Ginger und die Bibliothek der magischen Pflanzen - Judith Allert - E-Book

Ginger und die Bibliothek der magischen Pflanzen E-Book

Judith Allert

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Beschreibung

Gingers Abenteuer in den letzten Gärten von Paris Seit ihre Eltern plötzlich auf seltsame Weise verschollen sind, lebt die 12-jährige Ginger – ohne eine Erinnerung an ihre Vergangenheit – bei strengen Pflegeeltern. Schnell merkt sie, dass hier etwas nicht stimmt. Warum tun die beiden alles, um Ginger von der Natur fernzuhalten? Obwohl sie offenbar eine ganz besondere Verbindung zu Pflanzen hat! Spätestens als das sprechende Eichhörnchen Alva auftaucht, wird Ginger klar, dass ein riesiges Geheimnis hinter all den Merkwürdigkeiten steckt.  Zusammen mit Alva begibt sie sich auf eine zauberhafte, spannende und waghalsige Reise zu den letzten magischen Orten der Welt! - Stimmungsvoller Text und reiche Illustrationen - Das perfekte Geschenk für Kinder ab 9 Jahren, die die Natur und magische Geschichten lieben - Für Leser*innen von ›Ruby Fairygale‹ und ›Ein Mädchen namens Willow‹

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Seitenzahl: 258

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Über das Buch

Auf in die letzten magischen Gärten von Paris!

 

Seit ihre Eltern plötzlich auf seltsame Weise verschollen sind, lebt die 12-jährige Ginger – ohne eine Erinnerung an ihre Vergangenheit – bei strengen Pflegeeltern. Schnell merkt sie, dass hier etwas nicht stimmt. Warum tun die beiden alles, um Ginger von der Natur fernzuhalten? Dabei stellt sich heraus, dass sie offenbar eine ganz besondere Verbindung zu Pflanzen hat! Spätestens als das sprechende Eichhörnchen Alva auftaucht, wird Ginger klar, dass ein riesiges Geheimnis hinter all den Merkwürdigkeiten steckt. Zusammen mit Alva begibt sie sich auf eine zauberhafte, spannende und waghalsige Reise zu den letzten magischen Orten der Welt!

 

Stimmungsvoll illustriert von Florentine Prechtel

 

Von Judith Allert ist bei dtv außerdem lieferbar:

Die wilden Pfifferlinge – Dann retten wir eben die Welt! (Band 1)

Judith Allert

Ginger und die Bibliothek der magischen Pflanzen

Band 1

Illustriert von Florentine Prechtel

 

 

 

Für alle, die den Tieren und Pflanzen dieser Welt eine Stimme geben.

1. Kapitel,

in dem Ginger hoch hinauswill, jedoch ein schwarz-weißer Vogel die Einsamkeit bringt

»Los, Ginger, noch ein Stück höher!«

»Der Weg lohnt sich, versprochen!«

Ginger blickte über sich.

Sie konnte jedoch durch die dichten Blätter, die sie von allen Seiten rauschend und raschelnd umgaben, kaum etwas sehen. Alles, was sie erkannte, waren die undeutlichen Umrisse zweier Menschen hoch oben in der Baumkrone. Ein Mann und eine Frau. Ihr Vater und ihre Mutter. Schon an ihren Stimmen merkte Ginger, wie sie lächelten. Glücklich über den Frühlingstag, der mit seiner milden Brise jeden Atemzug mit Blütenduft erfüllte. Glücklich darüber, dass der Gesang der Vögel ringsherum, das Summen und Brummen der Insekten und das Rauschen und Rascheln der Blätter ein Konzert ergaben, das einem im Bauch kitzelte. Und einfach nur unglaublich glücklich darüber, dass sie sich und Ginger hatten.

»Ich glaub, ich schaff das nicht!«, rief Ginger trotzdem.

»Ach was! Du kriegst das locker hin!«

»Trau dich einfach, Große!«

»Na gut«, flüsterte Ginger. »Ich schaff das. Logisch!«

Sie holte tief Luft und griff mit beiden Händen nach dem Ast über sich. Langsam zog sie sich hinauf und setzte einen Fuß als Hebel gegen einen dickeren Ast. Dann nahm sie etwas Schwung und …

»Geschafft?«, erklang die Stimme ihres Vaters.

»Geschafft!«, rief Ginger, während die Sonnenstrahlen durch das Laub auf sie herabfielen und auf ihren Armen und Beinen helle Flecken tanzen ließen.

»Los, das nächste Stück. Der Ausblick ist der Wahnsinn!«, munterte ihre Mutter sie auf.

»Kein Wunder. Das ist echt verdammt hoch!« Ginger merkte, wie ihre Stimme wackelte.

Ihr Vater lachte. »Seit wann hast du denn Höhenangst?«

»Ich hab nie Angst!«

Also, weiter. Nach oben greifen, den Fuß fest aufsetzen … Mist! Abgerutscht. Gleich noch mal. Stück für Stück gelangte Ginger weiter hinauf. Nur merkwürdigerweise schien sie ihren Eltern dabei nicht näher zu kommen! Die beiden blieben unscharf und verschwommen. Plötzlich stutzte Ginger. Da … ein Schatten über ihr. Etwas Schwarzes. Etwas Weißes. Und ein rotes Leuchten! Ginger erkannte die Schemen eines Vogels. Eine Krähe. »Hey, wer bist du denn?«, fragte Ginger und schnalzte lockend mit der Zunge.

Aber seltsam. Was war das für ein Licht? Um das herauszufinden, musste Ginger weiter nach oben. Bevor sie allerdings den nächsten Ast ergriffen hatte, erklang das leise Keckern der Krähe. Es hörte sich unheimlich an. Scheppernd. Fast wie ein metallisches Lachen. Und dann sah Ginger über sich die Augen des Vogels! Pechschwarz – und gleichzeitig so matt. Als ob das Tier Ginger gar nicht richtig sehen würde.

Sie bekam Gänsehaut. »Was willst du von mir?« In dem Moment verschwand die Krähe mit ein paar schweren Flügelschlägen im Dickicht.

»Ginger! Schnell! Du musst …«

Das war ihr Vater. Aber etwas hatte sich verändert. Die Unbeschwertheit war aus seiner Stimme verschwunden. Plötzlich klang er aufgebracht. Ach was, er hörte sich richtig panisch an! Ehe er zu Ende sprechen konnte, wurde er von schepperndem Geschrei unterbrochen. Und dann: noch mehr Flügelflattern. Laub, das durch die Luft wirbelte. Und eine weiße Feder, die langsam, wie eine viel zu große Schneeflocke, vom Himmel herabtanzte.

»Ginger! Du musst runter! Versteck dich! Hier stimmt was nicht!«

Auch die Stimme ihrer Mutter war jetzt voller Angst.

Ginger erstarrte.

»Mama? Papa? Was ist los?«

Keine Antwort.

Hastig griff Ginger nach dem Ast über sich. Aber vor Schreck zitterten ihre Hände. Beinahe wäre sie abgerutscht.

»Papaaaa! Mamaaaaa! Wo seid ihr? Wartet auf mich. Bitte!«

Aber da war nur Gingers Stimme und ihr eigenes Echo.

Mamaaaaa?

Mamaaaaa?

Mamaaaa.

Mam.

Mam.

A.

A.

Und schließlich:

Nichts.

Stille.

Auch das Echo an den Bäumen ringsherum war verstummt. Ohne Ginger eine Antwort gegeben zu haben.

»Mama! Papa! Lasst mich bitte nicht zurück!«

Ginger kletterte weiter. Ohne nach unten zu sehen. Sie achtete nicht darauf, wie die Baumrinde ihr die Hände wund rieb. Und wie ihr Herz raste und es in ihren Ohren rauschte wie ein Unwetter.

»Mamaaaa! Papaaaa!«

Ginger merkte nicht, dass sie längst keine Kraft mehr in den Armen hatte. Aber sie merkte, dass sie alleine war. Völlig allein. Alle Vögel waren verstummt und kein einziges Insekt war mehr zu hören. Es erklang nur das leise Rascheln der Blätter. Als ob der Baum mit all seinem Grün beruhigend auf sie einreden wollte.

Keine Angst, Ginger.

Wir passen auf dich auf.

Und dann – rutschte sie ab. Sie schrie. Und sie fiel. Und fiel.

Sie wartete auf den harten, schmerzhaften Aufprall.

Doch – der kam nicht! Stattdessen berührte sie etwas am Arm und stoppte sanft ihren Flug. Es war ein Ast, mit Blättern und Ranken. Erst wickelte er sich nur um ihr Handgelenk, dann wuchsen mehr und mehr kleine Zweige und Blätter aus ihm hervor. Ginger spürte einen kribbeligen Schauer auf ihrer Haut, als die Blätter ihren ganzen Arm umfassten, bis der Baum sie einwickelte wie einen Kokon.

»Keine Angst. Psssst. Keine Angst«, schienen die Blätter erneut zu flüstern, während die Müdigkeit sie einhüllte, als wäre sie eine unsichtbare Decke. Warm und geborgen lag Ginger darin und ihr Herz schlug sofort etwas ruhiger.

2. Kapitel,

in dem Ginger in einem weißen Gefängnis erwacht, wo ihr nichts als ihr Name geblieben ist

Hm … noch nicht die Augen aufmachen. Lieber ein bisschen dösen. Dem Flüstern der Blätter lauschen. Dem Vogelgezwitscher. Diese wunderbare Blütenduftluft tief, ganz tief einatmen und … Ginger blinzelte. Aber …? Da war nichts! Fast nichts. Nur ein leises Surren und Klappern erklang von irgendwo. Statt der Frühlingsblüten roch Ginger saubere Luft. Keim- und staubfreie, saubere Luft, mit einem Hauch von Desinfektionsmittel. Die Zweige des Baums hielten sie nicht länger fest. Ihre Eltern waren weg. Genau wie dieser unheimliche Vogel.

 

Ginger war allein.

 

»Mama! Papa!«

Sie fuhr von der Matratze hoch und riss die Augen auf. Ihr war so kalt, dass sie zitterte. Gleichzeitig war sie nass vom Schweiß.

Was war das bitte für ein Traum gewesen? Ginger versuchte, die Bilder festzuhalten. Aber sie huschten schneller davon, als sie sie zu fassen bekam. Ein Baum. Ihre Eltern. Dieser Vogel, das rote Leuchten, dieser Lärm … Und Angst … ganz viel Angst. Ginger schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Händen über ihr Gesicht. Ein Albtraum. Was sonst!

Sie lauschte. Das Klappern war noch immer zu hören. Da wusste sie wieder, wo sie war. Das Geräusch kam von dieser schrecklichen Klimaanlage. Und die stand in diesem schrecklichen Haus. Bei diesen schrecklichen Menschen – den Dorns! »Pflegeeltern« nannten die beiden sich, seit Ginger hier in diesem Bett, das so sauber war, dass es in einem Krankenhaus hätte stehen können, vor einer Woche aufgewacht war. Mit unzähligen blauen Flecken und Kratzern – und ohne Erinnerung!

Sie hatte keine Erinnerung daran, was passiert war. Nicht daran, wie sie hierhergekommen war. Nicht daran, wer sie war – und auch nicht daran, wer ihre Eltern waren.

Alles, was Ginger von ihrer Vergangenheit wusste, war ihr Name. Ansonsten war da nichts als ein grauer, trüber Nebel in ihrem Kopf. Niemand konnte ihr sagen, wer sie war. Sie hatte keine Papiere bei sich getragen. Sie war nirgendwo gemeldet. Sie wusste nicht, wie sie mit Nachnamen hieß. Und sie wusste auch nichts mehr von dem schrecklichen Unfall, von dem ihr diese Dorns erzählt hatten. Ein Hubschrauberabsturz über dem Dschungel, bei dem Ginger angeblich die Einzige war, die »wie durch ein Wunder« überlebt hatte. Die Dorns wurden nicht müde, dies zu erwähnen. Warum sie dort gewesen war? Die Antwort darauf konnten ihr die beiden nicht geben. Gingers ganzes Leben war nichts als ein einziges, riesiges Rätsel.

 

Noch einmal schloss Ginger die Augen, atmete tief durch und versuchte die Traumbilder zurückzuholen. Vielleicht konnte ihr ja ausgerechnet dieser seltsame Traum dabei helfen, ihre Erinnerungen wiederzubekommen. Denn nicht nur, dass Ginger sich fühlte wie der einsamste Mensch auf der Welt. Sie kam sich auch noch vor wie eine riesige Verräterin.

Wie konnte man bitte seine eigenen Eltern vergessen?

Doch je länger Ginger über den Traum nachdachte, desto verworrener wurde alles. Eine Horde irrer Vögel, die ihre Eltern gekidnappt hatte? Ernsthaft?

»Quatsch«, murmelte Ginger.

Es war einfach nur ein absolut verrückter Albtraum gewesen, der ihr gerade kein bisschen weiterhalf.

Nur eines merkte sie deutlich. Wie die Sehnsucht ihre Krallen nach ihr ausstreckte und sie zwickte. Die Sehnsucht nach saftigem Grün, nach Blütenduft und Vogelgezwitscher. Die Sehnsucht nach frischer Luft und Freiheit.

Was sich im Traum so nah angefühlt hatte, war gerade unendlich weit weg. Ginger kam sich vor, als wäre sie allein auf einem verlassenen Planeten. Und zwar auf dem saubersten Planeten der Welt! Alles hier um sie herum war strahlend weiß. Das Bett genau wie der Schrank und die Fliesen am Boden. Nirgendwo war auch nur ein winziges Staubkorn zu finden. Weil Ginger jedes noch so winzige Staubkorn gefährlich werden konnte. Wegen ihrer Allergie. Gegen Blüten und Pollen. Gegen Staub und gegen Tierhaare. Die Dorns behaupteten, das wäre bei der Untersuchung im Krankenhaus herausgekommen. Aber die beiden konnten so ziemlich alles behaupten, denn an die Allergie, genau wie an die Untersuchung, erinnerte sich Ginger natürlich auch nicht! Wie so oft in den letzten Tagen brodelte nun wieder die Wut in ihr hoch, bis sie die Hitze nicht nur im Bauch, sondern bis hinauf in ihre Ohrläppchen spürte. Das fühlte sich viel, viel besser an als die schreckliche Hilflosigkeit.

Doch ihre Wutanfälle brachten sie leider auch nicht weiter. Sie bewirkten nur, dass diese Dorns, die kein bisschen dornig waren, sondern weichgespült wie zu heiß gewaschene Wollsocken, sie hinterher noch mitleidiger ansahen, als sie das sowieso schon die ganze Zeit machten.

Die Tür öffnete sich und Ginger wischte sich hastig mit den Ärmeln über die Augen. Eine Frau steckte den Kopf herein. Ihre Haut war blass wie Porzellan und die zarten Strumpfhosen unter ihrem beigen Rock hatten keine einzige Laufmasche.

Beige! Was für eine dämliche Farbe. Ach was. Eine Unfarbe.

»Ach, Mädchen. Hattest du einen Albtraum? Los, komm lieber frühstücken«, sagte Frau Dorn.

Eigentlich sollte Ginger sie duzen und bei ihrem Vornamen nennen. Wie man das mit einer Pflegemutter vermutlich so machte. Aber mit einer Mutter hatte diese Frau so wenig gemeinsam wie eine Pfütze mit dem Ozean. Schon allein, weil diese Frau Dorn immer nur matt lächelte und dabei im Gesicht seltsam grau aussah. Als hätte sie noch nie etwas erlebt, über das sie sich richtig freuen konnte.

Ginger atmete tief durch. Und obwohl sie wirklich versuchte – wie so oft, seit sie das erste Mal in diesem weißen Bett aufgewacht war – ihre Wut hinunterzuschlucken, sprudelte es nun doch nur so aus ihr heraus:

»Ich heiße Ginger. Nicht Mädchen! Das bedeutet Ingwer, klar? Das hab ich Ihnen schon hundertmal gesagt! Und ich habe schon hundertmal gesagt, dass ich keine neuen Eltern brauche! Wer sagt denn überhaupt, dass sie wirklich tot sind? Um das zu beweisen, müsste doch erst mal jemand ihre …« Ginger schluckte. »… toten Körper finden«, fügte sie etwas weniger energisch hinzu.

Frau Dorn schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Das brachte ihre perfekte Frisur nicht mal ins Wackeln. Jede Strähne saß. Während Gingers Haare so wild in alle Richtungen abstanden wie die Äste des Baums in ihrem Traum.

»Kein Wunder, dass deine Eltern dich nach dieser scharfen Wurzel benannt haben!«

Ginger verkniff sich ein genervtes Stöhnen, räusperte sich und fuhr ruhiger und leiser fort:

»Gibt es etwas Neues? Von der …« Ihre Stimme knarzte wie ein altes Türschloss. »Der Absturzstelle?«

»Nein. Und es wird auch keine Neuigkeiten geben.« Frau Dorn machte einen Schritt auf Ginger zu. Ihr Rock raschelte leise, als wäre er aus Plastik. Und auch ihr Lächeln sah aus wie aus Plastik. Sie streckte ihre Hand nach Gingers Stirn aus. Die machte automatisch einen Schritt rückwärts. »Irgendwann werden deine Erinnerungen zurückkommen. Dann wird alles etwas leichter. Das haben die Ärzte im Krankenhaus auch gesagt. Aber bis dahin musst du dich schonen, du brauchst absolute Ruhe. Dein Körper versucht nur, dich zu schützen.«

»Zu schützen? Davor, dass ich mich an meine eigenen Eltern erinnere?« Tränen brannten in Gingers Augen und sie biss die Zähne fest aufeinander. So fest, dass sie knirschten.

»Ich weiß, es ist nicht einfach für dich. Trotzdem erwarte ich … ein wenig Respekt und Dankbarkeit. Wir bemühen uns wirklich. Es ist zu deinem Besten.« Frau Dorn verzog den Mund. Das sollte vermutlich ein Lächeln sein. »Wir sehen uns am Frühstückstisch!«

Mit einem Augenrollen sah Ginger dabei zu, wie die Tür ins Schloss fiel. Als das Klack-klack-klack der Schritte auf dem Flur verhallt war, stieg sie aus dem Bett. Sie ballte die Hände zur Faust und verkniff sich einen Aufschrei. Na klar. Sie würde hier gemütlich abwarten, bis sie irgendwann wieder wusste, wer sie war! Und dann? Dann saß sie immer noch hier fest! Und ihre Eltern wären immer noch verschwunden!

»Ich muss raus hier, sofort«, stieß Ginger hervor.

Kein Wunder, dass sie keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte. Diese dauersurrende Klimaanlage machte sie noch wahnsinnig! Und eine kleine Prise frische Luft würde sie nicht umbringen. Im Gegenteil. Sie würde Frau Dorn und ihrem Mann beweisen, dass das Gerede über diese Allergie absoluter Quatsch war!

Ginger ging ans Fenster und fasste nach dem Griff. Obwohl sie es längst wusste: Er bewegte sich keinen Millimeter.

Kein Fenster im Haus ließ sich öffnen. Nur die Lüftungsanlage sorgte für Luft. Saubere Luft, die keine Gefahr für sie darstellte. »Pah!«, entfuhr es ihr.

Sie sah durch die blitzblanke Scheibe hinaus. Der Garten – soweit man das so nennen konnte – bestand nur aus weißem Schotter und Büschen, die niemals Blüten und Beeren trugen.

Es war eindeutig ein Nichtgarten. Genauso, wie dieses Haus ein Unzuhause war!

»Mädchen! Würdest du bitte kommen? Frühstück!«

Diesmal war es die Stimme von Herrn Dorn. Trotz aller Höflichkeit klang er ungeduldig.

Ginger holte tief Luft und atmete so ruhig wie möglich aus.

Na gut. Dann eben erst mal Frühstück. Vermutlich würde es nicht schaden, etwas guten Willen zu zeigen.

3. Kapitel,

in dem eine geheimnisvolle Begegnung stattfindet

Als Ginger aus dem Zimmer trat, wäre sie beinahe über diesen seltsamen Staubsaugerroboter gestolpert, der den ganzen Tag seine Runden im Haus drehte und dabei mit einer kleinen roten Lampe vor sich hin blinkte. Als wäre sie ein Auge, das Ginger anblinzelte. Sie hielt inne. Ein rotes Leuchten. Rot wie in ihrem Traum. Hatte sie sich das deshalb zusammengesponnen? Weil der Staubsauger sie sogar bis in ihre Träume verfolgte? »Du nervst!« Ginger schob das Gerät unsanft mit ihrer Fußspitze beiseite.

Bei den Dorns dagegen wurde es verhätschelt wie bei anderen Familien ein Hund oder eine Katze. Es hatte keinen Kratzer, seine Plastikhülle glänzte und der Staubfilter wurde mehrmals am Tag gereinigt. Und anscheinend war es auch immer vollgeladen. Nur zu ihrem Besten. Was sonst.

Allerdings kam es ihr absurderweise so vor, als ob das Gerät sie verfolgte! Und genau wie das Klappern der Klimaanalage machte ihr sein ständiges Gesurre Kopfweh. Als sich Ginger nun, durch den selbstverständlich schneeweiß gefliesten Flur, Richtung Küche begab, war der Staubsauger ihr schon wieder dicht auf den Fersen. Und sie könnte schwören, nachts lungerte er vor ihrer Tür herum. Ginger lief einen Schritt schneller und schlug dem Gerät die Tür vor der Nase zu. In letzter Sekunde. Es rammte surrend und ratternd dagegen.

Auf dem Tisch standen frische Brötchen, Marmelade und Tee. Gingers Magen grummelte, ob sie wollte oder nicht. Dabei fiel ihr Blick auf den Kalender an der Wand gegenüber.

Ein roter Plastikkringel zeigte das heutige Datum: Es war der 12. Mai.

Irgendetwas war an dem Tag. Doch wie immer, wenn sie verzweifelt versuchte, sich an ihr Leben zu erinnern, war da nichts als milchiger, schwerer Nebel. Und weil der Versuch, durch den hindurchzusehen, nur noch mehr Kopfschmerzen machte, ließ sie es lieber bleiben.

»Worauf wartest du?«, riss Frau Dorn sie aus ihren Gedanken. »Setz dich.«

Herr Dorn legte knisternd seine Zeitung weg.

»Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.«

Er trug ein Hemd mit Krawatte. Ein hellbeiges Hemd mit einer dunkelbeigen Krawatte! Was sonst? Dabei war heute laut Kalender Sonntag und er musste bestimmt nirgendwohin, wo man eine Krawatte tragen sollte.

»Wir tun doch nur alles, damit es dir bald besser geht. Damit das hier dein Zuhause wird«, bekräftigte Frau Dorn.

Das Wort »Zuhause« genügte, um Ginger die Sache mit dem guten Willen vergessen zu lassen. Energisch schob sie den Teller von sich. »Das ist nicht mein Zuhause! Mein Zuhause ist bei meinen Eltern! Und wenn sich irgendjemand endlich mal die Mühe machen würde, sie in diesem verdammten Dschungel zu suchen, dann würde ich vielleicht ja auch endlich zurück nach Hause können.«

Wo immer das sein mag, fügte Ginger leise für sich hinzu.

Mal wieder war betretenes Schweigen die Antwort. Der Staubsaugerroboter, der irgendwie schon wieder den Weg ins Zimmer gefunden hatte, rumpelte gegen ein Stuhlbein und wendete.

»Sie sind nicht tot. Sie leben. Ich weiß es!«.

Wobei das nicht stimmte. Ginger wusste absolut gar nichts. Aber sie hoffte es. So, so, so sehr, dass es einfach wahr sein musste! Und überhaupt. Was auch immer mit ihren Eltern passiert war: Niemals würde sie hierbleiben und sich nur eine Sekunde länger einsperren lassen!

»Nun, äh, also Gini, äh, Ginger«, Herr Dorn räusperte sich verlegen. »Iss doch endlich was!«

Und weil Ginger das hungrige Grummeln in ihrem Bauch, trotz aller Wut, nicht mehr unterdrücken konnte, schluckte sie den nächsten bissigen Kommentar herunter und griff zu. Sie musste ihre Gefühle besser unter Kontrolle halten. Nicht den Dorns zuliebe. Ihrer Freiheit zuliebe!

 

»Darf ich dann mal raus?«, fragte Ginger, nachdem sie ihren leeren Teller brav in die Spülmaschine geräumt hatte.

Möglichst beiläufig. Möglichst freundlich.

»In den Garten? Natürlich!« Wieder versuchte Frau Dorn zu lächeln. Es wirkte, als hätte sie dabei ein Zitronenstück auf der Zunge. »Du weißt doch, ein paar Minuten am Tag. Das geht.«

»Ich meine, richtig raus! In die Natur. Ein Waldspaziergang. Oder zu einem See!«

Da wurden Frau Dorns Augen schreckensgroß. Ihr Mann atmete pfeifend ein und griff nach der Hand seiner Frau, um sie fest zu drücken.

»Du weißt, wie gefährlich das ist!«, sagte er.

»Nein! Weiß ich nicht! Ich weiß gar nichts mehr! Vielleicht … Vielleicht ist das ja nur ein Missverständnis. Vielleicht hat da jemand im Krankenhaus irgendwelche Akten vertauscht!« Ginger schüttelte den Kopf. »Meine Eltern hätten mich niemals zu einem Dschungelausflug mitgenommen, wenn ich gegen sämtliches Grünzeug auf der Welt allergisch wäre! Und außerdem ist es hier wie im Gefängnis!«

Es war so still, dass die Geräusche des Staubsaugers sich anhörten wie Donnergrollen.

»Wie kannst du das sagen?«, fragte Herr Dorn.

Seine Frau war starr geworden.

»Geh. Auf. Dein. Zimmer!«, stieß sie nach einer Weile langsam, Wort für Wort hervor, als wäre jedes eine Hantel, die sie mit riesiger Anstrengung vom Boden wuchtete.

»Aber ich …«, begann Ginger.

»Geh«, drängte auch Herr Dorn.

Doch Ginger schlich nicht geknickt aus dem Zimmer. Sie spürte, wie ihr Herz laut in ihren Ohren schlug. Hätten die beiden einfach ein gut geöltes Robotermädchen bei sich aufgenommen! In dieses Gefängnis aus weißen Fliesen, in dem nicht mal eine mickerige Zimmerpflanze wohnen durfte, weil sie mit ihren Pollen, Erdkrumen und was auch immer angeblich zu gefährlich gewesen wäre.

Ginger funkelte das beigefarbene Ehepaar an. Und plötzlich war da auf einmal dieses … Wesen.

War es ein Falter? Oder ein kleiner Vogel? Aber er hatte keinen Schnabel. Dafür Fell. Buntes Fell. Am Kopf war er türkis. Und der Rest des winzigen Körpers schimmerte smaragdgrün. Und er hatte spitze Ohren! Oder? So ganz genau konnte Ginger es nicht sagen, denn das Tierchen war verdammt schnell und flog mit flatternden Flügeln über sie hinweg. Ginger staunte mit offenem Mund, während die Dorns wild mit den Armen herumfuchtelten. So lebendig hatte sie die beiden noch nie erlebt. Beinahe hätte Ginger lachen müssen. Wenn nicht das Leben des kleinen Besuchers in Gefahr gewesen wäre!

»Ksch! Raus hier!«, rief Herr Dorn. »Verschwinde!« Er hatte seine Zeitung zusammengerollt und schlug damit nach diesem … Wesen.

Was war das bitte? Es sah aus wie eine Mischung aus Fledermaus und Schmetterling. Solche Tiere gab es nicht! Trotzdem kam es Ginger vor, als ob sie das Wesen schon mal gesehen hatte.

Doch sie hatte keine Zeit, nach der verloren gegangenen Erinnerung zu suchen. Nachdem Herr Dorn mit der Zeitung danebengeschlagen hatte, griff seine Frau nach einer Bratpfanne. Das Flatterdings konnte sich gerade noch mit einer scharfen Kurve vor einem Schlag retten.

»Spinnt ihr völlig?«, schrie Ginger.

»Wie ist der Vogel hier hereingekommen?«, fragte Frau Dorn, ohne sich um Ginger zu kümmern.

»Das ist kein Vogel! Das ist nichts als ein lästiges Insekt!«, rief Herr Dorn.

»Jetzt lasst es doch einfach in Ruhe. Das arme, winzige Ding«, schrie Ginger.

Das wundersame Wesen hatte sich mittlerweile oben auf einem Küchenschrank niedergelassen. Schon war Herr Dorn dabei, auf einen Stuhl zu klettern, da stob es sofort wieder auf. Kurz darauf allerdings setzte es erneut zur Landung an. Genau auf Gingers Schulter.

»Mädchen! Tu das weg da! Sofort!«, stieß Frau Dorn hervor.

»Aber das Tier ist harmlos!«

Tatsächlich schnurrte das Wesen auf Gingers Schulter wie ein Kätzchen.

Von einer Allergie merkte Ginger nichts. Im Gegenteil. Ihr ging es gut! Das erste Mal, seit sie hier aufgewacht war. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln in sich, während die Wärme von den kleinen Füßchen des Tieres auf sie abstrahlte. Kleine Füße mit winzigsten Zehen.

»Na, du«, flüsterte Ginger. Plötzlich fand sie das Wesen ganz und gar nicht mehr merkwürdig. Sondern einfach nur nett und flauschig. Und wieder war da das Gefühl, als würde sie es nicht zum ersten Mal sehen. Mehr sogar. So, als würde sie nach langer Zeit einen guten Freund treffen.

Und dann passierte noch etwas. Es kribbelte sachte in Gingers Fingerspitzen und auf einmal hatte sie ein Bild vor Augen. Sie in einer Blumenwiese am Rand eines dicken Baumstamms. Und dieses Tierchen hier schwirrte ihr surrend um die Ohren.

»Hab ich dich!«, rief Herr Dorn da. Schon hatte er ein Handtuch über das Tier geworfen, es gepackt und war damit aus der Tür gerannt. All das ging so schnell, dass Ginger viel zu lange nur starr zusah, was Herr Dorn machte. »He! Lass Fido los! Sofort!«, schrie Ginger.

Sie stutzte. Fido. Auf einmal war der Name da gewesen. Wie aus dem Nichts.

Herr und Frau Dorn hielten ebenso inne und starrten sie an, als hätte sie etwas streng Verbotenes gesagt.

Ginger versuchte den Moment zu nutzen und Herrn Dorn mit einem Satz zu erreichen.

Aber Frau Dorn war schneller. Sie fasste Ginger am Arm. Und das ziemlich energisch.

»Der Vogel muss raus. Nur für deine Gesundheit«, sagte sie ganz ruhig, in einem einlullenden Singsang.

»Das ist kein Vogel. Das ist auch nicht irgendwer. Das ist …«

So plötzlich, wie der Name zurückgekommen war, war er aus Gingers Kopf verschwunden.

»Natürlich ist das ein Vogel«, beharrte Frau Dorn. »Ein ganz normaler Sittich. Und jetzt darf das arme Ding wieder zu seinen Freunden«, sagte Frau Dorn. Sie sprach mit Ginger, als wäre sie ein Kleinkind. Viel zu langsam und mindestens eine Oktave zu hoch.

Im gleichen Moment berührte etwas Gingers Füße. Der Staubsaugerroboter! Er surrte, er ratterte und blinkte. Kopfschmerz hämmerte in ihrem Schädel. Im gleichen Takt wie das rote, blendende Licht an diesem seltsamen künstlichen Staubsaugerauge.

»Geh ins Bett, Mädchen. Ruh dich aus.« Frau Dorn legte einen Arm um sie.

»Nur ein Sittich … Klar«, murmelte Ginger und spürte, wie ihre Augen schwer wurden.

Was sollte es auch sonst gewesen sein?

Es gab keine kunterbunten Flederschmettermauslinge, die schnurrten wie kleine Kätzchen.

4. Kapitel,

in dem Ginger eine Freundin findet und ihr der Himmel eine Erinnerung zurückgibt

Beim Aufwachen dachte Ginger, alles wäre wieder nur ein verrückter Traum gewesen. Allerdings kam es ihr vor, als würde sie noch immer die kleinen Füßchen dieses merkwürdigen Wesens auf sich spüren. Sie blickte in Richtung ihrer Schulter. Eine winzige smaragdgrüne Fluse klebte an ihrem Oberteil! Ginger berührte sie mit der Fingerspitze und sah dabei zu, wie die schimmernden Härchen in der Luft ihres Atemzugs flimmerten.

Das Tierchen war wirklich hier gewesen!

Und Ginger wusste auch wieder seinen Namen. Fido! Sie konnte nur hoffen, dass Herr Dorn ihn tatsächlich freigelassen hatte. Aber woher kannte Ginger ihn? Weshalb waren die Dorns bei seinem Anblick so durchgedreht? Bestimmt nicht wegen der Allergie, denn die gab es nicht. Eindeutig! Hier war etwas faul und Ginger musste dringend in Ruhe nachdenken. Und zwar an der frischen Luft! Denn dieses schreckliche Haus war nicht nur für ihren Körper ein Gefängnis, sondern auch für ihre Gedanken. Ginger lauschte mit angehaltenem Atem. Gedämpfte Stimmen aus dem Schlafzimmer der Dorns. Es klang, als ob sie mit jemandem telefonierten.

»Unliebsamer Zwischenfall«, hörte sie. »Ein Eindringling. Dringender Handlungsbedarf. Müssen den Plan ändern.«

Gingers Herz machte einen Satz. Handlungsbedarf? Was, wenn die Dorns versuchten, sie von ihren Erinnerungen und ihrer Vergangenheit fernzuhalten? Würde das nicht bedeuten, sie hätten auch etwas mit dem Verschwinden ihrer Eltern zu tun? Was, wenn dieser Hubschrauberabsturz nie passiert war?

Sie musste hier raus. Sofort! Vielleicht hatte sie ja ein Fenster übersehen?

Sie versuchte es in der Küche. Im Wohnzimmer. Im Badezimmer. Nur das Schlafzimmer, in dem sich noch immer die Dorns verbargen, musste sie auslassen. Zuletzt lugte sie in die Abstellkammer. Aber in die fiel kein Streifen Tageslicht. Trotzdem zögerte Ginger. Etwas hielt sie zwischen den schmalen Wänden mit den deckenhohen Regalen. Eine Ahnung, ein vages Gefühl, und ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen! Sie sah sich den Inhalt der Regale genauer an. Einmachgläser. Putzmittel, in tausend Variationen, und Kartons voller Nudeln und Reis.

Auf einmal hörte Ginger ein Rascheln. Ganz leise nur. Es kam von oben!

»Oje! Du Arme!«

Sie schob eine Kiste vor das Regal, kletterte hinauf und stellte sich auf Zehenspitzen. Auf die Weise kam sie gerade so an eine vertrocknete Zimmerpflanze heran. Die Blätter waren mehr grau als braun und völlig dürr. Wie uraltes, knitteriges Papier.

»Wie kann man nur? Dich einfach ins Dunkle zu stellen und verdursten zu lassen!«

Ginger ließ sich inmitten der Regale auf den Boden rutschen. Den Blumentopf hielt sie fest zwischen ihren Knien. Sanft strich sie über die Blätter, die zwischen ihren Fingern beinahe zu Staub zerfielen.

Das Kribbeln in ihren Fingerspitzen wurde stärker und auch das sanfte Knistern hörte sie wieder. Es klang fast wie ein Flüstern. Ein freundliches: »Da bist du ja endlich.«

Wie in ihrem Traum, als die Äste des Baumes sie festgehalten hatten.

Aber die Pflanze hier war tot! Völlig vertrocknet. Oder … hatte sie sich gerade bewegt? In dem Moment klopfte es.

»Mist!«, zischte Ginger und versuchte die Pflanze hinter ihrem Rücken zu verstecken.

Da merkte sie, dass nicht die Dorns vor der Tür standen. Das Klopfen kam von woanders. Von irgendwo hinter ihr, an der holzvertäfelten Wand.

Vorsichtig stellte Ginger die Pflanze neben sich. »Bin gleich wieder bei dir«, flüsterte sie.

Sie stand auf und legte ihr Ohr an das Holz. Eindeutig – da klopfte jemand! Wer war das? Dieser kleine Flatterflauschevogel? War er hier aufgetaucht, um Ginger den Weg nach draußen zu zeigen?

»Warte! Ich komme!« Stück für Stück tastete sie die Bretter ab. Sie klopfte, drückte und zog, bis sie ein wackeliges Brett entdeckte. Ginger rüttelte fest daran und schaffte es, das Brett zu lockern. Dahinter war eine Scheibe. Ginger unterdrückte einen Freudenschrei. Noch ein Brett herunter. Das nächste. Noch eins! Und dann hatte sie tatsächlich ein kleines Fenster vor sich. Ginger zog an dem Griff und das Fenster öffnete sich.

 

Zuerst streckte sie nur den Kopf hinaus. Die Sonne! Hell und strahlend hing sie dort oben, sodass Ginger zwinkern und sich erst an das Licht gewöhnen musste. Und dieser unglaubliche blaue Himmel! Nur weit in der Ferne lag ein Schleier in der Luft. Ein grauer Dunst, als ob ein Unwetter im Anmarsch war.

Das kleine smaragdgrüne Tierchen war allerdings nicht zu sehen. Ginger entdeckte nur einen ganz normalen Schmetterling. Ein Pfauenauge, das mit langsamen Flügelschlägen eine Pause auf der Dachrinne machte. Vermutlich war es am Verhungern, weil in dem Garten da unten nicht eine einzige Blüte zu finden war.

Hoffentlich war dem Flauschevogel nicht doch etwas passiert! Und wenn nicht er geklopft hatte, wer war es dann gewesen? Der Wind? Aber es wehte kaum eine Brise. »Egal. Hauptsache, wir sind draußen!« Mit diesen Worten schob Ginger all die unbeantworteten Fragen von sich. »Aufgepasst, meine Liebe. Jetzt siehst du endlich mal wieder was von der Welt«, flüsterte sie der Pflanze zu, klemmte sie unter ihren Arm und kletterte aus dem Fenster.

 

Ginger atmete tief ein. Diese Luft! Sie roch ein bisschen nach Regen, nach feuchten Blättern und nasser Erde. Die Pflanze fest zwischen beiden Händen ließ sich Ginger vorsichtig auf den Dachziegeln nieder. Gut, dass sie noch barfuß war, so hatte sie besseren Halt. Außerdem war es so schön zu frösteln! Es fühlte sich so … lebendig an. Das genaue Gegenteil davon, auf den kalten, sauberen Fliesen herumzustaksen.

Überhaupt ging es ihr hier draußen sofort viel besser und ihr Kopf war viel klarer. Erneut blickte Ginger in den blauen Himmel über den Dächern. In der Ferne sah sie grüne Hügel am Rande der Stadt. Tausend verschiedene Grüntöne. Um diese Zeit trieben die Bäume gerade erst aus und sahen alle miteinander so toll aus, dass es fast unecht wirkte. Wie eine riesige, bemalte Leinwand am Horizont.

»Ist das nicht wunderschön?«, fragte Ginger die Pflanze und ihr war es, als ob sie ihr mit einem leisen Blätterrascheln zustimmte.

Ginger schloss die Augen, lauschte dem Vogelgezwitscher ringsherum, genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer Nasenspitze und – da tauchte erneut ein Erinnerungsbild in ihrem Kopf auf! Wieder der Baumstamm. Wieder dieses Flattertierchen. Fido! Und ihre Eltern. Diesmal sah Ginger ihre Gesichter genau vor sich. Das warme Lächeln ihrer Mutter – die Sommersprossen auf ihrer Nase schienen zu tanzen, wenn sie so glücklich war. Die meerblauen Augen ihres Vaters und die vielen Falten in ihren Winkeln. Lachfalten. Weil Ginger ihnen in fast jedem Moment ansehen konnte, wie froh sie waren, Ginger zu haben. Und wie stolz sie auf sie waren! Wie hatte Ginger das nur vergessen können? Tränen liefen ihr die Wange herunter.

»Mama, Papa, wo seid ihr?«, flüsterte sie.

Bevor Ginger tiefer in die Erinnerung eintauchen konnte, hörte sie ein leises Rascheln. Es war wieder die Pflanze. Ihre Blätter hatten inzwischen richtig Farbe bekommen und sahen kaum mehr zerknittert aus.

»Das ist der Wahnsinn. Drinnen gebe ich dir sofort etwas Wasser, ja? Wer weiß, vielleicht erholst du dich ja wieder!«