Auf der Suche nach Marie - Madeleine Bourdouxhe - E-Book

Auf der Suche nach Marie E-Book

Madeleine Bourdouxhe

4,9

Beschreibung

Frankreich vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs: Marie ist dreißig, glücklich verheiratet, von ihren Freundinnen beneidet, weil sie die Einzige sei, die ihren Mann aus tiefstem Herzen liebe. Doch bei einem Urlaub am Meer entdeckt sie, dass ihr diese Liebe nicht reicht. Zu oft fühlt sie sich innerlich einsam. Eines Nachmittags am Strand fällt ihr Blick auf einen jungen Mann. Sie fühlt sich zu dem zehn Jahre Jüngeren hingezogen, und er sich zu ihr. Sie beginnen eine Affäre. Marie empfindet dies weder als Verrat an ihrer Ehe noch als Grund, sich von ihrem Mann zu trennen. Ohne Reue genießt sie ihre erwachte Sinnlichkeit und genießt es, sich in ihr neu kennenzulernen. Mal distanziert beobachtend, mal mit großer emo­tionaler Nähe, immer präzise und zartfühlend, zeichnet Madeleine Bourdouxhe die Psyche einer glücklichen modernen Frau jenseits der Konven­tionen.

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Band 19 der

Madeleine Bourdouxhe

Auf der Suche nach Marie

Roman

Aus dem Französischen von Monika SchlitzerMit einem Nachwort von Faith Evans

© 2013

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing/Hamburg

herausgegeben von Karen Nölle

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Monika Schlitzer

Die Originalausgabe erschien 1943 unter dem Titel »À la recherche de Marie« bei Éditions Libris in Brüssel. Der Roman erschien erstmals auf Deutsch im Piper Verlag 1998.

© The Estate of Madeleine Bourdouxhe 1997

© für das Nachwort dieser Ausgabe: Faith Evans 2013

Lektorat Karen Nölle, Sophia Jungmann

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf

ISBN 978-3-942374-64-4

www.editionfuenf.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

»Etwas vom Leben zu fordern heißt, es von sich selbst zu fordern.«

Die Autorin

Bisher bei uns erschienen

1| »Marie, bist du fertig?«

Ungeduldig stieß Jean die Schlafzimmertür auf. Marie wandte sich brüsk vom Fenster ab und zog geschäftig die Vorhänge zu.

»Ja, ich bin fertig … es ist besser, wenn die Vorhänge zu sind, bei dieser Hitze.«

»Ich warte schon seit einer halben Stunde auf dich.«

Sie sah Jeans ärgerliches Gesicht und folgte ihm wortlos.

Marie hatte sich nicht einmal mehr gekämmt. Als sie ins Schlafzimmer gekommen war, hatte sie durch das geöffnete Fenster auf das Meer hinausgesehen und ein Boot entdeckt. Sie war zum Fenster gegangen, um es besser sehen zu können, hatte den Kopf an den Fensterrahmen gelehnt und war einfach so stehengeblieben. Mit lautem Knattern war der alte Autobus, der das Dorf anfuhr, vorbeigekommen, ein Motorboot hatte mit ohrenbetäubendem Lärm angelegt, eine Gruppe Kinder war schreiend zum Hafen hinuntergelaufen. Das Schiff, das anfangs Maries Aufmerksamkeit erregt hatte, war inzwischen längst außer Sichtweite, und es war wieder still geworden. Vom Boden her stieg ein leichter harziger Geruch auf.

Außer ihnen war niemand im Treppenhaus. Marie legte liebevoll den Arm um Jeans Schultern.

»Bist du mir böse?«

Im Erdgeschoss blieb sie einen Moment vor dem Spiegel im Flur stehen: »Ist wenigstens meine Frisur in Ordnung?«

Der Knoten war etwas nach unten gerutscht, und die braune Strähne hing ihr, wie schon vorhin, viel zu tief über die rechte Schläfe herab.

»Ja. Du hast zwar lange gebraucht, aber du siehst gut aus.«

Sie sagte nichts darauf. Er hatte sie nicht einmal angesehen … Wahrscheinlich hatte er es so eilig, aus dem Haus zu kommen, dass er gar nicht richtig hingeschaut hatte. Aber schließlich hatte sie ihn ja auch eine halbe Stunde warten lassen.

Als sie das Haus verließen, sagte Marie: »Wie schön die Sonne scheint! Besseres Wetter könntest du zum Baden gar nicht haben.«

»Möchtest du denn nicht baden?«

»Ich weiß noch nicht. Ich werd’s dir sagen, wenn ich das Wasser gesehen habe.«

»Das sagst du immer, und dann badest du doch nie.«

Die Straße ist weiß, ausgetrocknet, ohne Schatten. Sie gehen, ohne miteinander zu sprechen, in die Hitze hinaus und auf die andere Straßenseite. In der Sonne ist Maries Kleid etwas durchsichtig, so dass sich ihre langen, sanft gerundeten Beine unter dem Stoff abzeichnen. Das Licht bringt alle Farben in ihrem Haar zum Leuchten: Kastanienbraun, Rot, Blond. Ab und zu blinzelt sie mit den Augen oder runzelt die Stirn und hebt schützend ihre großen, schönen Hände vors Gesicht.

Sie kommen zu einem schmalen, von Zypressen gesäumten Weg, der zum Meer hinunterführt. Dicht nebeneinander gehen sie auf der rechten Seite des Wegs im mageren Schatten der jungen Bäume. Maries Haar hat jetzt wieder einen einheitlicheren Farbton, ihr Gesicht entspannt sich, und man kann ihre Augen besser erkennen, den abwesenden Blick, der die Dinge mit Gleichgültigkeit zu betrachten scheint. Auf einmal endet der Weg. Er öffnet sich auf einen Strand, und plötzlich stehen sie wieder im gleißenden Sonnenlicht.

Als sie Seite an Seite im Sand saßen, zog Jean seine Sandalen aus.

»Warte lieber noch ein bisschen, bevor du ins Wasser gehst«, sagte Marie. »Es ist noch zu kurz nach dem Mittagessen.«

Er wandte sich zu seiner Frau um und sah ihren beunruhigten Blick.

»Zwei Stunden sind mehr als genug!«, sagte er. »Aber gut, wenn es dir lieber ist, warte ich noch. Ich möchte ja nicht, dass du vor Angst stirbst, wenn ich ins Wasser gehe.«

Marie rückte noch ein wenig näher zu ihm, lehnte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. »Jean ist ganz nah bei mir. Jean, der einzige Mann auf der ganzen Welt, den ich liebe.« Maries Herz war erfüllt von einer unendlichen Zärtlichkeit, und ihre Phantasie erschuf seltsame Bilder: Sie ging mit Jean in ein intimes Lokal mit vielen eng umschlungenen Schatten, er schob sie sanft auf einen Tisch zu. Seine Hand fuhr über ihren nackten Arm, drückte ihn lange, bevor er sie losließ. »Liebling, möchtest du tanzen?« Er zog sie zu einer kleinen, etwas erhöhten Tanzfläche, legte die Arme um sie, hob sie dabei fast ein wenig vom Boden ab und trug sie im Rhythmus einer sehnsuchtsvollen, bekannten Melodie davon (Marie zögerte einen Moment: war es eine banale Musik? Ja, die Musik musste sinnlich und vulgär sein; je banaler, desto besser …). Wie schön sie zusammen tanzten; und wie zärtlich Jean mit seinen Lippen Maries Schläfe berührte!

Auf dem Strand schmiegte Marie sich noch dichter an Jeans Schulter. Sie tanzten eng umschlungen. Jean genoss diese Nähe genauso sehr wie sie selbst, auch er wünschte sich, dass diese Umarmung nie zu Ende ginge.

»Es ist so heiß, Schatz, musst du so an mir kleben?«

Marie löste sich von ihm, zog die Beine an, legte ihre Stirn auf die Knie und schloss wieder die Augen. Er wünschte sich, dass diese Umarmung nie zu Ende ginge … Sie tanzten immer noch. Als sie schließlich zu ihrem Tisch zurückkehrten, sah er Marie mit verheißungsvollem Blick an und fragte: »Gehen wir nach Hause?«

Marie hebt den Kopf, und ihre Augen blicken, ohne wirklich etwas wahrzunehmen, auf das Wasser, auf die Boote, den Sand und die über das Meer flirrenden Lichter. Sie erinnert sich an Gespräche mit Freundinnen, nutzlose, langweilige Gespräche, die immer gleich verlaufen und ihr auf die Nerven gehen, an denen sie sich aber dennoch beteiligt. Sie hört die Stimme von Luce, die sagt: »Marie, du liebst deinen Mann aus tiefstem Herzen. Dir ist es gelungen, dich in deiner Liebe völlig zu verwirklichen. Du bist die Einzige von uns, die weiß, was Glück ist.« Marie lächelt und sagt darauf immer: »Ja, das ist wahr.« Und jetzt, während sie sich daran erinnert, spielt wieder dieses sonderbare Lächeln um ihre Lippen. Sie dreht sich um, streckt sich aus und legt sich auf den Bauch. Das Lächeln ist aus ihrem Gesicht verschwunden. »Was ist Glück?«, überlegt sie. »Was eigentlich bedeutet Glück?«

»Ob du willst oder nicht, ich gehe jetzt schwimmen!«, ruft Jean, während er schon zum Wasser läuft.

Sofort springt sie auf, das Gesicht zum Meer gewandt, und sucht Jean mit besorgtem Blick. Er ist ein schlechter Schwimmer, aber das hält ihn nicht davon ab, jedes Mal weit hinauszuschwimmen. Als Marie ihn endlich entdeckt, lässt sie ihn nicht mehr aus den Augen. Sie verfolgt jede seiner Bewegungen. Er taucht, und sofort krampft sich in ihr etwas zusammen. Sie hält die Luft an, bis Jeans Kopf ein Stückchen weiter entfernt nass und glänzend wieder zwischen den Wellen auftaucht. Jean nähert sich dem Ufer; jetzt reicht ihm das Wasser nur noch bis zu den Hüften, er winkt Marie zu, stützt die Hände in die Hüften und sieht den anderen Badenden zu.

Marie nutzt diese Atempause. Sie setzt sich wieder und wendet den Kopf nach links. Sie sieht, wie jemand sich auf einem Felsen niederlässt. Soweit sie es von hinten erkennen kann, scheint der Mann sehr jung zu sein. Von anderen Felsen halb verdeckt, zieht er sich zum Baden um. Seine Haare sind schwarz und ein wenig fransig, seine Schultern sind schlank, scheinen jedoch fest und kräftig zu sein. Jetzt geht er mit gesenktem Kopf über die Steine, springt auf den Sand und läuft ein Stückchen auf Marie zu.

Er hebt den Kopf, und ihre Augen begegnen sich.

Sie ist es, die als Erste den Blick wieder senkt und den Kopf abwendet: Wo ist Jean? Da ist er, mitten unter den anderen Badenden. Wieder sieht sie nach links. Der junge Mann liegt jetzt ausgestreckt auf dem Sand und hält das Gesicht in die Sonne. Ihr erster Eindruck bestätigt sich: er hat schlanke, kräftige, stark gebräunte Schultern und lange, muskulöse Beine, die noch brauner sind als Maries eigene. Langsam wandern ihre Augen den ausgestreckten Körper entlang, folgen seinen Rundungen und erforschen das junge Fleisch.

Er hebt die Arme und verschränkt die Hände über dem Gesicht, um seine Augen vor der Sonne zu schützen. Wie jung er ist! Welcher Tatendrang, welche Erwartungen, welche Hoffnungen sich wohl hinter diesen geschlossenen Lidern verbergen?

Plötzlich hört Marie Jeans Stimme neben sich: »Ich habe Hunger! Ich zieh mich jetzt an, und dann gehen wir Kaffee trinken!«

Jean läuft auf die Felsen zu und bleibt genau an der Stelle stehen, wo Marie vorhin den jungen Mann gesehen hatte. Jean steht in demselben Rahmen, macht dieselben Bewegungen. Die Szene ist fast identisch, doch sie sieht sie in einem ganz anderen Licht. Jean bückt sich, richtet sich wieder auf, verharrt einen Moment bewegungslos und streckt der Sonne nochmals seinen nackten Oberkörper entgegen. Marie beobachtet ihn mit gesenktem Kopf, verfolgt jede dieser Gesten, die sie so gut kennt. Eine geordnete Wirklichkeit: umgeben von einer Aura der Zärtlichkeit und Wärme, wie sie nur aus dem Vertrauten, Geliebten erwachsen kann.

Und vorhin? Dieser Unbekannte, der sich zwischen den Felsen unbeobachtet fühlte? Ein anderer Moment, eine andere Aura … Eine Wirklichkeit, die man erfassen, berühren, sich zu eigen machen kann. Die Welt des Möglichen; das Faszinierende, das Aufregende eines neuen, unbekannten Lebens.

Marie lässt ihren Blick wieder zu dem jungen, noch immer bewegungslosen Körper schweifen, wo er für einen Augenblick verweilt. Das Leben besteht aus vielen Leben, die Welt besteht aus vielen Welten … Ihre Züge leuchten auf, als hätte sie sich plötzlich an etwas erinnert. Sie verschränkt ihre Arme wieder auf dem Boden und vergräbt ihr ganzes Gesicht in ihnen. In der engen Kapelle ihrer auf dem Sand überkreuzten Arme zieht sie ihren eigenen Atem ein: »Marie, bist du da? Ja, ich bin noch da … ganz allein in meinen eigenen Armen … Marie!«

Wie jeden Nachmittag setzten Jean und Marie sich in das Café des Hotels, wo man jeden Tag um dieselbe Zeit dieselben Feriengäste vor ihrem Kaffee, Tee oder ihrer eisgekühlten Pfefferminzlimonade sitzen sah. Es war nicht mehr sehr heiß, aber über allem lag die Apathie des späten Nachmittags, in der die Hitze des Tages noch nachwirkte. Etwas Unaussprechliches umgab Marie und erfüllte sie mit einem Glücksgefühl. Jean war bei ihr, goss ihr Kaffee ein und bot ihr eine Zigarette an: traute Zweisamkeit in einem Straßencafé mit Blick auf das Meer.

In dem lichten Schatten, den ein großer Sonnenschirm über den Tisch breitete, konnte sie Jeans Gesicht gut erkennen, seine eher weichen Gesichtszüge, die sich nur manchmal unter Anspannung verhärteten. Hin und wieder fuhr er sich mit seinen breiten Händen, mit den von zartem Flaum bedeckten Fingern durch das blonde Haar, das von der Feriensonne noch heller geworden war. Jean war eine starke Persönlichkeit – besser gesagt, es gab Momente der Stärke. Er konnte klar und deutlich einfordern, was ihm zustand, oder auch mehr als ihm zustand. Die Art und Weise, wie er Entscheidungen traf, wie er trank, aß, sich setzte, seinen Platz einnahm, hatte etwas Egoistisches.

»Du bist ja so still, Marie?«

»Ich sehe dich an.«

Er lächelte, goss sich nochmals Kaffee ein, ließ ein Stück Zucker in die Tasse fallen, hob wieder den Kopf und sah Marie an.

»Liebst du mich?«

»Ich liebe dich …«

Sie hatte ruhig und ernst geantwortet. Sie senkte die Augen, zögerte einen Moment, so als müsste sie überlegen, sah ihn wieder an und wiederholte mit ihrer normalen, kräftigen Stimme: »Ich liebe dich. Ja, ich liebe dich.«

»Außerdem weißt du das ja nun schon eine ganze Weile!«, fügte sie lachend hinzu.

»Sechs Jahre. Das ist doch schon ganz schön lange, findest du nicht!«

Er lachte auch und drückte Maries zartes Handgelenk ein wenig zu fest.

Eine Gruppe junger Frauen mit Tennisschlägern unter dem Arm kam auf sie zu. Marie rief aus: »Habt ihr etwa bei dieser Hitze Tennis gespielt?«

»Der Platz liegt im Schatten, und wir machen zwischen jedem Satz eine Pause. Du solltest auch mal mitkommen, Marie. Wie wär’s morgen?«

»Wie kannst du bloß auf die Idee kommen, dass Marie mit uns etwas unternehmen will! Spar dir die Mühe: Jean spielt nicht Tennis, und es ist völlig undenkbar, dass die liebevollste und treueste aller Ehefrauen ihren Jean einen ganzen Nachmittag allein lassen könnte!«

Marie lächelte in sich hinein. Sie sah von den jungen Frauen zu Jean hinüber, ließ ihren Blick dann geistesabwesend über das Meer schweifen und fixierte die unendliche Weite des Horizonts.

Jean überschlug sich vor Höflichkeit: »Was wollt ihr trinken? Setzt euch doch zu uns.«

»Nein, wir gehen heim. Bleibt ihr heute Abend im Hotel? Wir schauen mal vorbei.«

Jean und Marie blieben allein zurück, in übereinstimmendes Schweigen gehüllt.

Fast unmerklich hatte das Wetter sich geändert. Über dem Meer war der Himmel immer noch wolkenlos, während er sich über dem Dorf verdunkelte. Vom Land her näherten sich drohende Wolken. Man hörte ein schweres, fernes Donnergrollen. Nach einer Weile hallte es schon viel deutlicher von den nahen Bergen wider. Marie sah Jean besorgt an: »Glaubst du, es kommt in unsere Richtung?«, fragte sie.

»Das glaube ich nicht, der Wind scheint von …«

Jean unterbrach sich und lauschte bewusster auf das dritte Grollen, dann drehte er sich zu Marie um und schnitt eine Grimasse: »Arme Marie – mach dich auf das Schlimmste gefasst.«

Sie versuchte zu lachen. Sie sah, wie die Hoteldiener die Tischdecken zusammenfalteten und die Sonnenschirme schlossen; ein kurzer, harter Blitz zuckte auf wie ein Reflex. Mit angstverzerrtem Gesicht sah sie zum Himmel hinauf, ließ den Kopf wieder sinken und kauerte sich zusammen.

»Lass uns nach Hause gehen«, sagte sie. »Du weißt doch, dass ich Angst habe. Ich mag Gewitter nicht.«

Er bat sie, noch zu warten, beschwichtigte sie, es ginge schnell vorüber. Marie versuchte ihr Unbehagen zu überwinden und wartete schweigend.

Nach einigen versprengten Tropfen hörte der Regen wieder auf. Nur einmal hörte man es noch donnern, aber sehr weit entfernt. Maries Gesicht entspannte sich allmählich. Plötzlich kam auch die Sonne wieder zum Vorschein, und Maries gute Laune kehrte zurück. Sie schlug Jean einen Spaziergang zum Hafen vor.

Marie hatte sich bei Jean eingehängt. Seite an Seite genossen sie die milde Wärme der zurückgekehrten Sonne. Sie betrachteten die Boote und die ausgeworfenen Fischernetze. Als Jean einen der Fischer ansprach, wandte sich Marie den Bergen zu, ohne den Arm ihres Mannes loszulassen, und stellte sich das Chaos aus Wasser, Blitz und Donner vor, das man hinter den hohen Gipfeln erahnen konnte. Sie sah sich inmitten des Unwetters allein die steilen Abhänge hinunterlaufen, die Augen auf das aufflammende Licht gerichtet und das Gesicht nass vom Regen. Sie seufzte tief auf und wandte sich wieder dem Hafen zu. Das unruhige Funkeln in ihren Augen verschwand allmählich. Ihren sanften Ausdruck hatten sie jedoch erst wiedergewonnen, als sie schließlich mit zärtlichem Blick auf Jean ruhten.

Am Abend versammelten sich die Freunde im Garten des Hotels. Jean diskutierte lebhaft mit Luce und zwei anderen jungen Frauen.

»Ich gehe ein wenig zur Straße vor«, sagte Marie so leise, dass es von den anderen kaum wahrgenommen wurde.

Kein Windhauch bewegt die Blätter an den Alleebäumen; noch immer verströmen Pinien, die die Sonne während des Tages aufgeheizt hat, ihren in Wolken aufsteigenden Geruch; aber mit der Nacht breitet sich Kühle aus, und die Erde ist wie befreit. Marie erreicht den Weg, den sie am Nachmittag mit Jean gegangen ist, und folgt ihm bis zum Ende.

Man kann kaum erkennen, wo der Strand aufhört und das Meer beginnt. Marie geht immer weiter, bis sie das Wasser an ein Boot schlagen hört. Sie hat noch nie versucht, ein Boot loszubinden und aufs Meer hinauszurudern. Sie weiß gar nicht genau, welche Handgriffe dafür nötig sind. Aber auf einmal wird sie von einer ungewohnten Neugier getrieben.

Von der Kraft ihrer Hände geschoben, gleitet das Boot über den Sand, bis es schließlich im Wasser schwimmt. Marie steigt hinein, setzt sich auf die Bank und ergreift die Ruder. Ungeschickt rührt sie mit ihnen im Wasser herum. Es ist gar nicht so leicht. Wenn Jean jetzt hier wäre, würde er das Boot rasch mit kräftigen Schlägen vorwärtsbringen. Er würde sagen: »Schau, so geht das.« Ein Stück weiter würden sie anlegen und dicht aneinandergeschmiegt im Boot sitzen bleiben. Aber Jean ist jetzt nicht hier. Nicht er ist jetzt wichtig, sondern nur das Meer, dieses Boot und seine Ruder. Und diese Ruder muss man hochdrücken, ja, genau so, und nach hinten schieben, eintauchen, heranholen, wieder hochdrücken und dabei den Oberkörper nach vorne neigen und wieder aufrichten. Sie muss diesen Rhythmus verinnerlichen und ganz in der Bewegung aufgehen.

Marie hat sich schon weit vom Ufer entfernt. Sie hält inne, zieht die Ruder ein und schaut sich um. Wie schön das Meer ist. Es erscheint ihr, als könne sie seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder sehen, welche Farbe das Meer bei Nacht hat, und den Geruch einatmen, der von ihm aufsteigt. In diesem Augenblick ist sie ganz mit sich allein. Und vor dem Hintergrund dieser Mischung aus Farbe und Geruch erkennt sie auf einmal mit großer Klarheit eine alte elementare Wahrheit. Sie begreift nun wieder ihren ganzen tiefen Sinn, er erschließt sich ihr wie ein lange gehütetes Geheimnis.

Jetzt überlässt sie sich ganz ohne Furcht der Bewegung des Wassers. Spielt es denn eine Rolle, wohin es sie trägt? Vielleicht wird sie noch weiter hinausgetrieben, aber vielleicht bringen die Wellen sie auch allmählich zum Ufer zurück.

Plötzlich hört sie laute, bekannte Stimmen.

»Marie, wo bist du?«

»Hallo, Marie, antworte doch!«

Sie richtet sich auf, lenkt das Boot zum Strand und sieht einen Felsen, auf den sie zuhält. Sie springt aus dem Boot und bindet es schnell mit dem Tau fest. Die Stimmen rufen noch immer nach ihr. Schließlich antwortet sie und geht auf Jean und die beiden Frauen zu.

»Wo warst du denn bloß? Du bist anscheinend doch nicht auf der Straße geblieben?«

»Wenn wir nicht wüssten, wie sehr dir vor dem Wasser graut, hätten wir gedacht, du seist klammheimlich mit einem Boot oder einem Kanu auf und davon! Aber da brauchen wir uns ja wohl keine Gedanken zu machen, oder?«

»Wir haben dich gesucht, weil wir zusammen zum Hafen gehen wollten. Komm!«

Sie lächelt und lässt sich von den Armen mitziehen, die sich ihr entgegenstrecken.

Im Hafen hatte gerade ein Fischerboot angelegt; alle Leute stürmten dorthin und sahen zu, wie der Fang entladen wurde. Sie packten mit an, reichten die vollen Körbe weiter, stellten sie auf den Bänken ab, die den schmalen Kai des kleinen rechteckigen Hafens säumten. Man umringte die Fischer, befragte sie, beugte sich über die frisch gefangenen Seefische.

Als Jean und die beiden Frauen weitergingen, wollte Marie ihnen folgen. Sie hob den Kopf, blieb dann aber plötzlich wie angewurzelt stehen und rang nach Luft wie nach einer etwas zu kräftigen Umarmung: Er stand vor ihr, mit seinen langen, jungenhaften Armen auf die Lehne einer Bank gestützt. Sie stellte sich die schmalen, sonnengebräunten Schultern unter dem Stoff seines Anzugs vor, seine sehnigen, braunen Beine und seine schlanken Hüften. Ihre Blicke begegneten sich zum zweiten Mal. Wie alt mochte er sein? Neunzehn oder zwanzig? Er hatte ernste Augen; vielleicht war er zweiundzwanzig, aber älter bestimmt nicht. Die kleinen Fältchen unter den Augen waren eher ein Zeichen von Kindlichkeit als ein Merkmal der Reife.

Der Fischer fuhr mit seinen Erklärungen fort, obwohl nur noch zwei schweigende Zuhörer übrig geblieben waren. Bald kam das Gespräch wieder in Gang. Marie musterte den Jungen, während er sich mit dem Mann unterhielt. Und wenn sie redete, ruhten seine Augen auf ihr. Miteinander sprachen sie nicht, sie richteten ihre Fragen und Antworten immer nur abwechselnd an den Fischer.

»Nun, jedenfalls reicht es morgen für ein paar ordentliche Mahlzeiten.«

Sie lachten gleichzeitig über die Äußerung des Mannes – nicht etwa, weil sie diesen Satz so besonders komisch gefunden hätten, ihr Lachen war eher verlegen als fröhlich.

Später liegt Marie im Halbdunkel des Zimmers ausgestreckt auf dem Bett, von Jeans Armen umfangen.

»Jean, Liebster …«

Sie flüstert die Worte mit Schmerz in der Stimme, den Geist auf ein drängendes Ziel gerichtet, das sie erreichen muss … Etwas Schweres, Erdrückendes steigt in ihr auf, nimmt Gestalt an, dehnt sich aus, steigt weiter, birst. Maries grenzenlose Traurigkeit löst sich mit einem Mal auf. Sie ist erschöpft und von einem Glücksgefühl erfüllt, das eher geistigen denn körperlichen Ursprungs ist. Jean, der dem starken Zittern ihres Körpers kaum Beachtung schenkt, bettet sie artig wieder neben sich.

»Und jetzt schlaf schnell, Marie.«

Er wendet sich von ihr ab, dreht sich um und schläft ein. Marie wäre am liebsten tot. Wenden sich alle Männer gleich nach der Liebe ab und schlafen ein? Wahrscheinlich ist es so.