21,99 €
"Glücklich und erfolgreich mit Krebs" erzählt die außergewöhnliche Lebensgeschichte des Autoren, der seit seinem 26. Lebensjahr sieben Tumorerkrankungen überwinden musste. Trotz zahlreicher Behandlungen hat er eine beeindruckende internationale Karriere gemeistert. In diesem Buch teilt er seine inspirierende Reise durch Höhen und Tiefen, gibt praktische Ratschläge und zeigt, wie man trotz Krebs ein erfülltes Leben führen und zugleich beruflich erfolgreich sein kann. Tauchen Sie ein in eine Geschichte voller Mut, Resilienz, Lebensfreude, Solidarität und Liebe - ein unverzichtbarer Ratgeber für alle, die sich nicht unterkriegen lassen wollen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wolfgang Horst Reuther
Glücklich und erfolgreichmit Krebs
Meine lebenslangeTumor-Odyssee
Impressum
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.
© 2025 united p. c.
in der novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7103-1791-0
ISBN e-book: 978-3-7103-1775-0
Umschlagabbildung: Pixabay
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: united p. c. Verlag
www.united-pc.eu
Gewidmet all den Ärzten,die so oft mein Leben gerettet haben
1. Entdeckung einer Metastase in der Lunge
Ihre Blutwerte sind in Ordnung und die Tumormarker unauffällig. Allerdings haben wir in der Computertomografie zwei kleine Schatten auf der Lunge entdeckt. Die sollten wir uns besser näher ansehen. Diese, wie immer vorsichtig gewählten Worte des Onkologen, leiteten 2020 das vorerst letzte Kapitel der Tumor-Odyssee ein, die sich nun über 45 Jahre meines Lebens hinzog.
Wäre nicht zugleich die Covid-19-Pandemie ausgebrochen, hätte man von einer Routineuntersuchung gesprochen. Nach dem Darmkrebs vor drei Jahren und der anschließenden Chemotherapie fand ich mich zum wiederholten Male in meinem Leben in einer Nachsorgeschleife wieder: zuerst vierteljährliche, dann halbjährliche Blutkontrollen und Computertomografien des Rumpfes. Zuvor hatte man bereits einmal eine Metastase in der Leber entdeckt und herausoperiert. Das war jetzt zweieinhalb Jahre her. Seitdem waren die Kontrollen negativ. So hatte sich in meinem Innersten langsam die Hoffnung festgesetzt, ich könnte es erneut geschafft haben. Doch inzwischen schien dieser Wunsch wieder hinfällig zu sein.
Wie immer hatte ich mich mit meinem Onkologen getroffen, nachdem diesem die Resultate der Untersuchung vorlagen. Aufgrund der Pandemie hatte er in seine private Praxis und nicht in die städtische Wiener Klinik eingeladen, wo er als Oberarzt angestellt war. Kontakte galt es jetzt, auf ein Minimum zu reduzieren, lange Wege durch die Stadt zu vermeiden.
Im Spital waren die Warteräume gewöhnlich überfüllt. Das traf auch für die Tagesklinik zu, in der aggressive Chemotherapien unter strenger ärztlicher Aufsicht verabreicht wurden. Dort warteten auch weitere Patienten, die sich in der Nachsorge befanden, auf ihren Ordinationstermin.
Meine Frau begleitete mich regelmäßig zu diesen Konsultationen. Sie wünschte, aus erster Hand zu wissen, wie es um den Krankheitsverlauf steht.
Der Oberarzt ist ein äußerst kompetenter Facharzt mit Erfahrung und ein ausgezeichneter Psychologe. Letzteres ist besonders für Langzeitpatienten in der Krebsbehandlung bedeutsam. Er versteht es, ein dauerhaftes Vertrauensverhältnis zum Erkrankten aufzubauen. Ohne Alarmismus und gleichzeitig der Wahrheit verpflichtet, vermeidet er Beschönigungen und vermittelt damit seinen Patienten die für den jahrelangen und oft widersprüchlichen Prozess der Behandlung und Kontrolle des Krebses nötige Gelassenheit und Zuversicht. Diese Balance beherrscht bei Weitem nicht jeder ansonsten fachlich exzellente Spezialist.
Eine solche Fähigkeit ist offenbar in seiner Persönlichkeit angelegt. Bei unserem ersten Treffen spürte ich sofort, dass er ein dem Leben und seinen Freuden zugewandter Mensch ist. Darin spiegelt er die typische Lebensart des Landes wider. Felix Austria, das glückliche Österreich, ähnelt in seiner Mentalität stärker dem südlichen Anrainer Italien als dem mehrheitlich protestantisch rigiden Nachbarn im Norden. In Deutschland ähneln einzig und allein das freudvoll-katholische Bayern und das Rheinland in ihrer katholisch-freudvollen Mentalität der Alpenrepublik.
Unausgesprochen überträgt mein Onkologe diese Lebensmaxime auf seine Patienten. Mir riet er gleich zu Beginn der Chemotherapie, nicht zuzulassen, dass der gewohnte Alltag durch die Krankheit und Behandlung mehr als nötig beeinträchtigt werde. Ein solcher Ratschlag stimmt optimistisch und verhindert unnötiges Grübeln über den Krebs und seine potenziellen Folgen. In Deutschland wäre ich eher auf eine freundliche Ermahnung gefasst gewesen, mich strikt an die ärztlichen Vorgaben zu halten.
Für den Erfolg einer Krebsbehandlung ist es wichtig, dass der Onkologe es versteht, auf die Individualität des Kranken einzugehen. Jeder Patient reagiert anders auf die unter Umständen tödliche Krankheit und die damit verbundenen langwierigen und oft unangenehmen Therapien. Das habe ich über die Jahrzehnte persönlich erfahren.
Der eine Patient möchte vieles gar nicht so genau wissen. In der Hoffnung, es wird schon alles gut ausgehen, will er lieber den Kopf in den Sand stecken und sich ganz seinem Schicksal und der Behandlung ergeben.
Ein anderer Krebspatient vermag sich der Krankheit nur zu stellen, wenn er darüber alles bis ins letzte Detail erfährt. Manchen reichen die Erläuterungen des Arztes aus, wobei sie diesem nicht selten Löcher in den Bauch fragen. Weitere können nicht umhin, das gesamte Internet nach Erkenntnissen und Meinungen zu durchforsten.
Derweil die einen sich allein auf die Schulmedizin verlassen, kommen andere nicht ohne zusätzlichen spirituellen Beistand aus. Das Spektrum erstreckt sich hierbei von göttlicher Unterstützung durch eine Religion über esoterische Angebote bis zu angeblichen Wunderheilmitteln und exotischen Behandlungsmethoden. Wie wir wissen, war sogar der Gründer von Apple, Steve Jobs, lange Zeit ernsthaft davon überzeugt, seinen aggressiven Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Fruchtsäften besiegen zu können.
Nicht wenige Patienten glauben vor allem an sich selbst. Bei vollem Vertrauen auf die ärztliche Kunst hoffen sie, mit Optimismus und eisernem Willen ihr eigenes Immunsystem bei der Abwehr des Krebses zu unterstützen und so glimpflich aus der Sache herauszukommen. Dafür sind sie bereit, alle Herausforderungen der Heilbehandlung klaglos auf sich zu nehmen.
Meine eigenen Erfahrungen lassen mich wähnen, dass eine gewisse Gelassenheit des Patienten dem Heilerfolg durchaus zuträglich sein kann. Dazu gehört, sich trotz aller Widrigkeiten weiterhin am Leben zu erfreuen. Ein Grundwissen über die Krankheit und Therapie kann dabei hilfreich sein. Den Rest muss die Heilkunst leisten, soweit sie dazu nach dem Stand der Wissenschaft und der medizinischen Praxis in der Lage ist. Letzten Endes hängt der Erfolg davon ab, wie weit der Krebs bereits fortgeschritten ist.
Mein Onkologe ist ein Arzt, der sich für den Kranken Zeit nimmt und ihm über den gesamten Abschnitt der Nachbetreuung hinweg den Eindruck vermittelt, jederzeit für ihn da zu sein. Aufgrund der Vielzahl von Patienten, des nicht enden wollenden Zeitraumes von fünf langen Jahren Therapie und Kontrolle und angesichts der oft mehrmonatigen Pausen zwischen den Heilbehandlungen oder Nachuntersuchungen ist das ein schwieriges Unterfangen. Zumindest mir hat er dieses Gefühl stets vermittelt.
Aus ebendiesem Grund bin ich ihm auch nachgefolgt, nachdem er wegen einer Reorganisation der städtischen Krankenhäuser Wiens an ein anderes Spital versetzt wurde. Ich habe lieber die Ambulanz als den Arzt gewechselt, zumal es auf keinen Fall von Schaden ist, wenn Letzterer den Patienten und seine Krankengeschichte von Beginn an kennt. Da bei dieser Erkrankung und ihrer Behandlung zahlreiche, an die Situation und Person gebundene Nuancen eine Rolle spielen, wollte ich vermeiden, dass durch einen Arztwechsel zu viele subtile, nicht protokollierbare Informationen und Erfahrungen verloren gehen. Daher nahm ich gerne in Kauf, dass ich nunmehr fünfundvierzig anstelle von zehn Minuten für die Anfahrt zu seiner Sprechstunde benötigte.
Dieses städtische Krankenhaus trug zu jenem Zeitpunkt den etwas umständlichen Namen Sozialmedizinisches Zentrum Süd – Kaiser-Franz-Josef-Spital mit Gottfried-von-Preyer’schem Kinderspital. Es sollte im Rahmen einer Krankenhausreform jedoch bald nach dem zugehörigen zehnten Wiener Bezirk in Klinik Favoriten umbenannt werden.
Der Name des Stadtbezirks, der von der Innenstadtgrenze bis zur südlichen Stadtgrenze reicht, leitet sich von jenem eines ehemaligen Jagdschlosses ab. Der traditionelle Arbeiterbezirk mit einigen sozialen Brennpunkten ist der bevölkerungsreichste Bezirk der Stadt und von Industrie und Verkehr geprägt. 2015 entstand hier der neue Hauptbahnhof der Hauptstadt. Er beherbergt außerdem den bekannten Fußballklub Austria Wien.
Die Klinik Favoriten besteht aus zahlreichen freistehenden Pavillons, die aus unterschiedlichsten Zeitepochen ihrer 130 Jahre währenden Geschichte stammen. Sie erstreckt sich über ein in sich abgeschlossenes, weitläufiges Gelände mit anschließendem Park. Dort findet man sich nur mit einer Lageskizze zurecht. Insofern ist es eine typische Anlage des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, wie man sie auch in anderen europäischen Städten, allen voran Berlin, wiederfindet. Das Klinikgelände beherbergt ferner die allgemeine Schule für Gesundheits- und Krankenpflege. Im Jahre 2020 wurde hier die erste Covid-19-Station Wiens eingerichtet.
Aufgrund des neuerlichen Befunds aus der Computertomografie empfahl mir mein Onkologe, keine Zeit zu verlieren und eine weitergehende Untersuchung vorzunehmen. Er ordnete deshalb eine Positronen-Emissions-Tomografie (PET) an. Dabei handelt es sich um die wohl präziseste Methode der Tumordiagnostik. Sie gibt nicht nur Auskunft über die genaue Form und Lage einer Geschwulst, sondern zeigt auch deren Stoffwechselaktivität an. Letztere widerspiegelt in erster Linie den Grad der vom Tumor ausgehenden Gefahr.
Die Prozedur ist im Vergleich zur normalen Computertomografie (CT) recht zeitaufwendig. Nach dem Spritzen des schwach radioaktiven Kontrastmittels, das einer gegen die Strahlung schützenden metallischen Ampulle entnommen wird, muss der Patient zu dessen Verteilung im ganzen Körper circa eine Stunde liegen. Anschließend werden über einen Zeitraum von etwa dreißig Minuten die notwendigen Aufnahmen gefertigt.
Wie zu befürchten war, wurde einer der Flecken als aktiver Tumor identifiziert. Er lag auf der Lungenrückseite, im unteren rechten Lungenlappen. Nun war ein rascher chirurgischer Eingriff geboten. Da solche Operationen hoch spezialisierter Verfahren bedürfen, wurde ich an die dafür personell wie technisch am besten ausgestattete Wiener Klinik überwiesen, die am nordöstlichen Ende der Stadt gelegen war.
Wenige Wochen später hatte ich die OP bereits hinter mir. Aber das ist schon eine andere Geschichte.
2. Erster Krebs und Beginn der Chemotherapie
Begonnen hat die lebenslange Tumor-Odyssee kurz nach dem Jahreswechsel 1975/76. Ich war gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt und Student des internationalen Rechts im letzten Studienjahr. Meine damalige Frau hatte ihr Studium an der Humboldt-Universität in Ostberlin im Jahr davor beendet. Darauffolgend hatte sie an der gleichen Fakultät eine Assistentenstelle mit Aspirantur angetreten.
Sie war im siebten Monat schwanger. Wir hatten das Kind so geplant, dass es im Frühjahr zur Welt kommen sollte. Auf diese Weise könnten wir es nach meiner Rückkehr vom Studium im Sommer 1976 gemeinsam erleben und vereint dafür Verantwortung tragen. Da wir zuletzt in den Sommerferien beisammen waren, musste die Zeugung des Kindes in jenen Zeitraum fallen. Obwohl seit drei Jahren verheiratet, sahen wir uns bis dahin nur zweimal jährlich, und zwar Ende Januar und im Juli und August. Dies hing mit dem Umstand zusammen, dass ich zweitausend Kilometer entfernt in Moskau studierte. Da das Experiment gleich zu Beginn der Sommerpause gelang, fiel der Geburtstermin auf Ende März.
Wie man sicher erraten konnte, sind wir beide in der DDR aufgewachsen und haben ursprünglich die gleiche Penne besucht. So wurde im jugendlichen Jargon die Erweiterte Oberschule (kurz EOS) genannt. Sie trat an die Stelle der früheren Gymnasien und führte ab der neunten Klasse innerhalb von vier Jahren zum Abitur. Das altehrwürdige Gebäude unserer Schule stand in der Kreisstadt Schwarzenberg im Erzgebirge, nahe der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei.
Meine Frau stammte aus diesem malerischen Städtchen, dessen Altstadt mit ihren winkeligen Gassen sich den Platz auf einem hochaufragenden Felssporn mit der romantischen Burg und der St.-Georgen-Kirche teilen. Im sechzehnten Jahrhundert vom sächsischen Kurfürsten August für die Jagd umgebaut, grüßt das Schloss weit in die Landschaft hinein. Das daneben errichtete Gotteshaus brilliert mit seiner freitragenden Decke aus dem siebzehnten Jahrhundert. Im späten Mittelalter war der Ort vornehmlich wegen seiner herausragenden Weißblechproduktion von Bedeutung (Schwarzenberger Eisen). In der DDR-Zeit war die Stadt durch die dort produzierten Waschmaschinen landesweit bekannt.
Ich kam dagegen aus einem Zweitausend-Seelen-Ort in der Umgebung. Dessen Ursprung ging auf den Silberbergbau zurück. Später bestimmten eine Papierfabrik, die Eisenbahnstrecke ins böhmische Karlsbad sowie der Uranbergbau das Schicksal des Ortes.
Zum Studium in Moskau war ich durch einen puren Zufall gekommen. Im Verlauf des zehnten Schuljahres erschien eines Tages unser Klassenleiter und fragte, ob jemand im Ausland studieren wolle. Die Schule habe ein Schreiben der Schulbehörde mit Bewerbungsunterlagen erhalten. Dabei konnte es sich natürlich nur um Länder des Ostblocks handeln, allen voran die UdSSR. Besondere Bedingungen wurden nicht genannt. Allerdings dürfte die Anzahl der Zulassungen durch die Zahl der Kontingente an Studienplätzen begrenzt gewesen sein. Wie alles andere war auch das Studium im Ausland vom Staat reguliert. Es basierte auf internationalen Abkommen, in denen die Menge der jährlich für den Austausch zur Verfügung gestellten freien Plätze festgelegt wurde.
Einen solchen Weg einzuschlagen bedeutete, nach Abschluss der zehnten Klasse an eine Internatsschule in Halle/Saale zu wechseln. Dort war im Jahr zuvor ein Institut zur Vorbereitung auf das Auslandsstudium gegründet worden. Es sollte, basierend auf dem allgemeinen Lehrplan für die EOS, durch erweiterten Unterricht in Fremdsprachen und einigen Schwerpunktfächern sowie durch eine allmähliche Anpassung an das gegenüber der Schule ungebundenere Universitätsleben für das Studium im Ausland rüsten.
Die Einrichtung war im Jahr zuvor aus der ehemaligen Arbeiter- und Bauernfakultät an der Martin-Luther-Universität Halle hervorgegangen. Diese widmete sich nach 1945 der Aufgabe, junge Leute aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten an das Abitur heranführen und ihnen ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Das damit verbundene Ziel bestand offiziell darin, das Bildungsmonopol der bürgerlichen Schichten zu brechen. Dieser Auftrag schien erfüllt. Anstatt es zu schließen, wies man dem Institut eine neue Aufgabe zu.
Da ich stets für Abenteuer zu haben war – und ein Auslandsstudium schien mir ein solches zu versprechen – bewarb ich mich. In jener Zeit mangelte es an Gelegenheiten, von den üblichen geordneten Bahnen abzuweichen. Sprachbegabung und durchgängig überdurchschnittliche Leistungen in fast allen Fächern galten als gutes Omen für eine Bewerbung. Das Lernen fiel mir bis dahin sehr leicht. Meine Mutter war zwar skeptisch, mich im Alter von siebzehn Jahren aus der elterlichen Fürsorge in die jugendliche Freiheit zu entlassen. Mein Vater überzeugte sie jedoch davon, dass dies nur zu meinem Besten sei. Bald darauf erhielt ich tatsächlich eine Zusage.
Im Rückblick empfand ich die zwei Jahre in Halle als eine besonders glückliche Zeit. Ich genoss die Freizügigkeit des halbstudentischen Lebens und reifte schnell vom behüteten Halbwüchsigen zum weitgehend unabhängigen jungen Erwachsenen heran. Ich war unterdessen bereit und imstande, für mich selbst Verantwortung zu tragen. Mir gefiel diese Konstellation. Meine Eltern verblüffte ich dagegen bei jeder Heimfahrt neu. Es fiel ihnen sichtlich schwer, sich regelmäßig meinem schnell wandelnden Selbstverständnis anzupassen. Sie ließen es sich jedoch nie anmerken, obwohl ich noch über Jahre finanziell von den Eltern abhängig blieb.
Als möglichen Studienwunsch hatte ich in der Bewerbung Elektronik angegeben, ein Begriff, der zu jener Zeit keineswegs Allgemeingut war. Das Zeitalter des Transistors hatte zwar bereits begonnen und ich besaß selbst solch ein kleines Radio. Doch nur die wenigsten Menschen konnten sich damals vorstellen, welche Entwicklung diese Technik und Industrie weiter nehmen würde. Ich lag dagegen mit meiner Intuition vollkommen richtig.
Der besonders anspruchsvolle Physikunterricht in Halle führte mir allerdings bereits nach einem Jahr meine Leistungsgrenzen in diesem Fach unmissverständlich vor Augen. Meine diesbezüglichen Fähigkeiten erwiesen sich unversehens als mittelmäßig. Diese Erfahrung machte ich zum ersten Mal in meinem Leben.
Ich hielt es deshalb nicht für klug, ein Studium in einem Fach aufzunehmen, in dem ich bereits in der Schule schwächelte. So entschied ich, mich anderweitig zu orientieren. Aus dem Katalog der für das nächste Jahr geplanten Studienfächer wählte ich daher ein Fach aus, das meinen inzwischen entdeckten Neigungen für das Internationale entgegenkam.
Die auf zwei Gelegenheiten im Jahr reduzierten persönlichen Begegnungen mit meiner Ehefrau hingen mit der Organisation des Studienjahres in der UdSSR und den damals begrenzten Reisemöglichkeiten zusammen. Das erste Semester lief von September bis Ende Dezember. In den letzten zwei Dezemberwochen fanden in weiterführenden Hauptfächern oder in den Nebenfächern parallel zum Studienbetrieb Zwischenprüfungen statt. Weihnachten wurde nur privat unter den ausländischen Studenten gefeiert. Dafür gab es in der UdSSR keinen Feiertag, zumal das orthodoxe Weihnachtsfest ohnehin erst Anfang Januar begangen wurde.
Der Januar war für die Abschlussprüfungen in den Hauptfächern vorgesehen. Je nach Jahr und Lage konnten das bis zu sechs Lehrfächer sein. Die Prüfungen waren über die ersten zwei Januardekaden verteilt, sodass einem jeweils drei bis vier Tage zur Vorbereitung verblieben. Das Gleiche wiederholte sich dann im Mai/Juni für das zweite Semester des Studienjahres.
Daher blieben im Winter nur zwei bis drei Wochen für einen Aufenthalt in Berlin. Im Sommer dagegen standen acht bis zehn Wochen zur Verfügung. Heimreisen bei laufendem Studienbetrieb waren untersagt und ausschließlich für Ausnahmen wie Todesfälle in der Familie genehmigungsfähig. Zudem waren Flüge damals selten und recht teuer. Internationale Privatreisen waren wegen der komplizierten Genehmigungsbedingungen eher unüblich und auf den organisierten Tourismus beschränkt. Hinzu kamen begrenzte Möglichkeiten der Kommunikation. Ferngespräche über Landesgrenzen konnten nicht aus dem Studentenwohnheim geführt werden, sondern nur von der Post. Dafür waren eine Voranmeldung und Zeitreservierung sowie Hinterlegung einer Garantiesumme nötig. Besaß der Anzurufende keinen eigenen Telefonanschluss, so musste er den Anruf ebenfalls auf einer Poststelle entgegennehmen. Das bedeutete, dass man ihm den genauen Zeitpunkt des Telefonates vorher per Brief oder Telegraf anzukündigen hatte.
Die heute vergessene, einzige schnelle Form der Information war das Telegramm. Da man kräftig für jedes einzelne Wort zahlte, wurden die Mitteilungen so kurz wie möglich gehalten. Der Text wurde dann per Fernschreiber an die Poststelle des Empfängers übermittelt, dort auf ein Telegrammformular aufgeklebt und per Telegrammboten extra ausgetragen.
Beide Kommunikationsformen waren für einen Studenten extrem teuer und daher nur außergewöhnlichen Fällen vorbehalten. Der Brief war somit die einzige Wahl. In unserer ungewöhnlichen Lage wurde er zum wichtigsten Kitt für die Stabilität der Beziehung. Indem wir über Jahre nahezu täglich ein Schreiben verfassten, schufen wir uns eine eigene, man würde heute sagen virtuelle Welt.
Meine spätere Frau hatte ich erst kurz vor Studienbeginn wiedergetroffen. Trotz der widrigen Umstände wünschte sie eine Heirat nach dem ersten Studienjahr. Es war sicher ein seltener Fall von jugendlicher Romantik, zusätzlich durch die gleichzeitige Eheschließung einer Freundin befeuert. Ich sah keinen Grund, mich dem zu entziehen, auch wenn die vier bevorstehenden Jahre der Trennung nicht leicht zu bewältigen wären. Aus heutiger Sicht habe ich es weitgehend diesem Umstand zu verdanken, dass ich überhaupt geplant Vater werden konnte. Aber dazu später.
Daneben machte uns eine eheliche Verbindung gemeinsam unabhängiger. Mussten bis dahin die Eltern für das Stipendium und somit meinen Unterhalt aufkommen, so übernahm das nach der Heirat der Staat. Außerdem ging man in jener Zeit entspannter die Ehe ein. Vermutlich hing das damit zusammen, dass in der DDR eine Scheidung weitaus weniger kompliziert war, als das heute der Fall ist, und nur selten beachtenswerte finanzielle Folgen nach sich zog. Ehescheidungen gingen im Übrigen zumeist von Frauen aus, die in ihrer übergroßen Mehrheit berufstätig und daher materiell unabhängig waren.
Wir lebten, soweit tatsächlich zusammen, in einer Altbauwohnung in (Ost-)Berlin zur Miete. Das war für mich eine deutliche Umstellung zu dem, was ich bisher kannte, vom Leben in Studentenwohnheimen einmal abgesehen. Meine Frau war mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in einer kleinen Mietwohnung in Schwarzenberg aufgewachsen. Ich dagegen hatte die Kindheit in einer geräumigen Wohnung verbracht, die sich im Zweifamilienhaus meiner Großmutter über das gesamte Erdgeschoss erstreckte. Mein jüngerer Bruder und ich teilten uns ein gemeinsames Kinderzimmer mit angeschlossener Terrasse. Zum Haus gehörten knapp viertausend Quadratmeter Garten, sodass wir keinerlei Enge empfanden.
Die Behausung in Berlin umfasste dagegen ein mittelgroßes Zimmer, einen winzigen, durch eine Tür abgetrennten Alkoven, der gerade Platz für das Kinderbett bot, Korridor, Küche und ein innerhalb der Wohnung gelegenes WC. Sie befand sich im Erdgeschoss eines Hinterhaus-Altbaus im Stadtbezirk Friedrichshain und war uns aufgrund eines Dringlichkeitsantrages von der zentralen Wohnungsvergabestelle zugewiesen worden. Die vorrangige Behandlung des Ersuchens ging auf den zu erwartenden Nachwuchs zurück.
Eine eigene, abgeschlossene Behausung zu besitzen, war ein Traum für ein junges Paar wie uns unter den damaligen Verhältnissen in Ost-Berlin. Wir hatten die Wohnung vor dem Einzug im Sommer mit voller Hingabe selbst renoviert, und zwar tapeziert, mit bunten Küchenfliesen und viel künstlichem Licht ausgestattet.
Der Nachteil des Domizils war indessen, dass über den Innenhof nur im Hochsommer ein kleiner Lichtstrahl durch das Fenster des einzigen Zimmers drang. Am Fußboden des Raumes formte er gerade einmal ein Quadrat von zwei mal zwei Metern. Um das Defizit an Helligkeit zu kompensieren, hatten wir in der Fensternische beidseitig die größten im Handel verfügbaren Leuchtstofflampen angebracht, deren Warmtonlicht tagsüber beinahe Sonnenschein vortäuschte. Ansonsten war alles recht dunkel.
Hinzu kam, dass die Luft stets etwas feucht war. Das hing wahrscheinlich mit der Lage im Erdgeschoss zusammen. Geheizt wurde mit Kohlen in Brikettform, neben dem Kachelofen im Wohn-/Schlafzimmer auch der Herd in der Küche. Bei Letzterem handelte es sich um eine typische BerlinerKochmaschine. Diese wird nicht, so wie ich es aus der Kindheit kannte, durch ein Türchen von vorn, sondern durch Abnehmen der Herdplatte von oben beschickt.
Der Einsatz einer elektrischen Zusatzheizung zur Bekämpfung von Kälte und Feuchtigkeit erwies sich als unmöglich. Das lag nicht am Strompreis, denn der war subventioniert und spielte in unseren Kalkulationen kaum eine Rolle. Das Problem war die veraltete Elektroanlage des Gebäudes. Wir vermuteten, dass sie aus der Bauzeit des Hauses zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts stammte.
Bereits beim Betrieb der automatischen Waschmaschine konnte es passieren, dass im gesamten mehrstöckigen Hinterhaus plötzlich das Licht ausging. Alle Wohnungen des Aufgangs waren zusammen lediglich mit insgesamt 35 Ampere abgesichert. Das führte zum häufigen Ausfall der zentralen elektrischen Anlage. Dann musste man im Keller die Sicherungen austauschen. Wir hatten immer einen größeren Vorrat davon bereitliegen. Die damals typischen Porzellansicherungen waren stets so heiß gelaufen, dass man sie nur mit Handschuhen herausdrehen konnte.
Das Innenklosett der Wohnung war dagegen eine Errungenschaft für sich. In den unsanierten Berliner Altbauten jener Zeit war ein WC auf halber Treppe, das man sich mit den Nachbarn teilte, noch weit verbreitet.
Inzwischen befand ich mich an der Schwelle zum letzten Semester eines fünfjährigen Studiums. Diesen Jahreswechsel hatte ich in Berlin verbracht, da die Zeit von September bis Dezember einem ausgedehnten Praktikum vorbehalten war. Dasselbe war vor Weihnachten zu Ende gegangen und ich wurde erst wieder Mitte Februar 1976 am Studienort erwartet. Dann würde das verkürzte Abschlusssemester anbrechen und bis Juni dauern. Die ersten Wochen des neuen Jahres, in denen gewöhnlich die Hauptprüfungen abgenommen wurden, standen diesmal für die Vorbereitung der Diplomarbeit zur Verfügung. Ich hatte im Verlauf des Praktikums genügend Stoff und Material gesammelt und plante, nach Möglichkeit mit einem allerersten Entwurf die Rückreise anzutreten.
Auf diese Weise hätten dem jungen Paar anderthalb Monate für ein letztes unbeschwertes Zusammensein zur Verfügung gestanden. Darauf hatten wir uns gefreut. Nach der endgültigen Familienzusammenführung im Sommer wäre dann die tägliche Verantwortung als Eltern in den Vordergrund getreten.
Leider kam alles anders. Mitte Januar bemerkte ich durch Zufall eine Verhärtung am linken Hoden. Als ich meine Frau auf die Sache aufmerksam machte, bestand sie darauf, dass ich ohne Verzögerung einen Arzt aufsuchte. Sie war ja medizinisch vorgebildet und durch ihre eigene, glücklich überwundene Krebserkrankung vorgewarnt.
In unserer Situation war es allerdings gar nicht so einfach, rasch einen Termin zu bekommen. Ich selbst kannte zu dieser Zeit keinen einzigen Arzt in Berlin und der Hausarzt meiner Frau weilte gerade im Urlaub. Auf seine Rückkehr zu warten, war keine Option, da ich ja in Kürze zum Studienort zurückkehren sollte. Auch eine Anmeldung beim Spezialisten ohne Überweisung vom Allgemeinarzt hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen.
Zum Glück verhalf mir eine Bekannte meiner Frau kurzfristig zu einem Termin, und zwar bei ihrer eigenen Hausärztin. Diese empfing mich außer der Reihe und begutachtete den Fall eingehend. Dann überwies sie mich umgehend an die urologische Poliklinik (Ambulanz) im StädtischenKrankenhaus Friedrichshain (heute Vivantes Klinikum im Friedrichshain).
Ich hatte zuvor nie Bekanntschaft mit der Urologie gemacht und konnte deshalb zuerst mit der Überweisung wenig anfangen. Bald begriff ich jedoch, dass diese Ärztin genau das Richtige getan hatte. Zum einen hatte sie sofort die Gefahr erkannt, dass es sich um einen bösartigen Tumor handeln könnte. Sie hatte keine Zeit unnütz verstreichen lassen und eine kompetente Prüfung innerhalb von wenigen Tagen veranlasst.
Ich hörte später von Fällen, wo Allgemeinärzte das Krebsrisiko falsch einschätzten. Sie hatten anfangs harmlose Diagnosen gestellt und Wochen bis zur Überweisung an einen Onkologen verrinnen lassen. So ging kostbare Zeit verloren, in der sich zahlreiche Metastasen bilden und im ganzen Körper verteilen konnten.
Das Gleiche hätte auch mir passieren können. Ich bekam später regelmäßig Schweißausbrüche bei dem Gedanken, dass mir die Verhärtung erst drei Wochen danach aufgefallen wäre. Zu diesem Zeitpunkt wäre ich bereits wieder an den Studienort zurückgekehrt. In der Ferne hätte ich die Sache garantiert nicht besonders ernst genommen und einen Arztbesuch bis zum Sommer in Berlin aufgeschoben. In diesem Fall wäre ich vermutlich heute nicht mehr am Leben. Ein wenig Glück gehört immer dazu.
Der Ärztin war bei meiner Überweisung an das Krankenhaus im Friedrichshain zudem bewusst, dass es sich bei der dortigen urologischen Klinik um die führende Einrichtung des Landes in diesem Fachbereich handelte. Sie umfasste damals, abgesehen von zwei rein urologischen Stationen (für Frauen und Männer), auch ein 1969 gegründetes Nierentransplantationszentrum, das erste und einzige seiner Art in der DDR. Neben herausragenden Leistungen im klinischen Alltag machte sich die Klinik – obwohl kein Universitätskrankenhaus wie die Berliner Charité – durch systematische Forschung auf diesen Gebieten einen Namen.
Der charismatische Chefarzt und Hauptinspirator der Einrichtung war Prof. Dr. Moritz Mebel, eine auch international anerkannte medizinische Autorität. Seine persönliche Ausstrahlung auf mich war die eines gütigen Großvaters. Er führte die schwierigsten OPs selbst aus. Einmal wöchentlich leitete er die Visite durch alle drei Stationen. Wie es hieß, war er ein gestrenger Chef, der im Fachlichen keine Abstriche oder Kompromisse duldete. Dies kommt auch in seinen Erinnerungen zum Ausdruck, die 1999 in Buchform erschienen sind. Für die Patienten konnte eine solche Haltung nur von Vorteil sein. Mebel verstarb 2020 im Alter von 98 Jahren.
Mit der Überweisung erhielt ich binnen weniger Tage einen Termin in der urologischen Ambulanz. Neben der palpatorischen Untersuchung ordnete man Blut- und Urintests sowie eine Urografie an, damals die einzige Möglichkeit der bildlichen Darstellung dieser Körperregion durch Röntgen mit Kontrastmitteln. Zu jener Zeit standen ja technische Mittel wie Ultraschall, Computertomografie (CT), Positronen-Emissions-Tomografie (PET) oder Magnetresonanz-Tomografie (MRT) zur Diagnose noch nicht zur Verfügung. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, war, dass derartige Tests mich von nun an für einen langen Zeitraum meiner Lebenszeit begleiten würden.
Im Ergebnis teilte man mir mit, dass vieles auf eine bösartige Geschwulst hindeute. Klarheit könnten jedoch nur ein chirurgischer Eingriff und eine damit verbundene histologische Untersuchung des betroffenen Gewebes bringen.
Ich habe natürlich der OP zugestimmt, denn ich wollte Gewissheit haben. Bei einer Bestätigung des Verdachts könnte ich von dem Übel, das mich bedrohte, befreit werden. Wenn es auch unerfreulich wäre, mit fünfundzwanzig Jahren und jung verheiratet ein solches Teil seines Körpers zu verlieren, so besaß ich ja immerhin zwei davon. Es soll ja überdies Männer geben, die mit nur einem Hoden geboren werden. Dieser Verlust wäre somit zu verschmerzen gewesen. Dass ich trotz allem keine Nachkommen mehr zeugen sollte, erfuhr ich erst später, nach den ersten Chemotherapien. Gut, dass wenigstens ein Kind bereits unterwegs war.
Zugleich kreiste mir ständig der Gedanke im Kopf herum, dass ich ja kurz vor dem Ende des Studiums stand. Sollte der dafür in den vergangenen fünf Jahren aufgebrachte Zeit- und Kraftaufwand nicht umsonst sein, musste ich das abschließende Semester erfolgreich bewältigen. Nur so war es möglich, mir eine reguläre berufliche Perspektive zu sichern. Konkret bedeutete das, die Prüfungen und Staatsexamina zu bestehen, die Diplomarbeit zum Termin vorzulegen und erfolgreich zu verteidigen.
Die Gesundheit stand logischerweise an erster Stelle, namentlich bei einer so üblen und gefährlichen Erkrankung. Um beide Ziele miteinander zu vereinbaren, war es erforderlich, die dringendsten Behandlungen schnell hinter mich zu bringen, um rechtzeitig abzureisen, und das Studium ordnungsgemäß zu Ende zu bringen.
Mein Leben sollte ja in Kürze erst richtig seinen Anfang nehmen: erste Arbeitsaufnahme, zum ersten Mal ein eigenes Familienleben ohne Fernbeziehung, die Vaterschaft. Alles hatte sich bisher problemlos ergeben oder war solide geplant. Diese Träume wollte ich auf keinen Fall aufgeben. So sah ich es zumindest in diesem Moment. Vielleicht war das ein wenig naiv und unbedarft für mein Alter. Es ist andererseits das Privileg der Jugend, sich vor allem auf die Chancen zu konzentrieren und über die Hindernisse hinwegzusehen. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, eine interessante Jugendzeit, war im Grunde fit und kerngesund, nicht zuletzt durch jahrelange sportliche Tätigkeit. Jetzt musste ich mich auch im realen Leben beweisen können.
Drei Tage später lag ich auf dem OP-Tisch. Zuerst befasste sich der Anästhesist mit mir. Bei der Vielzahl der in fünf Jahrzehnten durchgemachten chirurgischen Eingriffe kann ich mich nicht mehr genau erinnern, welche Art der Narkose ich in diesem konkreten Fall verabreicht bekam. Noch Anfang der 1960er-Jahre hatte ich die Äthernarkose erlebt. Dazu wurde ein äthergetränktes Tuch über das Gesicht gelegt, mit der Aufforderung, laut zu zählen. Der Äther roch abscheulich, doch schon bei fünfzehn fiel ich in den Schlaf. Nach dem Aufwachen war mir allerdings fürchterlich übel im Magen und ich musste mich mehrfach übergeben. Das war keine angenehme Erfahrung.
Mitte der 1970er-Jahre gab es dann wohl bereits die per Injektion eingeleitete Anästhesie. Es wurde damals im Volk viel von dem indianischen Pfeilgift Curare als dem Wundermittel der Betäubung gesprochen. In der Tat bedeutete die per Spritze ausgelöste Narkose einen Riesenfortschritt. Sie brachte für den Patienten große Erleichterung, denn sie wirkte schnell und besaß kaum unangenehme Nachwirkungen.
Die nach der Injektion übliche Beatmung erfolgte in den 1970ern wahrscheinlich mit Lachgas. In der Zeit danach wurden die Medikamente und vor allem die Beatmungstechniken wesentlich verfeinert. Subjektiv hat sich für den Patienten seither kaum etwas verändert.
Bei der eigentlichen Operation wurde der Hoden dann tatsächlich entfernt. Die histologische Untersuchung hatte den Verdacht bestätigt, dass es sich um ein Karzinom, einen malignen Tumor, handelte. Mithin blieb den Ärzten keine andere Wahl, als das Corpus Delicti zu amputieren. Später erfuhr ich dann, dass der Vorgang medizinisch als Semicastratio bezeichnet wird. Dieses Wort hatte einen misslichen Klang in meinen Ohren.
Aufgrund des Befundes war ich geschockt und erleichtert zugleich. Erschüttert war ich, weil mit der Tatsache konfrontiert, fürwahr vom Krebs befallen zu sein. Erlöst war ich, da die unmittelbare Bedrohung beseitigt und die Quelle des Übels erst einmal eliminiert worden war.
Das Gefühl der Erleichterung hielt allerdings nicht lange an. Schon tags darauf eröffneten mir die Ärzte, dass sie dringend zu einer Chemotherapie rieten, die ohne Verzug angepackt werden sollte. Dies sei das Ergebnis des Ärztekonsiliums. Aufgrund der Gewebeanalyse des Tumors könne man nicht ausschließen, dass sich bereits Metastasen gebildet hätten. Bisher habe man zwar keine materiellen Hinweise auf Absiedelungen des Krebses, beispielsweise in den Lymphknoten, gefunden, weder im Verlauf der Operation noch durch bildgebende Verfahren. Es wäre allerdings leichtfertig, dies als Garantie anzusehen, dass der Krebs nicht anderswo wieder auftauche. Man muss dabei nochmals bedenken, dass man damals weder auf eine Ultraschalluntersuchung noch auf irgendeine Art von Tomografie zurückgreifen konnte. Hierfür standen nur weitaus unsicherere und in ihrer Auflösung wesentlich geringere Bildgebungsverfahren wie Röntgenaufnahmen mit Kontrastmitteln oder nur eingeschränkt aussagekräftige Indikatoren wie Urin- und Blutmarker zur Verfügung.
Im Übrigen fiel ein RST-Test schwach positiv aus, was für die Anwesenheit von Tumorzellen sprach. Dabei handelte es sich um einen Tumormarker, der auf einem damals üblichen Schwangerschaftstest basierte.
Wolle man sichergehen, dann müssten, selbst wenn nur vorbeugend, chemotherapeutische Mittel (Zytostatika) eingesetzt werden. Dies treffe insbesondere auf junge Menschen wie mich zu, die ja ihr Leben noch vor sich hätten und dieses nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürften.
All diese Hiobsbotschaften versetzten natürlich nicht nur mich in einen Zustand der Bestürzung. Vielmehr war es ein extremer Schock für meine hochschwangere Frau und noch mehr für unsere Eltern. Als jugendlicher Optimist und robuster Charakter, der nur schwer aus der Ruhe zu bringen war, kam ich zwar gewaltig ins Grübeln, aber vom Verzweifeln war ich weit entfernt.
Ich hatte bis zu jenem Zeitpunkt von Chemotherapien nie etwas gehört und konnte mir nur wenig darunter vorstellen. Leicht zugängliche Informationen, wie heute über das Internet, gab es damals nicht. Ich habe auch keine Informationsblätter in Erinnerung. All das kam viel später auf. Da ich den Ärzten jedoch – zu Recht – vertraute, ergab ich mich in mein Schicksal und ließ sie gewähren. Daher begann die erste Chemo bereits vier Tage nach der Operation.
Heute zählt diese Heilmethode zur medizinischen Routine, die inzwischen mit zahlreichen Verfeinerungen angewendet wird und auf einen großen Schatz an internationalen Erfahrungen zurückgreifen kann. Zu jener Zeit handelte es sich dagegen um eine relativ neue, weit weniger ausgereifte, eher experimentelle Technologie. Der Grundstock an praktischen Studien und Kenntnissen sowie die Auswahl an verfügbaren Medikamenten waren weitaus geringer, als dies heute der Fall ist. Bei allen Chancen, die diese generell aussichtsreiche Therapie bot, waren die Risiken und Nebenwirkungen nicht unbeträchtlich. Die aggressiven Pharmaka, die ja nicht nur die Krebszellen, sondern auch die gesunden Teile des Körpers angreifen, waren damals weit weniger fein dosiert, austariert, differenziert und zielgerichtet. Es erinnerte eher daran, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, als zielorientiert einzelne Zellen anzupeilen. Bei ihrer Anwendung musste damals viel stärker in jedem individuellen Fall abgewogen werden, worin das größere Risiko für den Patienten bestand: im Einsatz der chemischen Therapeutika oder im Hoffen auf die künftige Untätigkeit des Krebswachstums. Zudem verfügte man im klinischen Alltag vor fünfzig Jahren über verhältnismäßig wenig Übung in der täglichen Anwendung der Drogen und der Kontrolle der Risiken. Deshalb gehörte eine feinmaschige, nahezu pausenlose Beobachtung des gesundheitlichen Zustandes des Patienten im Verlauf des gesamten Zyklus jeder einzelnen Chemotherapie zu den Grundprinzipien ihres Einsatzes.
Die daraus resultierende Behutsamkeit und Zurückhaltung der Ärzte beim therapeutischen Vorgehen nahm man täglich bewusst wahr. Es wurde in der Anwendung eher auf Sicht gehandelt. Anhand der jeweils vorhandenen Umstände, Daten und Werte wurde Tag für Tag neu über die Weiterführung der Therapie entschieden. Es fühlte sich wie ein schrittweises Herantasten an die sich anschließende Maßnahme an: Können wir heute weitermachen wie geplant? Wird an diesem Tag die nächste Spritze gegeben? Sind die Blutwerte im akzeptablen Bereich? Muss eine Pause eingelegt werden?
Aus diesem Grund wurden solche Therapien damals ausschließlich stationär durchgeführt. Nur so wurde eine enge Kontrolle des Zustandes des Patienten garantiert. Heute geschieht die Verabreichung der Medikamente weitgehend ambulant oder in sogenannten Tageskliniken, einer Mischform aus beiden Behandlungsformen. In Letzteren halten sich die Leidenden nur während der Infusion der Zytostatika sowie für eine gewisse Nachkontrollzeit auf. Den Rest des Tages verbringen sie zu Hause.
Vermutlich um den Patienten nicht mit möglichen Änderungen im Therapieverlauf zu verunsichern, informierte man ihn immer nur über die allernächsten Schritte und wagte eher keine weitergehenden Voraussagen. Man muss zudem bedenken, dass die Ärzte als Urologen und Chirurgen in jener Zeit noch wenig im psychologischen Umgang mit den Krebspatienten geschult waren. Dieses Defizit kompensierten sie eher durch Zurückhaltung.
Wie eingangs beschrieben, erwartet jeder Patient eine andere Herangehensweise der Ärzte, je nach Situation und Charakter. Dies ist sehr individuell und oft schwer einzuschätzen, oft erst nach einer gewissen Zeit. Manchmal wissen die Kranken selbst nicht genau, welchen Informationsumfang sie am Ende bevorzugen.
Ich gehörte stets zu jener Kategorie, die besser mit den Verhältnissen umgehen konnte, wenn sie ausführlicher Bescheid wusste, selbst im Fall, dass einem so die potenzielle Gefahr des Todes direkt ins Auge blickte.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Aspekt ist, dass diese chemotherapeutischen Technologien, Erfahrungen und Medikamente damals tatsächlich nur wenigen führenden Industrienationen zur Verfügung standen, allen voran den USA. Für ein Land wie die DDR, das trotz aller wissenschaftlichen, medizinischen und ökonomischen Potenziale eher in der zweiten oder dritten Reihe mitspielte, war es sicher schwierig, hier Schritt zu halten. Unter den damaligen politischen Bedingungen war ihr Zugang zu fortgeschrittensten Informationen, internationalem Erfahrungsaustausch, Medizintechnik und Medikamenten sicherlich deutlich erschwert.
Mir wurde dies erstmals bewusst, als mir eine Krankenschwester beim Injizieren der Präparate ganz nebenbei berichtete, dass diese aus den USA stammten und fast täglich in West-Berlin für den Bedarf des Krankenhauses gegen Devisen eingekauft wurden. Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken, dass jede der bis zu drei am Tag verabreichten Spritzen damals zwischen 120 und 250 D-Mark kostete. Das mag heute angesichts der fünf- oder gar sechsstelligen Spitzenpreise bei manchen US-amerikanischen Innovationsprodukten im Medikamentenmarkt bescheiden klingen. Für die damalige Zeit und einen DDR-Bürger waren das jedoch ungeheuerliche Zahlen. Selbst wenn man vom niedrigsten hier genannten Preis und von drei Injektionen pro Tag ausgeht, ergibt sich daraus für einen einzigen monatlichen Zyklus ein Betrag von mehr als zehntausend D-Mark. Für die DDR hieß das, diese Summe an Valutamark zuvor durch Exporte ins westliche Ausland realisieren zu müssen.
Über Geld für Heilung hatte ich mir bis dahin nie Gedanken gemacht. Ich war mit der Erfahrung aufgewachsen, dass aufgrund der einheitlichen StaatlichenSozialversicherung für jedermann alle Dienstleistungen im Gesundheitswesen kostenlos seien, egal ob Arztbesuch, Krankenhausaufenthalt oder auf Rezept ausgestellte Arzneien. Der monatliche Versicherungsbeitrag betrug damals 60 Mark. Wie es auch heute für die Mehrheit der Fall ist, waren die dahinterstehenden Kosten den Menschen in der Regel verborgen und daher unbekannt. Ich begann nach dieser Information, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten, auch wenn die Behandlungen für mich, wie für jeden weiteren Patienten, kostenfrei blieben.
Die erste Serie der Chemotherapie überstand ich recht zufriedenstellend. Obwohl ich täglich bis zu drei Pharmaka gespritzt bekam, erwiesen sich die Blut- und Leberwerte stabil und die vorgesehenen Dosen konnten von Anfang bis Ende eingehalten werden. Aufgrund meiner robusten körperlichen und seelischen Konstitution vertrug ich die aggressiven Medikamente zu diesem frühen Zeitpunkt mühelos. Soweit ich mich erinnere, hielten sich Übelkeit und Unwohlsein in Grenzen. Ob die Chemotherapeutika irgendeine Wirkung besaßen, konnte man ja allein über diese Indikatoren ermessen. Man spürte ja nicht, ob irgendwelche Metastasen vorhanden waren und ob sie tatsächlich bekämpft wurden oder ob ihre Zahl mit jeder Injektion sank. Es war wie Stochern im Nebel. Das war nicht zu ändern und man musste sich mit diesem Umstand schlichtweg zufriedengeben.
Rein subjektiv war das Schlimmste an der Chemotherapie in jenem Moment die Langeweile im Krankenhaus. Es passierte ja den ganzen Tag nichts anderes, als dass man am Morgen auf die Abnahme der Blutwerte und am Nachmittag auf die Injektionen oder Infusionen wartete. Die einzigen Ablenkungen über die vielen Stunden des Tages stellten Krankenbesuche, Gespräche mit weiteren Patienten, Spaziergänge im Haus und Bücher dar. Glücklicherweise konnte ich zu jenem Zeitpunkt der Behandlung noch ohne Begrenzung lesen. Später strengte mich dies zu stark an und mir wurde schnell übel davon.
Telefonieren war schwierig, da nur ein einziger öffentlicher Fernsprecher für alle zur Verfügung stand. Die Zeit der Mobiltelefone begann erst fünfundzwanzig Jahre später, ganz zu schweigen von Internet und Smartphones. Besuchszeiten waren damals noch eingeschränkt. Die Unterhaltungen mit den anderen Patienten waren anfangs aufregend. Mit der Zeit hatten sie jedoch eher eine bedrückende Wirkung auf mich und ich schränkte sie bald bewusst ein.
Die erste Serie der Chemotherapie zog sich über vier Wochen bis Mitte März hin. Aus reiner Vorsicht sollte ich anschließend weitere fünf Tage zur Beobachtung in der Klinik ausharren. Als ich die Klinik verließ, bat man mich, in einem Vierteljahr zur nächsten Runde der Heilbehandlung auf der Station zu erscheinen.
Die Entlassung erfolgte genau zwei Tage vor der Geburt unserer Tochter. Leider grassierte gerade eine Grippeepidemie, vor der ich mich aufgrund meiner durch die Chemo