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Auria ist ein kleines Königreich zwischen Indien und Bangladesch. Der König und sein älterer Bruder führen, im Streit um den Thron, Krieg gegeneinander. Alice war sechs Jahre alt, als sie mitansehen musste, wie ihr kleiner Bruder und ihr Vater von ihrem Onkel, Prinz Ajeet, ermordet wurden. Ajeet wurde daraufhin sofort ins Exil geschickt. Doch nach neun Jahren kehrt er zurück und erhebt erneut Anspruch auf den Thron. Dabei sind ihm nur noch Alice und ihre Mutter im Weg. Als ein Mordanschlag auf ihre Mutter gelingt, schwört Alice sich, sich der ungerechten Herrschaft ihres Onkels zu widersetzen. Dabei wird sie tatkräftig von ihren neuen Freunden und der Tigerin Mala unterstützt.
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Seitenzahl: 213
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Prolog
Die dunkle Gestalt am Tor
Der verletzte Tiger
Prinz Ajeets treuester Anhänger
Die Rückkehr des Adlers
Die Rückkehr des Adlers
Männer an die Macht!
Ajeets Plan geht doch noch auf
Staatsfeindin Nummer 1
Neue Freunde
Die Carsons
Eine Sportstunde mit Überraschungen
Die Cousine aus England
Die Black Warriors
Die Vorladung
Aufgeflogen
Die Rettungsaktion
Der Aufstieg des Adlers
Der Aufstieg des Adlers und sein Untergang
Zwischen Indien und Bangladesch lag ein winzig kleines Königreich, von dem kaum jemand wusste. Es war gerade einmal so groß, dass es zwei Dörfer und eine große Stadt gab.
Die Dörfer hatten jeweils gerade einmal ein bisschen mehr als 200 Einwohnern. In der Stadt und den Häusern am Stadtrand lebten rund 50 000 Menschen.
Der Rest des Landes war hauptsächlich unberührte Natur. Es gab einen großen Fluss, ein Teil des Ganges, der allerdings vor Pythons und Krokodilen nur so wimmelte, mehrere Seen, bei denen man bis auf den Grund sehen konnte und eine wunderschöne Küste mit einem langen schwarzen Kiesstrand, türkisfarbenem Wasser und hohen, rauen Klippen, in denen die Seevögel ihre Nester bauten.
Dieses Königreich hieß Auria, benannt nach dem riesigen Berg im Zentrum des Landes, in dem es über hundert Gold –und Silberminen gab. Diese waren jedoch mit tödlichen Fallen gesichert, damit sich niemand widerrechtlich an dem Gold und Silber bereicherte, ganz zu schweigen von dem riesigen Diamantschatz, der im Innern des Bergs versteckt lag. Auch dieser war mit Fallen gesichert. Und nur der König von Auria wusste wie man die Fallen entschärfen oder umgehen konnte.
Außerdem musste man zuerst den Weg durch den dichten Tropenwald am Fuß des Berges finden, wo Tiger, Leoparden, Elefanten, Affen oder Berggorillas lebten.
In Auria gab es noch das Kastensystem, doch König Abasin, ein sehr gerechter und großzügiger Mann, versuchte jeden gleich zu berechtigen. Leider funktionierte es nicht denn die vier verschiedenen Kasten verstanden sich überhaupt nicht gut. Die höheren Kasten wollten die niedrigeren nicht unterstützen und die niedrigeren wollten keine Unterstützung bekommen. Die Menschen mit handwerklichen Berufen aller Art und Bauern wurden schon immer von den Adligen und Reichen und den Gebildeten aus der Stadt Dhani ferngehalten und hatten sich ihre eigenen kleinen Dörfer aufgebaut. Diese hatten sie nach den indischen Göttern benannt, die sie anbeteten. So hieß das Dorf der Landwirte, das aus gerade mal sechs Höfen bestand nach Brahma, der er der Gott der Schöpfung war. Das Dorf der Handwerker war nach der Göttin Saraswati, der Göttin des Wissens und der Weisheit, aber auch der Kunst, benannt. In beiden Dörfern gab es jeweils eine riesige Götterstatue des Namenspatrons, der den Bewohnern Glück bringen sollte. Die Dörfer hatten sich zusammengeschlossen im ewigen Streit mit den beiden höheren Kasten. Sie hielten zusammen gegen die Menschen in der Stadt. Das hieß, wenn ein Mensch aus der Stadt ungerecht zu einem Friseur war, dann würde die Lieferung des Landwirts geringer ausfallen als sonst, oder es konnte sein, dass eben diese Person auf einmal eine Made oder ein anderes ekelhaftes Insekt in seinem Reis oder im Mehl finden würde.
Doch das war früher gewesen und nichts im Vergleich dazu, was nun im Land geschah. Denn König Abasin und sein älterer Bruder, Prinz Ajeet, führten Krieg gegeneinander. Es war ein Bürgerkrieg zwischen den Leuten aus den Dörfern und den Adligen, Reichen und Gebildeten aus der Stadt, wobei sich die Dorfbewohner Prinz Ajeet angeschlossen hatten und die Menschen aus der Stadt auf der Seite des Königs kämpften. Es war ein schrecklicher Krieg: Die beiden Dörfer waren fast komplett zerstört und die Kinder ernährten sich von den ungekochten Reiskörnern, weil es ansonsten nichts zu essen gab. Viele von ihnen verhungerten auch. Doch die Stadt war nicht besser dran: Überall brennende Häuser oder ausgebrannte Autos. Diejenigen, die nicht mitkämpften, versteckten sich und ihre Familien in den Kellern, wo sie einigermaßen sicher vor Bomben waren. Zu essen hatten die Leute in der Stadt auch kaum etwas, weil sie bisher immer von den Landwirten beliefert wurden. Außerdem gab es Spione und Verräter. Es wurde niemandem mehr vertraut, die Leute hatten Angst etwas falsches zu sagen.
Grund für diesen Krieg war ein Streit zwischen den beiden Brüdern. Prinz Ajeet, der Ältere, hätte eigentlich das Recht auf die Thronfolge gehabt, doch aus Sicht seines Vaters hatte er zu vieles falsch gemacht. Er war immer die Nummer zwei gewesen, während sein kleiner Bruder, der tolle, gutaussehende, nette Abasin alles bekam was er wollte. Seine Eltern hatten ihren jüngsten Sohn regelrecht vergöttert, egal welche Fehler ermachte. Ajeet, der kräftig gebaut war längeres schwarzes Haar, schwarze Augen, dichte Augenbrauen und, wie sein kleiner Bruder einen dunkleren Teint hatte, aber eben nicht so attraktiv wie Abasin war, hatte in seinem Leben nur einen einzigen Fehler gemacht und das war seine Geburt. Abasin hingegen war immer der Liebling gewesen. Er sah zu allem Überfluss auch noch gut aus. Auch er hatte einen dunkleren Teint, aber nicht so dunkel wie Ajeet, er hatte sich die langen Haare bei Ajeet abgeschaut, die ihm viel besser standen als Ajeet, weil seine Locken sein schmales Gesicht schön umrahmten. Und dann hatte er es auch noch irgendwie geschafft, eine perfekte gerade Nase und einen schönen Mund zu bekommen. Und wie er es hinbekam, dass seine schwarzen Augen im richtigen Licht goldbraun aussahen, war Ajeet auch ein Rätsel. Er war natürlich nicht so perfekt wie sein kleiner Bruder. Manchmal hatten seine Eltern ihm das Gefühl gegeben, dass sie nie gewollt hätten, ihn zu bekommen. Mit diesem Gedanken musste er seine gesamte Kindheit zurecht kommen. Als er zwölf Jahre alt wurde starb sein Vater. Abasin war damals zehn. Es war kein schöner Geburtstag gewesen. Alle hatten geweint und ihm überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Ajeet wusste, dass sein Vater nichts dafür konnte, dass er ausgerechnet an seinem Geburtstag an Krebs starb, doch er hatte sich trotzdem geärgert.
Wieder einmal wurde ihm die Show gestohlen. Außerdem hatte es ihn geärgert, dass sein Vater seinen kleinen, zehnjährigen Bruder zum Thronfolger gemacht hatte und nicht ihn. An der Beerdigung seines Vaters hatte Ajeet dann natürlich nicht teilgenommen und auch nicht an der seiner Mutter, die zwei Jahre später starb. Nun standen die Brüder komplett alleine da und Abasin, der erst zwölf Jahre alt war, wusste nicht wie man regierte. Doch dafür hatte seine Mutter gesorgt. Sie hatte Berater für ihn eingestellt und so schaffte Abasin es, mit zwölf Jahren ein ganzes Land zu regieren. Ajeet kochte natürlich vor Wut. Er hätte König werden sollen. Er hätte es genauso gut gemacht wie sein Bruder, doch die Leute liebten Abasin. Ajeet wurde kaum mehr Beachtung geschenkt, und wenn, dann weil er der Bruder des Königs war. Mit achtzehn wurde es Ajeet zu viel und er ging nach China. Sieben Jahre später kehrte er zurück und erhob Anspruch auf den Thron, doch natürlich hatte er ihn nicht bekommen. Und so hatte er begonnen, Anhänger zu sammeln und Hetzreden gegen seinen Bruder zu halten. Schon bald hatte er alle beiden Dörfer hinter sich stehen und hatte mit ihnen seinen Bruder angegriffen. Doch der hatte ebenfalls Leute hinter sich und sich verteidigt. Und nun herrschte schon seit drei Jahren Krieg zwischen den Brüdern.
Prinz Ajeet hatte es sich irgendwie einfacher vorgestellt seinen Bruder loszuwerden; sein kleiner Bruder war einfach auf jeden Angriff vorbereitet und am Ende sah Ajeet immer alt aus. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Und er hatte auch schon eine Idee.
Abasin hatte einen riesigen Palast aus Marmor. Das Dach war typischerweise eine Zwiebelkuppel, auf der eine riesige goldene Kugel thronte. Da der Palast viereckig war, gab es auf dem Dach auch noch vier Zwiebeltürme mit bunt gekachelten Dächern. Zudem hatte der Palast viele Säulen, Bögen, Balkone und Erker. Umgeben war der Palast von einem riesigen Garten, in dem die schönsten Pflanzen und Blumen wuchsen, und zwei großen Springbrunnen rechts und links vom Eingang, zu dem eine mit einem Roten Teppich ausgelegte Marmortreppe führte.
Vor dem Palast ragte eine imposante Statue in die Höhe, die die Göttin Lakshmi darstellen soll. Ihr war der rechts am Palas angrenzende Tempel gewidmet. Auch der Tempel war größer als jeder andere in der Stadt und, anders als der Palast in vielen verschiedenen Farben gestrichen. Er war leicht Pyramidenförmig mit einem riesigen buntem Vordach aus Stein vor dem Eingang, der von verschiedenfarbigen Säulen gestützt wurde. Links vom Palast gab es dann noch die Pferdeställe, Koppeln und Reitplätze, doch um die beneidete Ajeet seinen Bruder nicht, denn er konnte Pferde nicht ausstehen. Sie stanken und warfen einen ab beim Reiten.
Mit seiner Ehefrau hatte Abasin natürlich auch mal wieder Glück: Celia Hard war Engländerin. Sie hatte lange, blonde Locken, war groß und schlank und hatte große himmelblaue Augen. Außerdem stets ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht. Zusammen mit ihr hatte Abasin auch zwei Kinder: seine sechsjährige Tochter Alice und seinen vierjährigen Sohn Akaash, der einmal Thronfolger werden sollte. Alice kam stark nach ihrer Mutter. Sie hatte die gleichen Gesichtszüge und eisblaue Augen. Allerdings hatte sie sehr dunkelblondes Haar.
Akaash hingegen hatte fast schwarze Augen und pechschwarzes Haar. Trotzdem war die Ähnlichkeit zu seiner großen Schwester durchaus vorhanden und beide hatten sie den Teint ihres Vaters geerbt. Die beiden Kinder waren immer so schrecklich fröhlich, fand Ajeet. Und sie steckten alle damit an. Aber dem würde er ein Ende setzen. An einem, seiner Ansicht nach dafür perfekten, kühlen Donnerstagabend kleidete Ajeet sich komplett in schwarz und huschte wie ein Schatten durch die menschenleeren und zerstörten Straßen. Nur hier und da war einmal ein Schuss oder ein anderer lauter Knall zu hören. Da Ajeet schlecht zur Vordertür hereinspazieren konnte, nutzte er den Durchgang im Tempel, der Tag und Nacht geöffnet war.
Eine Verbindungstür zum Palast hatte Ajeets Vater einbauen lassen, damit er gemütlich vom Schlafzimmer aus in den Tempel gehen konnte. Ajeet wusste, dass die Tür mit einem Code gesichert war, den er nicht kannte. Doch er hatte vorgesorgt: Er hatte sich von seinem Technikgenie ein Programm auf sein Smartphone installieren lassen, mit dem man Codes in Sekundenschnelle knacken konnte.
Als Ajeet den Tempel betrat wäre er fast seiner Schwägerin in die Arme gelaufen, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig in eine Nische ducken. Celia betrat die Cella und verließ den Palast somit. Sie konnte er nicht töten, denn es waren Wachen bei ihr, die sofort Alarm schlagen würden und dann wäre sein Bruder vorgewarnt und er würde verhaftet oder sogar selbst getötet werden. Das wollte er nicht riskieren. Ajeet schlich sich an ihr vorbei zur Tür. Er steckte sein Smartphone an den Apparat an, an dem man den Code eingeben musste und wartete. Das Programm begann unzählige Zahlenkombinationen über den Bildschirm zu jagen, bis es schließlich piepte und die Tür aufschwang. Ajeet betrat das Schlafzimmer seines Vaters, in dem jetzt sein Bruder mit seiner Frau schlief. Das Schlafzimmer war in einem knalligen rot gestrichen und das Ehebett war ein Himmelbett in einem nicht minder knalligen rot. Rechts neben der Tür stand ein kleiner Altar, über dem Bilder von verschiedenen indischen Göttern hingen. Ein riesiger Kleiderschrank stand links neben der Tür.
Er war weiß. Ajeet verließ den Raum und ging weiter. Er hatte eine Pistole dabei. Ganz in der Nähe hörte er ein Kind lachen.
Gleich würde es das nicht mehr tun, dachte Ajeet grimmig. Er bog rechts ab und kam in den Thronsaal. Zwei riesige Throne standen gegenüber von einer schweren Holztür. Die Throne waren golden und über und über mit Elefanten bemalt. Über den Thronen an der Wand prangte das Wappen des Königreichs:
Es war in vier Felder geteilt, die verschieden angemalt waren.
Das obere rechte war gold-silbern gestreift und stand für das Reichtums des Landes durch den Schatz. Das daneben war grün und stand für die üppige Natur des Lands. Das rechts untere Feld war golden und stand für das Königshaus, während das rote daneben für den ewigen Kampf zwischen Stadt und Land stand. Ajeet ließ seinen Blick weiter schweifen. Hohe Fenster ermöglichten einen Ausblick über die Stadt und den Schlosspark. Der Boden war im Schachbrettmuster gefliest und in der Mitte des Saals stand eine sehr lange Tafel. An der Tafel saß König Abasin und war über irgendwelche Pläne gebeugt.
Ein kleiner Junge rannte lachend im Saal herum und schien irgendetwas zu suchen.
„Guten Abend“, sagte Ajeet plötzlich und ließ seine Stimme bedrohlich klingen. Abasin und sein Sohn Akaash sahen auf.
Der Kleine bekam große Augen, Abasin sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte.
„Wie bist du hier reingekommen?“, fragte er. In seinem schönen Gesicht lag Zorn und ein Anflug von Angst. Ajeet grinste.
„Du bist nicht der Einzige, der hier im Schloss aufgewachsen ist, Bruderherz“, antwortete er. „Und ich kenne immer noch ein paar der Geheimnisse unseres Vaters...“ Abasins Augen weiteten sich. Anscheinend hatte er begriffen.
„So, und jetzt genug geredet“, sagte Ajeet und seine Stimme war plötzlich ganz hart. Er zog seine Pistole und richtete sie auf seinen Bruder.
„Akaash, lauf“, rief dieser seinem Sohn zu. Der Kleine war sichtlich verwirrt. „Wir spielen fangen und jetzt lauf, ich fange dich“, fügte Abasin mit deutlicher Panik in der Stimme hinzu.
Ajeet lachte. Akaash war immer noch verwirrt, rannte aber los zur Tür. Doch bevor er sie erreicht hatte, drückte Ajeet ab. Der kleine Junge klappte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Der nächste Schuss fiel und König Abansin wurde von seinem eigenen Bruder gestürzt.
Es war grausam für ein sechsjähriges Mädchen mitanzusehen wie zwei geliebte Personen getötet wurden, doch Alice verhielt sich genau richtig: Sie verharrte regungslos und vollkommen still in ihrem Versteck hinter dem langen weinroten Samtvorhang, der bis zum Boden ging und kam erst heraus, als ihre Mutter mit Wachen in den Saal gestürmt kam und Ajeet festnehmen ließ. Der Schock stand dem kleinen Mädchen deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie zusah wie ihr Onkel abgeführt und die Leichen ihres Bruders und ihres Vaters mit weißen Tüchern abgedeckt und hinausgetragen wurden.
Noch in der selben Nacht wurden Ajeets Männer von der Armee des Königs überwältigt und gaben auf, da sie gemerkt hatten, dass sie nun keinen Anführer mehr hatten. Ajeet wurde nicht hingerichtet, doch die Königin schickte ihn ins Exil nach Russland. Mehrere seiner treuen Anhänger wurden festgenommen und Celia übernahm die Thronfolge, so wie es von ihrem Mann geregelt worden war. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass Ajeet an die Macht kam. Demnach würde nach Celia erst noch Alice kommen und nach ihr ihre Kinder, sodass Ajeet wirklich keine Chance haben würde die Thronfolge zu übernehmen.
Acht Jahre waren vergangen. Alice war in den Sommerferien 14 Jahre alt geworden und vor einem halben Jahr in die achte Klasse gekommen.
Celia hatte es geschafft die Stadt und den Frieden wiederaufzubauen. Die Feindschaft zwischen den Kasten würde wohl immer bleiben, doch es gab Menschen, die ernsthaft versuchten miteinander auszukommen. Die Mädchen und Frauen bekamen eine bessere Bildung und bessere Berufe.
Etwas, wofür ihr Mann sich niemals eingesetzt hatte, weil er seine Beliebtheit beim Volk behalten wollte. Celia musste sich mit vielen Beschwerdemails und sogar Morddrohungen herumschlagen, vor allem von Leuten aus den Dörfern, weil sie kein Mann und eine englische Politikstudentin war, als sie Alices Vater kennengelernt hatte, also nicht einmal adelig war, doch es kümmerte sie nicht weiter. Denn keine einzige der Mails war von einer Frau gekommen.
Celia hatte es mit einer gemischten Internatsschule versucht, doch als sich dort die Mädchen und Jungen prügelten und aufs übelste beschimpften, hatte Alices Mutter beschlossen zwei reine Internatsschulen zu gründen, wie sie es selbst aus England kannte, auch mit jeweiligen Schuluniformen. Die Grundschule blieb allerdings gemischt, denn dort prügelten und beschimpften die Kinder sich noch nicht.
An der Mädchenschule meldete sie Alice unter falschem Namen an. Ihre Sorge, Ajeets Anhänger könnten ihrer Tochter etwas antun, war sehr groß. Außerdem war Celia der Meinung, Alice könnte mit dem falschen Namen Freunde finden, die sie dafür mochten, wie sie wirklich war und nicht, weil sie die Prinzessin war. Umgekehrt galt es natürlich genauso. Keiner sollte Alice hassen, weil sie die Prinzessin war.
Alice hieß nun also Aleika Dalal und besuchte zurzeit die neunte Klasse des Amodia Patel Mädcheninternats, benannt nach einer Friedensaktivistin, die sich vor über hundert Jahren für den Frieden zwischen den vier Kasten einsetzte. Allerdings war sie gescheitert und wurde umgebracht. Celia hielt dennoch sehr viel von ihr. Auch das Internat für Jungen war nach einer besonderen Person benannt: Es hieß Prinz Akaash Jungeninternat.
Alice teilte sich ihr Zimmer im Internat mit einem Mädchen namens Ella Carson. Ella war klein für ihr Alter, hatte wilde rote Locken und funkelnde grüne Augen. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen und sie hatte eine freche Stupsnase. Alle mochten Ella. Sie und ihre besten Freundinnen Kelly Hunter und May Sato waren die beliebteste Clique der Klasse. May war Klassenbeste. Sie kam aus Japan und war auch sehr hübsch. Sie hatte ein schmales Gesicht, langes seidenes schwarzes Haar und goldbraune mandelförmige Augen.
Außerdem war sie frech und vorlaut und trotzdem beliebt bei den Lehrern. Kelly hingegen war eher schüchtern. Genau wie Ella kam sie aus England. Sie hatte kastanienbraunes Haar, war groß und dünn, hatte eher blasse Haut und Saphir blaue Augen.
Im Unterricht meldete sie sich selten, doch sie bekam trotzdem ständig nette Bemerkungen in ihrem Zeugnis. Kelly mochte es dann aber trotz ihrer Schüchternheit ganz gerne mit Ella und May zusammen im Mittelpunkt zu stehen. Alice hielt sich eher zurück. Sie konnte Ella nicht leiden und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ella dachte Alice wäre eine eingebildete Tussi, was Alice nur zurückgeben konnte. Fast täglich stritten die beiden sich, doch das bekam keiner mit. Denn es passierte erst abends, wenn die beiden Mädchen in ihrem Zimmer waren.
Meistens waren es nur Kleinigkeiten, aus denen dann ein lauter Streit wurde und Ella lästerte dann am nächsten Morgen mit ihren Freundinnen über Alice. Alice war das egal. Sie brauchte keine Freunde. Sie war sowieso am liebsten allein, denn dann konnte sie in Ruhe nachdenken. Seit zehn Jahren war sie nun schon Aleika Dalal und noch nie hatte irgendjemand Verdacht geschöpft, doch Alice hatte es langsam satt sich zu verstellen.
Ihre Mutter wollte davon aber nichts hören, denn das war die Bedingung gewesen, dass Alice ein normales Leben führen konnte. Doch Alice führte kein normales Leben, weil sie so sehr damit beschäftigt war ja nichts über sich preiszugeben, dass sie jeden abschreckte, der gerne etwas mir ihr zu tun haben wollte. Sie war unberechenbar. Mal war sie freundlich und im nächsten Moment ging sie hoch wie eine Bombe und das wegen jeder Kleinigkeit. Nein, mit Alice hatte man es wirklich nicht einfach. Alice wusste das und das störte sie am meisten an sich, doch sie konnte sich nicht ändern. Sie war nun einmal aufbrausend.
So war es auch heute gewesen. Alice saß auf einer Bank im Pausenhof und dachte über die heutige Englischstunde nach.
Ella und Alice hatten sich wieder einmal gestritten. Doch diesmal war es vor der ganzen Klasse, inklusive Englischlehrer.
Was musste er Ella und Alice auch in eine Gruppe stecken?, dachte Alice kopfschüttelnd. Wieder einmal war es eine Kleinigkeit, die zum Streit geführt hatte: Es war ein Wort, bei dem sie sich nicht einig waren, was es bedeutete. Sie hatten sich zehn Minuten lang im Flüsterton gezankt, bis Ella schließlich laut wurde und die ganze Klasse an dem Streit teilhaben ließ. Sie meinte, weil sie Engländerin war, hätte sie Recht und Kelly meinte ebenfalls, dass nur Ella Recht hatte, doch Alices Muttersprache war ebenfalls Englisch und auch sie meinte, dass sie Recht hatte. Und erst als der Englischlehrer einschritt und die beiden streitenden auseinanderbrachte, sagte er, dass beide Recht hätten und in diesem Fall sogar Alices Antwort richtig wäre. Ella war daraufhin den ganzen Tag angefressen und am Abend ließ sie ihren Ärger an ihrer Zahnbürste, die sie so fest gegen das Waschbecken schlug, dass sie entzweibrach, an ihren Schlafanzug (nun aber deshalb, weil sie ihre Zahnbürste kaputt gemacht hatte), in den sie ewig nicht reinkam und schließlich noch ihrem Kopfkissen, das sie gegen die Wand schlug, weil es zu hart war und dann sogar fast in Tränen ausbrach. Kopfschüttelnd machte Alice sich fürs Bett fertig. Ella konnte manchmal echt merkwürdig sein.
Alice wartete, bis Ella eingeschlafen war, dann schlich sie sich aus dem Zimmer, den dunklen Gang im dritten Stock des Internats entlang und hinunter zur Fußballwiese, auf der nie Fußball gespielt wurde. Sie war deshalb auch schon lange nicht mehr gemäht worden, doch das störte Alice nicht. Sie kam jeden Abend hierher, um zu trainieren. Denn Alice hatte vor sechs Jahren Pfeil und Bogen für sich entdeckt und war nun schon so zielsicher, dass es eigentlich lächerlich war, dass sie noch übte, doch beim Training bekam sie den Kopf frei.
Natürlich waren Waffen an der Schule nicht erlaubt, aber Alice kümmerte sich nicht um dieses Verbot.
Auch heute schlich sie sich wieder zu den Brombeersträuchern, dir dort wuchsen, wo eigentlich das Fußballtor stehen sollte, und holte ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen aus dem linken Strauch. Aus dem rechten holte sie eine Zielscheibe.
Dann fing sie an zu trainieren. Jeden Tag vergrößerte sie den Abstand zur Scheibe und heute war sie nun am anderen Ende der Wiese angekommen. Sie spannte ihren Pfeil ein, zielte – und stutzte. Alice ließ ihren Bogen sinken und guckte zum Schultor herüber. Sie könnte schwören dort gerade jemanden gesehen zu haben. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zum Tor, doch da war niemand mehr. Vielleicht war es doch Einbildung gewesen. Alice zuckte die Achseln und spannte erneut den Pfeil ein. Sie zielte und schoss den Pfeil ab. Er sauste auf die Zielscheibe zu und blieb federnd direkt in der Mitte der Scheibe stecken. Zufrieden holte Alice den Pfeil aus der Scheibe und schoss ihn noch einmal ab. Auch dieses Mal traf sie wieder genau in die Mitte. Während sie trainierte, dachte Alice immer über Dinge nach, die sie beschäftigten.
Heute waren es, wie sonst auch immer, ihr Bruder und ihr Vater. Ihr Vater wäre sicher stolz auf ihre guten Noten gewesen.
Er hätte es bestimmt toll gefunden, dass sie in Mathe gut war.
Und Akaash wäre jetzt mit anderen Jungen zusammen auf dem Internat und hätte Freunde, mit denen er Streiche spielen könnte. Oder er könnte Fußball spielen. Wahrscheinlich wäre die Schule ihm nicht so wichtig, dachte Alice mit einem leichten Schmunzeln. Sie seufzte. Akaash hätte bestimmt viele Freunde gehabt. Er war schon immer offener auf Menschen zugegangen als sie.
Alice dachte auch über den idiotischen Streit mit Ella nach und über die Gestalt am Tor. Prompt blickte sie erneut dorthin. Und wollte ihren Augen nicht trauen: Da waren wieder diese Umrisse einer Person. Alice ging ganz langsam näher ran.
Neben der Zielscheibe blieb sie stehen und schaute hinüber zum Tor. So weit sie es bei dieser Dunkelheit erkennen konnte war es ein Mann. Dieser schien Alice bemerkt zu haben, denn er drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Nachdenklich versteckte Alice die Zielscheibe, Pfeil und Bogen wieder in den Sträuchern und kehrte in ihr Zimmer zurück. Auf dem Weg dorthin schossen ihr immer die gleichen zwei Fragen durch den Kopf: Wer könnte diese Person sein und was wollte sie in der Schule? Alice versuchte, auf Personen zu kommen, die versuchen würden nachts in die Schule einzubrechen, weil es tagsüber nicht möglich war, aber ihr fiel niemand ein. Eltern durften jederzeit kommen und wer sollte sonst zu Besuch kommen wollen? Und vor allem: Wen würde die Schule nicht reinlassen wollen? Alice konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer das sein könnte.
Bei ihrem Zimmer angekommen öffnete sie so leise wie möglich Tür, schloss sie genauso leise wieder und schlich zu ihren Bett. Gerade, als sie nach ihrem Nachthemd greifen wollte, ging das Licht an. Geblendet hielt Alice sich die Hände vor die Augen.
„Wo kommst du her?“, fragte Ella scharf. Alice musste ihre Augen erst einmal an die plötzliche Helligkeit gewöhnen und antwortete gereizt:
„Das geht dich nichts an.“ Ella runzelte die Stirn.
„Das stimmt. Mich geht es nichts an. Die Direktorin aber schon, denke ich. Ich denke, ich werde morgen Früh vor dem Unterricht zu ihr gehen und ihr sagen, dass du heimlich mit Waffen trainierst.“ Alice zuckte die Achseln.
„Wie du meinst“, antwortete sie gleichgültig. Amrita wusste es sowieso schon. Alice hatte sich eine ordentliche Standpauke anhören müssen, als Amrita sie vor fünf Jahren das erste Mal erwischt hatte, doch als Alice sich nicht einmal davon abhalten ließ, dass ihr Sachen konfisziert wurden (Sie hatte Sie sich einfach wieder geholt) hatte die Direktorin es schließlich aufgegeben. Wahrscheinlich dachte sie Alice hätte es eh schon schwer genug wegen ihres Vaters und ihres Bruders und so war es auch, denn nur beim Trainieren bekam Alice den Kopf von anderen Dingen frei, doch sie wollte nicht dass Amrita aus Mitleid darüber hinwegsah oder weil Alice die Tochter der Königin und noch dazu ihrer besten Freundin war. Aber so war es nun einmal und Alice hatte sich damit abgefunden, dass sie von Amrita wie ein rohes Ei behandelt wurde und von ihr alles erlaubt kriegte, was für andere Schüler verboten war. Allerdings nutzte Alice das nicht aus, außer eben für ihre nächtlichen Trainingseinheiten.