Glorreiche Taten - Ferdia Lennon - E-Book

Glorreiche Taten E-Book

Ferdia Lennon

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Beschreibung

Syrakus im 5. Jh. v. Chr.: Nach ihrer Niederlage in einer legendär gewordenen Seeschlacht darben Hunderte athenischer Kriegsgefangener in den Steinbrüchen der Stadt. Die Freunde Lampo und Gelon, beide arbeitslose Töpfer und große Fans von Euripides, schmieden den Plan, mit den Gefangenen «Medea» zu inszenieren, als Lohn gibt es Brot und Wein. Eine richtige Aufführung, die bis in alle Ewigkeit besungen wird. Doch ein Theaterstück aufzuführen ist fast ebenso gefährlich, wie in den Krieg zu ziehen. Denn das Syrakuser Publikum ist wenig begeistert davon, den Kriegern zuzujubeln, die vorher ihre Familien überfallen haben. Als sich Lampo auch noch in Lyra, eine Sklavin aus Lydien, verliebt, die ihm Lesen und Schreiben beibringen möchte, ist das Chaos perfekt. Schließlich wird der Mut der beiden Freunde auf eine Probe gestellt, die sie sich nie hätten vorstellen können …

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Ferdia Lennon

Glorreiche Taten

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Thomas Überhoff

 

Über dieses Buch

«Ein brillanter Roman über Freundschaft, die heilende Kraft der Kunst und darüber, warum wir für unsere Träume kämpfen müssen. Ich liebe dieses Buch.»

Douglas Stuart

 

Syrakus im 5. Jh. v. Chr.: Nach ihrer Niederlage in einer legendär gewordenen Seeschlacht darben Hunderte athenischer Kriegsgefangener in den Steinbrüchen der Stadt. Die Freunde Lampo und Gelon, beide arbeitslose Töpfer und große Fans von Euripides, schmieden den Plan, mit den Gefangenen «Medea» zu inszenieren, als Lohn gibt es Brot und Wein. Eine richtige Aufführung, die bis in alle Ewigkeit besungen wird. Doch ein Theaterstück aufzuführen ist fast ebenso gefährlich, wie in den Krieg zu ziehen. Denn das Syrakusaner Publikum ist wenig begeistert davon, den Kriegern zuzujubeln, die vorher ihre Familien überfallen haben. Als sich Lampo auch noch in Lyra, eine Sklavin aus Lydien, verliebt, die ihm Lesen und Schreiben beibringen möchte, ist das Chaos perfekt. Schließlich wird der Mut der beiden Freunde auf eine Probe gestellt, die sie sich nie hätten vorstellen können …

 

Ein mitreißender Roman über die Macht der Kunst und den Mut, von etwas zu träumen, das größer ist als wir selbst. Ferdia Lennon schreibt klug, wahnsinnig unterhaltsam und zutiefst bewegend über das, was uns als Menschen ausmacht.

Vita

Ferdia Lennon wurde in Dublin als Sohn einer irischen Mutter und eines libyschen Vaters geboren. Er studierte Geschichte und Altphilologie in Dublin und Amsterdam. Für seine Kurzgeschichten hat er bereits diverse Preise erhalten. Ferdia Lennon lebt zwischen Irland und Frankreich.

 

Thomas Überhoff studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und arbeitete lange als Lektor und Programmleiter Belletristik beim Rowohlt Verlag. Er übersetzte unter anderem Sheila Heti, Nell Zink, Jack Kerouac und Denis Johnson.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «Glorious Exploits» bei Fig Tree, Penguin Random House, Dublin.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Glorious Exploits» Copyright © 2024 by Ferdia Lennon

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Syrakus (Sizilien), Stahlstich um 1850/akg-images

ISBN 978-3-644-01665-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Emma

Was jenseits liegt und den Menschen übertrifft, das unerreichbar Große, ist für Verrückte oder solche, die den Verrückten lauschen und ihnen Glauben schenken.

Euripides, Die Bakchen

 

Ganz verschieden, Kind, sind das Leben und der Tod,

denn der eine ist das Nichts, das andere kann hoffen.

Euripides, Die Troerinnen

Syrakus

412 v. Chr.

1

Sagt also Gelon zu mir: «Lass uns runtergehen und die Athener füttern. Das Wetter ist ideal dafür.»

Gelon spricht die Wahrheit. Weil die Sonne ganz weiß und winzig vom Himmel knallt und du im Laufen die Steine brennen spürst. Sogar die Eidechsen suchen Unterschlupf, strecken den Kopf hinter Felsen und Bäumen raus, als wollten sie sagen: Ist das dein verdammter Ernst, Apoll? Ich stell mir die eingepferchten Athener vor, wie sie hektisch nach ein bisschen Schatten Ausschau halten und ihnen die trockene Zunge zum Hals raushängt.

«Gelon, du sprichst die Wahrheit.»

Gelon nickt.

Wir gehen mit sechs Schläuchen los, vier mit Wasser, zwei mit Wein, dazu ein Topf Oliven und zwei Stücke von dem Stinkekäse, den Mam macht. Ach, was haben wir doch für eine schöne Insel; manchmal denk ich mir, jetzt, wo der Betrieb zugemacht hat, ist meine Chance gekommen, alles neu zu regeln. Dass ich einfach aus Syrakus abhauen und mir ein Häuschen am Meer bauen könnte, keine düsteren Räume mehr, kein Ton und rote Hände, nur das Meer und der Himmel, und wenn ich mit einem frischen Fang über der Schulter nach Hause komme, wird meine Frau, wer immer sie ist, mich lachend erwarten. Dieses Lachen, das hör ich jetzt schon, und es klingt mir ganz sanft und zart in den Ohren.

«Mann, Gelon, ich fühl mich so gut heute!»

Gelon schaut mich an. Er ist hübsch mit seinen Augen, die gefärbt sind wie das flache Meer, wenn die Sonne draufscheint. Nicht so kackbraun wie meine. Er macht den Mund auf, um was zu sagen, aber dann kommt nichts. Er ist oft traurig, dieser Gelon – sieht die Welt wie durch Rauch gefiltert, nichts leuchtet für ihn. Wir gehen weiter. Obwohl die Athener geschlagen sind, ihre Schiffe Feuerholz und die unbegrabenen Toten Futter für unsere Hunde, gehen immer noch Hopliten Patrouille. Nur für den Fall des Falles. Diokles hat nicht erst gestern eine Rede gehalten, dass man bei diesen Athenern ja nie wisse; jeden Tag könne ein neuer Haufen ankommen. Vielleicht hat er recht. Die meisten Spartaner sind weg. Es heißt, sie sind direkt nach Athen unterwegs, entschlossen, es anständig zu belagern. Diesen Krieg zu beenden. Aber ein paar hängen noch hier rum. Krank vor Heimweh und zu nichts mehr nutze. Und tatsächlich laufen grade vier von ihnen vor uns, und ihre roten Umhänge flattern und sehen aus wie Wunden.

«Morgen!»

Sie schauen zurück. Einer salutiert. Arrogant, diese Spartaner, aber ach, was geht’s mir gut.

«Nieder mit Athen!»

Jetzt salutieren zwei, aber schwunglos. Sie sehen müde und traurig aus, wie Gelon.

«Ich sage, Perikles ist ein Arsch!»

«Perikles ist tot, Lampo.»

«Ja, klar, sag ich doch, Perikles ist ein toter Arsch!»

Diesmal lachen zwei der Spartaner, und alle vier salutieren. Ach, und ich fühl mich so glücklich heute. Ich kann’s nicht erklären, aber was ist das für eine Stimmung! Das sind immer die besten. Die, die du dir nicht erklären kannst, dabei haben wir noch nicht mal die Athener gefüttert.

«Welchen Steinbruch nehmen wir denn heute, Gelon?»

Wir stehen an einer Weggabelung, und ein Entschluss muss her. Gelon zögert.

«Laurium?», sagt er schließlich.

«Laurium?»

«Ja, ich glaub schon.»

«Also Laurium!»

Wir biegen links ab. Laurium heißt dieser Tage der größte von den Steinbrüchen. Irgendwer fand es witzig, ihn nach dem attischen Silberbergwerk zu benennen, mit dessen Hilfe die Athener diesen Ausflug finanziert haben. Und der Name ist hängen geblieben. Der Laurium-Bruch ist ein gewaltiges Loch, umgeben von so hohen milchfarbenen Kalksteinklippen, dass man nur an ein, zwei Stellen einen Zaun braucht. An einer davon ist ein Tor, durch das man reinkommt; davor sitzen ein paar Wächter auf dem Hintern und würfeln. Gelon gibt ihnen einen Weinschlauch, und sie winken uns durch. Der Pfad nach unten ist ein kurviger Knochenbrecher. Eine schlagbereite Schlange nennt Gelon ihn, wenn ihn die Muse küsst. Die Athener können wir riechen, bevor wir sie sehen. Weil der Weg so gewunden ist, erlaubt er keinen freien Ausblick, aber der Geruch ist ziemlich furchtbar: Es stinkt so heftig nach Verwesung, dass es fast wie Nebel wirkt. Ich muss einen Moment anhalten, weil mir davon die Augen tränen.

«Es scheint schlimmer als gewöhnlich.»

«Das liegt wohl an der Hitze.»

«Tja.»

Ich halte mir die Nase zu, und wir gehen weiter. Es sind weniger als beim letzten Mal. Bei diesem Tempo werden sie bis zum Winter allesamt hinüber sein. Dabei fällt mir der Abend ein, an dem sie sich ergeben haben. Die Debatte zog sich über Stunden. Diokles marschierte auf und ab und brüllte: «Wohin stecken wir siebentausend von diesen Dreckschweinen?» Schweigen. Also fragt er wieder. Diesmal murmelt der Arsch Hemokrates was von einem Abkommen. Scheiß auf irgendwelche Abkommen, denk ich, und dann spricht Diokles es aus. Nicht mit diesen Worten, aber er meint dasselbe. Er sagt: «Schließt du ein Abkommen mit einer Leiche?» Gelächter macht sich breit, es wird mit dem Zeigefinger gewedelt, und Hemokrates setzt sich und hält die Klappe. Und immer weiter marschiert Diokles und fragt uns, was zu tun sei. Schweigen. Bloß ist es jetzt ein gespanntes. Zum Platzen gespannt. Dann stellt er das Marschieren ein; sagt, ihm sei da was eingefallen. Was Neues und ganz Seltsames. Was, das dem Rest Griechenlands zeigen wird, dass wir es ernst meinen. Dass wir Syrakus sind und gewillt zu bleiben. Ob wir davon hören wollen? «Wollen wir, Diokles!» Er aber schüttelt bloß den Kopf. Eigentlich ist das alles viel zu heftig. Zu seltsam. Jetzt sollte mal jemand anders seinen Senf dazugeben. Aber die Zeit dafür ist längst vorbei. Denn wir sind Syrakus und gewillt zu bleiben, und das sagen wir ihm auch. Also beugt er sich vor und flüstert. Kein Ton. Nur seine Lippen bewegen sich. «Wir können dich nicht hören, Diokles!» Also spricht er es aus. Immer noch leise, aber laut genug, dass wir es hören können. «Steckt sie in die Steinbrüche.» Dann schreit er es raus: «Die Steinbrüche!» Und bald erbebte beinah ganz Syrakus von diesen beiden Worten: die Steinbrüche.

Tja, und genau das taten wir dann auch.

 

Aus der Ferne sehen sie aus wie ein Haufen rote Ameisen, die über die Felsen huschen, obwohl diese Athener wohl kaum huschen. Sie liegen oder kauern oder krabbeln bloß noch rum und suchen nach ein bisschen Schatten. Um fair zu sein, meine Augen sind nicht die besten, und die Unbeweglichsten könnten genauso gut auch tot sein.

«Morgen!»

Ein paar blicken auf, aber keiner erwidert meinen Gruß. Nun, mittlerweile finden einige in der Stadt, wir hätten da einen Fehler gemacht. Dass sie hier in den Steinbrüchen festzusetzen zu weit geht, über das kriegsbedingt Notwendige hinaus. Sie meinen, wir sollten sie einfach umbringen, versklaven oder nach Hause schicken, aber ach, ich mag das mit den Steinbrüchen. Es gemahnt uns daran, dass alles sich ständig ändert. Ich erinnere mich an die Athener, wie sie vor einem Jahr waren: Ihre Rüstungen schimmerten wie Wellen, wenn der Mond draufscheint; ihr Kriegsgeschrei hielt dich nachts wach und ließ die Hunde heulen, und dann diese Schiffe, die zu Hunderten um unsere Insel glitten, prachtvolle Haie vor einem Festmahl. Die Steinbrüche zeigen uns, dass nichts von Dauer ist. Sagt Diokles. Sie zeigen uns, dass Ruhm und Macht Schatten an der Wand sind. Ach, und ich mag es, wie sie riechen. Sie riechen, aber sie riechen wunderbar. Sie riechen nach Sieg und mehr. Jeder Syrakusaner spürt das, wenn er diesen Geruch in die Nase kriegt. Sogar die Sklaven. Wohlhabend oder nicht, frei oder nicht, du kriegst diesen Geruch aus den Steinbrüchen in die Nase, und du fühlst dich irgendwie reicher als zuvor, deine Decken fühlen sich wärmer an, dein Essen leckerer. Du bist auf dem richtigen Weg oder zumindest auf einem besseren als diese Athener.

«Morgen!»

Eins der armen Schweine sieht meinen Knüppel und hebt die Arme. Ein Strom Worte folgt; das meiste kann ich nicht verstehen, weil es nur ein heiseres Krächzen ist, aber ich höre «Zeus», «bitte» und «Kinder» heraus.

«Fürchte dich nicht», sag ich. «Wir sind nicht da, um euch zu bestrafen, obwohl ihr athenischen Hunde Strafe verdient. Wir sind da –»

«Halt den Mund.»

«Was, Gelon? Ich spreche die Wahrheit.»

«Sei einfach still.»

Ich kichere.

«Verstehe, du hast mal wieder eine deiner Anwandlungen.»

Er kniet bereits bei dem armen Schwein und gibt ihm Wasser.

«Irgendwas von Euripides?», sagt er.

Der Mann saugt am Ziegenschlauch, als wär’s Aphrodites Nippel, und Wasser läuft ihm über den Bart. Er ist rosa. Richtig schweinchenrosa. Fast alle sind sie rosa, ein paar sogar richtig rot.

«Euripides, Mann. Kennst du was von ihm?»

Der Mann nickt und saugt weiter. Jetzt kommen andere Athener herbei. An ihren Füßen klirren Ketten. Es sind mehr, als ich dachte, obwohl immer noch weniger als letztes Mal.

«Wasser und Käse», sagt Gelon, «für jeden, der Verse von Euripides kennt und sie vortragen kann. Wenn sie aus Medea oder dem Telephos sind, kriegt ihr noch Oliven dazu.»

«Wie wär’s mit Sophokles?», fragt eine winzige zahnlose Gestalt. «König Ödipus?»

«Scheiß auf Sophokles! Hat Gelon Sophokles erwähnt? Du –»

«Halt den Mund.»

«Ach, Gelon, ich meine doch bloß.»

Gelon nennt die Bedingungen.

«Kein Sophokles, kein Aischylos oder sonst ein athenischer Dichter. Die könnt ihr zwar vortragen, wenn ihr wollt, aber Wasser und Käse gibt’s nur für Euripides. Also, mein Freund. Was hast du zu bieten?»

Der Mann, der getrunken hat, räuspert sich und richtet sich auf. Es ist ein trauriger Anblick. Sosehr er es versucht, er kann es nicht. Sein Hals wackelt, sein Schädel schwankt, eine locker hängende Frucht, hin und her geweht von einem sanften Wind. Er sagt:

«Äh, wir müssen lernen zu begreifen, König Priam…»

Er hört auf.

«Ist das alles?»

«Tut mir leid, ich konnte mal mehr, aber jetzt gerade irgendwie nicht. Schau, in meinem Schädel herrscht ein Durcheinander, ich vergesse Gesichter, und ich erinnere mich nicht an … Ich schwöre, ich konnte mal mehr.»

Der Mann birgt den Kopf in den Händen. Gelon klopft ihm auf die Schulter und gibt ihm einen letzten Schluck. Ich denke, der Athener weint, aber er nuckelt einfach weiter am Schlauch. Das Wasser läuft in ihn rein und zugleich an ihm runter.

«Kann jemand es besser? Ein Mundvoll Oliven für ein bisschen Medea?»

Gelon ist verrückt nach Euripides. Hauptsächlich kommt er wegen dem her. Ich glaube, er hätte es fast begrüßt, wenn die Athener gewonnen hätten, falls dann Euripides vorbeigeschaut und ein paar Stücke inszeniert hätte. Einmal hat er einen ganzen Monatslohn auf den Kopf gehauen, um einen alten Schauspieler zu bezahlen, damit der bei uns im Betrieb vorbeikam und Szenen vortrug, während wir töpferten. Der Vorarbeiter meinte, das verringere die Produktivität, und schmiss den Schauspieler raus. Gelon gab aber nicht auf. Er ließ den Schauspieler einfach von der anderen Straßenseite aus rüberschreien. Da übertönten dann Fetzen von Poesie das Rauschen des Brennofens, und obwohl ich glaube, dass wir in dieser Woche weniger Töpfe angefertigt haben, waren sie ungewöhnlicher und schöner. Das alles fand noch vor dem Krieg statt, der Schauspieler ist tot, der Betrieb verschwunden. Jetzt schau ich zu Gelon rüber. Seine blauen Augen sind geweitet. Ein Stück Käse hoch über dem Kopf, preist er die Oliven an. Gelon ist einfach verrückt. Euripides hin oder her.

Viele melden sich, aber wenn es so weit ist, verhaspeln sie sich und bleiben hängen und klagen über Kopfschmerz und Durst, oder sie brechen einfach zusammen, sodass wir nur immer eine einzige Zeile zu hören kriegen. Wenn wir Glück haben, zwei. Ein Bluffer beginnt eine Szene, wo Achill um Medea wirbt, und selbst ich weiß, dass das Quatsch ist. Medea war weit vor Achill. Sie war mit Jason liiert.

«Doch schnellfüßiger Achill, das kann niemals sein! O Hellas, mein Vater wird es nicht gestatten. Achill, was …»

Gelon hebt seinen Knüppel, und der Bluffer schleicht von dannen. Ein anderer nimmt seinen Platz ein. Dieser hier erwähnt zumindest Jason, aber es ist eine Passage, die Gelon schon kennt. Trotzdem kriegt er ein paar Oliven für seine Mühen.

So schreitet der Tag voran. Die Sonne wird dicker, eigelbfarbener, ihr Brennen lässt nach. Rosa und Rot bluten ins Blau. Ich lasse Gelon machen und spaziere durch das Loch. Offiziell such ich nach Schauspielern. Gelon hat mutig angekündigt, dass er mit einem Säckchen Getreide zurückkehren wird, wenn ihm fünf Athener eine Szene aus Medea präsentieren. Aber er will, dass sie die richtig aufführen. Also mitsamt Rollenspiel. Mit Glück wird er einen einzigen finden. Die armen Schweine warten doch nur drauf zu sterben. Die schlimmsten Ecken des Hades stell ich mir ähnlich vor. Haarige Skelette mit papierener Haut. Abgesehen vom spärlichen Haar ist der einzige Unterschied in den Augen zu finden. Glasige Gemmen, die das Sterben zum Leuchten bringt. Kräftiges Braun und Blau starrt mich an. Für eine Hauptrolle hab ich noch keinen gefunden, aber ich schaue weiter.

Du schaust dir also diese Athener an, und du fühlst dich, als sähst du ihren Geist durch Nase und Lippen entweichen, von Atemzug zu Atemzug. Du spürst, wie ihre Haut vor deinen Augen vertrocknet und wegblättert, und würdest du nur lang genug warten und einen beobachten, so verschwände er völlig, und bloß seine Zähne und ein paar schmale Zweiglein von Knochen blieben übrig, weiße Zähne und weiße Knochen, die sich im Steinbruch zersetzen, und vielleicht wird eines Tages aus demselben Stein ein Haus erbaut, dein Haus, und du liegst nachts wach, während die Wände stöhnen, die Decke weint und es dir aus einem zweiten Himmel auf den Schädel tropft, und du wirst hoffen, dass es nichts ist, bloß Wind oder Regen, und vielleicht sind es die ja auch, vielleicht aber auch die Athener, die sich in deinen Wänden winden. Das sind seltsame Gedanken. Hades-Gedanken, aber der Steinbruch ist auch ein seltsamer Ort, da ist ein Mann nicht er selbst.

In der Ferne ertönt ein Schrei. Viel entwichener Geist drin. Das muss ernst sein. Noch mal ertönt er, genauso laut. Von einem Ort am Ende des Steinbruchs. Athener scheinen sich aus dem Steinbruch zu ergießen, sodass anstelle der gewohnten Wand aus Haut und Lumpen der Fels zu sehen ist. Ich beschließe, mir das näher anzusehen. Ein riesiger Mann schwingt einen Knüppel. Ein Athener wie ein Kätzchen aufgerollt zu seinen Füßen. Eigentlich sind es zwei Athener. Nur ist der andere eindeutig tot. Die Tunika des Knüppelmanns ist rot bespritzt. Ist das Biton? Tja, es ist Biton. Immer Biton. Sein Sohn ist im ersten Gefecht mit den Athenern getötet worden. Na ja, nicht wirklich im Gefecht. Er wurde gefangen genommen und zu Tode gefoltert. Biton kommt oft hierher. Sogar noch öfter als wir.

«Du bist ein furchtbarer Mann, Biton.»

Biton dreht sich um. Ich kneife ein Auge zusammen. Er nicht. In seinen Wangen zuckt es. Wenn das möglich ist, sieht er noch schlimmer aus als das arme Schwein zu seinen Füßen. Das Gesicht des Atheners ist voller Blut, aber in den grünen Augen glimmt eine seltsame Hoffnung. Schockierend grün sind sie. Eidechsengrün. Sie leuchten, und er kriecht schon von dannen. Noch nicht ganz bereit, dem Leben zu entsagen.

«Gelon und ich sind da drüben. Sammeln ein bisschen Euripides, ob du’s glaubst oder nicht.»

Biton antwortet nicht. Umklammert nur den Griff seines Knüppels. Die Adern in seinen Armen zucken wie Blitze.

«Eine gleißende Hitze hatten wir heute früh.»

Wieder nichts. Der Athener krabbelt weiter davon.

«Treibst du ein bisschen Sport? Was hat er getan, dass er so viel Aufmerksamkeit kriegt?»

«Ich hab sie in der Felswand gefunden.»

«In der Wand?»

«Hatten sich eine Höhle gegraben. Die Schweine.»

«Die?»

Biton tritt gegen den Toten zu seinen Füßen.

«Schlief in den Armen dieses Scheißkerls. Beide eng umschlungen. Wie ein Liebespaar.»

Ich nicke. Der Athener ist jetzt ein gutes Stück weg. Kriecht davon und zieht eine rote Spur hinter sich her.

«Es sind weniger da als letztes Mal.»

«Schweine.»

«Tja, Schweine sind’s. Ich geb diesen Athenern noch zwei Monate. Wenn Apoll so weitermacht, vielleicht weniger. Ich glaub, ich werde sie vermissen, wenn sie weg sind. Sie lockern irgendwie den Tag ein bisschen auf.»

Biton legt den Kopf in die Hände.

«Ganz so schlimm bist du nun auch wieder nicht, Biton.»

Der Athener ist immer noch zu sehen. Er kommt nicht annähernd schnell genug voran. Mach Tempo, du Sack.

«Diokles sagt, wir sollten sie nach Griechenland verfolgen. Die Aufgabe zu Ende bringen. Was meinst du? Ich für meinen Teil hätte gar nichts gegen einen Spaziergang durch ihre Akropolis. Vielleicht eine Aufführung besuchen. Es heißt, die seien phantastisch. Mit nichts hier auf Sizilien zu vergleichen.»

Biton dreht sich um.

«Du hast da einen ziemlichen Knüppel. Mit so einem hat Herakles den Nemeischen Löwen massiert, Biton. Ich beglückwünsche dich zu diesem Knüppel.»

Ich salutiere ihm. Der Athener bewegt sich schildkrötengleich. Ich denke, was soll’s? Lass es doch einfach, aber ach, ich will ihm nicht beim Sterben zuschauen.

«Kommst du mit mir zurück und begrüßt Gelon? Es würde ihn sicher freuen, dich zu sehen.»

Das ist gelogen.

«Zu beschäftigt.»

«Tja, ich seh schon, dass du viel zu tun hast. Das ist mir klar. Das Ding ist, dass ich beim Spazierengehen gern ein bisschen Gesellschaft hab. Jetzt schwindet das Licht, und es schmerzt mich, das zuzugeben, aber ich mag diesen Ort im Dunkeln nicht. Da kommen die Ratten raus, und ich krieg die Flatter. Lach jetzt nicht, Biton. Ich weiß, es ist albern, aber ich sag’s frei heraus. Das erschreckt mich.»

Biton lacht nicht. Er geht zu dem Athener zurück.

«Warte!»

Er bleibt stehen.

«Hängt wirklich dein Herz an dem armen Wichser?»

Biton nickt.

«Ich frag bloß, weil Gelon nach einem grünäugigen Darsteller für Jasons Rolle sucht. Es ist ja bekannt, dass der auffällig grüne Augen hatte. Die waren entscheidend dran beteiligt, dass Medea sich zu ihm hingezogen fühlte, wenn die Erzählung stimmt.»

Biton sieht verwirrt aus.

«Ich biete dir diesen Schlauch Wein als Entschädigung an.»

Er ist immer noch verwirrt, aber jetzt hat sich Interesse dazugesellt. Seit dem Tod seines Sohnes ist Biton ein Anhänger des Dionysos geworden, aber da er knapp bei Kasse ist, kommt er selten dazu, ihm zu huldigen.

«Für mich?»

«Tja. Im Tausch gegen den Athener.»

Seine Augen weiten sich. Sieht so aus, als würde er gleich losheulen.

«Danke.»

«Lass ihn dir schmecken, Biton.»

Er nimmt den Schlauch und nuckelt kräftig dran. Vielleicht nicht ganz so kräftig wie an Aphrodites Nippel, aber gewiss so wie an dem einer Nymphe oder minderen Göttin. Ich klopf ihm auf die Schulter und geh weiter. Ich brauche nur ein paar Schritte, um den Athener einzuholen. Er rollt sich zu einer Kugel zusammen und wartet auf mehr vom Gehabten. Als die Schläge ausbleiben, öffnen sich seine Finger, und ich seh, wie mich diese grünen Augen anstarren – eidechsengrün.

«Fürchte dich nicht, denn ich komme nicht, um dich zu quälen, obwohl du Qualen verdienst. Ich komme, um dich für eine Theateraufführung zu verpflichten!»

Seine Finger schließen sich, und er rollt sich nur noch enger zusammen.

«Scheiße noch mal! Wenn ich dir wehtun wollte, würde ich dir wehtun.»

Die Finger öffnen sich, und die grünen Augen tauchen wieder auf. Er scheint was zu sagen.

«Bitte nicht …»

«Schluss mit dem Gewimmer! Sonst überleg ich es mir noch anders. Jetzt sprich offen, und dir wird nichts geschehen. Kennst du Euripides?»

Er antwortet nicht.

«Sprich! Kennst du ihn? Euripides, den hervorragenden Athener Dichter?»

«Ich kenne ihn.»

«Könntest du was auswendig? Also, könntest du es sprechen, wenn man dir souffliert? Es glaubhaft sprechen?»

Er nickt.

«Medea? Kennst du Medea?»

«Ja, ich denke schon. Ich …»

«Denken reicht mir nicht. Ich zieh dich für die Rolle des Jason in Betracht. Das ist eine Hauptrolle. Redest du jetzt mal Tacheles?»

«Ich denke, tut mir leid, äh, ich bin mir sicher, dass ich mich an ziemlich viel erinnere, bitte.»

Ich reiche ihm einen Wasserschlauch, damit er seine Gedanken ordnen kann. In einem Zug trinkt er ihn halb aus. Den Rest kippe ich ihm übers Gesicht, um das Blut abzuwaschen. Es ist nicht ganz so schlimm, wie es aussieht. Eine tiefe Platzwunde auf seiner Wange, eine weitere auf seiner Stirn. Nichts gebrochen. Hübsch würde ich ihn nicht nennen, aber alles in allem ganz passabel. Ich reiche ihm den Arm, und er nimmt ihn. Wir gehen los. Alles ist in Ordnung, bis wir zu dem anderen Athener kommen. Zu dem, den Biton umgebracht hat. Dort lässt er sich zu Boden fallen und beginnt zu weinen, küsst den Toten und flüstert ihm Dinge zu.

«Genug. Ich hab’s eilig.»

Er ignoriert mich, küsst und flüstert einfach weiter, bis seine Lippen und sein Gesicht wieder ganz versaut sind. Ich werd ihn noch mal waschen müssen. Das ist Wasserverschwendung.

«Komm jetzt!»

Nichts. Ich hebe den Knüppel, wie um zuzuschlagen. Das hilft, und er löst sich ziemlich schnell von der Leiche. Die Arme erhoben, um sich zu schützen.

«Jetzt steh auf!»

Er rappelt sich hoch, hält aber inne, kniet sich wieder hin, zieht ein paar blonde Haare aus dem, was von dem Schädel übrig ist, und drückt sie in der Faust zusammen. Dann steht er auf. Ich geh ganz langsam los, und er folgt mir.

Der Mond steht schon als silbernes Grinsen am Himmel, aber auch die Sonne ist noch da. Dick und rot. In einem Weilchen wird sie hinter den Steinbruchwänden verschwunden sein und ins Meer versinken, und dann, klar, wird es Nacht. Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Kumpel hier dann froh sein wird. Die Sonne, so scheint es, ist Todesursache Nummer eins in diesen Löchern.

«Du freust dich sicher, wenn der Abend anbricht, oder?»

Er reagiert nicht.

«Antworte mir, mein Freund.»

«Wie bitte?»

«Ich sage, du wirst glücklich sein, wenn Apoll sich jetzt vom Acker macht.»

«Nachts ist es nicht viel besser.»

«Die Ratten?»

«Nein, die Kälte. Es wird eisig. Der Wechsel verursacht Fieber.»

«Waren dein Kumpel und du deshalb in der Höhle?»

Er nickt.

«Zeugt von Einfallsreichtum. Das kann ich respektieren, aber Biton, der Bursche, den du vorhin getroffen hast, hasst athenischen Einfallsreichtum. Verachtet ihn. Das hat ihn wohl ziemlich angepisst. Dass da welche im Schatten pennen, wenn sie draußen in der Sonne braten sollten.»

Der Athener weint schon wieder.

«Beruhig dich. Nimm eine Olive.»

Ich halte ihm den Topf hin. Es sind hübsche Oliven, mit Öl, Salz, Knoblauch und einer geheimen Zutat eingelegt.

Meine Mam macht sie. Die besten in ganz Syrakus. Er zögert erst, nimmt dann ein paar. Er weint immer noch, aber jetzt kaut er auch.

«Wie heißt du, mein Freund?»

«Paches.»

«Paches?»

Er nickt.

«Ich bin Polyphem.»

Das hab ich grade erfunden. Bei diesen Athenern weiß man ja nie. Ein Name kann für Verwünschungen verwendet werden oder für was weiß ich.

«Polyphem, wie der Zyklop?»

«Tja, genau der. Meine Mam erzählt, mein Paps hatte bloß ein Auge. Der arme Kerl.»

«Oh.»

Wir gehen weiter.

«Weißt du, Paches. Ihr Athener seid da selber schuld dran. Segelt hier rüber wie Haie, um uns euch einzuverleiben. Ihr seid schlimmer als die Perser. Die Perser sind wenigstens Barbaren, aber ihr seid Griechen, die Griechen angreifen. Tja, Diokles hat schon recht. Ihr seid Abschaum.»

Er antwortet nicht, hinkt bloß einfach weiter. Aus den Schatten beobachten uns Augen.

«Trotzdem wird mein Kumpel Gelon froh sein, einen Euripides-Adepten kennenzulernen. Er meint, er ist noch bedeutender als Homer. Du wirst ihn gleich treffen. Gelon, nicht Homer.»

Ich zwinkere ihm zu.

 

Mit dem verblassenden Licht kommen die Ratten raus. Zuerst nur eine oder zwei, aber bald ist der ganze Boden übersät mit ihnen, und ihr Fiepen erfüllt die Luft. Sie sehen verrückt aus. Nicht wie man Ratten sonst kennt, sondern feucht, rot und sehr dick. Sie huschen dir über die Füße, aber solange du nicht drauftrittst, machen sie keinen Ärger. Trotzdem achte ich unheimlich auf meine Schritte. Paches scheint sie gar nicht zu beachten, aber er tut es wohl doch, denn auch er tritt auf keine drauf. Gelon schätzt, dass in diesem Steinbruch über tausend Ratten sind. Er sagt, wenn du nachts die Lauscher aufstellst, hörst du ihr Gequietsche bis in die Stadt.

«Die Ratten stören dich nicht, Paches?»

«Nein.»

«Ich glaub, mir würden die mehr zusetzen als Hunger und Durst.»

Er schaut mich an, als wollte er sagen, ich hätte ja keine Ahnung.

«Möchtest du noch Wasser?»

Er nickt, und ich geb ihm den Schlauch.

«Vermisst du Athen?»

Er spuckt das Wasser aus. Räuspert sich.

«Tut mir leid, klar vermisst du es. Was ich sagen wollte, ist, ich hab gehört, es sei ganz toll. Weißt du, wir Syrakusaner haben so zu euch aufgesehen. Ist nicht unsere Demokratie nach eurer geformt? Tja, ich denke, ich würde es gern mal sehen. Mir den Parthenon anschauen. Gelon meint, die Stadt ist schöner als alle anderen, sogar in Ägypten oder Persien.»

«War er da mal?»

Ich bin im Begriff, meinen Knüppel zu tätscheln, beherrsch mich aber noch rechtzeitig.

«Nein, war er nicht, aber er hat mit Leuten gesprochen, die da waren.»

«Das ist sie.»

«Was?»

«Schöner als alle anderen …»

Er verstummt. Ich denke, ihm kommen wieder die Tränen, aber er kriegt sich in den Griff.

«Es ist mit Abstand die schönste Stadt in Griechenland. In Ägypten war ich schon, und ich glaube, sie kommt allem dort gleich. Zu Persien kann ich nichts sagen.»

«Du warst in Ägypten?»

«Ja.»

«Bei den Pyramiden? Ehrlich?»

Er nickt.

«Magst du noch eine Olive?»

Ich geb ihm ein paar.

«Danke, Polyphem.»

In der Ferne entdecke ich Gelon. Er hockt auf einem Stein – unter sich ein paar Athener.

«Lampo», sag ich schnell.

«Wie bitte?»

«Mein Name. Eigentlich heiße ich nicht Polyphem. Ich heiße Lampo. Klar, wer würde auch schon ein Kind nach einem Zyklopen benennen?»

«Oh.»

Ich grinse und winke ihn weiter.

«Aufgepasst, Gelon! Hier kommt dein Hauptdarsteller.»

Er schaut runter.

«Was?»

«Hier ist Jason. Schau dir die grünen Augen an. Hast du nicht gesagt, Jason war grünäugig?»

Gelon mustert Paches. Ich denke nicht, dass er beeindruckt ist, und in Wahrheit sind die Platzwunden, die Biton ihm zugefügt hat, doch schlimmer, als ich zuerst dachte. Paches sieht ziemlich fertig aus.

«Grünäugig? Was redest du? Der arme Kerl ist am Sterben.»

«Du bist so ein Pessimistenarsch, Gelon.» Ich lege den Arm um Paches. «Beweis es ihm, Paches. Jasons letzte Rede, als er feststellt, dass seine Kinder tot sind!»

Paches räuspert sich.

«Du am meisten verhasstes Weib den Göttern und mir –»

«Warte!», sagt Gelon. «Wenn er es schon vorführt, dann zumindest als Teil der Szene. Medea, bist du bereit?»

«Glaub schon.»

Eine sehr große Frau tritt vor, aber natürlich gibt es in diesen Löchern keine Frau. Ich schau noch mal genauer hin. Ist das nicht der Bursche mit dem Wackelhals, bloß dass sein Haar jetzt viel länger ist und er in einem Mädchen-Chiton steckt?

«Ist der von deiner Schwester?»

Gelon nickt.

«Und das Haar?»

«Von einem Pferd.»

«Du gibst dir ja alle Mühe.»

«Tja.»

Paches und Medea gehen in Position. Gelon und ich setzen uns auf einen Stein und warten. Ich stelle mir vor, wie es wär, wenn wir das Original in Athen sehen würden, und es schmerzt mich zu wissen, dass das nie geschehen wird, aber dann schau ich mich um: Die Wände des Steinbruchs, die uns gleichsam umzingeln, der Himmel, der sich auf uns niedersenkt, voll mit Sternen, oder mit Göttern, und drunter wimmelt es von Athenern. Klar, ist dieser Steinbruch nicht auch ein richtiges Amphitheater?

Ein riesiges athenisches Amphitheater mit zwei kleinen Syrakusanern als Zuschauern. Sie fangen an.

2

Die Laterne des Dismas schwankt in der Ferne wie ein trunkener Mond. Seit wir aus dem Steinbruch sind, haben wir schon ein paar gekippt; Gelon will das Besäufnis am Meer abschließen, und das Dismas liegt am Meer, und zwar gefährlich nahe dran. Der Pfad ist mit Muscheln, zerschlagenen Krebsschalen und Medusen aus Seetang, die in glitzernden Büscheln aufgehäuft sind, übersät. Ich lobbe eines in Gelons Richtung, und er schießt ein anderes volley zurück. Als wir näher kommen, mischt sich das Wellenrauschen mit dem Klacken der Becher und dem Gewirr von hundert unverständlichen Stimmen.

Ein hübscher einarmiger Bursche steht vor der Tür: In seine Stirn ist ein feuerrotes Pferd gebrannt. Das ist Chabrias – ein argivischer Kriegssklave, den Dismas wegen seines Gliedermangels billig kaufen konnte. Nüchtern hinterlässt Chabrias den Eindruck eines Mannes, der ständig einen leisen Schmerz empfindet, die Muskeln in Wangen und Stirn sind zu einer halben Grimasse verzerrt, aber spätabends, wenn die Kunden großzügiger werden und auch er mal einen Krug oder zwei gebracht kriegt, glätten sich die Wangen, die Augen leuchten, und wenn du bei ihm bleibst, ergötzt er dich mit Geschichten aus Argos: über geliebte Frauen, gefahrene Wagenrennen, in Tempeln gesprochene Gebete, geweihte Quellen und grüne Haine zuhauf. Jawohl, Argos ist ein liederlicher, heiliger Ort. Wenn er ihn dir doch nur zeigen könnte, und es ist was dran an der Art, wie diese Geschichten gesponnen sind, an ihrem wilden Vorwärtsdrang, dass du das Gefühl kriegst, der arme Chabrias versucht das alles genauso für sich selbst heraufzubeschwören wie für dich. Will die Asche seiner Gegenwart mit Argos anfachen und erglühen lassen, bis ihm alles zu viel wird und er mitten im Satz aufhört, gen Himmel schaut, ein seltsames Liedchen summt und dir seinen Armstumpf zeigt. Ich mag Chabrias.

«Schau, wer hier ist», sag ich.

Chabrias verbeugt sich und öffnet die Tür. Zweifelsohne kein Krug in Reichweite. Wir treten ein.

Beißender Gestank nach Salzlake und Fischschuppen dringt einem in die Nüstern. Das Dismas riecht stärker nach Meer als das Meer selbst. Seiner Lage geschuldet ist es ein Lieblingsort der Fischer, und so geballt, wie sie dort auftreten, bei verrammelten Fenstern, setzt sich der Gestank einfach fest. Die Luft dampft richtig, Ranken eines fischigen Nebels steigen von Hälsen und triefenden Umhängen auf. Die Männer beugen sich mit weinrot gesprenkelten Bärten über ihre Krüge und loben oder bejammern ihren jüngsten Fang. Neben dem menschengemachten Getöse gibt es massig andere, vom Haus erzeugte Geräusche. Über die Jahre haben Wind und Regen zahlreiche winzige und nicht so winzige Löcher in die Wände gefressen, sodass das ganze Gebäude zu pfeifen scheint, die Deckenbalken und der Boden knacken und biegen sich. Und doch trägt diese Gebrechlichkeit nur zu deinem Wohlgefühl bei. Deine Ohren bereiten deine Haut auf einen Aufprall vor, der nie erfolgt, und da ein Mann nichts jemals mehr schätzt als in dem Moment, da es ihm zu entgleiten droht, erhöht die ständige Erwartung des Zorns der Elemente den Trinkgenuss.

Gelon geht direkt zu Homers Stuhl. Ein wackliges Schrottding, von dem es heißt, der blinde Sänger habe bei einem Besuch in Syrakus vor diversen hundert Jahren mal drauf gesessen. Er steht verkeilt in einer Ecke, und drüber hängt eine Bronzetafel mit der Aufschrift Homers Stuhl. Ist das wirklich Homers Stuhl? Nun, in ganz Syrakus wimmelt es von Homers Stühlen, und können sie wirklich alle Homers Stühle sein? Warum denn nicht? Der Allerwerteste ist kapriziös und bindet sich nicht fürs Leben, also vielleicht, tja, ist es doch Homers Stuhl.

Es sitzt schon jemand drauf, und Gelon fordert ihn auf zu verschwinden. Der Bursche sagt: Hau ab, und Gelon zerrt ihn höflich am Kragen runter und schmeißt ihn zu Boden, während er sich zugleich dafür entschuldigt. Köpfe fahren herum, und viele juchzen und johlen, denn Gelon ist wohlbekannt im Dismas, und dieses Ritual kommt oft zur Aufführung, wenn ahnungslose Gäste ihm den Platz wegnehmen.

Ich besorg die erste Runde. Ein neues Sklavenmädchen schenkt den Wein ein. Sie hat dunkle, mandelbraune Augen und Haut wie frisch gehämmertes Kupfer. Sie glüht richtig, diese Haut, und obwohl sie bloß eine Ware ist, ertapp ich mich dabei, dass ich zusammenzucke, als ich sehe, wie sie meinen Umhang beäugt, fleckig und zerschlissen, wie er ist. Sie reicht mir den Krug, und ich geh zurück an den Tisch, wobei ich mir alle Mühe gebe, nicht zu hinken. Gelon verbirgt den Kopf in den Händen.

«Schütt dir das rein. Trübsal blasen ist nicht, ja?»

Er schaut hoch, um ein Lächeln bemüht.

«Wir leeren einen Krug!», sag ich. «Was leeren wir?»

«Einen Krug.»

Ich fülle die Becher bis zum Rand und erhebe meinen.

«Auf Syrakus!», sag ich.

«Auf Homer.»

«Schau dir mal die neue Sklavin an. Umwerfend. Tut schon weh, sie bloß anzuschauen. Schon sie bloß anzuschauen, macht mich waidwund.»

«Glaubst du, er wusste, was er getan hatte?»

«Was?»

«Glaubst du, Homer wusste, dass er die Ilias geschrieben hatte, als er die Ilias geschrieben hatte? Glaubst du das?»

«Nehm ich mal an.»

Gelon nickt.

«Und Euripides. Als er Medea geschrieben hatte, glaubst du, der wusste das?»

«Ja.»

Jedes Mal, wenn Gelon auf Homers Stuhl sitzt, stellt er diese Fragen.

«Weißt du was?», sagt er. «Ich hätte da einen Vorschlag für dich. Du wirst mich wahrscheinlich für verrückt halten, aber trotzdem.»

«Tu ich jetzt schon.»

«Was?»

«Dich für verrückt halten.»

Er guckt besorgt, aber dann heb ich meinen Becher, und wir stoßen an und trinken auf ex. Gelon will nachschenken, aber der Krug ist leer.

«Scheiß drauf. Der nächste geht auf mich.»

Er schlurft wankend davon, und ich sitze da und grüble, was er wohl vorschlagen könnte, aber dann kommt das Sklavenmädchen an meinen Tisch, und bevor ich groß nachdenke, streck ich die Hand aus, und meine Finger streichen über die Stelle an ihrem Arm, wo sie das Brandzeichen gesetzt haben: Die Haut ist ganz runzlig und rau.

«Woher kommst du?»

Keine Antwort.

«Nun sag schon. Du bist neu hier. Karthago? Ägypten?»

Sie lacht. Von ihrem Schneidezahn ist ein Stück abgebrochen, deshalb sieht er aus wie ein Fangzahn und sie wie eine prächtige Wölfin.

«Was ist daran so lustig?»

«Ägypten?», sagt sie. «Spinnst du?»

«Du siehst aus wie eine Pharaonin.»

Sie lächelt und marschiert davon. Wobei ihr Chiton sanft raschelt. Tolle Braut. Gelon kommt zurück, stellt drei überschäumende Krüge ab.

«Drei?»

«Auf Homer!», sagt Gelon.

Auf Homer!», sag ich.

Die Tür schwingt auf, und mehrere Aristos stürmen rein. Sie können nicht älter als sechzehn sein. An ihren Handgelenken glitzern silberne Armreifen, die Umhänge, so weiß und luftig, schweben wolkengleich über den schmutzigen Dielen und landen bei uns am Nebentisch. Sie stampfen mit den Füßen auf und rufen nach drei Krügen vom Feinsten. Zerfurchte Gesichter blicken von ihrem Getränk auf und fluchen. Seit dem Krieg passiert das andauernd: Bartlose Wichser wie diese platzen ins Dismas und andere Qualitätstrinkhäuser. Sie kreischen was von Demokratie und wollen dir einen ausgeben, aber du weißt, sie sind nur zum Sich-Gruseln hier.

«Kleine Scheißkerle», sag ich. «Nicht alt genug zum Wählen, aber das Dismas lässt sie schon rein.»

Gelon starrt ins Leere.

«Gelon?»

«Wie bitte?»

«Schau dir diese Vollidioten an. Alle keine Eier. Hab ich recht?»

Gelon lächelt, aber seine Augen sind voller Trauer.

«Lampo?»

«Ja?»

«Ich habe Desma gesehen.»

«Was?»

«Sie war auf der Wandmalerei da drüben. Der von Troja. Sie ist eine der Frauen, die in Troja auf die Schiffe gebracht werden.»

«Oh.»

Desma ist Gelons Angehimmelte. Seit drei Jahren ward nichts von ihr gesehen oder gehört. Sie ist abgehauen, als ihr Junge starb. Es gehen Gerüchte, dass sie mit irgendeinem Burschen in Italien zusammen ist. Das würde mich zwar wundern, aber Gelon sieht Desma häufig und an den seltsamsten Orten. Er hat sie schon in Gestalt einer Macke an einem Topf gesehen, in irgend so einem bedeutungslosen Sprung, und dann starrt er so lange drauf, bis du ihm einen Stupser gibst. Wenn du ihn fragst, was er da betrachtet hat, flüstert er: «Desma.» Er sieht sie in einem Farbfleck, einem Baum, einem Stück Himmel und in fließendem Wasser. Gelon sieht Desma überall. Wieder ist das Gesicht in den Händen. Das passiert gern mal ab dem vierten Krug.

«Wir veranstalten hier ein Besäufnis, Gelon! Was veranstalten wir?»

«Ein Besäufnis», sagt er und trinkt einen Riesenschluck Wein.

«Und du sitzt auf Homers Stuhl. Wo sitzt du?»

«Ich kann nicht schlafen, Lampo. Ich liege im –»

«Genug von dem Mist. Wo sitzt du?»

«Auf Homers Stuhl.»

«Und was veranstalten wir?»

«Ein Besäufnis.»

Ich hebe meinen Becher, um anzustoßen. Gelon starrt seinen nur an.

«Hallo, Bürger!»

Wir drehen uns um. Es ist einer der Aristos vom Nebentisch. So ein schlankes Wesen, die Rechte auf die Hüfte gestützt, in der Linken einen gewaltigen Krug, eher wie ein Mädchen als wie ein Mann: schulterlanges Haar, hübsches Gesicht, graue Augen mit langen Wimpern und aufgeworfene Lippen.

«Lust auf ein kleines Trankopfer?»

Gelon murmelt was in seinen Bart, und ich schaue weg. Trotzdem füllt der Junge unsere Becher.

«Auf den Sieg», sagt der Schönling und beäugt Gelon.

Wir sagen nichts, exen nur in einem Schluck unsere Becher. Das ist wunderbarer Wein, viel besser als der Essig, den wir bisher getrunken haben. Riecht auch ganz lecker nach Zitrone und Honig. Von parfümiertem Wein hatte ich zwar schon gehört, aber nicht gewusst, dass Dismas und Konsorten so was auch ausschenken. Mindestens eine Drachme pro Krug.

«Gut, oder?»

«Ist noch nicht klar», sag ich. «Davon brauch ich mehr, bevor ich ein Urteil abgeben kann. Stimmt’s, Gelon?»

«Stimmt.»

Der Schönling lacht und klatscht sich auf die Schenkel. So lustig war das jetzt nicht. Trotzdem schenkt er uns noch mal randvoll ein, und wir trinken aus wie zuvor.

«Und jetzt?», fragt er lächelnd.

«Als Empiriker», sag ich, «brauch ich mehr Belege. Geht’s dir auch so, Gelon?»

Gelon geht es auch so, und der Schönling füllt wieder auf. Das geht so weiter, bis der Krug leer ist, aber das ist ihm egal, er bestellt einfach einen neuen und ruft seine Kumpels rüber, damit sie sich dazugesellen. Drei rausgeputzte Jünglinge erscheinen und stellen sich vor. Ich kenn die Namen all ihrer Väter, richtig reich, diese Burschen, aber den Vogel schießt der Schönling ab. Sein Paps ist nämlich Hermokrates. Scheiß-Hermokrates. Der Schönling meint, er hasst ihn. Dass er auf unserer Seite ist und die Ungleichheit in der Stadt für eine Schande hält. Dass erst Arbeiter wie wir Syrakus zu dem machen, was es ist. Ich rümpfe die Brauen und sage nichts, aber die Stimmung kocht. Also erzähl ich ihnen, sie bekämen ja kaum die Hälfte mit. Dass ich in Epipole mal ein Duell mit einem Athener hatte und dass es da zuging wie bei Achill und Hektor. Entweder er oder ich, und ich spring auf und spiel die Szene nach. Sie jubeln, und ich sehe, wie mir das Sklavenmädchen Blicke zuwirft. Tolle Braut.

«Noch einen Krug für Achill!», ruft Hermokrates’ Sohn, und ein Krug wird gebracht. Mittlerweile dreht sich der Raum, nicht wie verrückt, sondern sanft und so, dass alles ein bisschen verwischt und die Gesichter um mich her aussehen, als würden sie tanzen. Jemand fragt nach meinem Hinkebein. Ob ich das aus dem Krieg hab? Ja, sag ich, da hat mich ein Athener Bogenschütze von hinten erwischt. Der Pfeil durchschlug mir den Knöchel. «Wie bei Achill», sagt einer, und ich breche in Tränen aus. Die Aristos scharen sich um mich. Sie sagen, ich sei ein Held, ich hätte mich für Syrakus verwunden lassen, und das sei glorreich. Bald liegen wir uns alle in den Armen. Auch Hermokrates’ Sohn. Er ergreift meine Hand und sagt mir, sein Vater würde mich bestimmt gern kennenlernen. «Wie Achill», sag ich, und er sagt: «Ja, wie Achill.» Noch ein Krug wird gebracht, und wir trinken Brüderschaft. Ich bin arm, und sie sind reich, aber Brüder sind wir trotzdem. Die Tränen laufen mir nur so runter. Keinen verdammten Schimmer, warum. Ich hab das Hinkebein schon mein Lebtag lang, keine Schlachten, keine Pfeile, bloß ein verwachsener Fuß, und jetzt starre ich drauf, dort auf dem schmutzigen Boden, deutlich verdreht und für alle sichtbar, und einen Moment lang fühle ich mich heilig.

 

Draußen. Ein Haufen Sterne beleuchtet unseren Weg. Der Lärm der Stadt wird leiser und leiser, bis man gar nichts mehr hört, nur die Wellen und das Knirschen unserer Schritte. Arm in Arm spazieren wir, Gelon und ich, und gelegentlich torkeln wir in einen Busch, aber meist geht es zügig voran. Ich hab einem der Aristos beim Brüderschafttrinken den Weinschlauch geklaut, und den machen wir jetzt im Laufen leer. Seit unserem Aufbruch haben wir kaum ein Wort gesprochen, deshalb erschrecke ich, als Gelon plötzlich zu singen beginnt. Er hat eine hübsche Stimme: tief und bisweilen etwas brüchig, aber sie ist süß und sanft, und er lädt sie seltsam mit Gefühl auf. Er singt was aus Medea. Die Passage, nachdem sie ihre Kinder getötet hat. Wo der Chor den Frevel beklagt. Immer mal wieder, wenn ihm ein Wort entfallen ist, hält er inne, um es dann fast rauszuschreien, als es ihm wieder einfällt. Inzwischen ist klar, wohin wir gehen: zurück zum Steinbruch, und logisch, bald bekomme ich den Geruch, den Steinbruchgeruch nach Verwesung in die Nase, und Gelon bleibt stehen.

«Mein Vorschlag.»

«Was?»

«Mein Vorschlag. Ich hab ihn dir noch nicht gemacht … Hier ist er.»

«Ich versteh nicht …»

«Regie.»

«Was?»

«Du und ich. Wir werden Regie führen.»

Er reicht mir den Weinschlauch. Ich sauge kräftig dran.

«Werden wir das?»

«Tja.»

«Und was machen Regisseure?»

«Sie führen Regie …» Er kriegt einen Schluckauf. «Wir inszenieren Medea im Steinbruch. Nicht nur in Ausschnitten. Wir machen das ganze Stück. Komplette Produktion samt Chor, Masken und allem Pipapo.»

«Oh.»

Leises Stöhnen neben mir. Gelon weint.

«Alles gut?»

Nichts.

«Gelon?»

«Komplette Produktion», sagt er mit zitternder Stimme, «mit Chor, Musik und Masken. Auch mit Kostümen, eine anständige Inszenierung. Wie sie sie in Athen machen würden. Morgen früh fangen wir an.»

«Dann lassen wir sie es am besten gleich wissen», sag ich.

Ich stolpere so nah an den Rand, wie ich mich traue.

«Wacht auf, Athener! Wacht auf!»

Es ist schwer vorstellbar, dass da unten Hunderte, vielleicht tausend von denen schlafen. Aber man weiß, dass es stimmt. Dass sie irgendwo in dieser Schwärze existieren, bloß wer und wo, und was denken, fühlen sie? Davon dreht sich mir der Kopf und lässt das Dunkel hübsch rotieren. Ich suche auf dem Boden nach einem Stein, einem kleinen, und als ich einen gefunden hab, werfe ich ihn runter. Er fliegt wie ein Blitz durch die Luft und landet mit einem göttlich dumpfen Schlag.

«Morgen früh! Komplette Produktion! Mit Chor, Masken und allem Scheiß!» Ich dreh mich um. «Stimmt’s, Gelon?»

«Stimmt.»

Ich sauge am Schlauch und greife nach einem weiteren Stein.

3

Es gab mal einen alten Wahrsager, der am Ende von Gelons Straße wohnte. Er war auch Dichter, aber es hieß, seine Prophezeiungen seien besser als seine Reime. Du konntest ihn schon vor der Morgenröte auf und ab laufen sehen oder als Letzter in der Nacht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf gen Himmel gereckt und die Augen glänzend im Sternenlicht, vor sich hin murmelnd. Du trafst ihn auch in der Mittagssonne auf der Agora, wo er kniete und ein Lamm, eine Katze, einen Hund zerlegte oder was auch immer er sonst finden konnte, mit streng konzentrierter Miene und blutigen Armen, während er sich durch sehniges Violett und Rosa tastete, um einen Blick auf das zu erhaschen, was da kommen sollte.

Gelon kannte ihn recht gut, und eines Tages nahm er den Alten beiseite. Das ist schon ein paar Jahre her, vor dem Krieg und bevor Desma abgehauen war, ihr Junge, Helios, war da noch am Leben, obwohl es am seidenen Faden hing. Gelon fragte, ob Helios das Jahr noch überstehen würde. Der Alte sah nachdenklich drein. Nach einer langen Pause sagte er, wenn Gelon ihm einen Ochsen besorgen könne, werde er es bald rausfinden. Gelon, so arm, wie er war, sagte, er könne keinen Ochsen besorgen. Gut, na denn, wie wär’s mit einem Schaf? Sogar ein Lamm würde es tun. Gelon sagte, er werde es versuchen. In dieser Nacht stahl er ein Lamm von Alberus’ Hof und brachte es dem Propheten. Der Prophet meinte, er solle am nächsten Abend im Dismas sein, da werde er ihm sagen, was er rausgefunden habe. Verbeugte sich, nahm das Lamm unter den Arm und stolperte in die Nacht davon.

Am nächsten Tag sitzen sie also im Dismas, und der Alte ist besoffen, weil er meint, der Wein macht ihm das Deuten leichter, und der arme Gelon drängt und quengelt: «Was hast du gesehen? Geht alles gut aus mit Helios?» Irgendwann sagt der Alte, Gelon soll sich mal vorbeugen. Gelon beugte sich vor. Darauf fragte ihn der Alte, ob Helios der kleine Junge sei, mit dem Gelon oft herumlaufe, der blasse mit der albernen blauen Kappe. Gelon sagte ja. Worauf der Alte flüsterte, so wie der aussehe, denke er, nein. Der werde ziemlich bald tot sein. Der Junge sehe krank aus, sehr krank, aber im Grunde wisse er es nicht genau, denn es gebe keine Zukunft, nur das, was als Nächstes geschehe, und er schneide die Lämmer, Katzen und Hunde nur auf, weil, was solle man denn sonst machen? Es sei wenigstens etwas, und irgendetwas brauche jedermann. Dann forderte er Gelon auf, ihm noch einen Krug zu besorgen.

Ich erzähl hier nur so am Rande von ihm, weil wir morgens auf dem Weg zurück zum Steinbruch an ihm vorbeilaufen. Er hängt an einem Baum gleich hinter Achradina an einem Strick, und im roten Licht der Morgenröte sieht der Strick aus wie ein Stängel und er selbst wie eine gruselige Blume. Gelon hält inne und spricht ein Gebet. Ich nicht. Ich hab keine Zeit für Typen, die Hunde umbringen.

Wir gehen weiter.

4

Die Regisseure sind früh vor Ort – Gelon und Lampo, bereit zum Vorsprechen. Mein Schädel bringt mich um. Unterwegs hab ich zweimal gereihert, und doch sind wir hier, und wir sind früh dran. Warum? Weil es darauf ankommt. Sagt Gelon. Bei der Beziehung zwischen Schauspieler und Regisseur geht’s allein ums Vertrauen. Um den Glauben. Ich mustere die Athener vor mir – Reihe um Reihe angeketteter Skelette –, und der Glaube fällt mir schwer, ein Stück zu spielen scheint unmöglich, doch der Schein trügt. Sagt Gelon. Er sagt, Euripides’ Hippolytos