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Hendrik Esch

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Beschreibung

Stardirigent Sir Evelyn Rutland ist ein bösartiger Exzentriker, dessen Knabenchor-Kolleg zu den besten Musikinternaten der Welt gehört. Doch als ein Junge mit dem Tod ringt, gibt es Gerüchte: Werden die Schüler in Schloss Hirschenhaid mit schwarzer Pädagogik gedrillt? Gegen ein fürstliches Honorar soll Rechtsanwalt Paul Colossa den Skandal vertuschen – und verliebt sich ausgerechnet in Rutlands Frau. Verwirrt von seinen Gefühlen und verfolgt von Hasskommentaren im Internet, erkennt Paul zu spät, dass auch er geopfert werden soll ...

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Buch

Ein berühmtes Knabenchor-Internat in der bayerischen Provinz: Sir Evelyn Rutland gilt als exzentrisches Genie am Dirigentenpult. Und das von ihm geleitete Kolleg Ida Rubinstein genießt weltweiten Ruhm. Was keiner weiß: Die Jungen werden mit Ritalin gedopt, um ihre Leistung zu steigern. Als ausgerechnet der Sohn des Maestros eine Überdosis erwischt und ins Koma fällt, droht ein riesiger Skandal. Gegen ein fürstliches Honorar soll nun Rechtsanwalt Paul Colossa den guten Ruf des Internats wiederherstellen. Die Summe hätte ihn allerdings stutzig machen müssen. Denn er soll die Kohlen aus dem Feuer holen und dabei selbst geopfert werden. Und dann bandelt Colossa auch noch mit Rutlands Frau an …

Informationen zu Hendrik Esch finden Sie am Ende des Buches.

HENDRIKESCH

Giftrausch

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Originalausgabe Mai 2020Copyright © 2020 by Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch die Scripta Literaturagentur, 80636 München.Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: FinePic®, MünchenH&C STUDIO/Photodisc/Getty ImagesRedaktion: Gerhard SeidlBH • Herstellung: kwSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN: 978-3-641-25664-7V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

»Der verdammte Fall hätte ganz anders laufen sollen …«

CHANTALE1988

Du Minusmensch. Nicht bewegen – ich möchte Dich genau so vergessen, wie Du jetzt bist! 23:21

Der Himmel war tief strahlend blau. Schon wieder. Es war kurz nach zehn, da war die Hitze gerade noch erträglich. Abgesehen davon war kurz nach zehn übrigens nicht gerade eine ideale Uhrzeit. Kurz vor zehn wäre viel besser gewesen. Nicht nur, weil es mit jeder Minute heißer wurde, sondern vor allem deshalb, weil Paul um zehn Uhr diesen Termin hatte. Punkt zehn. Und eben nicht kurz nach.

Aber was wollte man von einem Montag schon anderes erwarten. Paul wäre vermutlich pünktlich gewesen, wenn er sich nicht in letzter Sekunde diesen verdammten Espresso über sein weißes Hemd geschüttet hätte. Ja – wenn es wenigstens nur das Hemd gewesen wäre! Aber nein, das braune Zeug hatte natürlich auch die Krawatte und das blaue Sakko erwischt. Notgedrungen hatte er jetzt den beigefarbenen Anzug angezogen und dazu ein hellblaues Hemd. Dazu allerdings besaß er keine passende Krawatte. Besser gesagt: Er war zwischenzeitlich so gestresst gewesen, dass er nicht die nötige innere Ruhe gefunden hatte, eine Krawatte als passend zu erachten, und so kam er jetzt eben ganz ohne Schlips. Den obersten Knopf offen. Bei der Hitze, die der Tag erwarten ließ, vielleicht gar nicht die schlechteste Idee.

In Anbetracht der Ernsthaftigkeit seines Termins andererseits vielleicht auch nicht die beste? Abwarten. Ändern konnte er das jetzt sowieso nicht mehr.

Weitere kostbare Minuten hatte Paul auf der Suche nach einem Parkplatz verloren. Schloss Hirschenhaid verfügte zwar über ausgedehnte Parkanlagen. Nicht aber über allzu viele Parkplätze. Man unterhielt großzügig angelegte Wandelpfade, erwartete aber offensichtlich keinen Besuch. Die wenigen vorhandenen Stellplätze waren bereits besetzt. Alle anderen Teilnehmer der Veranstaltung waren anscheinend pünktlich gekommen.

Nun gut, was soll’s – Paul war stolzer Eigentümer eines Geländewagens. Eines Land Rover Defender 110 Station Wagon. Das gute Stück hatte früher einmal der Queen höchstpersönlich gehört. Das Ding war grün. Also hatte Paul sich, letztlich im wahrsten Sinne des Wortes, damit in die Büsche geschlagen. Allrad macht’s möglich. Hier würde ihn schon keiner abschleppen, oder? Außerdem hatte er britische Kennzeichen.

Der große Zeiger hatte die Zwölf bereits signifikant überschritten.

Paul begann zu rennen. Über die ausschweifende Wiese auf das Schloss zu, als ginge es um alles. In der rechten Hand seine Aktentasche, über dem linken Arm seine Jacke. Unter den Achseln bereits jetzt große dunkle Schweißflecken. Blick auf die Armbanduhr – elf nach zehn. »Scheiße!« Paul blieb stehen. Nein. Jetzt reichte es ihm aber! So ging das nicht. Erst mal durchatmen. Schluss mit dem Kindergarten. Ohne ihn konnten sie sowieso nicht anfangen! Es machte außerdem keinen Unterschied, ob die jetzt noch eine Minute länger warteten, oder?

Paul blickte sich um. Was für ein wunderschöner Ort. Ein endlos ausgedehntes Grün, hoch über Neustadt, von Wald umsäumt. Hier und da kleine Baumgruppen, in deren Schatten Bänke zum Verweilen einluden. Etwa zweihundert Meter vor Paul ragte das prachtvolle Schloss auf. Weiß und gelb mit großen Bogen über Fenstern und Türen. Verschnörkelte Turmspitzen. Weit ausholende, steinerne Treppen, die von einer geschotterten Auffahrt hinauf zu einem breiten Balkon führten. Von dort blickte eine doppelflügelige Glastür in den Palast hinein. Bestimmt lag dahinter ein Ballsaal oder so etwas in der Art. Links und rechts begrenzten zwei mächtige Türme die Fassade, was an eine Kirche erinnerte. Ganz außen jeweils weitere Gebäudeflügel mit großen Fenstern. Ja, wirklich prachtvoll.

Paul zwang sich, ganz gemächlich weiterzugehen. Würdevoll. Er schlurfte regelrecht. Die sollten nur warten. Der Rasen war verblüffend schlecht gemäht, stellte er fest. Nicht, dass ihn das stören würde. Sein eigener war deutlich schlimmer beieinander. Überall wuchsen hier hübsche kleine Wildblumen. Paul beugte sich hinunter zu einer besonders gelungenen rosa Blüte mit langem, filigranem Stängel, deren Blätter aussahen wie ein grünes Spitzenhöschen. Gerade als Paul, inzwischen beinahe die Ruhe selbst, überlegte, ob er vielleicht einmal an der Blume schnuppern sollte oder sie gar abzupfen, näherte sich, laut brummend, ein nektarsuchendes Insekt. Eine dicke fette Hummel. Faszinierendes Lebewesen! Paul fand, dass Hummeln ohne Zweifel die sympathischsten Insekten überhaupt waren. Er hatte einmal im Internet gelesen, dass irgendwelche Luftfahrtingenieure mit ihren Supercomputern berechnet haben sollen, dass Hummeln aus aerodynamischen Gesichtspunkten eigentlich gar nicht dazu in der Lage sein dürften zu fliegen. Tja, dachte sich Paul. Auch der liebe Gott hielt sich eben nicht immer an die Regeln.

Paul war stehen geblieben. Die Hummel steuerte, dröhnend und ohne ihre Geschwindigkeit zu drosseln, nun geradewegs auf die rosa Blume zu. Ob das gut ging? Eine saubere Landung! Wie ein schwerer Bomber auf einem Flugzeugträger. Zwar schwankte die zarte Pflanze heftig hin und her, doch der pelzige Brummer hatte sicher und präzise an der Blüte angedockt und tankte jetzt die wohlverdiente, süße Belohnung.

Paul sah hinüber zum Schloss. So friedlich lag es da. Blick auf die Uhr: zwölf nach zehn. Er würde also ziemlich genau eine Viertelstunde zu spät kommen, wenn er jetzt so weitermachte. Das berühmte »akademische Viertel« quasi. Schon wieder eine Art von Pünktlichkeit. Außerdem kamen Rockstars immer zu spät auf die Bühne. Alles gut.

Vorsichtig ging Paul auf die Knie. Bloß keinen Grasfleck auf die beige Hose. Er legte Jacke und Aktentasche behutsam ab und beugte sich mit dem Gesicht ganz nah zu der Hummel hinunter. Wie hübsch der schwarze Pelz in der Julisonne glitzerte. Die hübschen orangefarbenen und weißen Ringe. Was Paul besonders sympathisch an Hummeln fand und was ihnen in seinen Augen einen ganz entscheidenden Bonus gegenüber Bienen verschaffte, war die Tatsache, dass sie nicht stachen. Diese absolute Friedfertigkeit! Der Gandhi unter den Insekten. Und jetzt winkte ihm das Tier tatsächlich auch noch mit einem seiner kleinen Beinchen zu! Hier begegneten sich zwei so grundverschiedene Geschöpfe. Zwei fremde Welten berührten einander für einen magischen Augenblick in den endlosen Weiten der Evolution. Paul war froh, dass er Muße für diesen besonderen Moment gefunden hatte. Das konnte ihm keiner mehr nehmen.

Plötzlich kam Leben in die Hummel. Kräftig summend begann sie, die Flügel zu bewegen. Paul spürte regelrecht den feinen Wind, den sie verursachten. Das sollten sich die Herren Luftfahrtingenieure einmal aus der Nähe anschauen!

Dann ging es ganz schnell. Das Insekt schoss steil hoch, krallte sich in Pauls kurz rasiertem Bart fest und stach ihm kraftvoll mit einem langen, giftigen Stachel tief hinein in sein weiches Fleisch. In die Haut am Kinn. Paul versuchte impulsiv, das Tier wegzuwischen, vergeblich. Das Biest rammte wutentbrannt ein zweites Mal den verderbenbringenden Spieß in Paul hinein, genau in dieselbe Stelle, und schoss dann wütend dröhnend senkrecht in den blauen Himmel hinauf. Paul widerstand dem Impuls, laut aufzuschreien. Aber er hatte Tränen in den Augen.

Fassungslos stand er in den Trümmern seiner Idylle. Besser gesagt: Er kniete davor im Gras. Rechts am Kinn ein infernalischer Schmerz, und weil er beim ersten Stich zusammengezuckt war, hatte er außerdem nun doch Grasflecken. An beiden Knien.

KEINER

Wegen Kreaturen wie dir verdummt die Menschheit. Du bist so unnötig. Du bist primitiv, naiv und hast keine eigene Meinung. Mir macht es Freude, dich zu hassen!!!!!!! 02:14

»Herr Colossa!« Auf dem Balkon des Schlosses winkte eine Frau ihm zu. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Hektisch kramte Paul seine Habseligkeiten zusammen und stolperte der Frau über die langen Meter des Rasens und über den knirschenden Kies entgegen. Na großartig – die braunen Schuhe waren jetzt auch noch staubig. Das Kinn brannte und juckte furchtbar. Es fühlte sich an, als wäre es zu einem unförmigen Klumpen geschwollen. Welcher Idiot hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, dass diese Drecksinsekten nicht stechen? Ein ganz und gar verdorbener, beschissener Montag war das! Hätte er doch nie das verdammte Bett verlassen.

Die Frau oben auf der Terrasse kannte Paul flüchtig aus den Vorgesprächen. Dr. Lara Wanek, die Schulleiterin des privaten Knaben-Musikgymnasiums im Schloss Hirschenhaid. Es war nicht leicht, sie einzuschätzen. Ihre streng hinter die Ohren gekämmten, kinnlangen Haare zeigten vereinzelt graue Strähnen. Ihr Gesicht wirkte hingegen sehr jugendlich. Die braunen Augen leuchteten selbstbewusst. Lebenserfahren. Allerdings jetzt auch mit einer Mischung aus Verärgerung und Panik.

Ja, regelrecht entsetzt starrte sie Paul an, wie er da, schweißtriefend mit dreckiger Hose, hochrotem Kopf, erkennbar am Ende seiner Kräfte, auf der vorletzten Treppenstufe vor ihr zum Stehen kam. Er stellte die Aktentasche ab und streckte ihr seine schwitzige rechte Hand hinauf, während er sich mit der linken heftig am Kinn kratzte. Dabei stammelte er irre Entschuldigungen. »Wahnsinnig leid … Espresso … Krawatte … Defender … Hummel …«

Schweigend, spürbar vorsichtig, ja geradezu alarmiert, ergriff die Dame Pauls ausgestreckte Hand und wischte sich die ihre danach unauffällig an ihrem engen schwarzen Hosenanzug ab. Die ganze Zeit blickte sie dabei fast angewidert, so kam es ihm vor, in Pauls Gesicht. Er wich den strengen Augen schüchtern aus. Der Moment hatte etwas unerhört Peinliches und wurde zum Glück unterbrochen, als die große Glastür des Schlosses sich einen Spaltbreit öffnete.

Ein klein gewachsener, dicker Kerl mit ölig schimmernder Glatze schlüpfte heraus. Rund um den Mund hatte er im sonst glatt rasierten, feisten Gesicht einen aufwendig gestutzten orangefarbenen Bart. Nur ein schmaler Streifen eigentlich. Er hatte einen Finger in sein linkes Ohr gesteckt, ein riesiges Smartphone an seine rechte Gesichtshälfte gepresst und bemerkte die Szene, in die er soeben geplatzt war, offenbar gar nicht. Konzentriert lauschte er in seinen Apparat hinein. Der Bursche versuchte erkennbar nicht, durch Kleidung einen positiven Eindruck bei dieser Veranstaltung zu hinterlassen. Er trug eine an den Knöcheln zu lange ausgefranste Jeans und ausgelatschte rote Stoffturnschuhe. Sein kurzärmeliges, braun kariertes Hemd ließ er im Schlabberlook aus der Hose heraushängen. Buschiger rötlicher Brustpelz quoll zwischen den geöffneten oberen Hemdknöpfen hervor. Ekelhaft irgendwie. Die stummeligen Arme explodierten vor Sommersprossen, genau wie sein Gesicht und die glänzende Glatze. Dr. Wanek musterte den Mann nur kurz, so wie man eine Kellerassel ansehen würde, die beim Salatwaschen überraschend aus dem Spülbecken kriecht, sagte aber nichts, sondern nahm den Mann vielmehr zum unwillkommenen Anlass, die ohnehin nicht zu rettende Situation hinter sich zu lassen.

»Lassen Sie uns hineingehen, ja? Alle sind schon da.«

Ihre Stimme besaß die angenehme Contenance einer Nachrichtensprecherin bei einer schweren Panne während einer Liveschaltung. Sie wartete, bis Paul sein Sakko übergezogen und sich mit der Hand notdürftig den Schweiß aus dem Gesicht gerieben hatte. Der kleine Dicke ließ ihnen den Vortritt, und Paul nickte ihm höflich zu, als sie durch die Glastür gingen. Der Mann erwiderte den Gruß jedoch nicht, sondern starrte, genau wie zuvor schon die Schulleiterin, fasziniert in Pauls Gesicht. War der Stich etwa so stark angeschwollen?

Der Typ stank nach Zigaretten und hatte gelbe Zähne. Immer noch hielt er sein Telefon ans Ohr, sagte aber nichts. Mailbox vermutlich?

Im Schloss war es viel kühler als draußen. Eine Wohltat. Es sah tatsächlich nach Ballsaal aus. Ein großer weißer Raum. Marmor, aufwendige Stuckdecke. Links und rechts offene Kamine, Nischen mit antiken Statuen und Blumenvasen. Der Holzboden in großem Kassettenmuster mit Intarsien, spiegelglatt poliert durch Jahrhunderte von Schuhen in wechselnder Mode. Der Raum war mit blausamtenen Stühlen gefüllt. Die hintersten Reihen waren fast leer, vorne hingegen ein chaotisches Treiben von Journalisten mit Fotoapparaten und Notizblöcken, die tuschelten, tippten, telefonierten. Einander anblafften oder Witze rissen.

Am Kopf des Saals war, ihnen gegenüber, eine lange Tischreihe aufgestellt worden. Wie ein Schutzwall, der die anbrandende Neugierde abhalten sollte. Dahinter verschanzt: Menschen mit Mineralwasserflaschen, Namensschildern, Kaffeetassen und kleinen Mikrofonen. Die sollten hier Rede und Antwort stehen und wurden deshalb dreist angeblendet von den Scheinwerfern der angerückten Fernsehteams, die sich links und rechts im Saal aufgebaut hatten.

Vor dem Platz, der Dr. Wanek zugedacht war, stand ein buntes Bouquet fetter Mikrofone mit der Aufschrift mehr oder weniger bekannter Sender. Es erinnerte Paul entfernt an den Blumenschmuck vor einem in der Kirche aufgebahrten Sarg.

Ein Mann auf dem Podium war aufgestanden und redete gegen die lärmenden Journalisten an, was dadurch nicht besser wurde, dass er das Mikrofon immer wieder einmal mit großer Geste durch die Luft schwenkte, anstatt es sich vor den Mund zu halten. Die meisten im Saal ignorierten ihn. Er hatte etwas von einem Märchenonkel und erinnerte Paul mit seinen weißen Wuschelhaaren und dem Schnauzbart an Albert Einstein. Das Schild vor ihm auf dem Tisch wies ihn als Professor Leberecht Cornelius aus. Musste man den kennen?

Paul schlich hinter Dr. Wanek rechts außen an den Reportern vorbei in Richtung des Podiums. Dabei musste er mehrfach über Kabelstränge und Metallkoffer steigen. War die Sache wirklich so interessant, dass sie in den Nachrichten darüber berichten wollten?

Noch ein paar Meter bis zum rettenden Schutzwall des Podiums. Bislang hatte keiner ihm irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt. Links von der Mitte des Podiums saß ein junger, blasser Kerl. Vermutlich ein Vertreter der Schüler? Auf seinem Namensschild stand »Johannes Abstreiter«.

Daneben ein leerer Stuhl mit einem Schild: »Dr. Lara Wanek«. Dann ein weiterer freier Platz mit einem »Prof. Dr. Richard Thaler«-Schild und neben dem ein ebenfalls leerer Stuhl und ein Schild »Dr. Paul Colossa«.

Schöne Scheiße. Wo kam denn der verdammte Doktor plötzlich her? Paul hatte gar keinen Doktortitel! Pauls »Onkel« Dr. Oscar Colossa, der hatte einen Doktor. Dafür war der Titel »Onkel« falsch. Wie sich nach Oscars Tod nämlich herausstellte, war Oscar Pauls leiblicher Vater. Deshalb hatte er Paul ja auch die Villa mit der Kanzlei in Neustadt vererbt.

Tja. Jetzt hatten sie ihm den »Doktor« gegen seinen Willen also trotzdem aufs Schild gezwungen. Einen falschen noch dazu. War das nicht strafbar? Wie unangenehm.

Pauls linker Sitznachbar auf dem Podium war einer, den sogar er vom Hörensagen kannte. Der Mann, der die Schule berühmt gemacht hatte. Ihren internationalen Ruf etabliert hatte. Der dafür verantwortlich war, dass es eine Warteliste schwerreicher, prominenter Eltern aus aller Welt gab, die für teures Geld ihre Söhne hier in der bayerischen Provinz das Musikerhandwerk erlernen lassen wollten. Vermutlich waren wegen ihm die Fernsehkameras gekommen und diese ganzen Pressetypen, die mit ihren Handys spielten.

Der besagte Star dieser Pressekonferenz, Sir Evelyn Rutland, der Brite mit dem eigenartigen Frauenvornamen, zollte dem Medienecho jedoch erkennbar keinen Tribut. Er starrte nur hasserfüllt auf seinen Tisch. Über dem weißen Hemd mit der schwarzen Fliege prangte sein teigiges rotes Gesicht. Grauer Dreitagebart. Eine imposante, blau geäderte rote Nase, von der aus sich tiefe Furchen bis zu den mürrisch hängenden Mundwinkeln hinunter gruben. Schmale, zusammengepresste Lippen. Es war einzig die Lesebrille, die dem Gesicht noch einen intellektuellen Anschein verlieh. Hängende Lider mit dunklen Ringen. Große, wässrig blaue Augen. Darüber wüste, buschige Brauen und ein aus spärlich fransigen Haaren wirr über die Halbglatze gekämmter Scheitel. Ein Säufer wie aus dem Bilderbuch.

Aber all das konnte seiner natürlichen Aura von Autorität nichts anhaben. Der Mann besaß eine beängstigende Präsenz. Eine Ausstrahlung, die jede Kritik an seinen offensichtlichen Makeln zu ersticken schien.

Ganz anders als Cornelius, die Einstein-Karikatur, der tapfer den Pausenclown gab, während der Rest auf den Anwalt wartete.

»Nun, also, meine Damen und Herren, ich hatte ja bereits den anonymen Stifter unserer Musikschule erwähnt. Er hatte die Uraufführung des Boléro von Maurice Ravel 1928 in Paris gesehen und war in glühender Liebe zu der Frau entbrannt, die Ravel in den Mittelpunkt seiner, ähm, Inszenierung gestellt hatte. Die Erotikgöttin der Roaring Twenties, die Tänzerin Ida Rubinstein. Ihm war es aber nicht genug, der großen Rubinstein nach der Boléro-Premiere einen Strauß roter Rosen zu schenken, nein, er gründete vielmehr gleich eine ganze Stiftung mit ihrem Namen und begann, junge Musiker aus der ganzen Welt hier bei uns im Schloss Hirschenhaid unterrichten zu lassen. Damit wollte er die Rubinstein unsterblich machen … ein großer Romantiker, finden Sie nicht …?«

Cornelius lachte gekünstelt, doch keiner lachte mit.»Unser Internat ist eine reine Knabenschule.«

Paul hatte sich bis unmittelbar vor das Podium durchgekämpft, und einige der Presseleute hatten ihn inzwischen bemerkt.

Cornelius monologisierte indes tapfer weiter, während die Journalisten ungeniert laut mit ihren Redaktionen telefonierten, im Raum herumliefen oder hinaus auf die Terrasse gingen und rauchten. Der Tabakqualm und der Dampf von E-Zigaretten zog, ventiliert von der unerträglich heißen Luft, in den schönen weißen, kühlen Raum herein und hing schwer im Licht der Scheinwerfer.

»Einmal im Jahr führen wir im Kolleg Ida Rubinstein den Boléro von Ravel öffentlich auf, und ich möchte Sie alle ganz herzlich zu unserem Sommerkonzert einladen, in unserem herrlichen Garten am …«, Cornelius kramte in seinen Zetteln, »… am nächsten Samstag um zwanzig Uhr …«, er blickte zu Dr. Wanek hinüber, die zwischenzeitlich zu ihrem Platz gelangt war, aber keine Anstalten machte, den Professor zu erlösen. Vielmehr klappte sie ihren Laptop auf und las konzentriert. Paul beobachtete, wie sie, während ihre Blicke über den Bildschirm wanderten, eine kleine Blisterpackung in den Händen hielt und einige Pillen herausdrückte. Sie goss sich Mineralwasser in ihr Glas, spülte die Tabletten herunter und ignorierte Cornelius ansonsten weiter. Schmerztabletten? Gegen Kopfweh? Paul hätte auch gern welche davon gehabt, gegen den Hummelstich. Er würde sie nachher fragen, ob er eine abbekam.

»Wir bilden seit vielen Jahren den internationalen Nachwuchs für die ganz großen Musikschulen und Orchester aus. London, ja? New York! Wer hier abgeschlossen hat, dem steht die große Welt als Musiker ganz weit offen!« Cornelius schwärmte, was ihm aber auch nicht mehr Aufmerksamkeit bescherte.

Paul drängte sich hinter dem Rücken der anderen Anzugträger zu seinem Stuhl und verspürte dankbar den Schutz, den das Podium ihm bot. Fast alle hatten ihn inzwischen bemerkt. Einige Fotografen waren aufgestanden und direkt vor zu den Tischen gekommen. Aus höchstens einem Meter Abstand lichteten sie Paul ab. Mit riesigen Objektiven. Ging es noch aufdringlicher? Klack, klack, klack, klack machten die Kameras. Die waren doch heutzutage alle digital? Konnte man den verdammten Ton nicht wenigstens abschalten?

Paul überlegte, ob es klug sein mochte, den »Doktor« auf seinem Namensschild noch eben kurz zu korrigieren? Oder lieber in völliger Unauffälligkeit und Tatenlosigkeit verharren? Am besten erst einmal einen Schluck Wasser trinken. Klack, klack, klack, klack. Großartige Fotos. Rechtsanwalt Paul Colossa schenkt sich Mineralwasser ein!

Sir Evelyn, sein genialer Dirigenten-Sitznachbar, hatte sich dazu entschieden, Paul genauso konsequent zu ignorieren, wie er es mit den Reportern hielt. Auch gut. Dann begrüßte Paul ihn ebenfalls nicht. Wenigstens hatten die Fotografen sich wieder gesetzt. Es wurde ein bisschen ruhiger.

Paul ließ den Blick durch den schönen alten Raum wandern. Die verspielten Stuckornamente, die großen Wandgemälde. Hinter den Glastüren, durch die er hereingekommen war, der sonnig helle Park.

»Was den formidablen Ruf unseres Hauses in der Musikwelt anbelangt, gibt es neben Maurice Ravel nur einen Namen zu nennen!« Cornelius drehte sich in Pauls Richtung. Das fanden die Journalisten jetzt wohl doch spannend. Es wurde schlagartig deutlich leiser. Auch die Raucher kamen plötzlich, wie auf ein geheimes Signal, hektisch hereingeeilt. Siebter Sinn für Sensationen.

Strahlend deutete Cornelius auf Pauls Nachbarn: »Der musikalische Leiter des Kollegs Ida Rubinstein, Sir Evelyn Rutland!«

Ganz hinten stand einer der Reporter auf. Geblendet von den grellen Scheinwerfern konnte Paul ihn zunächst gar nicht richtig sehen. Aber der Mann plärrte viel zu laut, als dass man ihn nicht bemerkt hätte.

»Vielleicht kommen wir jetzt endlich mal zur Sache: Herr Rutland! Ist es wahr, dass die Schüler in Ihrem Internat systematisch mit Drogen vollgepumpt werden? Und ist einer Ihrer Schüler deshalb jetzt tot? Wegen einer Überdosis?«

Wie bitte? So hatte Paul die Geschichte, wegen der sie sich alle hier versammelt hatten, noch nicht gehört!

Die Journalisten waren sofort wie auf Speed. Jeder, der eine Kamera, ein Diktiergerät, ein Mikrofon hatte, sprang auf und rannte nach vorn. Vor Sir Evelyns Tisch war kein Platz mehr zu kriegen. Ein wilder Haufen kniete dort. Sie berührten den Dirigenten mit ihren Linsen fast, so nah kamen sie heran … klack-klack-klack-klack-klack.

Aggressives Geschrei, manche standen mit ihren dreckigen Turnschuhen auf den samtenen blauen Stühlen, um genau zu dokumentieren, wie Sir Evelyn auf die Mordanklage reagierte.

Deshalb waren sie hergekommen! Skandal!

Rutland wirkte weiter unbeeindruckt. Nein, eigentlich sogar mehr als das. Er wirkte völlig abwesend, starrte weiterhin auf die Tischplatte. Als würde er eine Meditationsübung absolvieren, die zufällig gleichzeitig mit einer Pressekonferenz stattfand.

Aber jetzt machte sich überraschend Dr. Lara Wanek bemerkbar. Sie sprach mit klarer, kräftiger Stimme in ihr Mikrofon: »Meine Damen und Herren! Bitte nehmen Sie wieder Platz!«

Das wirkte, zumindest mit geringer Verzögerung. Erst kamen sie nämlich noch zu ihr herüber und … klack-klack-klack-klack.

»Erlauben Sie mir, mich Ihnen kurz vorzustellen. Mein Name ist Lara Wanek, ich bin die Direktorin des Verwaltungsrats des privaten Musikgymnasiums im Schloss Hirschenhaid, dem Kolleg Ida Rubinstein, kurz KIR.«

Dr. Wanek las vom Bildschirm ihres Laptops ab.

An den Fernsehkameras brannten kleine böse rote Äuglein. Konzentrierte Arbeitsatmosphäre.

Riko

Jeder kriegt was er verdient. Früher oder später kriegen sie auch euch 13:21

Die Worte der Schulleiterin waren vorsichtig gewählt.

»Vor einigen Wochen kam es im Internat des KIR zu einem Krankheitsfall bei einem Schüler der Abschlussklasse. Der junge Mann wird im Neustädter Krankenhaus medizinisch versorgt. Sein Zustand ist ernst, die Ärzte versichern jedoch, dass er stabil ist. Wir alle, die Vertreter der Stiftung, das Lehrerkollegium und die Schüler des KIR sind natürlich sehr besorgt, und wir wünschen ihm, dass er sehr bald wieder gemeinsam mit uns musizieren und lernen darf …«

Mehrere Reporter schrien nach vorn, unverständlich und durcheinander. Darunter auch jener, der vor einigen Minuten aus den hinteren Reihen das Rennen mit seiner Frage eröffnet hatte. Jetzt erkannte Paul ihn: Das war doch der kleine Glatzkopf mit dem roten Bärtchen, der ihnen vorhin draußen auf der Terrasse begegnet war!

»Staatsanwaltschaft … Drogen … angeblich tot … Eltern …« Wortfetzen spritzten durch den Raum.

»Meine Damen und Herren«, beschwichtigte die Schulleiterin und lächelte dabei überlegen, »bitte hören Sie doch zunächst einmal die offizielle Stellungnahme, und wenn Sie dann weitere Fragen haben, werde ich sie Ihnen gerne beantworten, ja? Der Schüler lebt. Natürlich! Es geht ihm, wie ich bereits sagte, den Umständen entsprechend gut.«

Jetzt hatte sie den Faden verloren und huschte mit den Blicken auf ihrem Bildschirm herum.

»Aber was ist mit den Gerüchten von …«, keifte eine Journalistin mit ärmellosem, leuchtend gelbem T-Shirt. Ihre blassen Arme fuchtelten in der Luft.

»Bitte geben Sie mir die Chance, Ihnen alles zu erzählen, was ich vorbereitet habe, und dann dürfen Sie mich alles fragen, was Sie vorbereitet haben«, unterbrach Dr. Wanek die Frau mitten im Satz mit eisiger Freundlichkeit. »Im Zuge der Erkrankung unseres Schülers wurden wir darauf aufmerksam, dass durch einen lokalen Internetblog hier aus Neustadt frei erfundene, völlig unwahre Gerüchte über unsere Schule verbreitet werden. Eine regelrechte Schmutzkampagne möchte ich sagen. Wir bedauern sehr, dass diese Lügen ungeprüft auch von seriösen Medien aufgegriffen und weiterverbreitet wurden. Es wird – und das ist absolut frei erfunden – , es wird behauptet, dass an dieser Schule illegale Substanzen an Schüler verabreicht würden und dass der erkrankte Junge deshalb …«

Sie zögerte erneut einen Sekundenbruchteil und redete jetzt losgelöst vom Bildschirm.

»Aufgrund dieser unseriösen Berichterstattung wurden Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Nürnberg eingeleitet.«

Den Teil kannte Paul schon. Einiges von dem allerdings, was sie da erzählte, hatte man ihm im Vorgespräch offensichtlich vergessen mitzuteilen. Er war irritiert. Vor allem aber, das musste er zugeben, auch neugierig.

»Wir haben selbstverständlich sofort vollumfänglich mit den Ermittlern zusammengearbeitet. Wir haben die Staatsanwaltschaft umfassend unterstützt, denn es gibt bei uns nichts zu verbergen, und wir haben uns auch nichts vorzuwerfen.«

Einige Journalisten lachten unverhohlen. Paul musste zugeben, dass das genau nach dem Gegenteil eines »hundert Prozent glaubwürdigen Dementis« klang.

Aber Lara Wanek focht es nicht an. Sie lächelte es einfach weg.

»Wie erwartet, haben wir in der vergangenen Woche Post von der Staatsanwaltschaft erhalten. Uns wurde schwarz auf weiß mitgeteilt, dass die Ermittlungen gegen das Kolleg Ida Rubinstein eingestellt wurden. Weil wir diese Nachricht so wichtig fanden, haben wir Sie, meine Damen und Herren, heute zu uns eingeladen, um mit Ihnen darüber zu sprechen …«

Ein Journalist in der ersten Reihe plärrte dazwischen. Er hatte einen dieser riesigen, aufwendig gepflegten Bärte.

»Frau Dr. Wanek … es muss ja gar nicht sein, dass Sie den Kindern verbotene Substanzen geben, nicht? Die Frage ist, ob es überhaupt stimmt, dass am KIR die Leistung der Jungs durch etwas anderes als durch fleißiges Üben gesteigert wird. Hochleistungsmusik wäre nicht die erste Sportart, bei der mit ein wenig Doping nachgeholfen wird!«

Vereinzelte Lacher.

»Vielen Dank für Ihren Einwand«, Lara Wanek zwinkerte dem Hipster-Journalisten aufmunternd zu. »Aber wie kommen Sie darauf? Das ist ein Vorwurf, dem wir, ohne jeden vernünftigen Grund und ohne jeden Beleg, einzig und allein durch die Unterstellungen eines unprofessionellen Bloggers ausgesetzt sind. Nach dem Motto: Diese Schüler sind Weltklasse, also müssen sie zwingend gedopt worden sein. Ich bitte Sie!« Sie machte eine künstlerische Pause.

Ihr Blick wanderte, fast provozierend, durch den Raum. Das eine oder andere Paar Augen wich ihr aus. Jetzt änderte sie die Tonlage auf verschwörerisch: »Ein Internet-Emporkömmling, der sich ein paar Klicks erhofft, indem er eine exzellente Musikschule einfach einmal so ins Blaue hinein mit einer Schmutzkampagne diskreditiert. Irgendwas bleibt immer hängen. Und Sie alle fallen darauf herein? Dass so jemand ungestört seine Lügen verbreiten darf, in einer Zeit, in der seriöse Fakten so wertvoll sind wie nie zuvor, das ist doch der eigentliche Skandal. Da müssten Sie, meine Damen und Herren, sich doch eigentlich an Ihrer Journalistenehre gepackt fühlen …« Wieder wanderte ihr Blick, aber jetzt lächelte sie milde, einfühlsam und mütterlich.

Mann, war die Frau gut. Paul war hingerissen.

»Fakt ist – denn nur wegen der Fakten sind wir heute hier – , es gibt keine verbotene Manipulation. Es gibt keine Toten. Es gibt keinen Skandal am KIR. Die Staatsanwaltschaft hat das sorgfältig überprüft und sodann das Verfahren eingestellt. Ein Schüler ist erkrankt, wir hoffen, er wird sehr bald gesund werden. Das ist alles, was es zu berichten gibt.«

Wie alt die Wanek wohl sein mochte? Eine Haarsträhne hatte sich hinter ihrem Ohr gelöst und hing ihr jetzt ins Gesicht. Das war unheimlich sinnlich, fand Paul.

Jetzt schaltete sie wieder in den Nachrichtensprechermodus zurück und proklamierte seriös: »Wir sehen uns trotz der Einstellung des Verfahrens durch die Ermittlungsbehörden weiterhin mit zahlreichen Anfragen von Journalisten konfrontiert. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, trotz der eindeutigen Stellungnahme seitens der Staatsanwaltschaft, offensiv gegen diese Gerüchte vorzugehen. Wir möchten unsere Schule zurück in das positive Licht rücken, für das sie seit vielen Jahrzehnten bekannt ist. Dabei dürfen wir auf die Unterstützung von exzellenten Spezialisten setzen, die wir Ihnen heute vorstellen möchten.«

Man hörte das Piepen und Surren der optischen Artillerie, die neu in Stellung gebracht wurde. Spezialisten wofür? Wie sahen sie aus?

»Zum einen, zu meiner Rechten, Herr Professor Doktor Julius Stahl von der international hoch renommierten Kanzlei MacAllistair, Weinstein und Smith, der gegen die rufschädigenden Lügen, die über unsere Schule verbreitet werden, bereits umfassende juristische Schritte eingeleitet hat und weitere derartige Rufmordkampagnen gegen das KIR für die Zukunft nachhaltig unterbinden wird. Professor Stahl hat auch die Staatsanwaltschaft Nürnberg intensiv bei ihrer Arbeit in unserer Schule begleitet.«

Paul beugte sich vor, um den Kollegen besser zu sehen. Stahl saß ganz rechts außen auf dem Podium. Braun gebrannte Glatze, umkränzt von raspelkurzem weißem Haar. Runde goldene Brille in hagerem, ebenfalls sportlich gebräuntem Gesicht. Sicher trieb der Mann sich viel auf Golfplätzen herum. Maßgeschneiderter, dunkler Anzug mit einer Krawatte in Altrosa. Paul hatte bereits das Vergnügen mit diesem Herrn gehabt. Ein Gentleman von beispielloser Höflichkeit und Eleganz, Typ Mahatma Gandhi. Er war der Hausanwalt des KIR. Seniorpartner einer internationalen Großkanzlei mit Hauptsitz in Boston und Niederlassungen weltweit. Außerdem war er Honorarprofessor an der Uni Heidelberg. So einer wie Stahl verlangte bestimmt einen Stundensatz von fünf- oder sechshundert? Wenn’s reicht.

Der Kollege Stahl war es auch gewesen, der Rechtsanwalt Paul Colossa dieses ungewöhnliche Mandat übertragen hatte. Letzten Dienstag hatten sie sich hier im Schloss getroffen. Oben in einem der Außenflügel, in einem grünen Zimmer voller Spiegel, Gold und Schnörkel, mit Blick in den Park. Tee aus Porzellantässchen. Es war Paul absolut unwirklich vorgekommen.

Stahl hatte Paul mit sanfter Stimme und ununterbrochenem Lächeln ein kleines Vermögen an Honorar angeboten und ihm dann einen verblüffend kurzen Vertrag auf die kleine Marmorplatte des Teetischchens gelegt. Sonderermittlungen sollte er durchführen, im KIR, ob er daran Interesse hätte. Keine Details. Er hatte Paul nur ganz kurz von der Sache erzählt, um die es heute ging. Von den eingestellten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und fehlerhafter Berichterstattung, die korrigiert werden müsse. Eher eine Formsache. Ein Schlusswort quasi sollte Paul schreiben. »Ende gut, alles gut«, so in der Art. Kein Wort davon, dass die Sache solch einen medialen Aufruhr erzeugen würde. Nichts von Drogen, nichts von Toten. Später hatte sich Dr. Wanek noch dazugesellt und ihm von der Schule erzählt. Von den großen Erfolgen. Von der sagenhaften Reputation. Den prominenten Familien aus aller Welt, die ihre Sprösslinge herschickten. Und dann hatte man Paul beiläufig zur Pressekonferenz eingeladen.

Alles ganz harmlos. Leicht verdientes Geld.

Paul hatte auch früher schon, als er noch für die Kanzlei Sikorski in München gearbeitet hatte, gelegentlich Prozesse geführt, bei denen Fernsehkameras aufkreuzten. So einen Zirkus wie heute hatte er aber noch nie erlebt.

Er hatte den Vertrag natürlich sofort unterschrieben. Die Chance bekam man als Anwalt nicht oft geboten. Und eine solche Summe erst recht nicht. Der Füller, mit dem er unterschrieben hatte, war garantiert aus echtem Gold gewesen. Vermutete Paul zumindest.

»Wie viel Schadenersatz verlangen Sie?« – »Gegen wen haben Sie Strafanzeige erstattet?« – »Wer sind die Eltern des kranken Jungen?«

»Ich bitte Sie … versuchen Sie doch … lassen Sie mich …« Nach einer Weile hörten sie der Wanek wieder zu. Der Designeranwalt lächelte weiterhin verbindlich, sagte jedoch kein Wort.

»Wir bitten um Verständnis dafür, dass wir keine Auskunft über die konkreten rechtlichen Schritte geben werden. Wir werden Sie darüber zu gegebener Zeit unterrichten …«

Dr. Wanek unterbrach sich selbst, kniff die Augen zusammen und suchte im grellen Licht in den Reihen der Journalisten. Ihr Blick blieb an einer Stelle haften, und Paul glaubte, bei ihr nun den winzigen Anflug von Schalkhaftigkeit zu erkennen. Sah ziemlich sexy aus.

Sie sah Stahl an, sie sah ihren Bildschirm an, sie hob den Kopf …

»Wenn Sie allerdings danach fragen, gegen wen wir juristische Schritte einleiten werden, will ich Ihnen gerne heute Auskunft erteilen …«

Zack! Mucksmäuschenstill war es.

Die Raubtiere witterten, dass jetzt Blut fließen sollte. Hier und da piepte es wieder elektronisch, und Dr. Lara Wanek zeigte nun, dass sie ein Musikprofi war. Sie wartete nämlich. Unnatürlich lang. Wie in Haydns Symphonie Nr. 94 »mit dem Paukenschlag«.

Und dann kam der Paukenschlag: Bamm, bamm, bamm!

»Der Erfinder der Schmutzkampagne gegen unser KIR sitzt direkt zwischen Ihnen. Es ist der Betreiber der Internetseite ›Newtown Blog‹, Herr Elvis Babik aus Neustadt. Herr Babik – wollen Sie sich Ihren Kollegen nicht kurz vorstellen?«

Respekt! Eine Frontalattacke allererster Kajüte. Das gefiel den Herrschaften im Haifischbecken. Paul gefiel es auch.

Es folgte das inzwischen eingespielte Spektakel. Geschrei, Gerenne, Über-die-Stühle-Klettern. Paul war so neugierig, dass selbst er aufgestanden war, ebenso wie einige andere an seinem Tisch. Nur Rutland blieb sitzen. Natürlich. Genauso wie dieser junge Bursche, der hier vermutlich die Schülerschaft repräsentierte. Armer Kerl.

Wer war es, auf den sie die Bluthunde gehetzt hatte? War das nicht schon wieder der kleine Dicke von eben? Derselbe, der die dreiste Frage nach dem toten Schüler gestellt hatte? Diesmal war es nicht schwer, ihn in der Menge auszumachen. Dieser durchgeknallte Spinner hatte sich nämlich auf seinen Stuhl gestellt! Während seine Kollegen um ihn herumtanzten wie die Kannibalen um den Kochtopf mit dem Missionar, drehte er sich, lachte und winkte in die Kameras. Was für ein lächerliches Großmaul.

Aber eines war auch klar: Sollte diese Maßnahme von der Absicht geleitet gewesen sein, den Burschen einzuschüchtern, so bestand ein gewisses Risiko, dass gerade die gegenteilige Wirkung eingetreten war.

»Woher haben Sie die Informationen über Drogen in der Schule …« – »Was wissen Sie über den toten Schüler …?« – »Was sagen Sie zu der Drohung, Sie zu verklagen …?«

Babik sonnte sich im Blitzlicht. »Lesen Sie meinen Blog!«, rief er den Medienleuten zu. »Lesen Sie den ›Newtown Blog‹, da werden Sie alles erfahren! Jetzt erst recht!«

Stahl kam zu Dr. Wanek herübergeschlichen. Die beiden tuschelten. Beide waren erkennbar beunruhigt. Kein Wunder. Sie wollten Babiks kleine Kerze auslöschen – aber dazu hatten sie dummerweise Öl verwendet, und jetzt brannte der ganze verdammte Tisch. Bildlich gesprochen.

Dr. Wanek zog die Aufmerksamkeit nun wieder auf sich: »Meine Damen und Herren!« Nur wenige wandten sich ihr zu. »Ladies and Gentlemen!« Das half auch nicht. »Ich habe noch weitere Neuigkeiten für Sie. Ich möchte Ihnen einen weiteren Mann vorstellen, der uns dabei helfen wird, unseren guten Ruf zu bewahren. Unseren privaten Sonderermittler. Rechtsanwalt Dr. Paul Colossa.«

Lara Wanek sah zu Paul. Sie streckte ihre Hand in seine Richtung aus. Ruhe kehrte wieder ein. Babik wurde sofort uninteressant. Alle starrten zu Paul. Die neue Sau im Dorf. Er überlegte, ob er vielleicht aufstehen sollte. Besser nicht, oder? Der Kollege Stahl war ja auch nicht aufgestanden. Und Lara Wanek saß ebenfalls die ganze Zeit. Paul blieb also sitzen und nickte nur freundlich. Seltsamerweise kam diesmal keiner zu ihm nach vorn, um ihm ein Kameraobjektiv unter die Nase zu halten. Gut, sie hatten ihn ja vorhin schon fotografiert. Als er Wasser getrunken hatte.

Ein weiteres Problem, so dämmerte ihm, bestand darin, dass Paul gerade quasi »weltöffentlich« erneut fälschlich als »Doktor Colossa« vorgestellt worden war. Jetzt wäre die vielleicht letzte Gelegenheit, diese Sache geradezurücken. Obwohl es natürlich nicht unbedingt ein Glanzmoment werden dürfte, in einer Pressekonferenz zu verkünden, dass man gar kein Doktor ist. Alles ziemlich unangenehm, wenn man darüber nachdachte. Allerdings bestand nicht viel Gelegenheit nachzudenken, denn es zeigte sich jetzt, dass die Medien sich entschieden hatten, wie sie auf Paul reagieren wollten. Anders als erwartet.

Erst war es nur der eine oder andere. Sie kicherten leise. Teils hinter vorgehaltener Hand. Dann wurde es heftiger. Lauter. Mehrstimmiger. Herzhafter. Peinlicher, unüberhörbarer, demütigender. Schallender.

Die lachten ihn aus!

Paul blickte Dr. Wanek Hilfe suchend an. Was hatten die denn? Etwa immer noch der blöde Hummelstich? Paul strich sich mit der Hand über den Bart. So schlimm fühlte es sich eigentlich gar nicht an … Auf einer Pressekonferenz von der Presse ausgelacht zu werden war bestimmt ganz schlecht. Da war sich Paul sicher.

Dr. Wanek versuchte sich erneut als Krisenmanager: »Wir konnten Herrn Colossa, dessen Kanzlei in der Region einen ausgezeichneten Ruf genießt, dafür gewinnen, eine umfassende juristische Ermittlung betreffend die gegen unser Haus erhobenen Vorwürfe durchzuführen. Viel intensiver und umfassender, als die Staatsanwaltschaft das getan hat. Wir wollen damit eins ganz klarmachen: Wir meinen es ernst!«

Ende Gelächter. Beginn Fotos. Gott sei Dank.

»Rechtsanwalt Dr. Colossa ist gerade kein Anwalt aus einer Großkanzlei, sondern ein Jurist von hier, einer, der seinen ganz eigenen Kopf hat.« Wieder Gelächter. Doch Lara Wanek ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Unabhängig. Kämpferisch. Idealistisch. Dieser Mann soll den Beweis dafür liefern, dass keine Bedenken bestehen, dass irgendetwas anrüchig wäre in diesem Haus. Er hat freie Hand, sich bei uns umzuschauen. Wir möchten uns maximal transparent zeigen, und wir sind optimistisch, dass mit dem Abschlussbericht des Sonderermittlers keine Zweifel mehr am guten Ruf des KIR bestehen. Dies schulden wir unseren Schülern. Wir schulden es den Eltern. Und wir schulden es der großartigen Tradition dieser Schule. Wir erwarten den Abschlussbericht von Rechtsanwalt Colossa noch vor unserem großen Abschlusskonzert am Ende der Woche.«

Der Schreck jagte Paul eine Gänsehaut über den Rücken. Schon Ende der Woche? Anwälte sind Fristen gewöhnt, aber das war verdammt eng.

»Wie wollen Sie die Sache angehen? Haben Sie einen Plan? Was haben Sie bisher herausgefunden?«

Quäkige Stimme. Den Typen kannte Paul noch nicht. Einer mit Pferdeschwanz, der lässig gelangweilt neben einer der Fernsehkameras stand.

Tja. Jetzt sollte Paul also etwas sagen? Etwas umständlich erhob er sich. Verdammt. Da hinten hatte doch schon wieder einer gelacht. Paul nahm sich vor, das genauso pointiert und lässig zu machen wie Lara Wanek. Typisch Anwalt. Bloß nichts Konkretes.

Er probierte ein Lächeln. Schon wieder Lacher! Verdammtes Pack. Nun gut. Er hatte vielleicht ein bisschen zu stark gelächelt. Es war ihm irgendwie entglitten. Scheiße, er wurde rot.

»Ich bitte um Verständnis …« Verdammt! Hätte er doch lieber noch einen Schluck getrunken. Pauls Stimme krächzte wie bei einem alten Mütterchen. Wie der böse Wolf als er Kreide gefressen hatte, um die Geißlein zu täuschen. Dummerweise war es hier umgekehrt. Paul war der liebe Wolf, und diese Drecksbande, das waren die blutrünstigen Geißlein. Und es waren wesentlich mehr als sieben! Mehr als die Hälfte davon meckerte. Rasch griff Paul zu seinem Glas und nahm einen Schluck. Gurgeln wäre jetzt gut für die Stimme, aber … nein, das konnte er natürlich nicht bringen. Schnell ein weiterer Sprechversuch.

»Entschuldigung …« Er räusperte sich noch einmal, und die Lacher hörten auf. »Also, ich bitte um Verständnis, dass ich davon noch gar nichts weiß …«

Schallendes Gelächter. O Mann, das war natürlich eine selten dämliche Formulierung gewesen.

»Also, was ich meine, ist: Ich darf Ihnen aufgrund meiner anwaltlichen Schweigepflicht nicht sagen, was ich bisher in dieser Sache in Erfahrung gebracht …« Glucksen, Kichern …

Ehe Paul stotternd weitere Details seiner Planlosigkeit offenbaren konnte, unterbrach ihn die Wanek.

»Auch dazu werden wir Sie zu gegebener Zeit informieren … vielen Dank, Herr Dr. Colossa … und nun kommen wir noch einmal zurück …«

Paul sackte auf seinem Stuhl zusammen. Schlimme Sache.

DEUTSCHMANN

Was ist Colossa für ein Scheißname? Ein Kanakenanwalt? Durch Inzest geistig zurückgeblieben. Wie diese osteuropäischen Huren, die sich für ein paar Euro verkaufen. Ohne Gummi. 03:36

Einige Zeit später fand Paul sich erneut mit Stahl im bereits bekannten grünen Teesalon wieder. Unten im Park hatte ein Kamerateam sich auf dem Rasen postiert, um noch ein paar besonders eindrucksvolle Bilder von der Schlossfassade im Sommerglanz mitzunehmen. Durch die großen Fenster hatte Paul einen guten Blick. Der Kollege Stahl saß mit dem Rücken zum Fenster, und das Sonnenlicht umkränzte den teuren Juristen mit einer Art Ganzkörperheiligenschein. Überhaupt, wie er da so saß, braun gebrannt grienend, mit der Brille und der Halbglatze, erinnerte er Paul noch mehr an Gandhi. Der Kollege hatte ihn nach der Pressekonferenz zu einem kurzen Gespräch gebeten und etwas von weiteren Unterlagen genuschelt. Gut. Unterlagen konnte Paul dringend brauchen!

Sie warteten auf Dr. Wanek. Bedauerlicherweise waren die beiden Juristen keine Meister der zwanglosen Konversation, und so herrschte bereits seit einigen Minuten ein peinliches Schweigen. Es gab auch nichts zu trinken. Der Professor blätterte in Papieren herum, und Paul beobachtete das Fernsehteam. Sie waren zu dritt. Eine Frau in weißem Hosenanzug war offensichtlich der Boss. Ihr gehorchten zwei Typen in Jeans und T-Shirt. Wobei die beiden eigentlich gar nicht gehorchten. Der eine trug ein blaues Baseballcap und schleppte auf der Schulter eine monströse Kamera. Der andere stand einfach herum. Hände in den Hosentaschen. Immer wieder rannte die Frau hin und her und fuchtelte mit den Händen. Das hinterließ jedoch nur mäßigen Eindruck bei ihren Lakaien. Der Rumsteher zündete sich nun eine Zigarette an, was die Frau dazu brachte, völlig auszurasten. Paul konnte durch das geschlossene Fenster leider nichts hören, aber ganz klar: Sie brüllte den qualmenden Faulpelz an. Ganz dicht stand sie vor ihm, riss den Mund weit auf, dabei bewegte sie sich pendelnd vor und zurück. Der Beschimpfte zeigte keine Regung und blies Rauch in den blauen Himmel. Paul hätte zu gern herausgefunden, worüber sie sich aufregte, doch bedauerlicherweise öffneten sich ausgerechnet jetzt die geschnitzten Flügeltüren des Salons und herein trat – ein Butler!

Paul hatte noch nie einen echten Butler gesehen, doch es bestand kein Zweifel, dass es einer sein musste. Schwarze Livree, blütenweißes gestärktes Hemd mit Krawatte, grau gestreifte Weste. Fescher Bursche. Markantes Gesicht mit breitem Kinn, makellos rasiert. Pomadig glänzende schwarze Haare. Wie ein Hollywood-Beau aus den Fünfzigern.

Ein angedeutetes, steifes Nicken in Richtung der beiden Anwälte. Er nuschelte etwas Unverständliches, aus dem Paul den Namen »Archer« und das Wort »Diensten« herauszuhören glaubte. Dann drehte er sich rasch auf dem Absatz um und stand nun quasi Ein-Mann-Spalier für die eintretenden Herrschaften, Dr. Wanek und Sir Evelyn Rutland. Erstere herzlich und verbindlich … »Ich sehe, Sie haben sich bereits zusammengesetzt, schön …« und mit einem Lächeln. Letzterer immer noch grimmig, obgleich nun erkennbar zum Leben erwacht. Er sagte sogar etwas, und zwar in Richtung des Butlers: »Tea, please …«

Durch die geöffnete Tür hörte Paul zum ersten Mal nun auch etwas von der Musikschule. Es klang, soweit er es laienhaft einzuordnen vermochte, nach Blasinstrumenten. Klarinette oder Oboe? Weit weg und durch viele Türen gedämmt, fluteten schöne Klänge durch die Treppenhäuser des Schlosses und offenbarten dessen junge Seele.

Stahl war beim Eintreten der Schulleiterin und des Dirigenten sogleich von seinem Stuhl aufgesprungen. Paul brauchte einen Augenblick länger. Dr. Wanek bat: »Nehmen Sie doch Platz!«

Der Butler bot der Wanek einen Stuhl an, Rutland platzierte er ihr gegenüber. Dann verschwand er. So saßen die vier nun an dem runden Tisch wie die Viertelstunden: Stahl auf der Zwölf, Sir Evelyn auf der Drei, Paul auf sechs und die Schulleiterin auf neun Uhr. Draußen auf der Wiese packte das Fernsehteam zusammen. Will heißen: Die beiden Kerle packten einen Stahlkoffer, die Dame in Weiß eilte mit wütenden Schritten davon. Von der war sicher keine wohlwollende Berichterstattung zu erwarten. Die Frage war, ob sie überhaupt einen Bericht abliefern würde …

»Na, das war ja wirklich eine grässliche Veranstaltung!«, eröffnete Dr. Wanek die kleine Runde. »Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?« Sie lächelte Stahl an. Der lächelte zurück.

»Nun ja, diese Branche lebt davon, schlechte Nachrichten publikumswirksam zu verbreiten, weil die sich einfach besser verkaufen als die guten, nicht wahr? Es ist an uns, deutlich zu machen, dass es über Ihr Haus keine ›bad news‹ zu verbreiten gibt.« Ein klein wenig quäkig klang der Professor, fand Paul. »Wir werden sie langweilen, und sie werden enttäuscht weiterziehen …«

»Um die nächsten Kadaver zu schänden …« Es war das zweite Mal überhaupt, dass Paul Rutland sprechen hörte. Er hatte eine tiefe, rauchige Stimme und einen starken britischen Akzent.

»Das soll dann nicht unsere Sorge sein …« Stahl lächelte die Geschmacklosigkeit weg. »Der Kollege Colossa wird die lästigen Nekrophagen ohne Zweifel erfolgreich vertreiben, nicht wahr? Ha, ha, ha …«

Dr. Wanek lachte mit. Eher höflich als erheitert.

»Herr Kollege, wir haben ja bereits über Ihren Auftrag gesprochen …« Stahl wandte sich Paul zu, zog seine Ausfertigung des zweiseitigen Vertrags, den er Paul beim ersten Besuch vorgelegt hatte, aus einer Klarsichtfolie und legte die Papiere sorgfältig vor sich hin.

»Heute geht es nun darum, noch einige ergänzende Regelungen zu vereinbaren, nicht wahr? Auszahlungsmodalitäten, zeitliche Eckpunkte, Geheimhaltungsvereinbarungen … «, sagte er und lachte.

Was gab es da zu lachen?

Einer weiteren Klarsichtfolie entnahm Stahl einen recht ansehnlichen Packen Papier. Umständlich stand er auf, kam um den Tisch herum und legte ihn vor Paul auf den Tisch. Er zögerte einen Augenblick und stupste dann mit spitzem Zeigefinger das zusammengetackerte Dokument noch einmal an der linken unteren Ecke an. Tatsächlich, nun lag es ganz gerade vor Paul. Zufrieden nahm der Professor wieder Platz. Asperger-Syndrom? Oder nur ein Ordnungstick. Paul kämpfte mit der Versuchung, den Papierstapel wieder schräg zu schieben, um den Professor zu testen. Er widerstand aber und rührte die Dokumente zunächst nicht an.

»Sicher möchten Sie kurz einen Blick darauf werfen, ehe Sie es unterschreiben?«

Das war ja wohl nicht sein Ernst? Paul nahm den Stapel hoch und blätterte die letzte Seite auf. »37« stand unten mittig. Und das Ganze allerhöchstens in Schriftgröße 10. Jede Seite war eng bedruckt. Dr. Wanek und Stahl blickten ihn erwartungsfroh an. Der Dirigent sah gelangweilt aus dem Fenster.

Paul war Rechtsanwalt. Er wusste also alles über die geheimen Fallstricke, die Hintertürchen und Doppeldeutigkeiten, die seine Zunft mit großer Sorgfalt, mit Kunst, ja regelrecht mit liebevoller Hingabe in Verträgen versteckte. Wer so einen Vertrag einfach unterschrieb, der war besoffen, verliebt, verzweifelt oder dämlich.

»Äh, ja … einen Augenblick …« Paul musste Zeit gewinnen. Aber schön. Wenn sie es unbedingt wollten – einen Blick darauf werfen konnte er ja mal.

Keiner sagte etwas? Paul legte den Stapel wieder vor sich hin. Schob ihn leicht schräg, blickte Stahl herausfordernd an – der aber reagierte äußerlich unbeeindruckt.

»Präambel« stand auf Seite zwei, die füllte allein schon ein ganzes Blatt! Sollte er das wirklich jetzt alles lesen? Paul konnte sich nicht richtig konzentrieren. Ihm war bisher gar nicht aufgefallen, dass eine Uhr im Raum war. »Tock … tock … tock …« Nervtötend!

»Diese Vereinbarung begreift sich als Ergänzung zum … blabla … Hauptvertrag … blabla …«

Die Tür hinter ihm ging auf, Paul drehte sich um. Ah, der Butler brachte den Tee! Das traf sich gut. Erstens war Paul durstig und zweitens … alle waren abgelenkt. Da konnte Paul schnell mal umblättern. Was würde schon drinstehen in der langweiligen, überflüssigen Scheißpräambel? Also Seite drei. Wenn er das jetzt auch gleich überblätterte, fiel es keinem auf. Der Hummelstich juckte. Plötzlich bemerkte Paul den Hirsch. Er hing zwischen den beiden Fenstern zum Park. Genau genommen war es kein ganzer Hirsch, nur der Kopf von einem. Mit einem prächtigen Geweih. Ausgestopft, mit dunkel glänzenden Augen. Hatte der die ganze Zeit schon dort gehangen? Auch schon bei Pauls erstem Besuch hier im Teesalon? Seltsam, dass er ihm erst jetzt auffiel. Seltsam übrigens auch, sich den Kopf eines toten Tiers an die Wand zu hängen. Seltsam und … irgendwie eklig.

Im Teesalon war es wärmer als im großen Saal, doch hielten die dicken Mauern weiterhin die Hitze in angenehmer Weise fern. Es roch nach altem Holz.

Alle sahen aus dem Fenster. Außer Stahl, der konnte ja schlecht. Es gab draußen ohnehin nichts mehr zu sehen außer leerem grünem Rasen in sengender Sonne. Halt, nein … da fuhr ein Mann mit einem Rasenmähertraktor vorbei.

Zurück zum Vertrag. Paul überflog eine neue Seite und blieb ausnahmsweise doch an einigen Formulierungen kleben. Da ging es um den Schüler, den der Blogger vorhin in der Pressekonferenz für tot gehalten hatte? Sein Name war … Hugo Rutland! Eine zufällige Namensgleichheit? Unwahrscheinlich. Es hätte sich angeboten, Dr. Lara Wanek hier und jetzt einfach danach zu fragen. Oder Sir Evelyn? Ob der erkrankte Schüler etwa mit ihm verwandt sei? Doch Paul hatte das Gefühl, es könnte unangemessen sein, in dieser Runde einfach so nach dem Jungen zu fragen, dem immerhin fast zwei Seiten Text in einem klein gedruckten Vertrag gewidmet wurden. Einem Jungen, der mit einer rätselhaften Erkrankung in der Neustädter Klinik lag. Einer Erkrankung, die staatsanwaltliche Ermittlungen und eine große Pressekonferenz ausgelöst hatte. Paul hatte die Vermutung, dass dieser Babik nicht wusste, dass dieser Junge Hugo Rutland hieß … noch nicht. Ob der Hirsch es wusste? Er blickte irgendwie wissend. Was der hier in diesem Raum wohl schon so alles beobachtet hatte? Andererseits wäre es Paul im Augenblick lieber gewesen, wenn der Hirsch vielleicht einmal für ein paar Minuten woandershin starrte, nicht die ganze Zeit nur zu ihm. Höflich war das nicht gerade. Aber die Toten müssen nicht mehr höflich sein. Das galt auch für tote Tiere. Wo wohl der Rest des Hirschs hingekommen war, nachdem man den Kopf abgeschnitten hatte? Vermutlich Gulasch?

»Unterfertigter wird jedwede Art von Kontaktaufnahme zu Hugo Rutland unbedingt und unter allen Umständen unterlassen«, las Paul weiter. »Unterfertigter« – damit war er selbst gemeint. Wunderbare Juristenbegriffe.

Dann eine ganze Litanei dazu, welche Form der Kontaktaufnahme zu dem jungen Hugo »Unterfertigter« insbesondere zu unterlassen habe, nämlich die unmittelbare, die direkte, die persönliche sowie auch jede mittelbare, beispielsweise durch Klinikpersonal, auch nicht fernmündlich oder per E-Mail, SMS, über soziale Netzwerke oder vergleichbare elektronische Kommunikationsmittel. Weiter wurde festgelegt, dass Paul auch keinen Dritten über Hugo Rutland befragen durfte. Nicht einmal einen Vierten oder Fünften. Weder für den Schüler selbst hatte er sich zu interessieren noch für seine Erkrankung noch für deren Ursache oder für die Art seiner Behandlung, deren Dauer oder Erfolg.

Paul sollte sich also mit Hugo Rutland nicht beschäftigen. Das hatte er begriffen.

Der Dirigent verlor sichtlich die Geduld. Sein Blick schweifte unstet durch den Raum, seine rechte Hand wanderte in sein Sakko und zog ein schönes silbernes Etui aus einer Innentasche. Fasziniert beobachtete Paul, wie die langen, schlanken Finger es geräuschlos aufklappten und eine Zigarette herauspickten. Er würde doch nicht … hier drin?

Rutland nahm die Zigarette jedoch nicht in den Mund, sondern ergriff sie mit den Fingern der rechten Hand, wie einen Stift. Dann begann er, ganz sacht, mit dem Filter auf den Tisch zu klopfen. Wie ein Telegraf: »Tam – tatata – tam – tatata – tap-tap – tam – tatata – tam – tatata – tatata-tatata.«

Es war nicht besonders leise. Es nervte sogar ungeheuer!

Dr. Wanek schlürfte wieder ihren Tee. Stahl tat es ihr gleich. Beide lächelten Paul über den Tassenrand hinweg säuerlich an. Jaja! Er war ja gleich durch!

Was sollte das eigentlich werden? Was für eine Art von Ermittlung war das, bei der er sich vertraglich umfassend verpflichtete, den interessantesten Teil des Rätsels zu ignorieren? Ohne den Jungen gäbe es diesen ganzen Wirbel hier nicht. Also lag es nahe, bei Hugo Rutland mit den Nachforschungen zu beginnen! Seine Patientenakte einzusehen, seine Freunde zu befragen, mit seinen Eltern zu sprechen …

»Tam – tatata – tam – tatata – tap – tap …«

Moment mal … Paul kannte den Rhythmus, den Rutland da mit seiner Kippe trommelte. Natürlich, das war Ravels Boléro! Die Hymne dieses Hauses. Vermutlich probte der Dirigent das Werk gerade mit seinen Schülern für das von Cornelius angepriesene Sommerkonzert. Und jetzt ging ihm der hypnotisierende Takt nicht mehr aus dem Kopf? Paul auch nicht. Zumal das »Tock … tock …« der großen Uhr sich perfekt hineinfügte. Hinter ihm stand stumm der Butler und stierte ihm über die Schulter.

Herr im Himmel! So kann doch kein Mensch arbeiten! Mit einem leichten Anflug von Hysterie blätterte Paul nun energisch die letzten Seiten um … Ausführungen zu Gesprächen mit Lehrern, Regeln für Gespräche mit Schülern … Konventionalstrafe bei Vertragsverletzung … strafrechtliche Verfolgung wegen Geheimnisverrat … Endlich kam die Seite mit den Unterschriften. Die las Paul nicht mehr. Würde er alles in Ruhe zu Hause machen. Er hatte da einiges anzumerken!

Er blickte auf und wollte den Vertrag gerade von sich wegschieben und dabei etwas unverbindlich Freundliches sagen, da stand Stahl auf, lehnte sich über den Tisch und reichte ihm einen im Sonnenlicht grell aufblitzenden Stift.

Der goldene Füller, penetrant vor Pauls Gesicht.

Das war ja wohl ein schlechter Witz? Ganz sicher würde er jetzt nicht sofort unterschreiben!

Doch während Pauls rationaler Geist berechtigt rebellierte, hob sich sein irrationales Gesäß fast wie von selbst vom Stuhl. Seine tumbe Hand griff zombiehaft nach dem Stift. Paul konnte gar nicht recht sagen, wie es dazu kam. Er sank zurück in seinen Stuhl. Und wie von Geisterhand erschien nun seine Unterschrift in satter blauer Tinte über dem eigens dafür vorgesehenen Strich auf der letzten Seite des Vertrags.

Ehe Paul sich versah, stand der vermaledeite Butler neben ihm und grapschte nach dem Dokument. Trugen Butler nicht Handschuhe? Dieser Archer trug jedenfalls keine. Seine großen, kräftigen Hände umklammerten das Papier, er trug es hinüber zu Rutland, der deutete mit dem Kopf in Richtung Stahl, und so warf der Butler dem Anwalt die Beute vor. Genau genommen legte er das Dokument fein säuberlich im rechten Winkel vor dem Advokaten auf den Tisch. Korrigierte es noch einmal mit dem Zeigefinger.

Im selben Moment katapultierte Rutland seine taktgeplagte Zigarette in den Mund, schnellte von seinem Stuhl hoch, sagte etwas, das entfernt an »Thank you …« erinnerte, und noch ein paar weitere unverständliche Vokabeln verschluckend verschwand er hinaus in den Flur.

Paul war sich sicher: Jetzt hatte er ihm zugezwinkert, der Hirsch!

TAMI1986

Schau mal in den Spiegel, Arschfresse! Ist echt traurig, dass du blöde Kackbratze nie im Leben eine Frau finden wirst, die nicht eine genauso behinderte Fresse hat wie du. 01:51

Dr. Lara Wanek begleitete Paul über die Marmortreppen hinunter in Richtung Ausgang. Jetzt, da die Pressemeute fort war, machten sich die Schüler wieder im Schloss bemerkbar. Typische Klassenzimmergeräusche drangen durch geschlossene Türen in die Flure. Und Musik. Hier ein Klavier, dort ein Cello. Zwei kleine Jungs schoben einen Videobeamer auf einem Wägelchen und grüßten die Schulleiterin und ihren Begleiter im Vorbeigehen leise und ehrfürchtig. Quiek-quiek-quiek machten die Räder und klack-klack-klack, bei jeder Marmorfliese.

Paul hörte genau, wie die Kerlchen, als sie an ihnen vorbeigefahren waren, immer langsamer schoben. Quieeeek-Quieeek … klack … klack … sich dann zu ihnen umdrehten und ihm nachstarrten. Paul drehte sich ebenfalls um und starrte zurück. Fein geschnittene, dunkelblaue Anzüge, weißes Hemd und blaurot gestreifte Krawatten. Die jungen Herren am KIR trugen Uniform. Nur die Schüler des Abiturjahrgangs waren davon befreit.

Quiek-quiek-quiek, klack-klack-klack, die Kerlchen beschleunigten wieder und verschwanden um eine Ecke. Paul hörte, wie ihr lautes Lachen in den Gängen widerhallte. Kinder eben. Verfluchtes Pack.

Lara Wanek redete nicht. Dennoch war sie erkennbar gut gelaunt. Nach der Pressekonferenz war ganz offensichtlich eine ungeheure Belastung von ihr abgefallen. Man merkte es an ihrer Mimik, an ihren Schritten. An ihrer Stimme. Sie schlenderte mehr durch die Gänge, als dass sie ging. Eigentlich war sie nicht nur gut gelaunt, sie war regelrecht aufgekratzt. Überdreht. Einmal glaubte Paul zu beobachten, wie sie spielerisch beim Vorbeigehen an einem Fenster den Zeigefinger über den schweren Vorhangstoff gleiten ließ. Ganz sicher war Paul sich aber nicht. Der Vorhang wackelte jedenfalls.

Ihr Po auch. In der schwarzen Anzughose zeichnete er sich deutlich ab. Deutlich und prachtvoll, fand Paul, behielt es aber für sich.

Auch Paul spürte die Erleichterung, wenngleich er sich das nicht ganz so ekstatisch anmerken ließ. Während sie gemeinsam durch die Flure spazierten, blickte die Schulleiterin immer wieder neugierig zu ihm herüber, ohne etwas zu sagen. Er tat so, als bemerke er es nicht. Ihm fiel selbst nichts Schlaues ein. Obwohl er wirklich gern mit ihr geplaudert hätte.

Er spürte, dass ihr Blick wesentlich wohlwollender war als bei ihrer ersten Begegnung an diesem Vormittag. Paul hatte die Hoffnung, dass der Hummelstich vielleicht langsam abklang und sein normales Aussehen nach und nach wieder zum Vorschein kam. Was das betraf, fand er nämlich, dass er kein gänzlich unattraktiver Vertreter seiner Branche war. Der Dreitagebart stand ihm doch recht gut, oder?

»Sie ähneln Oscar sehr!«

Das kam jetzt überraschend! Sie kannte ihn? Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Aber es war naheliegend. Sie war in Neustadt sicher eine der eher prominenten Persönlichkeiten. Genau wie Oscar es gewesen war. Da lief man sich häufiger über den Weg. Neujahrsempfänge, Beerdigungen … War sie bei Oscars Begräbnis da gewesen? Es gab noch einen weiteren, fast zwingenden Grund, warum diese Frau und Oscar Colossa sich gekannt haben mussten: Sie war einfach wahnsinnig attraktiv! So eine war Oscar sicher nicht ausgekommen. War die private Bekanntschaft der beiden am Ende der Grund dafür, dass man Paul als Sonderermittler gewählt hatte? Wenn schon nicht Oscar, dann wenigstens seinen Erben? War das schmeichelhaft? Eher nicht … Und flirtete Lara Wanek gerade in Wahrheit vielleicht gar nicht mit Paul, sondern mit einem, der Oscar »sehr ähnelte«, auch wenn das wirklich kaum zutraf?

Es gab mehrere Ein- und Ausgänge zum Schloss. Sie befanden sich nun im Erdgeschoss, unter dem Ballsaal der Pressekonferenz. Aus einem geräumigen Vorraum konnte Paul durch zwei gläserne Flügeltüren in einen ebenfalls ziemlich großen Saal blicken, der sich hier unten verbarg.

»Unser Refektorium.« Dr. Wanek hatte Pauls Neugier bemerkt und stieß einen der beiden Türflügel auf. Sie traten zusammen ein. Drei lange Tischreihen mit Stühlen endeten am anderen Ende des Raums an einer erhöhten Stufe. Dort, im rechten Winkel zu den Tischreihen, wie ein Richterpult, der Lehrertisch. Paul fühlte sich an einen Schwurgerichtssaal erinnert.

»Hier speisen die Schüler und das Lehrerkollegium gemeinsam. Nachmittags gibt es Tee und Gebäck. Mittags und zum Abendessen herrscht silentium. Das ist sehr angenehm, wenn man sich beim Essen nicht unterhalten muss.«

Lara Wanek lächelte Paul an. Dieses Lächeln! Es war ganz anders als jeder der bisherigen Gesichtsausdrücke, den er an ihr wahrgenommen hatte. Bislang war sie wie ein zugefrorener See gewesen, funkelnd unter kalten Sternen. Wirklich sehr schön, aber … ein wenig lebensfeindlich. Nun war das Eis aufgetaut, und Sonnenlicht glitzerte auf sanften Wellen.

Sie war auf einmal so privat. So normal. So natürlich. So ungeheuer sympathisch. Und so ungemein hübsch mit ihren braunen Strahleaugen. Paul ging regelrecht das Herz auf, als er hineinblickte. Eigentlich wollte er gar nicht mehr daraus auftauchen. Aber es blieb der eifersüchtige Stachel des Zweifels: War er für sie nur ein billiges Oscar-Surrogat?

Jäh und etwas linkisch wandte sie das Gesicht ab und blickte beschämt zu Boden. Süß. Wie alt war die Frau denn nun? Nur dieses Exaltierte, das Aufgekratzte irritierte Paul ein wenig. Was war nur los mit ihr?

Paul versuchte es jetzt doch mit Konversation: »Ist es nicht ein bisschen langweilig, so still zu essen? Schüler reden doch ziemlich gern, oder? Ich meine, es sind Jungen. Bei Mädchen wäre es vermutlich regelrecht eine Folter! Aber sogar kleine Männer haben sich zwischen den Unterrichtsstunden bestimmt mal was zu erzählen?«

Die Wanek kicherte. »Nein, wirklich gar nicht! Die Schüler mögen es. Es ist ja auch nicht richtig still. Manchmal hören wir gemeinsam Musik. Ansonsten wird meistens vorgelesen. Im Moment lesen wir eine Biografie von … na wie heißt er denn …?« Lara Wanek eilte, rannte fast, übermütig zwischen den Tischreihen hindurch, nach vorn zu der breiten Lehrerbank. Daneben stand ein hölzernes Pult, ein wenig an eine Kanzel erinnernd, mit einem Mikrofon und einer Leselampe. Sie holte ein Buch darunter hervor: »Da ist er ja. Mandelbrot. Klingt lecker, ist aber ein Mathematiker!« Wieder kicherte sie. »Kennen Sie den?« Sie war ein wenig außer Atem und lachte über das ganze Gesicht. Das war doch nicht dieselbe Person, die vorhin auf dem Podium gesessen hatte?

»Klar, kenn ich!«, rief Paul ihr durch den Raum zu. »Apfelmännchen, fraktale Geometrie, Chaostheorie, stimmt’s?« In Pauls Wohnung hing ein Bild vom Apfelmännchen. Oscar hatte es ihm als Kind erklärt. Aber Paul hielt es jetzt doch für klüger, Oscar unerwähnt zu lassen, nachdem dessen Präsenz hier sowieso das Maß des Unerträglichen fast zu überschreiten drohte.

»Ja, genau! Lustig, dass Sie das kennen! Ich hatte nie vorher davon gehört!« Sie verstaute das Buch wieder im Lesepult. Oscar hatte ihr Mandelbrots Apfelmännchen in der Wohnung also nicht gezeigt? Ein gutes Zeichen … Vielleicht irrte Paul sich einfach?

»Ich muss aufpassen, dass das Lesezeichen nicht verrutscht. Damit es gleich beim Mittagessen da weitergeht, wo wir aufgehört haben. Sonst gibt’s Tumult!« Erneut kicherte sie. Als sie, nun wieder mit etwas würdevollerem Schritt, zu ihm zurückkam, fragte sie ihn schon auf halber Strecke: »Möchten Sie zum Mittagessen bei uns bleiben? Vielleicht lernen Sie was Neues über die Chaostheorie! Heute gibt es eine Gemüsesuppe und dann Apfelstrudel mit Vanilleeis.«

»Das ist sehr nett, demnächst gerne einmal, aber ich muss wirklich dringend in die Kanzlei. Wenn ich mich dort nicht langsam sehen lasse, ist das Chaos bald keine Theorie mehr. Aber ich habe gesehen, dass Sie Kopfschmerztabletten dabeihaben, davon würde ich gerne eine …«

Lara Wanek blickte ihn entgeistert an. »Was habe ich?« Ihre Augen flackerten kurz, wie weggetreten. »Nein, das ist, das sind …« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Davon kann ich Ihnen keine geben.«

Das hatte jetzt aber fast ein bisschen unhöflich geklungen. Dann eben nicht. Vermutlich Frauenkram. Hormonpräparate oder so was? Paul bohrte nicht weiter nach. Er würde einfach Fräulein Christiane fragen.

Sie verließen gemeinsam das Schloss durch eine Tür unterhalb der Treppe, über die Paul den Ballsaal am Morgen betreten hatte, und standen nun blinzelnd im heißen Sonnenlicht auf der Kiesfläche. Insekten summten laut vorbei. Sicher auch Hummeln. Paul fröstelte. War Hummelflug nicht auch so ein Musikstück? Besser nicht danach fragen. Hier konnte jede dilettantische Anspielung auf klassische Musik nur zur peinlichen Offenbarung von Wissenslücken führen. Lieber kurz unauffällig am Kinn kratzen.