Girlhood - Basma Hallak - E-Book

Girlhood E-Book

Basma Hallak

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Beschreibung

Girls just wanna have fun(damental rights)! GIRLHOOD vereint in ergreifenden Erzählungen die Gemeinsamkeiten sowie Herausforderungen, denen sich Mädchen und junge Frauen beim Aufwachsen stellen müssen. Rassismus, Bodyshaming, Mobbing, Social Media und das Recht auf Selbstbestimmung – Themen, die uns entweder selbst betreffen oder aber einen Perspektivwechsel ermöglichen. Doch ganz gleich, welche Probleme und Schwierigkeiten unsere Heldinnen bewältigen müssen, schlussendlich bleibt eine gemeinsame Botschaft: Wir sind stark, wir sind selbstbestimmt, wir sind mehr als die Hindernisse, die uns begegnen. Ein kraftvolles Plädoyer für Zusammenhalt und gegen Ungerechtigkeiten – und damit genau das, was junge Leser:innen in der heutigen Zeit brauchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Amani Padda / Anna Dimitrova / Basma Hallak / Justine Pust / Katharina Seck / Rabia Doğan

Girlhood

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2025

Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des § 44b UrhG für das Text- und Data-Mining.

© Text: Amani Padda, Anna Dimitrova, Basma Hallak, Justine Pust, Katharina Seck, Rabia Doğan

Lektorat: Pia Schmikl

Covergestaltung: Johanna Lohse und Heike Kortylak (W1-Verlage GmbH) unter der Verwendung der Illustrationen © 2025 von Debs Lim (@debslim)

Innenillustrationen: Amani Padda

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.

 

ISBN978-3-03880-234-1

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

Girlhood (Subst.) /ˈɡɜːl.hʊd/

1. cis Mädchen, trans* Mädchen, Mädchen of Colour, weiblich gelesene Personen, Mädchen mit Behinderung

2. Manchmal ein Käfig, manchmal ein Safe Space.

3. »Du bist nicht wie die anderen Mädchen« – doch.

4. Mädchen, denen Scham beigebracht wurde und die Stolz erst erlernen mussten.

5. Mädchen, die immer zu viel, zu laut, zu drüber und trotzdem nicht genug sind.

Amani Padda

Das Hochzeitsduell

Die Schuhe

Auf Hochzeiten muss ich immer weinen.

Vollkommen egal, ob ich mit dem Brautpaar verwandt bin oder nicht, der Damm bricht jedes Mal. Wenn man bedenkt, zu wie vielen Hochzeiten meine Familie in einer Saison eingeladen wird, sollten meine Tränendrüsen mittlerweile komplett leer geheult sein. Erst letztes Wochenende saß ich mit feuchten Wangen vor meinem Teller, weil ich nicht glauben konnte, wie gut das Tandoori Chicken schmeckte. Und scharf. Aber trotzdem gut.

Ein indisches Fest ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Es braucht mindestens eine Woche, um alle Traditionen abzuhaken und nur die Hälfte von ihnen ergeben für mich Sinn. Selten sind es die großen Momente am Hochzeitstag, sondern vielmehr die kleinen Gesten davor, die meine Augen zum Überlaufen bringen.

Da wären zum Beispiel meine Eltern, die stundenlang Schulter an Schulter in der Küche stehen und Samosas falten. In ihren Händen werden die Teigtaschen zu kleinen, voll bepackten Liebesbriefen. Sie summen leise Boliyan und schwelgen in Erinnerungen an ihre eigene Hochzeit.

Oder mein Bruder, der mit mir Girlanden im Garten aufhängt und dabei dem norddeutschen Schietwetter trotzt. Er tut gerne so, als wäre er zu cool fürs Dekorieren, dabei ist er es, der mir zeigt, wie man die perfekte Serviettenblume faltet.

Oder Rupis deutsche Freundinnen, die sich Saris für die Feier ausleihen und Tanztutorials auf YouTube abspeichern.

Jeder kleine Handgriff ist ein Akt der Liebe, all die Bräuche, die wir seit Jahrhunderten in meiner Familie bewahren und weitergeben – und das, obwohl wir mittlerweile in Deutschland und nicht mehr im indischen Punjab leben.

»Hallo? Erde an Pree, bist du noch da?« Maya schnippt mit den Fingern vor meinem Gesicht herum, woraufhin ich erschrocken zusammenzucke. Statt einer Antwort bekomme ich nur ein Schluchzen heraus.

Maya rollt mit den Augen. »Was ist es diesmal?«

»Ich glaub, das Pferd«, antwortet Josy.

»Das Pferd?«, kreischt Rupi und springt von ihrem Stuhl hoch. Die aufwendigen Verzierungen ihres roten Brautkleids klimpern gegeneinander wie ein Windspiel. »Warum hat er ein Pferd bekommen und ich nicht?«

Es ist früh am Morgen, zu früh, um ehrlich zu sein. Wir sitzen in einem Nebenraum des Gebetstempels, dem Gurdwara. Meine Cousine Rupi, die Braut, wartet hier darauf, dass sie in die Hochzeitszeremonie einlaufen darf, die draußen bereits in vollem Gange ist. Ihre Brautjungfern, Maya, Josy und ich, sorgen dafür, dass sie dabei vor Langeweile nicht einschläft. Geduld war noch nie Rupis Stärke. Dauert etwas länger als ein TikTok-Video, ist ihre Aufmerksamkeitsspanne bereits am Limit.

»Ihr dürft euch noch nicht sehen, falls du das vergessen hast«, brummt Maya. Sie versucht ihre Schwester vom Fenster wegzuziehen, aber Rupi schlägt ihre Hand weg.

»Hör mir auf mit diesem abergläubischen Getue! Außerdem will ich nicht ihn sehen, sondern das Pferd.«

Mit ihn ist Rupis Bräutigam gemeint, der, umringt von seiner Familie, gerade auf unseren Gebetstempel zusteuert, hoch zu Ross. Sogar der Sattel und das Pferdezaumzeug sind auf sein rot-goldenes Outfit abgestimmt.

»Aw, es ist wirklich niedlich! Ich verstehe, warum du weinst, Pree«, ruft Rupi aus.

»Danke«, schniefe ich.

»Und der Bräutigam sieht auch ganz okay aus«, fügt sie mit einem Zwinkern hinzu. Rupi versucht, möglichst lässig zurück auf ihren Stuhl zu plumpsen, doch die vielen Tülllagen ihres Kleids bauschen sich zu einem Nest auf, das kaum zwischen die Armlehnen passt.

Ich schnäuze in mein Taschentuch und beuge mich zum Fenster vor.

»Wir sollten uns einprägen, wie seine Schuhe aussehen«, sage ich zu Maya und Josy. »Solange er da oben sitzt, haben wir eine gute Sicht.«

»Goldene und silberne Kringel, klassischer Schnabelschuh mit roter Sohle«, stellt Maya fachkundig fest.

»Stimmt, ihr verlasst mich ja gleich für eure Mission.« Rupi wackelt mit den Augenbrauen. Eins muss man ihr lassen, sie ist die entspannteste Braut, die ich kenne. »Ist es denn nicht langweilig, auf jeder Hochzeit die gleichen Streiche zu spielen?«

»Nicht, wenn man so gut darin ist wie Pree«, erwidert Maya. Sie legt ihren Arm mit einer solchen Wucht um mich, dass ich unter dem Gewicht fast zusammenbreche. »Auf wie vielen Hochzeiten warst du dieses Jahr schon?«

»Ähm … 14?«

»Und sie hat alle Streiche gewonnen!«

Ein gönnerhaftes Grinsen kratzt an meinen Mundwinkeln. Jedes Familienmitglied hat während einer Hochzeit eine bestimmte Aufgabe, und die Aufgabe der Brautjungfern ist es, harmloses Chaos zu verbreiten.

»Bereit?«, fragt Josy und hakt sich bei Maya unter.

Ich blicke auf mein Handydisplay. Acht neue Nachrichten aus drei Chats und es werden jede Minute mehr. Mein Daumen dreht unsichere Kreise über den Bildschirm, bis ich mir wieder den Blicken der anderen bewusst werde. Ich wische die Nachrichten weg, wische den Gedanken daran weg und nicke.

***

Es liegt mir nicht im Blut, Streiche zu spielen, wirklich nicht. Wenn es sich nicht um eine Hochzeitstradition handeln würde, würde es mir im Leben nicht einfallen, die Schuhe eines erwachsenen Mannes zu stehlen und dafür Lösegeld zu verlangen.

Warum ich trotzdem so gut darin bin? Jahrelange Übung dank der richtigen Connections.

Meine Mutter ist eine professionelle Heiratsvermittlerin. Das klingt altmodisch, ist aber beliebter als man denkt. Wer den Dating-Apps misstraut, aber auch nicht seine Eltern um eine arrangierte Ehe bitten möchte, landet in Mumis Büro. Sie hat eine Datenbank voller potenzieller Matches auf Lager. Ihre Fragebögen fangen einfach an: Was machen Sie beruflich? Möchten Sie Kinder haben? Wo sehen Sie sich in den nächsten zehn Jahren? Was wünschen Sie sich für Ihre zukünftige Partnerschaft?

Die meisten Kunden denken, dass sich damit der wichtigste Teil erledigt hat, dabei fängt hier Mumis Arbeit erst an. Eine gute Heiratsvermittlerin ist keine Statistikerin, sondern eine Detektivin. Sie braucht ein feines Gespür für ihr Gegenüber, für die Eigenheiten und Werte des anderen, und etwas, das Mumi »Kismet«, ihr Schicksal, nennt.

Die Eingangshalle des Gebetstempels füllt sich mit Gästen, die auf dem Weg zur Garderobe unregelmäßige Schlangenlinien bilden. Josy, Maya und ich beobachten sie von der Treppe aus. Von hier haben wir den besten Ausblick auf die Menge. Die etlichen Reihen an Schuhfächern erinnern an Bienenwaben. Lackschuhe, Ballerinas, Heels mit Glitzerbändchen und Schnabelschuhe türmen sich übereinander.

»Die Familie des Bräutigams trägt lila«, flüstere ich meinen Freundinnen zu. »Zu unserem Glück hat er nur wenige Schwestern, die uns aufhalten könnten.«

»Aufhalten?«, wiederholt Josy. Sie zieht das dünne Seidentuch zurecht, das einfach nicht auf ihrem Kopf bleiben will. »Wieso würde uns jemand aufhalten?«

»Ist doch logisch«, brummt Maya. »Wir schnappen uns die Schuhe des Bräutigams und verlangen Lösegeld dafür. Seine Familie will nicht zahlen. Also werden die versuchen, den Schuhklau zu verhindern.«

»Oh«, macht Josy und läuft rot an. »Ich wusste nicht, dass alle so … involviert sind in diese Tradition.«

»Du hast noch viel zu lernen, Josephine.«

»Lila auf zwei Uhr!«, unterbreche ich.

Wir erblicken unser Zielobjekt: Eine der Schwestern folgt dem Bräutigam mit gesenktem Blick zur Garderobe. Maya nickt entschlossen.

»Viel Glück!«, ruft sie, bevor sie sich mit gezielten Ellenbogenschlägen ihren Weg durch die Menge bahnt.

Josy atmet tief aus. »Bin ich froh, dass Maya auf unserer Seite ist …«

»Keine Zeit für Gespräche, Josy.« Ich ziehe sie die Treppe hinunter und hole einen Beutel raus, den ich unter meinem Oberteil versteckt habe. Die Eingangshalle ist mittlerweile ein undurchschaubares Netz aus Sakkos und Glitzer.

»Wir schicken dich vor«, flüstere ich meiner Freundin zu. »Warte, bis der Bräutigam draußen ist, dann renn in die Garderobe, solange Maya die Schwester abwimmelt.«

»Ich?« Josy kratzt sich unsicher am Hals. Ihr Gesicht hat mit einem Mal den gleichen Farbton wie die sonnenverblassten Wände. »Falle ich nicht erst recht auf?«

Josy ist die Tochter unserer Nachbarn und eine enge Freundin der Familie. Wenn ihre Eltern Nachtschicht im OP-Saal hatten, haben wir immer zusammen Roti gegessen.Josy ist das einzige deutsche Mädchen, das ich kenne, das zu Diljit Dosanjh mitsingen kann, und überragt die anderen Hochzeitsgäste fast um einen halben Kopf.

»Du erinnerst dich an das Pferd? Das bedeutet, der Bräutigam meint es ernst.« Ich packe sie fest an ihren Schultern und sage eindringlich: »Ich traue ihm vollkommen zu, dass er seine Schuhe in ein besonders hohes Fach legt, von dem er glaubt, dass wir es nicht erreichen.«

»Ich weiß ja nicht …«

»Niemand würde vermuten, dass du bei unseren Streichen mitmachst, Josy, du bist unsere Geheimwaffe. Tu einfach so, als hättest du dich verlaufen«, versichere ich. »Hier! Steck die Schuhe einfach da rein.«

Ich drücke ihr den Beutel in die Hand. Josy dreht sich zu der Menschenmenge um und schluckt, als genau in dem Moment der Bräutigam an uns vorbeigeht.

»Es ist mir eine Ehre, ein Teil dieser Mission zu sein«, flüstert sie und zieht los. Ich salutiere ihr zu.

Rupis Hochzeit ist die letzte und mit Abstand größte der Saison und entsprechend überfüllt ist die Halle mit Familienmitgliedern, die sich heute ein letztes Mal sehen.

Gerade als ich Josy in die Garderobe folgen will, spüre ich eine Hand auf meinem Arm, die mich zurückhält.

»Pree, mein Liebling, geht es dir gut?« Meine Mutter rückt meinen Seidenschal zurecht und knufft mir liebevoll in die Wange.

»Nur ein bisschen beschäftigt«, murmle ich.

»Ich will dich daran erinnern, dass es absolut in Ordnung ist, wenn du früher gehst. Ich weiß, wie wichtig dir die AG ist.«

Mumi lächelt, aber ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser. Mein Herzschlag ist dagegen so laut, dass er die wirren Gespräche der Gäste übertönt. Das Handy in meiner Hand fühlt sich an wie ein unförmiger Klotz, erschwert von den vielen Nachrichten, die sich mit jeder Minute häufen.

Warum musste sie mich daran erinnern? Ich will Mumis vorsichtigem Lächeln glauben. Ich will ihr glauben, dass ich einfach meine Gruppenchats öffnen und allen antworten könnte, dass ich rauslaufen könnte, zum Kofferraum, wo meine Wechselsachen liegen, in die nächste S-Bahn springen, die mich in die Innenstadt bringt, dass alles von mir in einen Tag passt.

Aber allein von der Vorstellung wird mir schwindlig.

Ein Ruck geht durch die Menge, der Mumi dazu zwingt, mich loszulassen. Da stürzt Josy auch schon aus der Garderobe. Sie kämpft sich zu mir durch, umklammert den Beutel.

»Ich hab sie! Was jetzt? Wo müssen wir hin?«

Beim Anblick der Schuhe verkrampft sich Mumis Gesicht. Ich kann hier unmöglich weg. Ich werde hier gebraucht. Also nehme ich Josy den Beutel ab und drücke mich durch die Menschenmenge nach draußen.

Mein Herzklopfen weicht einem monotonen Rauschen. Erst als ich den nassen Asphalt unter meinen nackten Füßen spüre, atme ich wieder auf. Keine Schritte, die mir folgen. Maya muss unsere Gegnerinnen erfolgreich blockiert haben.

Der Parkplatz ist vollgestellt mit schicken Autos, die feierlich mit Bändern und Blumengirlanden dekoriert sind. An einem von ihnen steht mein Bruder Sajjan und spielt Pokémon Go.

»Kann grad nich«, brummt er, ohne von seinem Display aufzusehen. »Hab ’nen Mew gefunden.«

Gespräche mit meinem Bruder sind ungefähr so angenehm, wie ein Pickel auf dem Gesicht. Die Themenauswahl beschränkt sich auf Gaming (»Bin am Zocken« steht auf Platz 1) und Beleidigungen (»Heulsuse«, ein Klassiker seit meiner Geburt).

»Sajjan, ich hab keine Zeit …«

»Hast du ’ne Ahnung, wie selten die sind? Das ist das erste Mal, dass ich einen in freier Wildbahn gefunden habe …« Er fängt an zu fluchen. »Uuund er ist weg. Vielen Dank auch.«

»Wie, ist das jetzt meine Schuld?«

»Du hast mich abgelenkt!«

Sajjan ist kurz davor, sein Handy wütend wegzuwerfen, als ihm in letzter Minute einfällt, dass der Boden asphaltiert ist. Er schließt die Augen und seufzt theatralisch. Ältere Brüder gehören zu der dramatischsten Spezies dieser Welt.

»Dann lass mich wenigstens das Auto öffnen, wenn du es schon nicht selbst machst«, schlage ich genervt vor.

Sajjan wirft mir seinen Schlüsselbund zu, den ich gerade so zu fassen bekomme, ohne den Beutel dabei fallen zu lassen. Er mustert mein Salwar-Kleid von oben bis unten. »Du siehst aus wie eine plattgefahrene Orange.«

»Rupi hat die Kleider ausgesucht.« Zu ihrer Verteidigung, es gibt nicht viele Farben, die gut zu ihrem roten Brautkleid passen.

»Hm«, macht Sajjan. »Sind die Schuhe des Bräutigams da drin?«

»Was soll es sonst sein?«

Sajjan betrachtet den Beutel, während ich im übervollen Kofferraum nach einem geeigneten Platz suche. Die Tasche mit meinen Wechselsachen liegt ganz oben.

»Stinken sie?«

»Ich rieche doch nicht am Beutel!«

»Muss doch bestimmt mal Schuhe gegeben haben, die richtig räudig waren.« Mein Bruder rümpft die Nase. »Ey, bin ich so froh, nicht Teil eurer schrägen Weibertraditionen zu sein.«

***

PRIDE-AG (16 ungelesene Nachrichten)

FLORI M

@PREE KAUR Sorry, aber warum kannst du diese Hochzeit nicht einfach canceln? Du bist jedes Wochenende auf einer.

Ist es, weil du nicht auf einem queeren Event gesehen werden darfst? Wegen deiner Religion und so?

Weil darüber musst du dir echt keine Sorgen machen. Wir können dich auch als Ally vorstellen. Keine*r von uns würde dich outen, ich schwöre.

Von den 14 Hochzeiten, die ich dieses Jahr besucht habe, fiel ausgerechnet Rupis auf den gleichen Tag wie der Queer-Youth-March. Ein Event, das ich als Teil der Pride-AG meiner Schule mitorganisieren durfte. Mumi ist die Einzige, die davon weiß, nachdem ich mich versehentlich bei ihr geoutet habe.

Oder na ja, was heißt Outing.

Vor einem Jahr, zu unserem wöchentlichen Bollywood-Filmabend (kein Kommentar!), suchte Mumi »Ek Ladki Ko Dekha Toh Aisa Laga« aus. Nichts am Trailer oder der Inhaltszusammenfassung wies darauf hin, dass es sich um eine lesbische Liebesgeschichte handelte. Ab der Hälfte des Films kam jedoch der Plot-Twist. Die Love Interest stand gar nicht auf die männliche Hauptrolle – sondern auf eine andere Frau.

Ich weiß nicht einmal, ob ich den Film mochte. Wie immer brauchte es einen Mann, der die weibliche Figur vor der Homophobie in ihrer Stadt befreite. Dennoch hat mich das Thema so kalt erwischt, dass ich den Rest des Abends in Schockstarre auf dem Sofa verbrachte. Keine Tränen, nur Herzrasen. Nur was wäre, wenn …

Ungeoutet zu sein, fühlt sich in etwa so an, wie eine Plastiktüte über den Kopf zu tragen, die man sich selbst aufgesetzt hat. Ich bin es so sehr gewohnt, die Luft anzuhalten, dass ich gar nicht mehr merke, wenn ich kurz vorm Ersticken bin.

Am nächsten Wochenende fragte Mumi, ob wir »Badhaai Do« schauen wollen, in dem es um die Scheinheirat eines schwulen Polizisten mit einer lesbischen Lehrerin geht. Mehr sagte sie nicht, aber ich verstand. Meine Mutter wusste Bescheid.

Mit Mumi habe ich viel Glück, wenn man bedenkt, wie queerfeindlich manche Familien sein können, ausländisch oder nicht. Sie wusste von meiner lesbischen Identität, noch bevor ich es tat und wartete seitdem geduldig auf meinen nächsten Schritt. Mumi ist das Loch in meiner Plastiktüte – klein genug, dass sie nicht auseinanderreißt, groß genug zum Atmen.

»Bräutigam auf drei Uhr«, murmelt Maya und nimmt einen Schluck von ihrem Chai. »Zeit für Business.«

Wir sitzen in der Langar-Halle, dem Speisesaal des Tempels, und warten auf das Essen aus der Gemeinschaftsküche. Die Hochzeitszeremonie war mal wieder so herzzerreißend schön, dass meine verweinten Augen mich erfolgreich daran gehindert haben, zu oft auf mein aufblinkendes Handy zu achten.

»Ich kann die Schuhe holen«, schlage ich vor und wedle mit Sajjans Autoschlüssel. »Josy und du verhandelt das Lösegeld.«

»Warum ich schon wieder?«, mault unsere Freundin.

Es ist üblich, dass das Brautpaar sich zwischen Zeremonie und anschließender Feier kurzzeitig verabschiedet, um es pünktlich zu ihrem Fototermin zu schaffen. Jetzt ist also Schnelligkeit gefragt. Es bringt mehr Geld und gute Laune, wenn der Bräutigam nicht ewig nach seinen Schuhen suchen muss. Die Gratwanderung zwischen gut gemeintem Chaos und einer ruinierten Hochzeit ist schwierig, aber ich bin schließlich Profi.

»Du bekommst hier die volle, exotische Hochzeits-Experience, 100 Prozent Bollywood!«, versuche ich Josy zu überzeugen. »Da wartet bestimmt ein hübsches Sümmchen auf uns von einem verzweifelten Bräutigam. Tu einfach so, als ob du übertrieben aufgeregt und naiv bist.«

Josy verzieht das Gesicht. »Das geht nicht.«

»Natürlich geht das!«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, Pree, schau mal hin!«

Bräutigam und Braut stehen bereits vorne an der Tür, umringt von ihren Gästen. Doch viel wichtiger: Der Bräutigam trägt seine Schuhe.

Mein Mund klappt auf.

»Aber …« Wie kann das sein? War das etwa mein Fehler? Aber wann … wo …?

»Vielleicht haben sie ein identisches, zweites Paar mitgebracht?«, fragt Josy.

»Unmöglich, das reinzuschmuggeln«, zischt Maya. »Ich habe alle seine Schwestern getrackt.«

Da fällt unser Blick auf eine Person. Zwischen all den violetten Saris, Salwars und Seidenschals steht ein Mädchen in einem lila Anzug.

Die Zettel

PRIDE-AG (11 ungelesene Nachrichten)

ROBIN (THEY/THEM)

Hat jemand das Banner gesehen, das Pree gebastelt hat? Sie hat gemeint, es liegt im Schrank, aber ich find hier nichts und ich kann Pree nicht mehr erreichen.

»Komm schon, Pree! Du musst mir das verzeihen, Mann«, Sajjan wedelt mit zusammengefalteten Händen vor meinem Gesicht herum. »Sie hatte einen Mewtu! Einen Mewtu!«

Er schiebt mir seine Schachtel Pralinen hin. »Hilft es, wenn du meine kriegst?«

»Du bist ein räudiger Verräter!«, zischt Maya. »Eigentlich dürftest du gar nicht an diesem Tisch sitzen, so wie du deine eigene Familie hintergangen hast.«

Ich nicke zustimmend, was Sajjan mit einem lauten Seufzen abtut.

Es hat sich herausgestellt, dass das Pferd heute Morgen bloß der Anfang eines opulenten Hochzeitstags war. Mittlerweile ist es Nachmittag und wir sitzen alle im Garten eines Schlosses, das glatt aus einem Bollywoodfilm stammen könnte. Unter einem aufwendig dekorierten Festzelt werden uns Appetithäppchen und Mocktails serviert, während kitschige Hindi-Lieder aus den Lautsprechern schallen. Auf den Tischen liegt für jeden Gast eine Packung Pralinen bereit.

»Ihr spielt diese Streiche auf jeder Party«, fährt Sajjan fort. »Warum könnt ihr der anderen Seite nicht einmal den Sieg gönnen?«

»Weil es keiner war! Und außerdem …«, melde auch ich mich endlich zu Wort. Meine Stimme bricht jedoch mitten im Satz ab. Einfach unglaublich, dass Sajjan unsere hart umkämpften Schuhe gegen ein Pokémon getauscht hat! Und dazu noch diese Hitze. Sie ist so unerträglich, dass ich nicht anders kann, als zu weinen, um mein Gesicht abzukühlen.

Sajjan schnalzt mit der Zunge. »Nicht dein Ernst.«

»Man klaut die Schuhe nicht einfach zurück, sobald sie einmal der gegnerischen Seite gehören!«, schluchze ich.

Josy hebt vorsichtig ihre Hand. »Es gibt offizielle Regeln?«

»Nein«, schnaubt mein Bruder.

»Unausgesprochene Regeln sind trotzdem einzuhalten!«, wirft Maya ein.

»Wirklich?«, entfährt es Josy.

»Nein«, zischt Sajjan erneut und massiert sich die Nasenbrücke. »Wenn es hilft, sie hat den Beutel dagelassen.«

»Warum sollte uns das helfen?«, brummt Maya.

Er zuckt mit den Schultern. »Statt den Beutel mitzunehmen, holt sie die Schuhe raus und klemmt sie unter ihren Arm? Ist doch widerlich!«

»Manchmal habe ich das Gefühl, du weißt etwas über männliche Hygiene, was wir nicht wissen.«

»Wie hieß die Person, der du die Schuhe gegeben hast?«, unterbreche ich die Diskussion. Die Schwestern des Bräutigams sind mir bekannt, aber wer ist dieses Mädchen im lila Anzug?

»Weiß ich doch nicht«, erwidert Sajjan und schmatzt laut, während er sich eine Praline nach der nächsten in den Mund schiebt.

»Entweder du spuckst es aus oder ich schlag dir die Pralinen raus«, murrt Maya. »Wegen dir fehlt mir das Geld für neue Boxhandschuhe.«

»Ein Glück.« Sajjan schnaubt, beeilt sich aber beim Kauen. »Sie gehört zu den internationalen Gästen. Hat nur auf Englisch gesprochen. Aber ohne indischen Akzent oder so, klang eher Britisch. Ganz klar, dass wir die nicht kennen.«

»Wir nicht.« Ich ziehe die Pralinenpackung zu mir herüber, woraufhin der überraschte Sajjan fast von seinem Stuhl fällt. »Aber ich weiß, wer es tut.«

 

Bibi ist 83 Jahre alt und der familiäre Wanderpokal. Seit unser Großvater verstorben ist, wechselt sie jedes halbe Jahr ihren Wohnort. Mal lebt sie bei meiner Familie, mal bei Mayas und Rupis, mal bei unseren Tanten und Onkeln im Ausland. Was Bibi an Zähnen fehlt, macht sie mit ihrem messerscharfen Verstand wett. Vor Mumi hat sie das Ehevermittlungsbüro geleitet und kennt alle Familiendramen.

»Doch, doch, ich weiß, wen du meinst, Sajjan, aber das ist kein guter Match für dich. Das Mädchen hat nur Unsinn im Kopf.«

Mein Bruder rollt mit den Augen. »Deswegen frag ich ja gar nicht, Bibi.« Und dann, etwas leiser, damit Bibis Hörgerät es nicht wahrnimmt. »Die spielt doch fürs andere Team.«

Josy kichert. Manchmal befürchte ich, dass sie auf Sajjan stehen könnte, weil sie all seine uninteressanten Kommentare lustig findet. Arme Josy. In einem Matchmaking-Büro hätte ich Sajjans Akte sofort aussortiert.

»Das will ich auch hoffen«, fährt Bibi unterdessen fort. »Du bist zu jung, um zu heiraten. Entscheid dich erst mal für ein Studium. Du hast nur noch ein Jahr bis zu deinem Abschluss.«

»Knallhart«, brummt er.

So wird das nichts, wir brauchen mehr Infos. Ich stecke Bibi zwei Pralinen zu. Sie hebt ungläubig die Augenbrauen, woraufhin ich die Anzahl verdopple. Unsere Großmutter weiß genau, was ihre Antworten wert sind. Erst bei zehn Pralinen gibt sie sich geschlagen.

»Sie heißt Navdeep. 16 Jahre alt, hört auf Nav. Ihre Familie kommt aus Southall.«

Ich schlucke. Southall ist ein Stadtteil von London und auch bekannt als das »Little India« Europas. Wenn Nav von dort kommt, müssen traditionelle Feste auf ihrer Tagesordnung stehen.

»Haltet euch bloß von ihr fern, sie macht nur Ärger. Bohot fikr karadī«, fährt Bibi fort. »Das Mädchen schleicht sich nachts aus dem Haus, schwänzt den Schulunterricht und trinkt, ist ständig unterwegs mit fremden Jungs und sieht dabei selbst wie einer aus …«

Maya, Sajjan und Josy werfen sich überraschte Blicke zu und können sich ein Lachen kaum verkneifen.

Vor ein paar Jahren hatte mein Bruder eine Phase, in der er es besonders witzig fand, peinliche Momente als »gay« oder »schwul« zu bezeichnen.

»So habe ich dich nicht erzogen!«, beschwerte sich Mumi, was sie nur mit einem Augenrollen quittiert bekam.

»Nee, das ist ja nicht als Beleidigung gemeint. Hier ist ja niemand gay, sonst würde ich so was nicht sagen.«

Ich spürte Mumis Blick auf mir. Obwohl ich nichts gesagt hatte, war ich diejenige, die sich in diesem Moment schämte. Ich bin nicht loud and proud, wie meine Freunde aus der Queer-AG. Ich bin still und extrem überfordert. Immer wieder haben die anderen mir gesagt, dass ich locker als Ally durchgehen würde. Man sehe mir meine Queerness nicht an, was auch immer das heißen soll. Vielleicht wurde mal ein Regelhandbuch für angehende Sapphics ausgeteilt, das ich nicht bekommen habe.

Bibi holt ihr Handy heraus. Anders als ihre Altersgenossen ist sie sogar online vernetzt. Sie öffnet einen Nachrichtenverlauf mit Navs Mutter und scrollt durch einige Fotos. Hochzeiten, Schulabschlüsse, Geburtstage, Jubiläen. Nav trägt immer einen Anzug, der farblich abgestimmt ist auf die Kleider der anderen Frauen. Im Vergleich dazu sehen wir so aus, als hätte man uns Kostüme übergestülpt. Sajjans Anzug ist das gleiche, ausgeleierte Set, das er seit Anfang der Hochzeitssaison trägt, und unsere knallorangenen, kratzigen Salwars sind nicht unbedingt die Art von Blickfang, die man sich wünscht.

»Gibt es irgendetwas über Nav, das wir unbedingt wissen sollten?«, frage ich. »Eine Spinnenphobie oder harmlose Allergien? Etwas, das sich für eine Erpressung eignet?«

Meine Großmutter zögert, dann schüttelt sie den Kopf. In ihren Augen kann ich allerdings sehen, dass sie uns nicht die ganze Wahrheit erzählt. Also schiebe ich ihr meine komplette Pralinenpackung hin.

Bibi nickt zufrieden und faltet ihre Hände verschwörerisch zusammen. »Also gut. Navdeep ist hier, damit ihre Eltern ein Auge auf sie haben können. In Southall wollte sie niemand aufnehmen. Auf der letzten Hochzeit soll sie die Braut so sehr zum Weinen gebracht haben, dass die Zeremonie abgebrochen wurde.«

»Wirklich?«, entfährt es mir. »Und da wurde sie trotzdem hierher eingeladen?«

Bibi legt den Kopf schief. »Man munkelt, es war eine persönliche Angelegenheit.«

»Ähm … Leute?«, unterbricht Josy. Sie hält einen zusammengefalteten, rosa Zettel in der Hand.

»Der lag im Beutel«, erklärt sie.

Ich drehe mich zu Sajjan um, der entschuldigend die Hände hochhebt. »Hab euch doch gesagt, es ist schräg, dass sie den dagelassen hat. Schiebt das nicht auf mich!«

Er versucht sich aus dem Staub zu machen, aber Maya zieht ihn an seinem Ärmel wieder zu uns an den Tisch.

»Round 2, 1:30 pm, Fountain«, liest Josy vor. »Das ist in zwei Minuten. Wo ist hier ein Brunnen?«

»Vermutlich vor dem Schloss, wo sonst?«, brummt mein Bruder.

»Na dann, los, los, los!«, brüllt Maya.

Sie scheucht Sajjan voraus, der verängstigt anfängt zu rennen. Josy folgt den beiden kichernd. Zwei orangefarbene Kleider und ein grauer Anzug stolpern durch das Festzelt, zwischen Luftballons, Stühlen und Tischen. Und für einen kurzen Moment kann ich nicht anders, als sie alle drei für ihre Schrägheit zu lieben.

Mein größtes Glück ist gleichzeitig mein größtes Problem. Ich liebe meine Freunde, selbst meinen Verräter-Bruder. Und ich will, nein, ich brauche ihre Liebe auch zurück. Ich bin mit einer Kultur aufgewachsen, in der das Wort Einsamkeit Platzmangel hat. In der es normal ist, dass mehrere Generationen unter einem Dach leben und selbst Menschen, mit denen man nicht verwandt ist, Onkel oder Tante heißen. Meine Freunde und Familie sind ein Teil von mir. Meins ist deins und alles ist unseres. Und doch kann ich mich nicht einfach vor ihnen outen. Es verändert zu viel. Im Moment ist meine Sexualität etwas, das nur mir gehört. Es ist nichts, worüber meine Familie urteilen oder vor dem Gerede anderer, dem loki ki kain gey, schützen muss. Es ist nicht ihr Problem, nur mein Geheimnis.

»Willst du ihnen nicht folgen?«, fragt meine Großmutter.

Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn, während sie in eine Praline beißt. »Gleich.«

***

Der Springbrunnen vor dem Schloss ist stillgelegt. Nav sitzt breitbeinig auf dem leeren Sockel in der Mitte, als wäre sie die Statue, aus der normalerweise das Wasser sprudelt.

Menschen aufgrund ihres Äußeren einer Sexualität zuzuordnen ist Unsinn, das weiß ich. Und doch bin ich mir sicher, dass Nav bestimmt nie Probleme damit hatte, nicht »queer genug« auszusehen. Sie hat das Regelhandbuch für angehende Sapphics nicht nur gelesen, sondern es direkt ergänzt und umgeschrieben. Ihre Haare sind unregelmäßiger geschnitten als auf Bibis Fotos und bis auf etwas glitzernden Lidschatten ist sie nicht geschminkt. Anstelle eines Einstecktuchs ziert ein Veilchen ihre Brusttasche, das zur Farbe ihres Anzugs passt. Ihre Haut ist heller als meine, wie ein Chai, in den man zu viel Milch gekippt hat.

Ich räuspere mich. »Navdeep?«

Für einen Moment sagt sie nichts. Sie starrt mich nur an und ich frage mich, ob sie vielleicht jemand anderen erwartet hat. Dann, ein Lächeln.

»Ich dachte schon, ihr überlasst mir den Sieg«, sagt sie auf Englisch. »Der Spitzel darf mitmachen?«

Nav zeigt auf meinen Bruder, der vehement mit dem Kopf schüttelt. »Ich bin kein …«

»Sajjan ist nicht schlau genug, um auf zwei Seiten gleichzeitig zu spielen«, erkläre ich. »Er darf bleiben.«

»Danke … hey!«

Ich falte den Zettel auseinander und halte ihn hoch. »Warum Runde zwei?«

Nav zuckt mit den Schultern. »To spice things up.« Sie springt vom Sockel und wischt sich den Staub von ihrer Hose. Diese theatrale Einlage soll uns wohl einschüchtern – und ich hasse, dass es funktioniert. Anscheinend sind Londoner (direkt nach großen Brüdern) die zweitdramatischste Spezies der Welt.

»Hier ist mein Vorschlag«, beginnt Nav. »Die Schuhe des Bräutigams sind auf dem Schlossgelände versteckt. Wenn ihr es schafft, sie innerhalb der nächsten anderthalb Stunden zu finden, verdoppelt unsere Seite die ursprüngliche Lösegeldsumme.«

»Nur anderthalb Stunden?«, wiederholt Josy. »Während des Büfetts?«

Nav grinst und lockert ihre Krawatte. Es ist das Gewinnergrinsen einer Person, die diesen Trick schon einmal gespielt und fünf weitere auf Lager hat.

»Yep. Büfett inbegriffen«, erklärt sie.

Meine Freunde stöhnen.

»Wehe, du sagst zu!«, droht Maya. »Pree, wenn ich wegen dieser Wette kein Stück Torte kriege, dann …«

»Ich würde ungern mein erstes authentisch indisches Hochzeitsbüfett verpassen«, stimmt Josy zu.

Meine letzte Hoffnung, Sajjan, schüttelt bereits mit dem Kopf, bevor ich überhaupt etwas sagen kann. »Schau mich nicht so an, die scheiß Schuhe sind nicht mein Problem.«

Ich wünschte so sehr, mein Bruder wäre ein Spitzel. Dann wäre er wenigstens interessant.

Navs Blick wandert amüsiert zwischen uns hin und her.

»Gib uns bis zum Ende der Hochzeit«, schlage ich vor. »Das Schlossgelände ist zu groß, um es in nur anderthalb Stunden abzusuchen.«

»Deal!« Nav steigt aus dem Brunnen und streckt mir ihre Hand entgegen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich größer als sie bin. Ich schlage ein, traue mich jedoch nicht, ihren Blick zu erwidern. Stattdessen finden meine Augen eine Stelle, an der ihr kurzgeschnittenes Haar ihren Hals streift (schlechte Idee, Kommando zurück, Mission sofort abbrechen!).

Falls es bis jetzt noch nicht deutlich geworden ist: Mein ganzes bisheriges Leben war ich nur »theoretisch lesbisch«. Meine romantischen Erfahrungen beruhen darauf, hübsche Mädchen aus der Ferne zu beobachten und mir einzureden, dass sie sowieso hetero sind. Dann verbringe ich den Rest meiner Zeit mit Sims, erfinde eine wunderschöne Seelenverwandte für meine Hauptfigur, kreiere die perfekte »Goldstatus«-Hochzeit und mache hundert Screenshots, wenn sie ihre Braut küsst. Gegen Mitternacht rede ich mir ein, dass das der beste Weg sei, mit meinem Leben klarzukommen.

»Braucht ihr einen Hinweis oder findet ihr die Schuhe genauso schnell wie den Zettel im Beutel?«, fragt Nav mit einem überheblichen Lächeln. Ohne unsere Antwort abzuwarten, schlurft sie zurück in den Schlossgarten.

Maya schnalzt mit der Zunge. »Die hat eindeutig ein Egoproblem.«

»Londoner«, stimmt Sajjan zu. »Aber hey, sie hat‘s geschafft, dass Pree vor Wut rot angelaufen ist. Passiert auch nicht alle Tage.« Er schnippt mit einem Finger gegen meine Schläfe und runzelt die Stirn, als ich nicht reagiere.

Er weiß noch nicht, dass zwischen meinen schweißnassen Fingern ein neuer Zettel klemmt, den mir Nav heimlich mit ihrem Handschlag übergeben hat.

***

PRIDE-AG (32 ungelesene Nachrichten)

MILENA JOSEPHINE

@PREE KAUR Wenn du schon nicht zur Demo kommst, dann wenigstens zur Abschlussfeier heute Abend?

Wir sind nicht böse auf dich.

Aber warum hast du uns nicht schon früher von der Hochzeit erzählt?

»Könnte ein Geländeplan sein«, murmelt mein Bruder. »Dann ist das X am unteren Rand der Ort, an dem sie die Schuhe versteckt hat.«

»Zu einfach.« Ich schaue von meinem Teller hoch, auf dem sich die unangerührten Samosas stapeln. »Und es passt nicht. Wenn der Kreis der Brunnen sein soll, müsste das Schloss südlich davon stehen.«

»Vielleicht ist es ein Plan vom Zelt hier?« Sajjan deutet nach oben. Wir sind zurück in unserer Kommandozentrale, unserem Tisch unterm Festzelt. Das Büfett wurde mittlerweile eröffnet. Während Maya und Josy sich in Rekordzeit mit ihren Händen Chicken-Curry reinschaufeln und Sajjan wieder an seinem Handy hängt, bekomme ich nichts herunter. Ich kann nur noch an den Zettel denken.

Josy tätschelt mir mit ihrer sauberen Hand die Schulter. »Kopf hoch, vielleicht klappt dein nächster Streich.«

Salz in den Chai des Bräutigams zu streuen, ist kein kreativer Trick, aber nach heute Morgen brauche ich dringend einen kleinen Sieg für unsere Seite.

Das frisch verheiratete Brautpaar sitzt an der Haupttafel und wird vom Personal bedient. Der Bräutigam hat seine traditionellen Gewänder gegen einen bequemeren schwarzen Anzug und Lackschuhe getauscht. Er blickt zu uns herüber und zwinkert, bevor er seinen Chai in einem Zug hinunterächzt. Der Ekel macht sich gerade mal für eine Sekunde auf seinem Gesicht bemerkbar. Dann tupft er seine Lippen mit einer Serviette ab und dreht sich wieder zu seiner Braut.

»Wow!« Maya pfeift anerkennend. »Tut mir leid um deinen Streich, Pree, aber zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Respekt vor ihm.«

Sajjan verzieht das Gesicht. »Nicht schon bevor er deine Schwester geheiratet hat?«

Noch ein missratener Streich und die Hochzeit ist für uns Brautjungfern gelaufen. Ich schüttle niedergeschlagen den Kopf. »Wenigstens die Zunge hätte er sich verbrennen können.«

Der Fotograf kommt an unserem Tisch vorbei und beschließt, unseren kläglichen Anblick mit seiner Kamera festzuhalten. Sajjan versucht noch dem Lichtblitz zu entkommen, landet dabei aber mit seinem Ellenbogen und einem lauten Platsch! in Mayas Chicken-Curry.

»Nicht euer scheiß Ernst!«, schimpft er und inspiziert sein nun orange gefärbtes Sakko. »Das krieg ich niemals wieder raus.«

Der Fotograf knipst unbekümmert weiter. Zu Sajjans Pech ändert sich genau in diesem Moment die Beleuchtung, Spotlight auf den DJ. Die ruhige Bollywoodmusik weicht dem lauten Trommeln einer Dhol. Es dröhnt aus den Lautsprechern, die sich rund um die Bühne stapeln, auf der der DJ sein Equipment aufgebaut hat. Eine wirre Zusammenstellung von Quadraten …

Abwechselnd schaue ich zwischen Navs Zettel und der Bühne hin und her. Kann das sein? Die Quadrate stehen für die Boxen, die Kreise für die Scheinwerfer. Das heißt, das X zeigt unter …

Ich wende mich wieder meinem Tisch zu, aber Maya und Josy sind bereits auf die Tanzfläche verschwunden. Einzig Sajjan reibt sich immer noch verzweifelt mit einer Serviette über den Ärmel.

»Sajjan, ich weiß jetzt, wo die Schuhe sind!«

»Schön für dich«, murrt er völlig desinteressiert. Der Fleck an seinem Ärmel wird immer größer. Ich dachte, Videospiele fördern die Feinmotorik, aber mein Bruder beweist mal wieder das Gegenteil.

»So bekommst du das nicht raus«, seufze ich. »Zieh die Jacke aus. Wir gehen rein ins Schloss und waschen es ab.«

Sajjan rollt mit den Augen, aber folgt schließlich meiner Anweisung. Seine fiesen Sprüche hören immer dann auf, wenn ich vorschlage, etwas für ihn zu erledigen. Strategische Inkompetenz, hat Maya es mal genannt, was wohl das wissenschaftliche Wort für Faulheit ist.

Ich klemme mir das Sakko unter den Arm und gebe Sajjan mit einer Kopfbewegung zu verstehen, wo es langgeht. Wir kommen an Mumi vorbei, die wie auf jeder Hochzeit stolz ihre Visitenkarten an eine Schar interessierter Eltern verteilt. Natürlich ist Mumi auch Rupis Matchmakerin gewesen.

Erst als ich an der Tanzfläche vorbeisteuere, geht meinem Bruder ein Licht auf.

»Das ist nicht der Weg zum Schloss.«

»Ich dachte, wir holen vorher fix die Schuhe.« Ich schenke ihm ein unschuldiges Lächeln. Sajjan legt die Stirn in Falten und wägt ab, ob er den restlichen Abend lieber ohne oder mit Sakko verbringen möchte. Seine Eitelkeit gewinnt.

»Na gut, bringen wir es hinter uns«, seufzt er.

Wir steigen die Treppen zur Bühne hoch. Der DJ, der gerade eine Ansage machen will, lässt fast das Mikrofon fallen, als er uns sieht.

»Was zum Teufel macht ihr hier oben?«

»In zwei Sekunden sind wir wieder weg.« Sajjan bewegt seine Hände langsam hoch und runter, so als wolle er ein wildes Tier beruhigen. Doch als ich mich zum Mischpult vorbeuge, springt der DJ auf.

»Nee, nee, wisst ihr, wie lange ich gebraucht habe, um hier draußen an Strom zu kommen? Hier wird kein Kabel angerührt!«

»Wir wollen kein …«

»Wir wollen eine Rede halten«, unterbreche ich Sajjan. »Für unser geliebtes Brautpaar.«

»Jetzt?«, zischt der DJ. Er kann jedoch nicht ignorieren, dass wir längst die erwartungsvollen Blicke der Gäste auf uns gezogen haben. »Okay, aber beeilt euch!«

Der DJ drückt Sajjan das Mikrofon in die Hand, der es festhält, wie einen Feuerwerkskörper, der jederzeit in die Luft gehen könnte. Verzweifelt streckt er es mir hin.

Sajjans Blick: Das war deine Idee!

Mein Blick: Und der Schuhklau war deine Schuld!

Er: Ich fasse es nicht, dass ich das jetzt machen soll.

Ich: Du bist der Ältere von uns beiden.

Er: Eben, du solltest auf mich hören.

Ich: Mach, bevor die Stille unangenehm wird!

Er: Ich hasse dich.

Ich: Hoffentlich wird deine Rede kreativer.

Sajjan räuspert sich und klopft gegen das Mikrofon. Ein schrilles Fiepen tönt durch das Zelt.

»Hey Leute, was geht? Danke für die Einladung«, beginnt er. »Wir … äh … Pree und ich waren dieses Jahr bereits auf 14 Hochzeiten, aber keine ist so krass wie die heute. Ich meine, ein Pferd? Wow! Nichts gegen die anderen.«

Sajjan schließt seine Augen, als könne er sich so unsichtbar machen. Nav sitzt an einem der hinteren Tische. Sie stützt das Kinn auf ihren Händen ab und sieht uns erwartungsvoll an.

»Das war jetzt auch gar nicht ironisch gemeint, das Pferd war wirklich cool. Muss man so was eigentlich beim Ordnungsamt anmelden? In Deutschland ja eher die Ausnahme, Dinge einfach machen zu dürfen. Das letzte Mal, dass ich zu einer Behörde musste, war …«

Ich nehme Sajjan das Mikrofon ab.

»Was mein Bruder damit sagen will … heute ist die letzte Hochzeit der Saison und man könnte meinen, dass uns mittlerweile langweilig ist. Stimmt aber nicht. Durch die Arbeit unserer Mutter haben wir das große Glück, bei vielen Hochzeiten dabei sein zu dürfen. Jedes Paar, das wir dieses Jahr besucht haben, hat uns gezeigt, dass sich Mumis Arbeit lohnt.«

»Bis auf Reema vielleicht, ihr Ex wollte eine Mitgift für sie«, ergänzt Sajjan. »For real, eine Mitgift? Im einundzwanzigsten Jahrhundert?«

Er lacht verlegen. Niemand lacht mit.

»Wir sind stolz auf dich, dass du das nicht durchgezogen hast, Reema!«, rufe ich. »Total mutig von dir!«

Ein klägliches »Danke« kommt aus dem Publikum, ansonsten nur leere Gesichter, die uns entgegenstarren. Jemand