Giftmord - Kurt Badertscher - E-Book

Giftmord E-Book

Kurt Badertscher

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Beschreibung

In den 1920erJahren ereignete sich ein tödliches Drama abseits des Dorfes Suhr: ein Doppelgiftmord. Beschuldigt wurde die 1862 geborene Verena Lehner. Sie hatte 16 Kinder zur Welt gebracht, sich von der Taglöhnerin zur Hausbesitzerin hochgearbeitet und besass den Ruf einer Wahrsagerin. Im kleinen Haus am Waldrand beherbergte sie auch Untermieter. Ihnen soll sie das Essen vergiftet haben. 1929 stand Lehner fünf Tage vor dem aargauischen Kriminalgericht. Die Angeklagte, die alles bestritt, wurde verurteilt und verbrachte den Rest ihres Lebens im Gefängnis. Die Erzählung von Kurt Badertscher verwebt geschickt Fakten und Fiktion. Detaillierte Gerichtsakten und ausführliche Zeitungsberichte wechseln sich ab mit der romanhaften Erzählung eines widerständigen Frauenlebens. Verena Lehner passte nicht in das Frauenbild ihrer Zeit. Der Indizienprozess gegen sie war denn auch geprägt von Vorverurteilung. Der Fall blieb letztlich unaufgeklärt.

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ähnliche


GIFTMORDEINE KRIMINALGESCHICHTEVON 1929

KURT BADERTSCHER

HIER UND JETZT

INHALT

PROLOG

PROZESS: Erster Tag

DER FRÜHE WEG DER WAHRSAGERIN

PROZESS: Zweiter Tag

MAIMARKT

PROZESS: Dritter Tag

FRAU MÜLLER GEHT ZUR WAHRSAGERIN

BERICHT DES AARGAUISCHEN POLIZEIKORPS

IN UNTERSUCHUNGSHAFT

PROZESS: Vierter Tag

ERMÜDENDE GERICHTSVERHANDLUNG

AUS DEN PROZESSAKTEN

PROZESS: Fünfter Tag

EIN BAD IN DER WYNA

EPILOG

Zeittafel: Verena Lehner-Kaufmann

Quellen und Literatur

Dank

PROLOG

«Frau Verena Lehner, geborene Kaufmann, hat sich im Sinne der von der Staatsanwaltschaft gestellten Anklage schuldig gemacht des Verbrechens des Mordes in zwei Fällen, des Verbrechens der Unterschlagung, des Verbrechens des qualifizierten Betruges in zwei Fällen und sie wird hierfür verurteilt zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe.»

So lautete das am 5. Oktober 1929 gefällte Urteil nach fünftägiger Prozessdauer des Geschworenengerichts in Aarau. Die Dauer der Gerichtsverhandlung lässt den Schluss zu, dass der Fall Lehner für die Aargauer Justiz von grosser Bedeutung gewesen war. Auch die Bevölkerung in und um Aarau hatte den Gerichtsfall mit starkem Interesse verfolgt. Zugleich war es das Ende einer Karriere. Verena Lehner, die sich als Wahrsagerin betätigt hatte, war während vieler Jahre von einem beachtlichen Kreis von Personen konsultiert worden. Den Schlusspunkt bildeten sieben Zeilen, welche den Prozess von Dienstag bis Samstag in der ersten Oktoberwoche des Jahres 1929 beendeten.

Der Giftmord von Suhr regte die Fantasie von unzähligen Menschen an und bewegte die Region des unteren Wynentals noch Jahrzehnte später. Die Zeitungen berichteten ausführlich über den «Prozess des Jahres». Zu Beginn der 1930er-Jahre verarbeitete die Schriftstellerin Rösy von Känel den Fall literarisch. Es war die Geschichte einer Wahrsagerin, sie lebte in einem kleinen Haus am Waldrand mit 13 Kindern und einem versoffenen Mann – eine unheimliche Frau, deren Untermieter plötzlich starb. Der Hausarzt schöpfte Verdacht, fragte sich, ob Gift eine Rolle spielte und es womöglich Mord war, weil sie an das Geld des Untermieters wollte. Als die «Aargauer Zeitung» 1985 den Roman von Rösy von Känel, geschrieben 1931, abdruckte, sorgte das für Aufregung bei den Nachkommen von Verena Lehner, der vor Jahren verurteilten Wahrsagerin. Sie wollten den Abdruck verhindern, die Fortsetzungsgeschichte erschien trotzdem.

Ich vernahm die Geschichte der Wahrsagerin in jungen Jahren. Dass sie Verena Lehner hiess, erfuhr ich erst viele Jahre später. Meine Grosseltern lebten in Teufenthal und ich besuchte sie regelmässig. Es war Anfang der 1960er-Jahre, ich war damals zehn Jahre alt, als meine Grossmutter mich eines Tages fragte: «Habe ich dir die Geschichte von der Wahrsagerin schon einmal erzählt?» Ich schüttelte den Kopf und schaute sie erwartungsvoll an – sie war eine gute Geschichtenerzählerin:

«Es war einmal eine Wahrsagerin, die lebte in einem Haus in Suhr, weit ab vom Dorf, am Waldrand, dort wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Es wurde erzählt, dass sie für die Leute, welche zu ihr kamen, durch Kartenlegen in die Zukunft sehen könne. Eine Wahrsagerin nannten sie die einen aus dem Dorf, andere Leute behaupteten, sie sei eine Hexe. Sie habe vieles gemacht, auch Heimliches. Alles wisse man natürlich nicht. Jedenfalls gingen wenige Menschen freiwillig zu diesem kleinen Haus am Waldrand. Wer aber dort vorbeiging, gehörte zur Kundschaft der älteren Frau. Einige Personen aus dem Dorf wussten später zu berichten, dass es Tage gegeben habe, an denen sehr viele Menschen bei der Wahrsagerin vorsprachen. Sie seien zum Teil von weit her gekommen und alle hofften auf einen Blick in die eigene Zukunft. Ausserdem hatte die Wahrsagerin einen Zimmerherrn bei sich aufgenommen. Für ihn kochte sie und machte ihm die Wäsche. Er hatte bei der Eisenbahn gearbeitet und besass ein wenig Erspartes. Ihm vergiftete sie das Essen, weil sie sein Geld haben wollte. Als diese Schandtat bekannt wurde, holte sie der Landjäger ab und man machte ihr den Prozess in Aarau. Die Wahrsagerin wurde vom Gericht verurteilt und kam ins Zuchthaus!»

Wahrscheinlich habe ich danach die Grossmutter mit grossen Augen ungläubig angeschaut, woraufhin sie bekräftigte: «Oh Ja – so war das!»

Gab es Wahres an ihrer Geschichte? Eine Hexe, die einen Mann vergiftete, und das vor nicht allzu langer Zeit? Meine Grossmutter verfügte über viel Fantasie, das wusste ich. Als der Prozess in Aarau über die Bühne ging, war sie noch keine 30 Jahre alt. Bestimmt las sie die ausführlichen Gerichtsberichte im «Freien Aargauer». Hätte ich die Möglichkeit, würde ich sie heute fragen, ob sie an einem der Prozesstage im Gerichtssaal die Verhandlungen mitverfolgt habe oder ob sie sich vorher von der Wahrsagerin im Ryntal einmal die Karten habe legen lassen. Als Zehnjähriger kamen mir diese Fragen nicht in den Sinn. Warum auch? Es war eine gute Geschichte und die Grossmutter hatte sie spannend erzählt.

Über die Jahre hinweg hatte die Geschichte einen bleibenden Eindruck in mir hinterlassen. Vor drei Jahren las ich einen umfangreichen Aufsatz über die Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, dabei erinnerte ich mich wieder an Grossmutters Erzählung. Sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Nach und nach fielen mir weitere Episoden über die Wahrsagerin ein, welche ich das eine oder andere Mal in der Vergangenheit gehört hatte. Diese Anekdoten hatten früher kein besonderes Interesse von meiner Seite geweckt. Jetzt aber wollte ich mehr erfahren. Nur die Erzählerin von damals, meine Grossmutter, konnte nicht mehr als Auskunftsperson befragt werden. Ich musste meinen eigenen Weg zur Wahrsagerin finden.

Nachdem ich das Jahr des Gerichtsprozesses erfahren hatte, begann ich meine Recherchen in der Kantonsbibliothek in Aarau, wo ich eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln fand. Im «Aargauer Tagblatt», in der «Neuen Aargauer Zeitung», im «Freien Aargauer» und im «Brugger Tagblatt» erschienen während des fünftägigen Prozesses täglich detaillierte Berichte über den Verlauf der Gerichtsverhandlungen. Die Urteilsverkündung am Samstagabend des 5. Oktober 1929 wurde am darauffolgenden Montag ausführlich besprochen. Die tägliche Berichterstattung erfolgte meistens dreispaltig und zum Teil auf der Titelseite der damals nur etwa vier Textseiten umfassenden Aargauer Zeitungen. Die Journalisten waren sich einig, dass nur die angeklagte Wahrsagerin als Mörderin in Frage kam.

Berichte von kleineren Zeitungen fand ich in den Beständen der Kantonsbibliothek nicht, doch im weiteren Verlauf meiner Recherchen stiess ich auf weitere Zeitungsberichte über den Prozess. Das «Wynentaler Blatt» und die «Lenzburger Zeitung» druckten je einen Zwischenbericht und einen umfassenderen Schlussbericht, der aber nicht so ausführlich ausfiel wie in den auflagenstärkeren Aargauer Zeitungen. Die ausgedehnte Zeitungslektüre verstärkte mein Interesse an dieser Geschichte. In mir wuchs die Überzeugung, dass in diesen Zeitungsberichten nicht die ganze, vielleicht sogar nicht einmal die tatsächliche Geschichte der Wahrsagerin wiedergegeben wurde.

Meine erste Anfrage beim Staatsarchiv Aarau wurde abschlägig beantwortet. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass ausgerechnet von diesem Prozess keine Akten vorhanden sein sollten. Ich hakte nach und bekam nach einiger Zeit den Bescheid, dass die Akten gefunden worden seien. Alle Unterlagen sind in zwei grossen Schachteln im Staatsarchiv gelagert. Die Gerichtsverhandlungen waren mit viel Aufwand vorbereitet worden. Der Indizienprozess wurde vor dem Geschworenengericht geführt. Ein Geständnis der mutmasslichen Täterin fehlte. Nicht in den Archivschachteln zu finden sind das Plädoyer des Staatsanwalts Rauber und die Verteidigungsrede des Fürsprechs Meyer. Deren Ausführungen hatten gemäss den Zeitangaben im Gerichtsprotokoll mehr als vier Stunden gedauert. Vom Plädoyer und der Verteidigungsrede liegen nur die in den Gerichtsberichten der Zeitungen abgedruckten Zusammenfassungen vor. In den Gerichtsunterlagen enthalten sind hingegen die Aussagen der mehr als 70 Zeugen, welche vom Untersuchungsrichter vorgeladen und befragt worden waren. Ich arbeitete mich durch mehrere hundert Seiten Protokolle der Gerichtsverhandlung, Protokolle der Einvernahmen, Polizeiberichte, Gutachten und weitere Unterlagen, welche von der Untersuchungsbehörde zusammengetragen worden waren. Nach der Durchsicht der Zeitungen und Unterlagen im Staatsarchiv kannte ich von Verena Lehner nur die wenigen im Prozess erwähnten Stichworte über ihr Leben. Daraus ergab sich das schemenhafte Bild einer Mutter von 16 Kindern, welche fast Tag und Nacht gearbeitet hatte und in ihren täglichen Aktivitäten die unterschiedlichsten Rollen einnehmen musste: Mutter, Hausfrau und Bäuerin, später Wahrsagerin und sogar Hausbesitzerin. All dies war in den Unterlagen und Zeitungsberichten nur angedeutet. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich entschlossen, Licht ins Dunkel der Lebensgeschichte der Verena Lehner zu bringen. Ich wollte versuchen, der in den Akten knapp beschriebenen Person die Konturen eines Menschen zu geben und ihr Wirken während mehr als 60 Jahren nachzuzeichnen. Deshalb schrieb ich einen ersten Text, eine mögliche kleine Episode aus dem Leben der Verena Lehner.

Bei einem Lokaltermin im Ryntal schaute ich mich in dem Waldstück an der Suhrer Gemeindegrenze zu Gränichen um. Zwischen den Bäumen stehend, konnte ich mir den Standort des ehemaligen Gehöfts, das Ende der 1950er-Jahre abgebrochen worden war, nicht vorstellen. Später nahm ich mit Frau Lotte Kaufmann-Gehrig in La Chaux-de-Fonds, die auf jenem Bauernhof geboren und aufgewachsen war, Kontakt auf. Sie und ihre Familie waren die letzten Bewohner des «Wahrsagerhauses» im Ryntal, wie sie in ihrer Biografie schrieb. Mit ihr hatte ich einen zweiten Lokaltermin. Im Gespräch vermittelte sie mir ein aufschlussreiches Bild der Lebensumstände auf diesem längst verschwundenen Bauernhof aus der Zeit vor Mitte des letzten Jahrhunderts. Auch konnte sie mir während des Spazierganges den Standort der ehemaligen Gebäude zeigen. Heute ist das Ryntal ein unscheinbares Waldstück, mit einer bewegten Geschichte von Mord und Totschlag, von der die wenigsten Personen etwas ahnen, wenn sie dort vorbeikommen. 1931 war an diesem Ort bei einem Raubmord ein 78-jähriger Bauer umgebracht, seine 72-jährige Frau schwer verletzt worden.

Ein zweiter Text aus dem Leben der Verena Lehner entstand. Währenddessen überlegte ich, wie die Geschichte dieser Frau, welche zwischen den Zeilen der Zeitungsberichte und Gerichtsakten sowie aus Gesprächen mit Zeitzeugen nach und nach Gestalt annahm, einem weiteren Personenkreis zugänglich gemacht werden könnte. Immerhin lockte der Prozess 1929 gegen 400 Zuschauer in den Gerichtssaal in Aarau, und es ist durchaus möglich, dass die Nachgeborenen ebenfalls am Schicksal der Wahrsagerin aus dem Ryntal interessiert sind.

Ein Sachbuch, welches sich auf die von mir studierten Zeitungsberichte und Archivunterlagen des Prozesses abstützte, fand ich nicht passend. Mir schien diese Form unbefriedigend, denn die vorliegenden Unterlagen erwiesen sich als wenig umfassend und bescheiden vom Umfang her. Vor allem aber beleuchten sie eine Seite der Geschichte zu stark, die Geschichte einer verurteilten Giftmörderin. Zudem stellte sich mir die Frage, wie meine beiden Episoden aus dem Leben der Wahrsagerin in ein Sachbuch integriert werden könnten. Sollte ich einen zweiten Roman schreiben, in der Nachfolge von Rösy von Känel?

Oder gab es noch eine dritte Möglichkeit? Vielleicht eine Mischform zwischen historischer Darstellung und fiktiver Erzählung? Als ich mich weiter in das Quellenmaterial der Lebensumstände jener Zeit sowie in die Literatur zu Hexerei, Wahrsagerei und Giftmorden vertiefte, kam ich zum Schluss, dass der dritte Weg ein passender war. Zwischendurch hatte ich eine dritte Episode aus dem Leben der Wahrsagerin geschrieben, basierend auf den Zeitungsberichten und Gerichtsprotokollen. Ich wollte den Versuch wagen, die Figur der Verena Lehner, aber auch die ihres Mannes, ihrer Kinder und ihrer Situation im täglichen Existenzkampf auszuloten. Auch ging es mir darum, die Zeitumstände sichtbar zu machen und die Lebensund Denkweise der Betroffenen aufzuzeigen. Bei der Figur der Verena Lehner war für mich eine Frage von besonderer Bedeutung: Was war ihre Motivation, ihr Antrieb? Geldgier oder Existenzangst? Zugleich interessierten mich auch die Umstände, welche zum Giftmord geführt haben. Ist es denkbar, dass nach den vielen Jahren neue Erkenntnisse gefunden werden können? War tatsächlich Verena Lehner die Täterin, obwohl sie in ihrem Schlusswort nach der Urteilsverkündung des Geschworenengerichts nochmals beteuert hatte, dass sie unschuldig sei?

Das Buch, das entstanden ist, beinhaltet von mir ausgedachte Geschichten und dazwischen Zeugnisse aus Archiven und Bibliotheken. Geschichte und Geschichten. Dieser dritte Weg ist eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Zeitungsberichte, Prozessunterlagen und weitere Quellen wechseln sich ab mit einer fiktionalen Erzählung über eine Familie, vor allem aber eine Frau, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren eigenen Weg einschlug – mit dem oder ohne das Wissen, was schiefgehen konnte, unbeugsam, mit eisernem Willen, denn sie wollte nicht verlieren. Die Geschichte einer Frau, welche als Giftmörderin von Suhr jahrelang im Zuchthaus in Lenzburg eingesessen hatte. Die Geschichte der Wahrsagerin, wie sie sich zugetragen haben könnte.

PROZESS:ERSTER TAG

AARGAUER TAGBLATT:DER SUHRERGIFTMORDPROZESS VORSCHWURGERICHT

NR. 230MITTWOCH, 2. OKTOBER1929

Still, adrett wie immer, ein architektonischer Ausdruck der Korrektheit selber, steht das Aarauer Rathaus am Ende der Rathausgasse. Im trüben Schein des Herbstmorgens ist seine Physiognomie vielleicht um ein kleines weniger freundlich als in den langen Tagen herrlichen Nachsommers. Oder sind es die Flügelschatten der Erinnyen, die auf dem Hause liegen? Viel Volk aus allen Ständen strömt hinein. Zahlreicher als sonst zirkulieren Grünröcke treppauf und treppab. Oben im dritten Stockwerk ist der Korridor von einem Teil der 60 Zeugen angefüllt, auf deren Aussagen die sühneheischenden Erinnyen über dem Hause lauschen. Im Saal drin herrscht fühlbare Spannung. Zur Linken auf der Tribüne, dicht vor den drei Fenstern sitzt am schwarzen Tisch der Gerichtshof mit dem Schreiber. Linker Hand zur Seite konzentriert sich in der Gestalt des Staatsanwaltes die furchtbare Anklage. Den Rücken dem Licht des Tages zugewandt, vor sich die Akten, die auf zweifachen Giftmord lauten, sitzt im tiefsten Schwarz der Ankläger. Auf der rechten Seite der Tribüne, ebenfalls in feierlichem Schwarz, folgt mit gespannter Aufmerksamkeit sein Gegenspieler, der junge Verteidiger den Verhandlungen. Ist er besser im Licht platziert, ist’s das grosse, weisse Pochettchen im schwarzen Rock, das Bild ist um eine kleine Nuance weniger schwer, weniger düster, ein ganz klein wenig aufgehellt. Vor der Tribüne der Richter zur Linken reihen sich die Geschworenen und ihnen gegenüber sitzt in der ersten Bank der rechten Saalhälfte die Angeklagte, die ihren Wahrspruch angerufen hat: eine kleine rundliche Frau im weissen Haar, hoch in den Sechzigern, bewacht von einem Soldaten der Kantonspolizei. Das schwarze Schaltuch hat sie sich um die Schultern gezogen; ruhig liegen ihre Hände im Schoss und halten eine kleine schwarze Ledertasche. Ihr Gesicht ist eingefallen, gelb, beinahe wie das Holz der Gerichtsschranken. Die offenbaren Spuren der langen Gefängnishaft prägen sich in diesem Gesicht aus. Spärlich sind die Bewegungen und herb; die ganze Haltung verrät konzentrierte Spannung und sichtliche Bemeisterung. Kräftig schlägt ihr Herz, die angezogenen Schultern verraten es in regelmässigen kleinen Bewegungen. Mitunter schliesst sich der Mund kräftiger, als müsste ein Wort, eine Widerrede dahinter verschlossen werden. Mag sein, dass die Anklage des Staatsanwaltes das Bild aufdrängt, aber der Frau, die hier vor ihren Richtern sitzt, scheint nur ein Tisch zu fehlen, um Karten auszulegen und mit den etwas versunkenen Augen in die verschleierte Zukunft einzudringen. Sie ist in den Hauptpunkten des Giftmordes an einer Frau und an einem Manne angeklagt. Was geht hinter ihrer Stirne vor, da die Zeugen das eine Opfer im Kreuzfeuer der Zeugeneinvernahme lebhaft schildern? Wie spiegelt sich in ihrem Bewusstsein die Erinnerung an den Tag des Leichenbegängnisses, da die Verwandten der Toten nach Suhr kamen? Was weiss sie von den verschwundenen Sparkassenbüchern und Obligationen? Hier liegt das Geheimnis. Hinter diese verschliessende, das Geheimnis behütende Stirn müssen Geschworene, Staatsanwalt und Verteidiger eindringen, ehe das Gericht das Urteil fällt. Mit gespannter Aufmerksamkeit, oft mit deplatzierten Heiterkeitsausbrüchen folgen die Zuhörer auf der gedrängt vollen öffentlichen Tribüne im Hintergrund des Saales den Antworten der Zeugen, die einzeln an das kleine Tischchen in der Mitte des Saales gerufen werden. Die intimsten Verhältnisse einer Familie werden erörtert. Aufmerksam folgt auch die Angeklagte den Zeugenaussagen. Sie alleine wäre, falls sie schuldig ist, im Stande, mit wenigen Worten dem grausamen Spiel ein rasches Ende zu bereiten. Allein, sie hat ihre Schuld bestritten. Vor ihr gähnt das offene Tor des Zuchthauses. Warum spricht sie nicht? Ist es der starke Wille zum Leben, der unverkennbar diese Frau beherrscht, ist es – Schuldlosigkeit? Es geht um Schicksal. Spannung durchflutet den trüben Gerichtssaal, hochgespannte Erwartungen, ob die Angeklagte unter den Indizien zusammenbrechen oder die Position behaupten wird, die sie entschlossen einnimmt.

Über den ersten Verhandlungstag lassen wir nachstehend die Aufzeichnungen unseres Spezialberichterstatters folgen:

1. VERHANDLUNGSTAG VOM 1. OKTOBER 1929.

VORSITZENDER: Herr Oberrichter Rohr-Reiner. VIZEPRÄSIDENT: Herr Oberrichter Koch. WEITERES MITGLIED: Herr Oberrichter Kistler. GERICHTSSCHREIBER: Herr Zimmerlin. ÖFFENTLICHER ANKLÄGER: Herr Staatsanwalt Dr. Rauber. VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN: Herr Dr. Fritz Meyer, Aarau. VORSITZENDER DER GESCHWORENEN: Herr Notar Bachmann, in Staffelbach.

Auf der Anklagebank sitzt Frau Verena Lehner, geb. Kaufmann, in Gränichen, geboren 1862.

Um 9.15 Uhr eröffnet der Vorsitzende die Verhandlungen. Der Zuhörerraum ist ziemlich stark besetzt. Der Gerichtsschreiber eröffnet die fünf Anklagen gegen die Angeklagte, welche lauten:

1

Auf Giftmord an Frau Elisabeth Schmidli, geb. Bertschi, in Suhr, geb. 1837, durch Beibringung von giftigen Arsenstoffen, infolge dessen die letztere am 31. August 1923 gestorben ist.

2

Auf Giftmord an Meier Adrian, pensionierter Bahnarbeiter, geb. 1852, von Winznau, wohnhaft gewesen im Rhyntal, Gemeinde Suhr, durch Beibringung giftiger Arsenstoffe, infolgedessen Adrian Meier am 2. August 1924 gestorben ist.

3

Auf Diebstahl an der im gleichen Hause im Rhyntal bei Suhr wohnenden Schmidli Elisabeth geb. Bertschi, im Betrag von über Fr. 900.-, um sich dieses wissentlich fremde Gut rechtswidrig anzueignen.

4

Eventuelle Anklage für den Fall der Verneinung der Anklage 3 auf Unterschlagung.

5

Auf Betrug durch Urkundenfälschung in verschiedenen Fällen gegenüber zwei Geldinstituten und Personen in erheblichen Beträgen.

6

Auf Betrug durch Urkundenfälschung in zwei Fällen und zum Teil erheblichen Beträgen.

Es sind im ganzen 76 Zeugen einzuvernehmen, für deren Einvernahme 3 Tage in Aussicht genommen sind, worunter auch ärztliche Experten.

Die Angeklagte, vom Vorsitzenden aufgerufen, erklärt, dass sie an der Bestreitung sämtlicher fünf Anklagen festhalte und die Entscheidung des Geschworenengerichtes anrufe.

Der Vorsitzende setzt in gedrängter Kürze die Entstehung dieser Untersuchung auseinander, die einmal von der Staatsanwaltschaft eingestellt und dann wieder aufgenommen wurde. Er klärt speziell auf, in welcher Weise diese Untersuchungen in Anlehnung an den Kriminalfall Dietiker neuerdings aufgegriffen worden sind. Die Anklagen berühren Tatbestände, die auf die Jahre 1923 und 1924 zurückgehen und sich im abgelegenen Rhyntal, Gemeinde Suhr, abwickeln, das in der Richtung Gränichen-Vorstadt zu liegt. Der Vorsitzende orientiert anhand der Karte über die örtlichen Verhältnisse. – Es sind auf heute 25 Zeugen vorgeladen.

Die sämtlich anwesenden 25 Zeugen werden in Pflicht genommen und zur Angabe der Wahrheit ermahnt. Der zweite Teil der vormittägigen Verhandlung wird durch die Einvernahme von 11 Zeugen aus Winznau bei Olten und Umgebung in Anspruch genommen. Es sind dies meistens Verwandte und gute Bekannte des am 2. August 1924 gestorbenen Adrian Meier, mit dessen unerwartetem Ableben sich die Anklage 2 befasst. Meier war 1852 geboren, bei seinem Tod also 72 Jahre alt. Diese Zeugen aus dem Amt Olten sprechen sich eingehend über die Person des Adrian Meier aus. Dieser wohnte bei nahen Verwandten in Winznau sowohl vor seiner 1910 erfolgten Pensionierung als Bahnbeamter wie auch nachher, bis er am 1. September 1922 zu der Angeklagten nach Suhr zog. Die Zeugen schilderten denselben als einen frohgemuten, rechtschaffenen Mann, der aber auch launenhaft und rechthaberisch sein konnte. Auch war er für mystische Dinge sehr empfänglich und liess sich bei vorübergehenden leichten Erkrankungen eher von fremden Quacksalbern als patentierten Ärzten behandeln. Die Einvernahmen ergeben, dass derselbe ein Vermögen von ungefähr 28000 Fr. besass, das in Obligationen und Sparbüchlein auf der Aargauischen Bank und der Ersparniskasse Olten bestand. Mit seinen Verwandten stand er auf gutem Fuss, nur befand sich Meier im falschen Wahn, dass dieselben seine Bevormundung anstrebten, nachdem er nach Suhr verzogen war. Es scheint, dass ihn insbesondere sein Freund u. Altersgenosse Ad. Meier in Olten mit der Wahrsagerin und Kartenschlägerin Frau Lehner bekannt machte. Sein Verhalten und seine Antworten – der Mann ist 85 Jahre alt – lassen ihn denn auch als ein Original erscheinen. Aus den Aussagen einzelner Zeugen von Winznau, welche den Adrian Meier in Suhr besuchten und mit ihm auch in Olten zusammentrafen, wo er seine Pension holte, ist hervorzuheben, dass er anfänglich mit seiner Kostgeberin Frau Lehner zufrieden war, später aber nicht mehr und die Absicht äusserte, wieder nach Winznau zu seinen Verwandten zurückzukehren. Zu einzelnen Verwandten äusserte Meier, er möchte wieder fort, aber er dürfe es mit dieser Person nicht überstürzen, sie habe eine grosse Macht, es kämen grosse Herren zu ihr, sie könnte ihm ein Leid antun. Von besonderer Bedeutung sind die Aussagen der Eheleute Tanner, welche den Stiefgrossvater noch am 26. Juli 1924, also genau acht Tage vor seinem Tode, besuchen wollten. Dabei gab die Angeklagte diesen Verwandten den Bescheid, dass Meier nach Aarau an das Schützenfest gegangen sei. Nach den Angaben des behandelnden Arztes war Meier damals bereits derart ernstlich krank, dass ein Gang nach Aarau ganz ausgeschlossen war.

Die verwandten Zeugen, welche bei der ersten Inventur und der Nachinventur über den Nachlass Meiers zugegen waren, deponierten, dass nichts vorhanden gewesen war, als etwas Barschaft. Frau Lehner habe erklärt, es seien keine Wertschriften vorhanden und die Fahrhabe habe sie von Meier um Fr. 600.- gekauft, worüber sie ein Schriftstück des Meiers vorwies. Aber auch von dieser Barschaft war nichts vorhanden. Einzelne Zeugen machen Aussagen, dass Frau Lehner die Karten geschlagen und ihnen geweissagt habe. Über die Ursache des Todes von Adrian Meier befragt, hat sich die Angeklagte sowohl in ihrer Wohnung, als auch anlässlich der Beerdigung in Winznau dahin ausgesprochen, es habe derselbe unreife Beeren gegessen.

Die Verhandlung wurde ein Viertel vor 1 Uhr abgebrochen und um 2.30 Uhr wieder aufgenommen. – Die am Nachmittag einvernommenen Zeugen sprechen sich zum Teil über die Angeklagte aus, speziell bestätigen sie, dass in der Wohnung der Frau Lehner, die ein besonderes Sprechzimmer hatte, viele fremde Leute ein- und ausgingen. Eine Reihe von Zeugen machen nähere Angaben über die Witwe Elisabeth Schmidli, geb. Bertschi, welche am 31. August 1923 gestorben ist und mit deren Tod sich die Klage 1 befasst. Dieselbe kam mit 85 Jahren zu Frau Lehner und lebte dort noch etwa ein Jahr. Auch Frau Schmidli äusserte sich zu ihren nächsten Verwandten, sie wolle bei Frau Lehner nicht länger bleiben, und war im Begriffe, nach Buchs zu ihrem Schwiegersohn überzusiedeln. Obwohl von der Heimatgemeinde Thalheim verkostgeldet, besass sie noch ein Sparkassenbüchlein von etwa Fr. 900.-. Die alte Frau Schmidli war zwei Tage vor ihrem Tod noch auf der Kantonalbank und löste das Sparbüchlein ab. Nach den Aussagen hätte sie das Geld der Frau Lehner abgegeben; diese stellte in Abrede, solches erhalten zu haben. Ein Prokurist der aargauischen Kantonalbank wird als Zeuge aufgerufen. Derselbe macht über die Einlagen des Adrian Meier und der Frau Schmidli eingehende Angaben.

Auf Grund zweier Briefe vom Mai 1924, welche die Unterschrift des Adrian Meier tragen, wurden der Angeklagten Frau Lehner am 20. Mai 1924 zwei Einlagen von zusammen über Fr. 6000.- ausbezahlt und aus einer weiteren von Fr. 5048.- eine Kassaschuld der Frau Lehner getilgt. Über die Echtheit der Unterschrift des Adrian Meier auf den beiden Briefen haben sich die Schriftexperten noch auszusprechen. In Bezug auf das Guthaben der Witwe Schmidli bestätigte der Zeuge, dass ihr dasselbe zwei Tage vor dem Tode am Schalter der Bank ausbezahlt worden sei.

Der sowohl die Frau Schmidli, als den Adrian Meier behandelnde Arzt, Dr. Furrer in Gränichen sagt als Zeuge aus, dass er dem Adrian Meier keinerlei arsenhaltige Medikamente verabfolgt und dass er der 88-jährigen Frau Schmidli keinerlei Arzneien verschrieben habe. Diese habe sich über Darmstörungen und Bauchschmerzen beklagt, ebenso Meier. Bei letzterem war grosse Herzschwäche zu konstatieren. Nach den Angaben der Frau Lehner habe sich Meier erbrechen müssen. Dieser wurde als magenkrank behandelt. Der Zeuge besuchte Meier am 16., 18. und 19. Juli. Dass Meier am 26. Juli in Aarau gewesen sein könne am Schützenfest, erscheint ausgeschlossen. – Die heutigen Verhandlungen finden mit der Einvernahme des medizinischen Experten, Herr Dr. Remund, Oberarzt des medizinischen Institutes an der Universität Zürich, ihren Abschluss.

Herr Dr. Remund kommt einleitend auf den Vergiftungsfall Dietiker zu sprechen, ergeht sich sodann einlässlich über die Ergebnisse der Leichenuntersuchungen von Adrian Meier und der Frau Schmidli-Bertschi; erstere wurde am 25. September 1928 ausgegraben. In Bezug auf die Leiche Meier bemerkte der Zeuge, dass Magenkrebs und Arsenvergiftung die gleichen Symptome zeigen. Bei der Öffnung der Leiche Meier war die Bauchhöhle noch geschlossen und musste aufgeschnitten werden; die Leiche war eine sogenannte Wachsleiche. In der stark zusammengeschrumpften Leber wurden drei Milligramm Arsen konstatiert, ein Quantum, das mehr als genügt, um einen Menschen zu töten. Der Experte kommt zu dem Schluss, dass dem Adrian Meier zu Lebzeiten Arsen gegeben wurde.

In Bezug auf die Leiche der Frau Schmidli erklärt der Sachverständige, dass diese sogar noch in schönerer Form vorhanden gewesen war, als diejenige des Adrian Meier. Auch bei Frau Schmidli sei die Bauchhöhle noch geschlossen, alle Organe erhalten gewesen. In der Leber sei ein bedeutend grösseres Quantum Arsen festgestellt worden; aber auch der Dickdarm und der Dünndarm und andere Organe wiesen Arsenik auf. Auch in Bezug auf Frau Schmidli kommt der Experte zum Schluss, dass derselben zu Lebzeiten Arsen beigebracht worden sind. Diese Ausführungen machen sichtlich grossen Eindruck auf die sehr zahlreichen Zuhörer.

Die Angeklagte ist den Verhandlungen mit grösster Aufmerksamkeit gefolgt. Auf ihren Zügen war keine innere Erregung zu erkennen. Sie behielt von Anfang bis zu Ende dieselbe Ruhe.

DER FRÜHE WEG DERWAHRSAGERIN

Der Himmel war bedeckt, Schnee lag und ein kalter Wind wehte. An diesem trüben Tag roch es nach Neuschnee. Es war Mittwoch, der 12. Februar 1862. Die wenigen Häuser im Loch in Gränichen, einem kleinen Seitental auf der rechten Seite, wenn man den Weg zum Rütihof unter die Füsse nimmt, standen etwas abseits des Dorfes. Im kleinen Haus mit dem Walmdach, welches früher mit Stroh gedeckt war, rauchte der Kamin. Wenn man ins Haus eintrat, kam man zuerst in die Küche mit dem schwarzen Rauchfang, der unter das Dach reichte. Selten hingen dort oben an den geschwärzten Balken ein paar Würste zum Räuchern. Neben der Küche befand sich die Stube mit dem Kachelofen, dahinter lagen die hintere Stube, das Schlafzimmer der Eltern und darüber zwei kleine Zimmer für die Kinder, eines für die Mädchen und eines für die Knaben. In der Küche wurde den ganzen Tag Holz nachgelegt im Herd, damit der Kachelofen in der Stube warm blieb und die hintere Stube, der Schlafraum der Eltern, nicht noch mehr abkühlen konnte. Trotzdem waren die kleinen Fensterscheiben im Schlafraum mit Eisblumen belegt.

Die Hebamme, welche vor zwei Stunden von der ältesten Tochter gerufen worden war, wäre fast zu spät gekommen. Dem Mädchen, das sie gerufen hatte, sagte sie, es solle schnell zurück zur Mutter laufen und ihr ausrichten, dass sie bald nachkommen werde. Die Hebamme war nicht mehr die Jüngste und hatte Mühe beim Gehen. Sie schnaufte stark und rutschte bei jedem Schritt auf dem schneebedeckten Weg aus. Während ihres Gangs zum Häuschen hinauf überlegte sie, ob es ein Fehler gewesen war, das Mädchen nicht beim Doktor vorbeigeschickt zu haben. Es hätte ihm Mitteilung machen können, dass eine Geburt im Loch bevorstand, und ihn zugleich fragen, ob es nicht angezeigt wäre, wenn er auch vorbeikommen würde. So genau wusste man das nie bei einer Geburt. Die Hebamme spürte den schlechten Zustand ihrer Schuhe: Sie waren stark ausgetreten und in den Sohlen musste es ein Loch haben. Ihre Wollsocken, welche sie sich über die Strümpfe gezogen hatte, waren nass und sie fror an den Füssen. Ihr war aber klar, dass sie zurzeit nicht einen Franken für ein Paar Schuhe entbehren konnte. In anderen Jahren hatte sie vom Gemeinderat ein Paar Schuhe als Entlohnung für ihre Arbeit in der weitläufigen Gemeinde zugesprochen bekommen. Nur im letzten Jahr war sie anscheinend vergessen worden. Sie hatte keine Ahnung warum, und wenn sie sich erkundigte, wusste auch niemand eine Antwort. Sonst wurde über alles geschwatzt im Dorf, denn es gab einige Personen, die das Gras wachsen hörten. Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit beim Gemeinderat nachzufragen, warum sie im letzten Jahr für ihre Dienste nicht mehr entlohnt wurde. Vielleicht war man dort der Meinung, sie sei zu alt, und hatte sie deswegen nicht mehr berücksichtigt.

Endlich im Haus angekommen, waren die Wollsocken und Strümpfe der Hebamme durchnässt und ihre Füsse eiskalt. In der Küche roch es nach Kohlsuppe und gebratenen Kartoffeln. Beim Küchenherd zog sie sich die Socken aus, hängte sie über die Stange am Herd und schlüpfte in ein paar alte Filzpantoffeln, welche hinter der Tür lagen. Auch die Schuhe stellte sie in der Nähe des Herdes in der Küche zum Trocknen hin. Dem Vater am Tisch in der Stube sagte sie beim Vorbeigehen in die hintere Stube, wo die Mutter stöhnte, er solle schnell heisses Wasser und Tücher bereitlegen, denn das würde jetzt dringend gebraucht.

Als das Neugeborene endlich schrie, war die Hebamme erleichtert; es waren keine Komplikationen aufgetreten, die Unterstützung durch den Arzt war nicht nötig gewesen. Trotzdem, die Mutter hatte ziemlich viel Blut verloren und es dürfte einige Zeit gedauert haben, bis sie wieder auf den Beinen war. Die Hebamme reichte das noch blutige Menschlein in einem Stück Leintuch eingepackt der Mutter und sagte: «Es ist ein Mädchen.» Der Mutter war das recht. Ein Mädchen kann der Mutter schon bald einmal im Haushalt helfen, dachte sie. Morgen soll Jakob, der Vater, die Geburt des Kindes beim Pfarrer eintragen lassen, es soll Verena heissen.

Die Mutter atmete tief durch und wischte sich das verschwitzte Gesicht mit einem Stück des Bettlakens ab. Für sie war es die fünfte Geburt, und sie hatte das Gefühl, es sei die mühsamste und schmerzhafteste gewesen. Der Vater sass am Stubentisch und nickte. Habe ich mir gedacht, sagte er zu sich selbst, als er hörte, dass es ein Mädchen war. Er goss sich einen selbstgebrannten Schnaps aus der nur noch halbvollen Flasche ins Wasserglas und trank es in einem Zug leer. Die Hebamme stellte sich an den Tisch und schaute dem bärtigen Mann mit den zerzausten grauen Haaren in die wässrigen Augen. Sie stemmte ihre Hände zu Fäusten geballt in die Seite und erklärte ihm, dass seine Frau eben eine lange und schmerzhafte Geburt hinter sich gebracht und dabei auch noch viel Blut verloren habe. Weiter sagte sie dem Jakob, dass es nicht mehr als recht wäre, wenn er ihr in den nächsten Wochen helfen und etwas weniger saufen würde. Andernfalls könne es durchaus sein, dass die fünf Kinder ohne Mutter aufwachsen müssten, weil sie keinen guten Vater hatten! Der Mann am Tisch schaute an ihr vorbei zum Fenster und brummte etwas.

Die Eheleute Kaufmann im Loch in Gränichen hatten also schon bald wieder einen Esser mehr am Tisch. Und es sollten noch zwei Kinder geboren werden in den nächsten Jahren. Die Mutter, Susanne Kaufmann, war die Seele der Familie und bemühte sich redlich, dass an den meisten Tagen etwas zum Essen auf den Tisch kam, aber es gab auch schlechtere Tage. Oft waren die Mahlzeiten einfach: Eichelkaffee mit Brotbrocken, Kartoffeln, Suppe oder Habermus. Fleisch gab es nur, wenn der Vater etwas nach Hause brachte; nachdem er wieder einmal an einer Schlachtung auf einen Bauernhof als Störmetzger gerufen worden war. Als Lohn bekam er meist Stücke von der Leber oder von den Nieren und vielleicht noch ein Stück Siedfleisch. Manchmal eine oder zwei Würste, wenn sie es besonders gut mit ihm meinten. Leicht war es für die Mutter nicht, jeden Tag etwas Essbares bereit zu haben. Es konnte schon vorkommen, dass sie nur eine wässrige, salzige Suppe auf den Tisch stellen konnte. Das Gemüse darin und das Brot konnten sich die am Tisch versammelten Personen selber ausdenken. Vom Tisch gingen sie dann alle immer noch hungrig.

Einfach hatte es diese Familie nie gehabt. Jakob Kaufmann war als Mauser in der Gemeinde unterwegs. Wenn sich die Gelegenheit ergab, betätigte er sich als Störmetzger auf den Höfen in und um Gränichen. Gab es keine Schweine zum Schlachten und keine Mäuse zum Töten, sass er zu Hause und wartete. «Mit Arbeiten kann man nicht reich werden», pflegte er zu sagen. Deshalb ging er stets sehr bedächtig an jede Arbeit und war nicht enttäuscht, wenn sie schon gemacht war, als er endlich damit anfangen wollte. Musste etwas unbedingt erledigt werden, schickte er sich in das Unabwendbare und erledigte die Arbeit in gemächlichem Tempo. Nie überhasten, das war seine Devise.