Gilles' Frau - Madeleine Bourdouxhe - E-Book

Gilles' Frau E-Book

Madeleine Bourdouxhe

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Beschreibung

»Wenn er kommt, steht sie immer regungslos da, ein wenig verstört, so dass er auf sie zugeht und sie sanft auf die Stirn küsst.« Elisa und Gilles sind glücklich, die Rollen klar verteilt. Liebe bedeutet für Elisa: Ehefrau zu sein. Sie wohnen mit ihren kleinen Zwillingstöchtern in einer Arbeitersiedlung am Rande einer Industriestadt, und jeden Abend wartet Elisa sehnsüchtig auf ihren Mann. Doch ausgerechnet ihre jüngere Schwester Victorine verdreht Gilles den Kopf. Elisa, die hochschwanger ist, kommt schnell dahinter, nimmt seine Untreue hin, demütigt sich, wird gar zur Komplizin seiner Begierde, bis Victorine ihn verlässt. Als Elisa schließlich klar wird, dass sie nun ihrerseits Gilles nicht mehr liebt, kapituliert sie. Ein meisterhafter Roman über die zerstörerische Kraft absoluter Liebe.

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Aus dem Französischen von Monika Schlitzer

Mit einem Nachwort von Faith Evans

Die französische Originalausgabe erschien 1937 unter dem Titel La Femme de Gilles bei Éditions Gallimard in Paris, die deutsche Erstausgabe 1996 im Piper Verlag in München.

E-Book-Ausgabe 2017

© 2017 Marie Muller

© 2017 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Umschlaggestaltung Julie August. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4224 5

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2779 2

http://www.wagenbach.de/

EINS

»Fünf Uhr … Er wird bald heimkommen«, denkt Elisa. Und kaum hat sie das gedacht, ist sie zu nichts mehr fähig.

Sie hat den ganzen Tag geschrubbt, gewaschen, poliert, sie hat zum Abendessen eine dicke Suppe gekocht – es ist in dieser Gegend nicht üblich, abends viel zu essen, aber er braucht es, da er mittags in der Fabrik nur Brot und Ei hatte. Und jetzt hängen ihre Arme schlaff herunter und sind selbst zum Tischdecken zu schwer. Eine Welle der Zärtlichkeit ergreift sie wie ein Schwindel. Sie ist zu keiner Bewegung mehr fähig und muss sich schwer atmend mit beiden Händen an der Messingstange des Küchenherds festklammern.

Es ist jeden Tag dasselbe, ein paar Minuten bevor Gilles nach Hause kommt. Elisa ist nur noch ein kraftloser Körper, der in Liebe vergeht, vor Sehnsucht zerfließt. Sie wartet mit jeder Faser ihres Wesens. Sie will ihm entgegenstürzen, um ihn in ihre Arme zu schließen. Doch beim Anblick des stattlichen, muskulösen Körpers, der plötzlich im Cordanzug im Türrahmen erscheint, verlässt sie die letzte Kraft.

Wenn er kommt, steht sie immer regungslos da, ein wenig verstört, sodass er auf sie zugeht und sie sanft auf die Stirn küsst.

»Hast du die Kinder gesehen? Sie wollten dir entgegengehen.«

Er zieht seine Jacke aus, fährt sich mit seiner schwieligen Hand durchs Haar und setzt sich. Sein Hemd öffnet sich, und die nackte Haut darunter wird sichtbar. Er kratzt sich ein wenig an der Stelle, wo man die Brusthaare sieht.

Er antwortet: »Nein. Sie sind bestimmt mit den anderen zum Spielen auf die Wiese gegangen. Wir haben doch hier auch ein Stückchen Rasen; aber Kindern gefallen fremde Gärten immer besser als der eigene.«

»Ich mache mir keine Sorgen … Es ist nur wegen des Samstagsbades. Ich habe den großen Zuber vorbereitet. Die Sonne hat das Wasser erwärmt.«

Sie nähert sich ihm, atmet den starken Geruch von Schweiß, Eisen, Öl, Arbeit ein, der seiner Kleidung entströmt – Gilles’ Geruch. Sie reibt ihre weiche Wange an seinem Gesicht, das unrasiert ist – Gilles’ rauhe Haut … Gilles’ Haare … Gilles’ Mund … Gilles’ Augen …

»Gilles«, sie spricht seinen Namen aus wie ein kurzes, feuchtes Raunen, das Wasser fließt ihr im Mund zusammen, benetzt ihre geschwungenen Lippen, bildet manchmal in den Mundwinkeln zwei winzige Perlen.

Sie geht zum Herd zurück und hebt den Topfdeckel ein wenig an, damit sich der Duft der Suppe verbreitet. Gilles schnüffelt mit männlichem Heißhunger und seufzt verliebt bei dem Gedanken an den bevorstehenden Genuss. Elisa lacht.

»Es ist zwar noch zu früh«, sagt sie, »aber, hier!«

Sie reicht ihm etwas mit Zucker bestäubten Reiskuchen und sieht ihm zu, wie er ihn mit drei Bissen hinunterschlingt.

Gilles wischt sich mit einer ausladenden Handbewegung den Mund ab und gießt sich vor dem Herd eine Tasse Kaffee ein.

Seine derbe Arbeiterhose hält ohne Gürtel auf seinen kräftigen Hüften. Er ist groß, sehnig und stark wie die meisten Arbeiter in dieser Gegend, doch seine schönen Augen unterscheiden ihn von allen anderen.

Im Garten beugt Elisa ihren hübschen, schweren Körper über den Zuber; das Wasser ist angenehm lauwarm. Sie hat ihre nackten Arme hineingetaucht, um die Temperatur zu prüfen, und überlässt sich jetzt ein wenig der wohltuenden Sanftheit. Sie sieht ihr Spiegelbild, das durch den Reflex der Sonne überstrahlt wird. Wenn sie ihren Kopf ein Stück zur Seite neigt, taucht sie in einen Schattenstreifen, und ihr Spiegelbild wird klarer: Ihr Gesicht ist lang und voll, ihre Züge sind regelmäßig, ihr Haar dunkel und schimmernd. Ist es nicht merkwürdig, dass eine Frau aus dem Norden so spanisch wirkt?

Sie richtet sich auf, legt die nassen Hände an die Lippen und ruft die Kinder.

Sie lächelt Gilles zu, der am Fenster steht und in den Garten sieht. Er liebt diesen schmalen, langen Streifen Erde, den er an den Sonntagen im Frühjahr umgegraben und bepflanzt hat. Er hat auch das Taubenhaus aus rosaroten Ziegeln gebaut, die Hecke aus Johannisbeersträuchern gesetzt und den Bach, der den Garten längs durchquert, mit Steinbrocken eingefasst.

Als sie das Haus zum ersten Mal besichtigt haben, konnte er sich nicht entschließen, es zu mieten; doch dann entdeckte Elisa den kleinen Bach. Damals hatte sie noch eine Figur wie ein junges Mädchen, und Gilles beobachtete sie, als sie zum Wasser lief und ihre kleinen, festen Brüste in ihrer Bluse hüpften. Bei diesem Anblick erfüllte ihn auf einmal ein solches Glücksgefühl, dass er sich sofort entschied.

Das Haus gefällt ihm auch. Zwei Zimmer im Erdgeschoß, zwei Schlafzimmer im ersten Stock und unter dem Dach ein großer Speicher, der durch niedrige Fenster erhellt wird.

Gilles wendet sich um, weil er die Kinder in die Küche kommen hört, kleine blonde Zwillinge, brave, schüchterne Mädchen. Er hebt die Kleinen hoch, setzt sie sich auf die Knie und bläst ihnen in die Augen, um sie zum Lachen zu bringen. Es verwirrt ihn immer ein wenig, wenn er die beiden langen, blinzelnden Wimpernpaare so dicht vor sich sieht, und er sagt zärtlich: »So ein Glück, zwei kleine Mädchen wie euch zu haben.«

Elisa ist hereingekommen, um die Kinder zum Baden zu holen. Gilles atmet noch einmal tief den Duft der Suppe ein. Bald wird das Essen auf dem Tisch stehen. Morgen ist Sonntag, und er muss nicht zur Arbeit. Sein Körper stellt sich langsam auf die Ruhepause ein. Nach dem Aufwachen wird er Elisa lieben, wie immer am Sonntagmorgen: Man hat viel Zeit und ist nicht erschöpft von einem langen Arbeitstag. An den anderen Tagen bleibt wenig Platz für die Lust, und kommt es doch gelegentlich vor, so geschieht das auch am Morgen, in den Wochen, in denen er in der Fabrik Nachtschicht hat: Wenn er im Morgengrauen durch den Nebel nach Hause geht, sieht Gilles um sich herum die große Kraft des Tages aufkeimen, und bevor er in der künstlichen Nacht versinkt, die für ihn auf die echte folgt, hat er Lust, sich auch seinen Teil des Lebens zu nehmen. Dann beeilt er sich, nach Hause zu kommen, bevor Elisa aufsteht.

Sie wartet auf ihn, übermüdet nach einer schlaflosen Nacht. Sie schläft immer schlecht, wenn er nicht da ist. Fügsam und nachgiebig lässt sie sich nehmen, fasziniert von der Freude, die das Gesicht über ihr erhellt. Und wenn Gilles dann mit primitivem männlichem Stolz ungeschickt fragt, ob es für sie auch gut war, antwortet sie vollkommen aufrichtig; denn sie kann sich kein größeres Glück vorstellen, als Gilles glücklich zu machen.

Dann steht sie auf und macht ihm Butterbrote und Kaffee, damit er so schnell wie möglich schlafen kann. Wenn sie ihm das Frühstück bringt, wirft sie ihm verstohlen einen zärtlichen und verschämten Blick zu: Sittsam, wie sie ist, geniert sie sich ein wenig, dass sie sich am hellichten Tag lieben, im Angesicht der reinen, klaren Morgensonne. Sie geniert sich, dass sie sich zu solchen Zärtlichkeiten hinreißen lässt.

Gilles lehnt sich wieder aus dem Fenster. Er denkt an nichts und an eine Menge winziger Kleinigkeiten. Morgen ist Sonntag … Der Duft der Suppe steigt ihm noch immer in die Nase … Die Blumen im Garten sind schön. Wie angenehm das Leben doch ist.

Er sieht Elisa zu, wie sie im Licht der untergehenden Sonne seine beiden nackten kleinen Töchter badet, und Frieden erfüllt ihn.

ZWEI

Elisa hatte die Kinder auf den Tisch gesetzt, um sie für die Nacht zurechtzumachen.

»Da war jemand am Gartentor«, sagte sie und sah aus dem Fenster. »Ach! Es ist Victorine.«

»Du kommst gerade noch rechtzeitig, um den Kleinen einen Gutenachtkuss zu geben«, sagte sie zu dem eintretenden Mädchen. »Ich wollte sie eben ins Bett bringen. Du bleibst doch ein paar Minuten? Ich komme gleich wieder herunter.«

Sie nahm eins der Mädchen auf den Arm, schob das andere vor sich her und stieg langsam und ein wenig kurzatmig die Wendeltreppe ins obere Stockwerk hinauf.

Gilles füllte bedächtig seinen aus einer Schweinsblase gefertigten Tabaksbeutel.

»Schöner Tag!«, sagte er zu Victorine.

»Ja, stimmt«, antwortete sie. »Hier draußen geht’s. Wir sind ja schon ein bisschen auf dem Land … Aber in der Stadt erstickt man … Und es ist kein Vergnügen, den ganzen Tag in einem Geschäft eingesperrt zu sein.«

Sie setzte sich Gilles gegenüber schräg an den Tisch, nahm ein Rabattmarkenheft, das Elisa dorthin gelegt hatte, und fing mechanisch an, die Marken einzukleben.

Das Verlangen entsteht ganz plötzlich, aus dem Nichts. Gilles sah den kleinen roten Mund, der sich alle paar Sekunden öffnete, um eine spitze, lange Zunge herauszulassen, die zwei Finger mit einem kleinen quadratischen Papierchen ableckte. Sprachlos sah er zu, ohne sich zu rühren. Oft hatte er ein spontanes Begehren gespürt, wenn er Elisa ansah, doch es war eine Begierde gewesen, die sich ganz langsam und angenehm steigerte. Dieses Mal war es, als würde sein nackter Körper von einer Panik erfasst, er hatte den Eindruck, das Blut ließe seinen Kopf bis zum Platzen anschwellen.

Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. »Also wirklich. Das ist doch Victorine … Ich kenne sie seit Jahren … Schon als kleines Mädchen mit einem Zopf auf dem Rücken und später mit einem Knoten … Es ist nur die kleine Torine.«

Aber es nützte alles nichts, spielte überhaupt keine Rolle mehr. Während sie weiter ihre Marken aufklebte, war es ihm, als sähe er diese sich öffnenden Lippen, diese Zunge, die sich hervorschob und wieder zurückzog, zum ersten Mal. Er erhob sich, ging um den Tisch herum und stützte sich auf die Herdstange. Dort stand er völlig reglos und starrte Victorine mit riesigen Augen an.

Reiß dich zusammen, Gilles, bis jetzt ist noch nichts geschehen … Ein starkes männliches Begehren, das so unvermittelt aus der Mitte des Fleisches entspringt und von keinem Gedanken geleitet wird, ist nicht schlimm. Das Wichtigste ist, dem keine Beachtung zu schenken und es wie es gekommen ist, auch wieder verschwinden zu lassen.

Aber in diesem Moment hob das kleine Biest den Kopf: Sie gehörte zu denen, die sofort begreifen und sich keine Gelegenheit entgehen lassen.

Viele Mädchen sind ganz von ihren Gefühlen bestimmt. Bei Victorine verdrängte das Sexuelle alles andere. Sie war einfach so, sie konnte nichts dafür, das arme Mädchen. Aber trotzdem ist es abscheulich, so zu sein.

Sie schlug die Beine übereinander und streckte sich genüsslich mit einem merkwürdigen kleinen Seufzer, als wäre sie müde. Blitzschnell prüfte sie Gilles’ Reaktion, klappte das Rabattmarkenheft zu, stand auf und ging zu ihm. Sie sah ihn an: Er war ein gutaussehender Mann.

Männliche Beine … ein männlicher Oberkörper … männliche Schultern … Sie presste sich mit ihrem ganzen Körper an ihn.

Mit fünf Sekunden Verspätung begriff Gilles, dass er den kleinen roten Mund haben konnte; beim Küssen bemerkte er einen leichten Klebstoffgeruch.

Seine Beine zitterten. Er war unfähig, sich zu rühren, als er Elisa die Treppe herunterkommen hörte, doch Victorine ließ sich geschmeidig auf ihren Stuhl gleiten und fing an, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln und eine bekannte Melodie zu trällern.

»Sie wollten heute einfach nicht einschlafen«, sagte Elisa.

Sie beugte sich hinunter, um den Kohlenkasten herauszuziehen, doch Gilles’ Beine waren ihr dabei im Weg. Sie verharrte mit ausgestreckter Hand und wartete, dass er zurücktrat. Ihr Blick wanderte den großen bewegungslosen Körper hinauf: Gilles’ Beine … Gilles’ Brustkorb … Gilles’ Schultern … Sie lächelte, als sie sein ausdrucksloses Gesicht sah, die leeren Augen.

»Was hast du? Geh schon zur Seite, du Nichtsnutz!«, sagte sie lachend und gab ihm, der für sie der einzige Mann auf der Welt war, einen dicken, schmatzenden Kuss auf die Wange.

»Bleibst du zum Essen?«, fragte sie Victorine.

»Von mir aus«, antwortete das Mädchen und erhob sich, um Elisa beim Tischdecken zu helfen.

Sie setzten sich zu dritt an den Tisch. Gilles aß seine Suppe, ohne ein Wort zu sagen. Victorine erzählte eine lange Geschichte über die Kassiererin des Geschäfts, in dem sie arbeitete. Elisa hörte ihr mit ruhigem Herzen zu und aß dabei mit gesundem Appetit. Gilles nahm sich ein wenig von den Kartoffeln mit Speck, aber er konnte seinen Teller nicht leer essen.

»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Elisa. »Soll ich dir ein paar Eier machen?«

»Nein, ich habe keinen Hunger … Ich fühle mich nicht ganz wohl …«

Sie sah ihn beunruhigt an.

Er spürte Victorines Bein, das sich an seinem rieb. Er hatte das Gefühl zu ersticken; auch die Nachtluft, die durch das geöffnete Fenster hereinkam, brachte keine Abkühlung.

Wenn eine von beiden aus dem Zimmer ginge, würde ich mich besser fühlen, dachte er.

Aber als Victorine fort war, sah er sich um: der Tisch … die Stühle … der Kalender an der Wand … die Uhr … Es ist doch alles wie immer … Nein, er konnte es nicht zulassen.

Er verharrte einige Minuten schweigend; zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Lärm oder Stille die Dinge unterschiedlich erscheinen ließen. Er dachte: Diese Stille ist schwer wie Blei. Sie war ihm unerträglich, deshalb sagte er unvermittelt: »Ich gehe mal runter und sehe nach den Tauben.«

»Jetzt?«, fragte Elisa.

Das tat er sonst nie um diese Uhrzeit, aber warum nicht.

»Na gut, dann geh«, sagte sie, »aber du wirst sie aufwecken.«

Er ging hinaus und an der Tür des Taubenhauses vorbei, bog nach rechts um die Hausecke, stieg die Betonstufen zum Gartentor hinauf und beugte sich hinaus. Eine weiße Bluse sieht man auch in der Dunkelheit. Nein, es war niemand auf der Straße. Er ließ seinen Blick forschend bis in die hinterste Ecke des Gartens schweifen. Langsam stieg er die Stufen wieder hinunter. Dann lehnte er sich ein wenig an die Hausmauer und murmelte: »Was ist denn bloß mit mir los?«

Er schob die Tür des Taubenhauses auf. Er liebte diesen Korn- und Federgeruch; heute Abend sog er ihn nicht mit derselben Freude ein wie sonst. Mechanisch rieb er ein Streichholz an: Er schaute, ohne etwas zu sehen.

»Was ist? Gehen wir jetzt schlafen, Liebster?«, rief Elisa ihm von der Haustür aus zu.

Er wandte sich zum Gehen, zog an der Kette der Gaslampe und tastete sich auf Elisa zu, die ihn auf den untersten Treppenstufen erwartete. Sie gingen nach oben wie jeden Abend, Elisa voran, einen Arm nach hinten abgewinkelt, mit dem sie sich an Gilles’ Schulter festhielt.

DREI

»Aber nein, es ist nichts … Wahrscheinlich habe ich mich verändert … Immerhin … Er macht schließlich die Einkäufe … dann die Gewerkschaft … Er bringt Mutter den Kaffee … Es wird eher an mir liegen … an meinem Zustand.«

Elisa war an der vierten Betonstufe angekommen. Wie bei den anderen kratzte sie zuerst den Schnee weg, schob ihn zu einem kleinen Haufen auf die linke Seite und entfernte dann mit einer Bürste den Rest. Sie kniete sich auf den sauberen Beton und machte sich an die fünfte Stufe.

»Und noch eins höher … auf zur nächsten.« Sie richtete den Oberkörper auf, stützte ihre linke Hand in den Schnee und betrachtete den Abdruck des Nagelschuhs. Ihre Gesichtszüge wirkten angespannt, so als hätte sie Mühe, Luft zu bekommen. »Liebes kleines Herz …« Sie hatte nicht gesprochen, ihre Lippen hatten diese Wörter lautlos geformt.

Wieder eine Stufe fertig … So, und jetzt … Die große Schneeplatte wegzuschieben ist das Angenehmste … Und dann bürsten … Und wieder ein neuer Haufen … »All die kleinen Häufchen. Ich werde ihn nachher bitten, sie mit der Schaufel wegzuräumen, genau … Und dann wird er wieder so ein Gesicht machen … Also wirklich!« Sie drehte sich um, ließ sich auf einer der schneebedeckten Stufen nieder und blieb dort mit der Bürste in der Hand einen Moment lang sitzen. Sie sah ihn deutlich vor sich, wie er mit ausgestreckten Beinen vor dem Feuer saß, die Füße auf die offene Ofentür gestützt, mit diesem Ausdruck von schläfriger Sattheit im Gesicht, der neu bei ihm war. Im Halbschlaf zuckte sein Kopf unwillkürlich vor und zurück; dann richtete er sich plötzlich auf und schüttelte sich, als wollte er niesen: Sein hübsches Gesicht hatte etwas Zerknittertes, und die Adern auf seiner Stirn sprangen noch mehr hervor als sonst. »Ach, übrigens«, werde ich sagen, »meinst du, du könntest die Schneehäufchen mit der Schaufel wegräumen?« Und er wird sagen: »Ach, wen stören denn diese Häufchen!« Und dann wird er wieder diesen Gesichtsausdruck haben. Er …

Er wird sich gemütlich hinsetzen, die Nase hochziehen, ungeniert in sein Taschentuch spucken und mit gierigem Blick auf einen Punkt im Ofen starren. Ach ja, wen stören denn diese Häufchen.

»Nein, es liegt bestimmt an mir … Alles kommt mir komisch vor … Es liegt an meinem Zustand. War ich denn bei den Zwillingen auch so? Peng! Wieder ein Fußtritt … Seiner Mutter so in den Bauch zu treten … Na! Das wird ein ganz Kräftiger … Ja … Es liegt bestimmt an mir … Auf, weiter geht’s.«

Sie machte sich an die vorletzte Stufe. Vorsichtig stieg sie hinunter und stützte sich an der Wand ab, um in ihren zu großen Holzpantinen nicht auszurutschen. Vor der Haustür zog sie sie aus, nahm sie in die Hand und tappte auf ihren feuchten Strümpfen hinein, die Augen auf ihren aufgeblähten Leib gerichtet, den sie weit herausstreckte. Mit Stolz trug sie dieses neue Gewicht, dieses Geschenk von Gilles’ Körper.

Er kam ein wenig verspätet in Begleitung von Victorine nach Hause.

»Ich habe die Kleine mitgebracht«, sagte er. »Sie hat sich daheim gelangweilt, und weil du kaum noch ausgehst, dachte ich, ich könnte vielleicht heute Abend mit ihr eine Runde drehen.«

»Eine gute Idee«, antwortete Elisa.

Stolz betrachtete sie das junge Mädchen, das so hübsch und frisch aussah, und dachte angesichts ihres eigenen, immer schwerfälliger und unförmiger werdenden Körpers: Es ist ganz gut, dass er mit ihr ausgeht, dann hat er wenigstens ein bisschen Zerstreuung.

Sie schämte sich dafür, dass sie sich am Nachmittag von dieser vagen Unruhe so hatte aus dem Gleichgewicht bringen lassen, und fragte ihn, als wollte sie sich etwas beweisen: »Könntest du bitte die Schneehäufchen wegschaufeln? Ich habe sie auf den Treppenstufen liegenlassen.«

»Natürlich«, sagte er. »Sofort.«

Sie sah ihn mit einem breiten, zufriedenen Lächeln an.

Gilles ging pfeifend hinaus. Er schob die Schaufel unter den ersten Haufen.

»Na, dann werden wir sie eben wegräumen, diese Häufchen … Wenn es ihr Freude macht, das ist mir doch egal.«

Sie hatte schnell das Abendessen auf den Tisch gestellt, damit die beiden keine Zeit verloren.

»Ich habe kaum noch Geld«, sagte Gilles, als sie aufbrachen.

»Warte«, sagte Elisa, »ich werde dir welches geben. Wo geht ihr denn hin?«

»Ach … wahrscheinlich ins Kino.«

Victorine hatte ihre Handschuhe angezogen und den Hut aufgesetzt. Sie war ausgehfertig und stand abwartend dicht neben Gilles, beide Hände auf den Tisch gestützt. Elisa hatte ihnen den Rücken zugewandt und kramte in ihrer Handtasche. Sie hielt das Geld in der Hand und wollte die Tasche gerade wieder schließen, als diese Angst sie plötzlich wieder überfiel. Es war kein vages Unwohlsein mehr, das für einen Moment aufkommt, von dem man sich aber gleich wieder frei machen kann. Es war vielmehr eine drückende, deutliche Angst: Sie betrachtete die vertrauten Gegenstände ihrer kleinen Welt vor ihren Augen und sah dann auf ihre zitternden Hände, die offen auf ihrer Tasche lagen. Doch hinter ihrem Rücken gab es eine andere, eine komplizierte Welt, die sie nicht kannte und die bedrohlich für sie war. Sie fühlte es und war sicher, dass sie recht hatte, aber sie durfte sich nicht plötzlich umdrehen, weil sie sich dann dieser Welt stellen müsste.

Verwirrt durch die plötzliche Einsicht, die ihr die Kehle zuschnürte, ließ sie einen kurzen Moment verstreichen. Dann wandte sie sich langsam um, zuerst das Profil, den Blick etwas abwesend geradeaus gerichtet, dann zu drei Vierteln, bis sie ihnen schließlich gerade gegenüberstand. Sie blickte die beiden an. Sie schienen sich überhaupt nicht gerührt zu haben. Sie standen vor ihr, wie sie sie vor einigen Minuten gesehen hatte, bevor das geschehen war.

Sie näherte sich Gilles und gab ihm das Geld. Sie schien so wie immer. Aber sie wusste, sie würde etwas sagen; noch war ihr nicht klar, was es sein würde – doch es wäre nicht irgendetwas, sondern ein notwendiger Satz, ein Satz, den sie bewusst und gezielt aussprechen würde.

Gilles steckte das Geld in den Geldbeutel und nahm seinen Hut.

»Also dann! Gehen wir?«, fragte er mit einem Blick auf Victorine.

Dann sagte Elisa: »Wenn ich’s mir recht überlege … Ins Kino zu gehen ist doch eigentlich gar nicht so anstrengend … Ich werde Marthe bitten, zu den Kindern zu kommen, und euch begleiten. Wartet einen Augenblick.« Rasch zog sie ihren Mantel über und verließ das Haus, um die Nachbarin zu verständigen, ohne sich auch nur eine Sekunde um die verdutzten Gesichter von Gilles und Victorine zu kümmern.