrechen zu lassen. Taryx musterte kurz die Bruchkante und richtete sich wieder auf. »Sie würde mit einem glückseligen Lächeln auf dem Gesicht erfrieren, wenn du es verlangst.«
Der Unsterbliche beugte sich erneut vor, betrachtete den donnernden Ozean unter ihnen und ignorierte den eisigen Wind, der ihm das schwarze Haar ins Gesicht peitschte. Er war bei Weitem nicht so mächtig wie die anderen Unsterblichen, aber sehr gut darin, den Palast instand zu halten. Taryx’ besondere Gabe war der Umgang mit Wasser. Der ganz aus Eis gefertigte Palast der unmöglichen Träume unterlag seiner Obhut und Wartung. Declan fragte sich, warum er nichts tat, um das Abbrechen des Eises zu verhindern, denn wenn es in diesem Tempo weiterging, war in wenigen Wochen der Palast selbst in Gefahr.
»Könnte knapp werden«, rief Taryx nach einer Weile, fast als habe er Declans unausgesprochene Frage gehört.
»Was meinst du?«, fragte Arryl verwundert. »Die Crasii?«
Taryx schüttelte den Kopf. »Ich meine die Flut. So manche Dinge … geschehen, wenn die Gezeiten so schnell steigen.«
Declan fürchtete sich davor nachzufragen. Aber er fragte trotzdem, wobei er deutlich spürte, wie ahnungslos er in Bezug auf Gezeitenmagie noch war. »Was für Dinge?«
»Schlimme Dinge, über die man besser nicht spricht«, rief Kentravyon in ziemlich theatralischem Ton. Wie um das Schicksal herauszufordern saß er ein paar Schritte weiter ganz vorne auf der Klippenkante und ließ die Beine über dem brodelnden Abgrund baumeln, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt.
»Was für Dinge?«, wiederholte Declan ungeduldig. Er war mehr als genervt von diesen Unsterblichen und ihrer Marotte, auf völlig vernünftige Fragen unklare, kryptische Antworten zu geben. Warum macht die Unsterblichkeit nur alles schlimmer und nicht besser?, fragte er sich. Warum bringt sie anscheinend nichts als Zynismus und Narzissmus hervor? Wozu der ewige Sarkasmus? Warum bringt sie keine Erleuchtung? Oder Loslösung von der materiellen Welt? Irgendeine universelle Gewärtigkeit, die der sterbliche Mensch nie erreicht?
Gezeiten, werde ich irgendwann auch so sein, in ein paar Hundert – Tausend – Jahren?
Kentravyon, ein dunkelhaariger unscheinbarer Mann, schnitzte etwas aus einem Klumpen Eis, anscheinend gleichgültig gegenüber der Gefahr, dass die Klippe rings um ihn jederzeit nachgeben konnte. Declan spürte, wie er zum Schnitzen anstelle herkömmlichen Werkzeugs die Kraft der Gezeiten einsetzte. Es schien ihm, als nähme die Eisschnitzerei langsam die Gestalt eines menschlichen Kopfes an.
»Dies und das …«, murmelte Kentravyon mit einem Schulterzucken. »Kalte Gegenden werden kälter, heiße Gegenden werden heißer … Regenfälle verlagern sich, und so auch die Wüsten. Inseln versinken, Berge wandern, neue Landmassen steigen auf …« Während er sprach, flogen scheinbar wahllos kleine Eissplitter von seiner Skulptur und trafen die in der Nähe stehenden Gezeitenfürsten, bis Arryl eine gereizte Grimasse zog. Sie wirkte jedoch völlig unberührt von dem, was er über die Wirkung der Gezeiten sagte. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass sie eine kosmische Flut erlebte, also war es für sie nicht so eine Neuigkeit wie für Declan – falls Neuigkeit das passende Wort für die bevorstehende Gefährdung und womöglich endgültige Vernichtung aller menschlichen Existenz auf Amyrantha war.
»Was treibst du da eigentlich?«, fragte Arryl scharf.
»Ich erschaffe das Antlitz Gottes«, brüllte Kentravyon gegen den Wind an.
»Woher willst du wissen, dass das Gottes Antlitz ist?«
»Ich haue einfach alles weg, was nicht wie ich aussieht.«
Diese Bemerkung erntete ein bitteres Gelächter von Taryx. »Sieh mal an, und ich dachte immer, Wahnsinn ginge mit Widersprüchlichkeiten einher!«
Kentravyon warf seine Eisschnitzerei beiseite, sprang auf und starrte den Unsterblichen an, der es gewagt hatte, sich über ihn lustig zu machen. »Ich bin nicht wahnsinnig. Ihr anderen seid die Verblendeten.«
»Ich halte mich wenigstens nicht für Gott«, entgegnete Taryx.
Noch nicht, dachte Declan und fragte sich, ob Kentravyons Größenwahn das unvermeidliche Schicksal aller Unsterblichen war und dies einer der Gründe, warum Cayal so erpicht aufs Sterben war. Unberufen schlich sich ein weiterer Argwohn in seinen Geist. Werde ich irgendwann ebenso denken? Der Gedanke ängstigte ihn ein wenig. Werde ich mich auch eines Tages auf der Kante eines schmelzenden Gletschers wiederfinden, meine Zeit verschnitzen und mich für allmächtig halten? Declan blickte westwärts zu einer etwas entfernteren Eisklippe, wo sich eine einsame Silhouette gegen den bewölkten Himmel abhob. Der scharfe Wind vom Meer her blies in den Umhang der Gestalt, sodass er fast waagerecht flatterte. Kentravyon bemerkte die Richtung von Declans Blick und lächelte.
»Du willst doch wohl nicht auch sterben, hoffe ich«, sagte Kentravyon und musterte ihn neugierig.
»Nein.«
»Cayal ist so scharf darauf, dass er es fast schon schmecken kann. Ich schätze, das stempelt wohl eher ihn zum Irren, nicht mich.«
Declan wandte seinen Blick von Cayals einsamer Gestalt ab und sah Kentravyon an. »Und es ist natürlich völlig ausgeschlossen, dass ihr beide Irre seid, nicht wahr?«
»Irgendwann wirst du die Tiefe meiner Wahrheit schon erkennen«, meinte Kentravyon mit dem vergeistigten Ausdruck eines Weisen, der seit Langem weiß, was niemand sonst erkennt. »Der Kristall des Chaos wird dir den Weg weisen. Wie er es immer tut.«
»Vorausgesetzt, wir finden das verdammte Ding«, warf Taryx stirnrunzelnd ein.
»Er ist irgendwo in Glaeba.«
Declan sah Kentravyon erstaunt an. »Du weißt, wo er ist?«
Kentravyon zuckte die Achseln. »Er wurde von der geheimen Bruderschaft gestohlen, vor ein paar Tausend Jahren. Kurz bevor diese hinterhältigen Ärsche hier sich gegen mich verschworen und mich kaltgestellt haben.« Er warf einen giftigen Blick auf Arryl und Taryx und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder Declan zu. »Ich hatte mir da schon ein paar sterbliche Feinde gemacht, wie auch unsterbliche. Sie haben irrtümlicherweise geglaubt, sie könnten den Kristall benutzen, um mich zu vernichten.«
»Das Absurde daran ist natürlich«, setzte Taryx hinzu, »dass sie nicht nur unfähig waren, einen einzelnen Unsterblichen zu töten. Nein, als sie den verdammten Kristall verschwinden ließen, stellten sie damit zugleich sicher, dass sie uns alle für immer am Hals haben.«
Kentravyon drehte sich um und bedachte den unsterblichen Prinzen mit einem finsteren Blick. »Wenn ich herausfinde, dass er das Ding zusammen mit diesem erbärmlichen Gör in einem der Großen Seen versenkt hat, hört der Spaß aber auf.«
Declan war klar, dass der Gezeitenfürst sich auf die Legende des unsterblichen Prinzen bezog. Der Sage nach hatten seine Tränen über den Tod seiner sterblichen Tochter Fliss das Urstromtal zwischen Caelum und Glaeba geflutet und so die Großen Seen entstehen lassen. Was taten sie wohl, wenn der gesuchte Zauberstein wirklich am Grund eines der großen glaebischen Seen lag? Die Wasserwege waren immerhin so groß wie ein Binnenmeer.
»Ach, dann steckt Maralyce auch mit drin?« Declan wurde unvermittelt klar, warum seine Urgroßmutter sich Glaeba als Wohnsitz auserkoren hatte. Das hätte er sich gleich denken können. »Das ist es, was Maralyce in Wahrheit sucht, nicht wahr? Sie gräbt nicht nach Gold. Sie fahndet nach eurem verflixten Kristall. Wer weiß sonst noch alles Bescheid?«
»Das sind wohl alle«, sagte Kentravyon kurz angebunden. »Ist die Nachhilfestunde jetzt vorbei?«
»Ich hab noch eine Frage«, sagte Declan.
»Nein, wer hätte das gedacht?«, murmelte Taryx gehässig.
Declan ignorierte ihn. »Du hast eben gesagt, wie er es immer tut. Du hast den Kristall also schon mal benutzt?«
Kentravyon zögerte nur einen Augenblick. »Wir haben damit in der Vergangenheit experimentiert, ja.«
»Das ist keine Antwort. Ich will wissen, woher du die Gewissheit nimmst, dass dieser Kristall die erwartete Wirkung hat«, sagte Declan. »Ich meine, du plusterst dich hier auf und forderst, dass wir irgendeinen sagenumwobenen Zauberstein aufspüren, den die Bruderschaft gestohlen haben soll. Tja, tut mir leid. Ich war Mitglied der Bruderschaft, und Lukys hat sich sogar in den Fünferrat der Weisen eingeschleust. Ich hab aber noch nie von einem angeblich magischen Kristall gehört, der Unsterbliche vernichten kann.«
Taryx antwortete anstelle von Kentravyon. »Du hast doch jeden Tag davon gehört, Declan. Du hast es nur nicht kapiert.«
Declan starrte ihn an und wartete auf eine Erläuterung.
»Das Tarot, du Narr«, erklärte Taryx ihm ungeduldig. »Dabei ging es nie um Wahrsagerei, und ebenso wenig ist es eine Darstellung der Geschichte der Unsterblichen. Es war stets und ist noch immer der Schlüssel zum Versteck des Kristalls.«
»Ein Tarot der Gezeiten kann man auf jedem Marktplatz von Amyrantha kaufen«, wandte Arryl ein und klang fast so verwirrt, wie Declan zumute war. »Warum habt ihr ihn dann nicht längst gefunden?«
»Weil das Tarot sich im Laufe der Zeit verändert hat und offenbar nach jedem Weltenende eine neue Version in Umlauf gebracht wird«, erklärte Taryx. »Es wurde bis zur Unkenntlichkeit ausgeschmückt, entstellt und umgewandelt, um den romantischen Vorstellungen von guten Geschichten zu entsprechen. Also – wenn man das Versteck des Kristalls aufspüren will, muss man schon ein echtes Tarot der heiligen Überlieferung in die Finger kriegen. Oder wenigstens eine Kopie des Originals.«
»Und wie?«, fragte Declan.
Kentravyon lächelte. »Tja … genau darin besteht unser eigentliches Dilemma.«
»Ich hab noch eine Frage«, sagte Declan. »Lukys behauptet, das Bündeln der Gezeitenkräfte würde jeden Unsterblichen umbringen, der sich zu nah an der Öffnung des Portals befindet. Aber woher …« Declan unterbrach sich und starrte auf die See hinaus. Seine Haut prickelte von der nun schon vertrauten Wahrnehmung, dass sich jemand näherte, der in den Gezeiten schwamm.
Kentravyon und die anderen spürten es offenbar auch. Selbst Cayal richtete sich in der Ferne leicht auf und hob einen Arm, um die Augen gegen die gleißende Sonne abzuschirmen. Es war mehr Ahnung als konkrete Wahrnehmung, was Declan sagte, dass der Unsterbliche, den er jetzt in der Nähe spürte, jemand war, der nicht mit ihnen hier auf dem Eis stand.
Declans Stimme schwankte leicht, als er seinen Satz beendete: »… woher wisst ihr, dass der Kristall überhaupt funktioniert?«
Bevor jemand seine Frage beantworten konnte, schnappte die Felide hinter ihm nach Luft, taumelte einen Schritt in Richtung Meer und fiel auf die Knie. Gleichzeitig erhob sich in einiger Entfernung eine Welle, stieg unnatürlich in die Höhe und raste auf sie zu, wobei sie immer schneller wurde. Declan konnte niemanden erkennen, aber das scharfe Brennen auf seiner Haut sagte ihm deutlich, dass das, was die eigenartige Wasserwand lenkte und antrieb, die kosmische Flut war und nicht die Kraft des Ozeans. Vor ihren Augen wuchs die seltsame Woge rasch an, bis sie etwa so hoch aufragte wie die Gletscherklippe, auf der sie standen.
Declan kämpfte gegen den Drang zurückzuweichen, als die Riesenwelle auf sie zuraste. Er wusste – wenigstens verstandesmäßig –, dass sie ihm nicht viel anhaben konnte, aber sein Instinkt war einfach noch nicht an die Unsterblichkeit angepasst.
Und dann, vorwarnungslos, blieb die Welle – urplötzlich und unerklärlich – direkt vor der Klippenkante in der Luft stehen.
»Vielleicht solltest du unseren Besuch danach fragen«, empfahl Taryx ungerührt, als eine patschnasse Gestalt in einem dünnen leinenen Hemd der reglosen Wasserwand entstieg und die Klippe betrat, wie eine vornehme Dame aus einer Kutsche steigt. Dann erst gab die Welle der Schwerkraft nach und stürzte mit ohrenbetäubendem Lärm ins Meer hinab.
»Mich wonach fragen?«, erkundigte sich die triefnasse Gestalt gelassen und neigte den Kopf leicht seitwärts, um sich das Wasser aus den Haaren zu wringen. Es war eine Frau in den mittleren Jahren, dunkelhaarig und kräftig, doch Declan hatte ihr Alter noch nie schätzen können. Vermutlich sollte er verblüfft sein, sie hier zu sehen – und sicherlich beeindruckt von ihrem bühnenreifen Auftritt in einer Woge –, aber Declans Sinne waren seit seiner Ankunft in Jelidien zu sehr überreizt worden, um solche Feinheiten noch groß zu spüren.
Kentravyon jedenfalls schien nicht sonderlich überrascht, ihre Besucherin zu sehen. »Nettes Schauspiel, Maralyce«, bemerkte er, als sie vor ihnen stand. »Hast du das geübt?«
»Sei nicht albern«, sagte sie und nickte den anderen grüßend zu. Dann fasste sie Declan ins Auge und schüttelte sich nebenbei das Wasser aus den Kleidern. Es war so kalt, dass sich Eiszapfen an ihren nassen Wimpern bildeten. »Na, mein Junge. Wie ich sehe, hast du hergefunden. Was meinte Taryx eben? Eine Frage?«
»Dein Enkel möchte gern wissen, woher wir wissen, was der Kristall des Chaos vermag«, sagte Taryx, bevor Declan ein Wort herausbrachte.
Maralyce zuckte unbekümmert die Achseln, als ob die Frage sie nicht im Geringsten berührte. Oder vielmehr, als wäre überhaupt nichts Seltsames an ihrem unangekündigten Eintreffen auf dem Rücken einer Welle. Sie zog sich das Hemd über den Kopf, um es auszuwringen, und benutzte die Gezeiten als Trockenschleuder. Dabei entblößte sie unbekümmert einen kerngesunden und verblüffend anmutigen, wohlgeformten Körper.
Declan blickte beiseite. Diese Frau war seine Urgroßmutter. Unsterblich hin oder her, das gab ihr doch nicht das Recht, sich dermaßen öffentlich zu entkleiden – oder in ihrem Alter einen solchen Körper zu haben.
»Wir haben das schon mal gemacht, Declan«, sagte Maralyce und schmunzelte über seine Verlegenheit. »So sind wir nach Amyrantha gekommen.«
Als ihm die Bedeutung ihrer Worte ins Bewusstsein drang, vergaß Declan ihre Nacktheit, hob den Kopf und starrte seine Urgroßmutter an. Dann warf er einen raschen Blick in die Runde, um die Reaktion der anderen abzuschätzen. Taryx wirkte nicht überrascht. Kentravyons Blick flackerte ein wenig – aber das hieß nicht viel, weil er meistens so dreinsah. Arryl allerdings schien ebenso schockiert wie Declan selbst.
»Ich schätze«, Declan sah von Maralyce zu Kentravyon und dann wieder zu ihr, »ihr schuldet uns ein paar Erklärungen.«
Maralyce zuckte die Achseln, dann erspähte sie die entfernte Gestalt auf der anderen Klippe.
»Ist das Cayal da drüben?«
»Ja.«
»Was macht er da?«
»Hoffen, denke ich«, sagte Arryl traurig.
»Worauf denn?«, fragte Maralyce und zog sich das nun trockene Hemd wieder über.
»Auf den Tod«, antwortete Kentravyon. »Was sonst?«
Stellan Desean, einstiger Fürst von Lebec, konnte nicht genau beziffern, wann diese Wendung der Dinge eigentlich erfolgt war, aber irgendwie steckte er nun, ohne je den Vorsatz gehegt zu haben, mitten im Kampf um die Krone. Er hatte nie beabsichtigt, sich auf ein solches Gerangel einzulassen. Ganz im Gegenteil. Bis vor Kurzem war sein Leben ganz der Bewahrung der Krone gewidmet gewesen, zuerst für seinen Freund, Cousin und König Enteny Debree, dann nach dessen Tod für seinen Sohn und rechtmäßigen Erben Mathu.
Noch vor knapp einem Jahr hätte Stellan für den König von Glaeba sein Leben hingegeben. Die Gezeiten wussten, dass er im Laufe der Jahre viel durchgemacht hatte, um Glaebas Erben zu schützen.
All das hatte sich nun gründlich geändert. Seine frühere Lebensaufgabe, als rechte Hand seines jungen Neffen Mathu dafür zu sorgen, dass dieser zu einem würdigen Herrscher heranwuchs, war nur mehr ein ferner, fast vergessener Traum. Jaxyn Aranville hatte ihm den Mord an König Enteny angehängt und ihn erfolgreich als Hochverräter gebrandmarkt, und Stellans überstürzte Flucht aus dem Kerker kurz vor der Gerichtsverhandlung sprach nicht eben zu seinen Gunsten. Als Flüchtling und Vaterlandsverräter beteiligte er sich nun tatkräftig an einem Komplott gegen den jungen König von Glaeba – was sicherlich weit mehr nach Verrat geschmeckt hätte, wenn er nicht wüsste, dass der glaebische Herrscher nur ein Werkzeug in der Hand von raffgierigen, machthungrigen Unsterblichen war. Und um sein Land vor der Blindheit seines willensschwachen jungen Königs zu retten, stand Stellan nun hier in der Ratskammer im Palast der Königin von Caelum. Die Wandteppiche, die das dicke Gemäuer schmückten, kündeten prahlerisch von längst vergangenen Siegen über Glaeba, und er erörterte hier gerade die beste Strategie, sein Heimatland mit einer fremden Armee zu besetzen … ein Schritt, der sich aufgrund des Wetters als etwas schwierig erwies.
»Ist der See vollständig zugefroren?«, fragte der Gemahl der Königin. Lord Tyrone – oder Tryan der Teufel für alle, die etwas Ahnung von den Unsterblichen hatten – richtete seine Frage an niemand Bestimmtes. Er hatte die Königin von Glaeba geehelicht, als ihre Tochter noch als vermisst galt, weil er hoffte, so an die Krone zu gelangen. Doch nun, da Prinzessin Nyah zurück war, hatte er aufgrund der komplizierten caelischen Erbfolgeregeln keine Aussicht mehr, den Titel je legitim zu beanspruchen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich aufzuführen, als ob er das Land regierte, wie Stellan mit Unbehagen feststellte.
»Noch nicht ganz«, meldete Ricard Li, der Erste Spion von Caelum, der Versammlung und trat an den Kartentisch, um die fraglichen Stellen anzuzeigen. Er trug eine mit Schaffell gefütterte Jacke, seine Hände steckten in dicken Lederhandschuhen, und sein Atem gefror beim Sprechen zu Wolken. »Das Eis hier am Ufer ist recht dünn, und an manchen Stellen fließt noch Wasser ein. Um die Dicke des Eises zu prüfen, haben wir Taucher eingesetzt. Wir haben einige von ihnen durch Unterkühlung verloren, und was die Überlebenden berichten, ist nicht ermutigend. Wenn diese Kälte weiter anhält, ist es nur eine Frage von Tagen, bis man von Cycrane bis nach Herino durchmarschieren kann.«
»Ob Jaxyn das auch bewusst ist?«, fragte Tryan. Er lehnte sich im rotledernen Thron der Königin zurück, als gehörte er ihm bereits. Im Gegensatz zum Ersten Spion war er in Hemdsärmeln, die eisige Luft kümmerte ihn nicht. Jilna, Königin von Caelum, war nirgends zu sehen. Sie hatte wieder einmal ausrichten lassen, dass sie unpässlich sei, und sich wie so oft in ihre Gemächer zurückgezogen.
Stellan fragte sich, ob ihr Gemahl ihr Drogen oder Gift verabreichte. Vielleicht keine tödlichen Dosen, nur die nötige Menge, damit sie den Unsterblichen nicht in die Quere kam, die längst ihren Palast übernommen hatten und nun im Begriff waren, die Herrschaft über das ganze Land an sich zu reißen. Wegen der unerklärlichen Krankheit der Königin herrschte in Wahrheit Tryan über Caelum. Hinter ihm standen seine Mutter und seine Schwester, sein Stiefvater und seine Stiefbrüder. Zum Glück nahmen die Stiefbrüder nicht an diesem Kriegsrat teil. Krydence und Rance waren nach Süden gezogen, um zu prüfen, wie weit sich das Eis dort am Seeufer erstreckte, und würden hoffentlich noch ein paar Tage unterwegs sein.
»Natürlich weiß er das«, sagte Syrolee. Die Großherzogin von Torfail stellte ihre Teetasse so heftig ab, dass die feine Porzellanuntertasse beinahe zerbrochen wäre und der Tee über den Tisch schwappte.
Warlock, der Crasii-Sklave, den die geheime Bruderschaft des Tarot hergeschickt hatte, um die Unsterblichen auszuspionieren, eilte von seinem Posten an der Tür herbei, um den vergossenen Tee aufzuwischen. Stellan bemühte sich, keine sichtbare Notiz von ihm zu nehmen. Die geheime Bruderschaft setzte alles daran, Amyrantha von den Unsterblichen zu befreien – daran arbeiteten sie bereits, seit die Menschen auf Amyrantha sich ihrer Gegenwart bewusst waren. Stellan selbst war zwar kein Mitglied der Bruderschaft, sympathisierte jedoch mit ihren Zielen und wollte ihren Agenten hier im Palast keinesfalls in Gefahr bringen.
»Er ist wahrscheinlich sogar dafür verantwortlich.«
Ohne Warlock selbst im Geringsten zu beachten, beugte sich Lord Tyrones Schwester Elyssa nach links, um an dem großen Caniden vorbei Blickkontakt zu ihrer Mutter herzustellen. »Ich habe aber nichts gespürt.«
Stellan verstand, was sie meinte: Sie hatte nichts davon gespürt, dass Jaxyn die Gezeiten lenkte. Demzufolge wäre dieser unglaublich kalte Winter einem natürlichen Phänomen zu verdanken und nicht, was wahrscheinlicher war, die Folge unsterblicher Manipulation. Allerdings durfte er sich keinesfalls anmerken lassen, dass er wusste, wovon sie sprach. Für die Unsterblichen war er ein Ahnungsloser, der von ihrer wahren Identität keinen Schimmer hatte. Und genau da lag der Hase im Pfeffer: Stellan hatte die Lösung des Problems klar vor Augen, aber er konnte sie nicht vorschlagen, ohne zuzugeben, dass er wusste, wer und was sie waren.
»Während wir hier stehen, zieht König Mathu seine Streitkräfte für die Invasion zusammen«, sagte Ricard Li. »Sobald das Eis stark genug ist, müssen wir mit dem Großangriff einer weit überlegenen Streitmacht glaebischer Krieger rechnen, und viele davon sind kampferprobte Feliden.«
»Aber wie will er die übers Eis schaffen?«, fragte Elyssa. Stellan war nicht entgangen, dass die unansehnliche, fast schon abstoßende junge Frau von allen Unsterblichen hier in Caelum die hellste zu sein schien. Das machte sie gefährlicher, als sie aussah – was er gerade erst zu würdigen begann. Ihre hässliche Angewohnheit, ihre Liebhaber zu töten, weil sie ihr Schmerzen bereiteten, machte sie auch nicht gerade zu einer angenehmen Zeitgenossin.
Die Unsterbliche Jungfrau trug diesen Spitznamen nicht ohne Grund, wie Stellan wusste. Maralyce zufolge rührte ihr Fluch von dem Umstand her, dass sie noch unberührt gewesen war, als sie unsterblich wurde. Die unerbittliche, qualvolle Regeneration, die diese Geschöpfe dazu befähigte, ewig zu leben, wirkte sich auf jedes ihrer Körperteile aus. Elyssas Schmerz endete nie. Es wunderte Stellan nicht, dass die Qual sie ein bisschen irre machte.
Doch ihren Bruder Tryan hielt er für weit gefährlicher, gerade weil er so hübsch war. Nichts an seinem angenehmen Äußeren deutete auf die finsteren Abgründe in seinem Inneren hin. Elyssas bloße Gegenwart machte Stellan schon nervös, sodass er meist auf der Hut war, wenn er mit ihr zu tun hatte. Tryan hingegen war trügerisch umgänglich. Wenn er vorhätte, sich meiner zu entledigen, würde ich gar nicht mitkriegen, dass ich ermordet werde, bis ich mein Blut an seinen Händen und das Messer in meiner Brust entdecke. »Ich bin sicher, dass Jaxyn sich da etwas einfallen lässt«, meinte Tryan mit einer wegwerfenden Handbewegung. Wie genau der Angriff erfolgen würde, interessierte ihn weit weniger als das Wann.
»Wir können sie einfach auslöschen, wenn sie kommen, oder nicht?«, fragte Engarhod. Er fläzte sich am anderen Ende des Tisches, vor sich einen beinahe geleerten Krug Wein. Wahrscheinlich seine Vorstellung von Frühstück. Stellan hatte festgestellt, dass Engarhod kaum je etwas Sinnvolles zum Gespräch beitrug. Meist verhielt er sich, als sei ihm völlig egal, was die anderen anstellten, solange sie ihn nicht am Saufen hinderten. Der nahezu leere Krug Wein war schon der zweite, den ihm Warlock an diesem Morgen besorgt hatte. Stellan hatte noch nie einen Mann gesehen, der solche Mengen schlucken konnte wie Syrolees Gemahl und trotzdem auf den Füßen blieb.