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Wolfgang Horst Reuther ist für die UNESCO um die halbe Welt gereist. Er hat auch mehrere Jahre im Nahen Osten verbracht, unter anderem als Direktor des UNESCO-Büros in Jordanien, wo er intensive Erfahrungen vor Ort sammeln konnte. Angesichts der teils heftigen öffentlichen Debatten über Islam und die Migration von Muslimen nach Europa möchte er seine Erkenntnisse aus den Jahren seines Nahost-Aufenthalts teilen und zu einem besseren Verständnis der dortigen Gesellschaften, der historisch gewachsenen Clanstrukturen und der Denkweise jener Menschen beitragen, die aus unterschiedlichsten Gründen ihr Glück in Europa suchen. Die Kenntnis von Hintergründen und Ursachen ermöglicht einen sachlicheren Umgang mit dem Thema und bietet einen guten Ansatz, die Emotionen in der Diskussion außen vor zu lassen. Der Autor lässt den Leser auch an seiner eigenen Wandlung vom romantisch verklärten Anhänger einer multikulturellen Gesellschaft hin zum eher nüchternen Betrachter teilhaben. Er sieht viele Dinge durchaus kritisch, bleibt dabei jedoch stets offen, tolerant und respektvoll.
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2018
Über den Autor
Wolfgang Horst Reuther, Jahrgang 1950, versteht sich als Weltbürger mit anhaltender Bindung zu seiner erzgebirgischen Heimat. Bedingt durch Schule, Studium des Völkerrechts und seine fast 40jährige Tätigkeit für die UNESCO, hat er es auf eine ansehnliche Zahl deutschlandweit und international verstreuter Wohnorte gebracht, darunter (in alphabetischer Reihenfolge) Amman (Jordanien), Berlin, Bochum, Bonn, Halle/Saale, Leipzig, Moskau, Paris, San José (Kostarika). Heute lebt er als Pensionär in Wien, Teile seiner Familie in Kapstadt und Moskau.
Die Thematik des »Zusammenleben in kultureller Vielfalt« beschäftigt ihn bereits seit den 1990er-Jahren. Mit dem vorliegenden Buch hofft er, zu einer Versachlichung der öffentlichen Debatten über den Islam, Migration und den Nahen Osten beizutragen. Er plädiert für eine historische Sichtweise und eine Abkehr von der einengenden Fokussierung auf Religion und Islam. Dazu bringt er bisher kaum beachtete Elemente und Perspektiven ein, die seiner gelebten Erfahrung vor Ort und den in dieser Zeit mit viel Mühe gewonnenen Einsichten entspringen.
Selten gewährte Einblicke in die in Nahost vorherrschenden Denk- und Verhaltensweisen sollen als Schlüssel zum besseren Verständnis im Kontakt mit Migranten aus Ländern mit muslimisch und stammesrechtlich geprägten Gesellschaften dienen.
Zugleich lässt er den Leser an seiner eigenen Wandlung vom romantischen Befürworter von »Multikulti« hin zum eher vernunftgesteuerten und weniger von Illusionen behafteten Betrachter teilhaben, der anderen Lebensweisen und Kulturen stets offen, interessiert, wohlwollend, tolerant und respektvoll gegenübersteht, sich jedoch auch den kritischen Blick bewahrt. Diese Haltung hat ihm in der Praxis die ungeteilte Anerkennung und Wertschätzung von Partnern und Mitarbeitern im Nahen Osten und ein persönliches Dankschreiben von Königin Rania von Jordanien eingebracht.
Wolfgang Horst Reuther ist Mitautor und Mitherausgeber des »UNESCO-Handbuches« und der DGVN-Reihe »Menschenrechtsverletzungen: Was kann ich dagegen tun? Menschenrechtsverfahren in der Praxis«.
Gewidmet meinen SchutzengelnJaya, Paula, Susanne, Regina und Elena
Wolfgang Horst Reuther
Wie ich denNahen Osten erlebte
Erkenntnisse aus Erfahrungen vor Ort
www.tredition.de
Copyright: © 2018: Wolfgang Horst Reuther
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Fotonachweise:
Umschlag: Felsenstadt Petra (Archiv des Autors)
Autorenseite: Alexander Panow (© beim Autor)
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-7469-7056-1 (Hardcover)
978-3-7469-7055-4 (Paperback)
978-3-7469-7057-8 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung:Eine Betrachtung aus vorwiegend historischer Perspektive
Die Clan-Gesellschaft – älter als der Islam
Jahrtausende alte Strukturen und Regeln
Macht und Ranking der Clans
Besondere Traditionen der Beduinen-Clans
Clan-Gesellschaften und Stadtstruktur
Die Religion ist überall
Christentum versus Islam
Religion im Alltag
Frauen als Opfer, wenn auch nicht nur
Die Ehre der Frauen und ihr Schutz
Heirat und Ehe
Außereheliche Beziehungen
Frauenrechte
Moderne Ansätze
Alltagserfahrungen
Frauen als »Täter«
Mit Ehrlichkeit kommt man nicht weit
Arbeiten im Nahen Osten
Der Alltag im Büro
Erfahrungen mit Handwerk und Dienstleistungen
Hochzeiten, Kultur und Kunst
Überzeugte Fatalisten
Politische und andere Streiflichter
Die Entwicklung Jordaniens und seine Rolle in Bezug auf Palästina
Chancen für die Demokratie im Nahen Osten?
Besonderheiten des staatlichen Aufbaus in den Clan-Gesellschaften
Abu Dhabi
Syrien
Saudi-Arabien, Iran und der Westen
Der Libanon
Israel, Palästina und ein kleines Wunder
Der Umweg über Soest in Westfalen
Für die Verständigung zwischen allen Israelis
Eine Dienstreise nach Ramallah mit Folgen
Eine kühne Vision und ein kleines Wunder
SESAME – das wissenschaftlich-politische Modellprojekt
Anstelle eines Nachwortes
Danksagung
Vorwort
Den ersten Anstoß, ein solches Buch zu schreiben, gab mir eine Psychologin, der ich von den Erfahrungen aus meiner Tätigkeit in sehr unterschiedlichen Regionen dieser Welt berichtet hatte. Es sollte eigentlich »Arbeiten in fremden Regionen« heißen. Auf meinen Einwand, dass solche Berichte heutzutage als »politisch unkorrekt« bezeichnet werden könnten, meinte sie, dass die Authentizität der eigenen Erfahrung schwerer wiege als vorgefasste Meinungen oder gar Ideologien. Trotzdem habe ich aus dem genannten Grund lange gezögert.
Nachdem jedoch ab 2015 sehr zahlreich Asylbewerber aus dem Nahen Osten, Nordafrika und weiteren muslimisch geprägten Regionen nach Deutschland und Österreich kamen und sehr viel Unsicherheit im Umgang mit ihnen zu Tage trat, schien es mir angemessen und nützlich, über meine Erfahrungen in deren Herkunftsländern zu berichten. Ich hoffe, dazu beizutragen, diese Menschen besser zu verstehen und ihre Verhaltensweisen sowie auch die damit verbundenen Probleme besser vorauszusehen, einzuschätzen und zu begreifen.
Ich möchte vorausschicken, dass ich mich über viele Jahre als Angestellter einer internationalen Organisation der Vereinten Nationen intensiv und voller Leidenschaft für Verständigung und Zusammenarbeit unter den Menschen und Völkern eingesetzt habe. Dabei habe ich mein ganzes Leben lang tagtäglich mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen nicht nur debattiert, sondern mit ihnen zusammengelebt und -gearbeitet. Das ist nur dann möglich, wenn man den Anderen und den Andersdenkenden respektiert und akzeptiert und dies auch selbst erfährt. Hinzu kommt, dass sowohl meine eigene Familie als auch die meiner Tochter international und interkulturell zusammengesetzt sind. Ich habe bis heute Freunde und gute Bekannte in nahezu allen Weltregionen, darunter auch im arabischen Raum.
Als ich in den 90er-Jahren noch für die Deutsche UNESCO-Kommission arbeitete, habe ich mich speziell dem Thema »Zusammenleben in kultureller Vielfalt« gewidmet und – gerade angesichts der damals begangenen ausländerfeindlichen Anschläge in Deutschland (Stichwort: »Mölln«) – spezielle Projekte auf die Beine gestellt, die helfen sollten, das Phänomen kultureller Vielfalt besser zu verstehen und Möglichkeiten aufzuzeigen, diese bewusst zu gestalten. 1996 habe ich deutsch-israelisch-palästinensische Lehrer-Schüler-Seminare initiiert, die ab 1997 stattfanden und die mir sehr hohe Anerkennung von allen Seiten eingebracht haben.
Ich selbst war zu jener Zeit ein überzeugter Vertreter von »Multikulti« sowie nahezu grenzenloser Toleranz und glaubte, dass die Welt und das Leben jedes einzelnen Menschen damit verbessert werden könnten. Allerdings irritierte mich bereits damals die in meinem erweiterten Arbeitsumfeld verbreitete These, wonach jeder beliebige »Ausländer« besser sei als jeder einzelne Deutsche. Für mich widerspricht dies fundamental dem Grundsatz der Gleichheit der Würde aller Menschen, ist diskriminierend und zudem purer Unsinn.
Meine Versetzung als internationaler Funktionär der UNESCO in Paris in ein Land des Nahen Ostens, nämlich Jordanien, im Mai 2003 wurde dann zu einer Zäsur in meinem Leben. Ich wunderte mich noch über die Aussage eines italienischen Freundes kurz vor meiner Abreise. Er teilte mir nämlich erst zu diesem Zeitpunkt mit, dass er ebenfalls drei Jahre im Nahen Osten verbracht habe. Als ich ihn verblüfft fragte, weshalb er dies in den Jahren unserer Bekanntschaft nie erwähnt habe, meinte er: »Ich habe für mich diesbezüglich ein Prinzip entwickelt, nämlich darüber nur mit Leuten zu sprechen, die selbst einige Jahre in der Region gearbeitet und gelebt haben.« Seine Erfahrung sei, dass man im besten Fall völliges Unverständnis, zumeist jedoch den Vorwurf des Rassismus ernte, sobald man sich gegenüber Menschen in Europa, die keine eigenen konkreten Lebenserfahrungen in dieser Region besitzen, wahrheitsgemäß und authentisch über diese Region äußere.
Ich konnte das nicht nachvollziehen, da ich ihn aus jahrelanger Bekanntschaft, wenn nicht Freundschaft, als kultivierten, toleranten und weltoffenen Menschen kannte. Ich erinnerte mich jedoch seiner Worte schon kurz nach meiner Ankunft vor Ort. In Amman übernahm ich die Leitung des UNESCO-Büros, das internationale Mitarbeiter von Papua-Neuguinea bis Belgien beschäftigte, vor allem jedoch eine größere Zahl lokalen Personals, sowohl arabische Muslime als auch arabische Christen, darunter auch Palästinenser beider Religionen.
Trotz meiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit multikulturell und multinational zusammengesetzten Teams, musste ich schnell erkennen, dass ich in einer völlig neuen Welt angekommen war und dass nahezu alle meine bisherigen Erfahrungen und ein wichtiger Teil meiner Überzeugungen hier in gewisser Weise wertlos waren oder infrage gestellt werden mussten. Man hatte mich diesbezüglich unvorbereitet dorthin gesandt und nun musste ich in der täglichen Praxis mühsam herausfinden, wie diese Welt funktionierte und wie ich damit umgehen sollte. Dazu gehörte auch die Erkenntnis, das es Gedankengänge und Verhaltensweisen gibt, die ich nicht nur für unmöglich gehalten hatte, sondern die auch völlig außerhalb meiner eigenen, von meinen deutschen und europäischen Wurzeln bestimmten Vorstellungswelt, Denkweise und Logik standen.
In einem schmerzhaften Prozess musste ich nun oft gegen meine inneren Überzeugungen ankämpfen und handeln. Ich musste erkennen, dass es eine Logik und Denkweise gibt, die sich grundsätzlich von der unterscheidet, in der ich bisher aufgewachsen war, gearbeitet und gelebt hatte, die sich im Wesentlichen auf den europäischen Raum beschränkte und die ich auch während mehrjähriger Aufenthalte in Frankreich und Russland bestätigt fand.
Ich habe es geschafft – wenn auch nur mit großer Mühe –, viele Besonderheiten im Denken und Verhalten der Menschen sowie der Gesellschaften, in denen sie dort leben, zu erkennen und hinter die Fassade zu schauen. Zudem hatte ich viele Debatten mit ausgewiesenen Kennern dieser Region aus aller Herren Länder, vor allem aber mit einem jungen Tataren, selbst Muslim und des Arabischen absolut mächtig, mit jahrelangen Erfahrungen in der gesamten Region sowie mit unzähligen Kontakten auf alle Ebenen dieser Gesellschaften, die er in aufschlussreichen Publikationen verarbeitet hat. Dieser Mann war sogar von offiziellen Stellen der USA, zusammen mit anderen, vor dem Irakkrieg zu dessen möglichen Auswirkungen konsultiert worden. Er hatte dabei genau das vorausgesagt, was danach tatsächlich eintrat.1
Auf dieser Basis konnte ich letztendlich doch sehr erfolgreich arbeiten – erfolgreich im Sinne der nachweislichen Arbeitsergebnisse wie auch der Beziehungen zu meinen Mitarbeitern sowie gegenüber Regierungen und nicht staatlichen Akteuren der gesamten Region (neben Jordanien insbesondere Irak, Libanon, Syrien und die VAE betreffend). Das heißt jedoch nicht, dass ich alle in der Region vorherrschenden Denk- und Verhaltensweisen immer auch bis ins Letzte begreifen oder nachempfinden, geschweige denn innerlich akzeptieren oder gar verinnerlichen konnte – dann hätte ich nahezu alle meine bisherigen Werte, Überzeugungen und Erfahrungen über Bord werfen müssen.
Trotzdem bin ich den Menschen mit viel Aufgeschlossenheit und Interesse an ihren (aus meiner Sicht) gravierenden Besonderheiten begegnet, ohne meine eigenen Prinzipien, Werte und meine Unterschiedlichkeit zu leugnen. Ich habe versucht, herauszufinden und zu analysieren, weshalb sie sich so verhalten und welche historischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Gründe dafür bestehen.
Wohl wegen dieses Herangehens wurde ich – und das war nicht selbstverständlich – von vielen Kollegen und Partnern aus der Region akzeptiert und geschätzt. Einige von ihnen haben mich sogar dazu ermuntert, auch weiterhin im Nahen Osten zu arbeiten. Nicht zuletzt hat mir die jordanische Königin Rania selbst in einem Schreiben zum Abschluss meiner Mission für meinen geleisteten Beitrag gedankt, eine eher seltene und durchaus nicht routinemäßige Geste, auf die ich bis heute stolz bin.
Auf jeden Fall ist mir in dieser Zeit sehr bewusst geworden, dass Toleranz einzig und allein auf Gegenseitigkeit beruhen und nur so auch im praktischen Leben bestehen kann. Wenn Toleranz nur einseitig gewährt und praktiziert wird, dann untergräbt und zerstört dies letztendlich das Fundament, auf dem sie selbst aufbaut. Gleichzeitig war es hilfreich, dass ich mich in meiner Arbeit stets auf die im Rahmen der Vereinten Nationen formulierten, universell anerkannten Normen und Werte berufen konnte.
Auf den folgenden Seiten werde ich ehrlich und ohne ideologische Scheuklappen von meinen Erfahrungen und darauf basierenden Einschätzungen berichten. In diesem Zusammenhang möchte ich von vornherein dem Argument begegnen, dass es diese oder jene Verhaltensweise oder Mentalität, von der ich berichte, ja auch bei uns gebe.
Meine Position dazu ist folgende: Es gibt bezüglich menschlicher Denk- und Verhaltensweisen alles und das überall. Den großen Unterschied macht es, in welchem Ausmaß diese Verhaltensweise oder Mentalität in einer Gesellschaft oder in einem Land vorkommt, ob sie die einer verschwindend kleinen Minderheit oder einer überwältigenden Mehrheit ist bzw. ob sie einen kritischen Punkt überschreitet oder nicht. Da ich auch in anderen Regionen, darunter in Lateinamerika gearbeitet habe, besitze ich auch gute Vergleichsmöglichkeiten, die diese Auffassung bestätigen. Das schließt gleichzeitig nicht aus, dass sich einzelne Menschen völlig anders verhalten können.
Im Übrigen wissen wir ja genau und akzeptieren, dass sich der Durchschnittsitaliener in seiner Alltagsmentalität vom Deutschen auffällig unterscheidet, wie auch der Grieche oder der Spanier. Diese Unterschiede sind nur allzu offensichtlich, bei gleichzeitig sehr zahlreichen allgemein menschlichen Übereinstimmungen. Eigenartigerweise werden solche Aussagen in Bezug auf Menschen aus den ärmeren Ländern dieser Erde oft strikt abgelehnt, wohl aus Gründen einer falsch verstandenen Tabuisierung oder angeblichen »politischen Korrektheit«. Das ist sicher nicht sehr konsequent. Nebenbei bemerkt ist es meine Erfahrung, dass der überwiegende Teil der Menschheit sich von der Mentalität her untereinander viel näher steht und nur die Deutschen und eventuell noch die Skandinavier sich relativ stark (und nicht unbedingt positiv) davon unterscheiden, u. a. durch eine extrem moralisierende und dazu missionarische Ader bei gleichzeitig überdimensionalen Selbstzweifeln. Eine eher gefährliche Mischung.
Oft hört man auch den Vorwurf der »Pauschalisierung«. Ich möchte dahingehend feststellen, dass jede Beschreibung eines gesellschaftlichen Systems und sogar eines Zustandes in der Natur – sei er biologischer, physikalischer oder chemischer Art – einer gewissen Verallgemeinerung bedarf, ansonsten ist eine rationale Kommunikation nicht mehr möglich. Für den gesunden Menschenverstand schließt das auch immer Abweichungen oder Ausnahmen ein. Nicht umsonst sagt ein deutsches Sprichwort, dass die Ausnahme die Regel bestätigt. Deshalb basiert auch diese Publikation auf gewissen Verallgemeinerungen.
In diesem Zusammenhang kann gesagt werden, dass sich die nachfolgenden Ausführungen über meine Erfahrungen und Erkenntnisse im Wesentlichen auf Jordanien und die Nahostregion beziehen, deren Länder sich in den meisten der für uns hier interessanten grundlegenden Charakteristika sehr ähneln. Sie treffen jedoch weitestgehend auch auf muslimisch geprägte Gesellschaften in Ländern außerhalb der Nahostregion zu, wie in Afghanistan, Pakistan, Bangladesch, Teilen Indiens, im ehemaligen sowjetischen Mittelasien, in weiten Teilen des Kaukasus (inklusive Tschetschenien), im Norden Afrikas, aber auch in Ländern Südeuropas wie Albanien oder dem Kosovo. Darüber hinaus sind sie – mit entsprechenden Nuancen – durchaus auch für viele nichtmuslimische, jedoch tribalistisch geprägte Länder, beispielsweise im mittleren und südlichen Afrika, charakteristisch. Der Grund hierfür wird aus den weiteren Ausführungen ersichtlich werden.
Die Ankunft eines Menschen aus Europa in der Nahostregion oder umgekehrt bedeutet – wegen der von mir genannten gravierenden Unterschiede in den Gesellschaften sowie in den Denk- und Verhaltensmustern – sowohl für die Ankommenden als auch für die Empfangenden einen riesigen Kulturschock. Dieses Buch hat seinen Zweck erreicht, wenn es dazu beitragen kann, jenen Menschen in Europa ein paar nützliche Kenntnisse und Erfahrungen über die Ursprungsländer der Migration zu vermitteln, die davon (so wie ich bei meiner Ankunft in Amman) keine oder nur sehr vage Vorstellungen haben.
Dies bedeutet nicht, dass damit alle Probleme gelöst wären und auf keinen Fall, dass man alle Verhaltensweisen und Denkweisen akzeptieren muss. Dies würde ja nur den bloßen Import der gesellschaftlichen Denk- und Verhaltensnormen der Herkunftsgesellschaften der Migranten bedeuten. Aber man erhält auf diese Weise mehr Sicherheit im Umgang miteinander, was zum Abbau von Irritationen im Alltag und zur Vermeidung der Eskalation von Konflikten oder auch zu deren Regelung beitragen kann. Wenn ich verstehe, weshalb der andere so agiert bzw. reagiert, kann ich mich besser auf ihn einstellen und ihm auch auf eine respektvolle und zweckmäßige Art verständlich machen, welche seiner Denk- und Verhaltensmuster hierzulande nicht akzeptabel sind oder zumindest auf Verwunderung oder Irritation stoßen und weshalb. Gleichzeitig kann ein besseres Verständnis für Gewohnheiten sowie Denk- und Handlungsweisen der Migranten auch zu besserer Akzeptanz derselben führen und sogar punktuell bereichernd sein, soweit sie nicht diametral im Widerspruch zu den Denk- und Verhaltensweisen in der Aufnahmegesellschaft stehen.
Ich würde mich freuen, wenn auch Politiker, Mitarbeiter der Justiz oder all jene, die beruflich oder durch ihr freiwilliges Engagement mit Migranten zu tun haben, aus diesen Ausführungen wichtige Informationen für ihre Arbeit entnehmen und entsprechende Konsequenzen ableiten könnten. Sicher kann das Buch auch für jene oft sehr idealistischen Menschen hilfreich sein, die vorhaben, in diesen Ländern zu arbeiten oder die den Menschen in diesen Ländern auf irgendeine Weise Unterstützung gewähren wollen.
Insofern ist dieses Buch für all jene gedacht, die die Hintergründe etwas besser verstehen beziehungsweise im Umgang mit Menschen aus dieser Region und weit darüber hinaus mehr Sicherheit erhalten möchten.
In der nachfolgenden Einleitung möchte ich begründen, weshalb die Besonderheiten im arabischen Raum und darüber hinaus vorrangig aus einer entwicklungshistorischen Perspektive und nur nachrangig aus einem religiösen oder kulturellen Blickwinkel betrachtet und analysiert werden sollten. Wem dies zu trocken oder zu lang erscheint, der kann sich auch gleich den danach folgenden Illustrationen konkreter Beobachtungen zuwenden, sollte aber bedenken, dass ihr Hintergrund weniger kulturellen oder religiösen, sondern vorrangig historischen Ursprungs ist.
Einleitung: Eine Betrachtung aus vorwiegend historischer Perspektive
Wenn man die Besonderheiten der Gesellschaften sowie viele Denk- und Verhaltensweisen im Nahen Osten und darüber hinaus besser verstehen will, muss man meines Erachtens in erster Linie historisch herangehen, eine historische Betrachtungsweise allen anderen Perspektiven voranstellen. Kulturelle und religiöse Faktoren spielen sicherlich auch – wie in allen Vergleichen von Gesellschaften oder Zivilisationen – eine bedeutende Rolle, aber sie sind meiner Meinung und Erfahrung nach in diesem Fall eher dem geschichtlichen und entwicklungshistorischen Hintergrund nachgeordnet.
Für mich besteht deshalb auch der grundlegende Mangel und Irrtum des öffentlichen Diskurses in Deutschland bzw. Westeuropa über den Nahen Osten (und über die von dort oder aus anderen islamisch geprägten Ländern stammenden Migranten) darin, dass er sich vorzugsweise auf religiöse und kulturelle Aspekte fokussiert (in Bezug auf das ehemals sowjetische Mittelasien und den Kaukasus zudem auch auf sowjetideologische Aspekte) und die entwicklungshistorischen Hintergründe vollkommen ausblendet. Zudem wird die gesamte Thematik oft stark ideologisiert, statt sie nüchtern zu analysieren.
Leider wird geschichtliches Verständnis, nämlich ein Ereignis im Rahmen des historischen Kontexts zu betrachten (entsprechend den Regeln der UNESCO vorzugsweise aus den unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Kräfte), vom heutigen Zeitgeist immer weniger gelehrt und geschätzt. Nur allzu oft wird die gesamte Geschichte statisch an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen im Westen, die ja letztendlich auch nur Ergebnis einer historischen Entwicklung sind, oder an modischen ideologischen Vorgaben gemessen. Das führt auch dazu, den gegenwärtigen Zustand (im Westen) zu idealisieren und so als Ende der Geschichte zu betrachten. Ähnlich dachte im Übrigen auch der große Hegel in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als er den preußischen Staat als allgemeines Menschheitsideal und Endpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung ansah.
Tatsächlich kennt die Gesellschaft in Deutschland erst etwa 170 Jahre lang eine bürgerlich-demokratische Entwicklung, die sich mit vielen Irrwegen und nur langsam durchgesetzt hat. Bis in die 1970er-Jahre wurden in der alten Bundesrepublik (im Unterschied zur DDR) Ehen zwischen Katholiken und Protestanten als problematisch angesehen, waren getrennte Schulen und zumindest separate Toiletten für beide Konfessionen üblich und Frauen juristisch nicht vollständig geschäftsfähig. Noch zur Wiedervereinigung hat es die alte Bundesrepublik abgelehnt, eine liberalere Gesetzgebung für Homosexuelle, wie in der DDR praktiziert, zu akzeptieren. Deshalb hat es über vier Jahre lang zwei unterschiedliche Rechtsräume im wiedervereinigten Deutschland gegeben, bis schließlich eine Vereinheitlichung erfolgte. Umgekehrt stammen wesentliche Pfeiler unseres Wohlfahrtsstaates, wie die Renten- oder Krankenversicherung, aus einer Zeit, die heute nicht gerade als »progressiv« bezeichnet werden würde, deren Entstehen sich aber aus den historischen Umständen erklärt.
Nicht primär die historische Perspektive einzunehmen birgt nicht nur die Gefahr, dass man an den wahren Ursachen und Problemen des Andersseins vorbeidenkt, sondern auch, dass man den »Anderen« hierdurch noch weiter verfremdet und sich von ihm immer mehr abgrenzt, statt sich letztendlich der gemeinsamen allgemeinmenschlichen Grundlagen bewusst zu werden.
Diesen Fehler begehen übrigens gleichermaßen beide dominierenden Seiten des politischen Spektrums, des politischen Establishments und öffentlichen Diskurses: sowohl jene, die alles Fremde grundsätzlich ablehnen, als auch jene, die aus rein ideologischen Gründen alles Fremde von vornherein gutreden und damit, wenn auch eher indirekt, sogar noch das Trennende herausheben und das Gemeinsame verdecken. Aus beiden Ansätzen entstehen dann die bekannten parallelen Lebenswelten unter Einwanderern in den europäischen Ländern: entweder im Widerstand gegen jene, die die Einwanderer grundsätzlich ablehnen (innerer Zusammenschluss als Schutz) oder als Folge eines verabsolutierten multikulturellen Ansatzes und dem daraus abgeleiteten »generellen Recht« der Einwanderer, sich grundsätzlich von der Einwanderungsgesellschaft abzugrenzen (statt sich dieser anzupassen), indem man bewusst an allen aus der Auswanderungsgesellschaft mitgebrachten (und fälschlicherweise als »kulturelle Identität« bezeichneten) Denk- und Verhaltensweisen festhält, ohne Rücksichtnahme auf die Regeln und Traditionen der Einwanderungsgesellschaft.
»Multi-Kulti« heißt ja letztendlich nichts anderes, als dass alles nebeneinander bestehen soll, ohne die Frage zu beantworten, wie dann diese verschiedenen Gruppen aus einheimischer Bevölkerung und Einwanderern miteinander kommunizieren und Zusammenleben sollen (in der Praxis oft eben parallel, ohne Integration in eine vorhandene Basisgesellschaft).
Das Grundproblem hierbei – und da kommt der historische Ansatz zum Tragen – besteht jedoch darin, zu erkennen, dass sehr viele Denk- und Verhaltensmuster aus der Region in erster Linie weder religiös noch kulturell definiert, sondern zum überwiegenden Teil (ich schätze zu 85 Prozent) entwicklungshistorisch bedingt sind. Der Begriff »Multi-Kulti« allein führt deshalb bereits in die Irre.
Ich möchte hier kurz meine historische Betrachtungsweise erläutern und begründen, die ich in den nachfolgenden Kapiteln zu den einzelnen von mir beobachteten Besonderheiten in den Denk- und Verhaltensmustern weiter illustriere und detailliere.
Generell und überwiegend kann gesagt werden, dass sich die Gesellschaften der betreffenden arabischen Länder als solche auf einer Entwicklungsstufe befinden, die ich hier als »vor-modern« bezeichnen möchte. Aus europäischer Sicht sind sie eher typisch für gesellschaftliche Entwicklungsperioden, die hierzulande 700–2000 Jahren zurückliegen. Diese Bewertung betrifft dabei in keiner Weise die Würde der Menschen, die in diesen Gesellschaften leben – ihre Würde steht der jedes anderen Bewohners dieses Planeten in nichts nach. Sie sieht auch bewusst von äußerlichen, der modernen Gesellschaft entlehnten Anzeichen ab (wie z. B. die Nutzung von moderner Technik wie Smartphones oder Flugzeugen oder des Lebens in Häusern anstelle von Zelten oder Palmhütten)2‚da diese bisher die innere Funktionsweise dieser Gesellschaften nicht wesentlich verändert haben. Diese Einschätzung betrifft einzig und allein die Frage, wie diese Gesellschaften im Innern funktionieren, nach welchen Regeln und auf der Grundlage welcher Institutionen. Gerade dieser, dem Außenstehenden nur sehr schwer zugängliche Aspekt, ist von ausschlaggebender Bedeutung für das Denken und Handeln und damit auch für die Mentalität der betreffenden Menschen.
Ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, was das Anliegen dieser auf persönlicher Erfahrung basierenden Publikation sprengen würde, möchte ich Kritiker oder Zweifler hier kurz auf folgende Aspekte der Entwicklung menschlicher Gesellschaften verweisen, mit denen ich mich aufgrund meiner Erfahrungen im Nahen Osten und anderen Ländern auf insgesamt drei Kontinenten auseinandergesetzt habe: Es ist heute oft nicht opportun, von »Unterentwicklung« oder »Rückständigkeit« zu sprechen (was mit dem Begriff der »Vor-Moderne« ja faktisch ausgedrückt wird) und es wird darauf verwiesen, dass nicht alle Länder und Zivilisationen genau dem westlichen Entwicklungsweg folgen müssen, der auch ein Irrweg sein könnte.
Ich stimme dem zweiten Aspekt vollkommen zu und lehne deshalb auch die Auffassungen und Politik des Westens ab, alle Länder und Völker allein nach den westlichen Postulaten zu beurteilen und ihnen die Modelle des Westens aufzuzwingen, die selbst in sich recht unterschiedlich sind und in der Praxis heute auch nicht immer den Postulaten entsprechen. Der Westen selbst ist in seiner Entwicklung immer wieder durch viele Irrungen und Wirrungen gegangen und muss diese anderen Gesellschaften ebenfalls zugestehen. Insbesondere bin ich der Meinung, dass alle Gesellschaften von innen heraus die Kraft und die Vision für ihre weitere Entwicklung und die eventuelle Überwindung gesellschaftlicher Hindernisse finden müssen, wobei nach meinen Erfahrungen und Erkenntnissen Entwicklung nicht in Jahren, sondern in Generationen gemessen werden sollte. Alle menschlichen Gesellschaften sind relativ langsam, insbesondere in ihren geistigen und institutionellen Fortschritten und vor allem bevor diese auch die Massen ergreifen. In der Regel werden Fortschritte und Reformen jeweils durch eine neue Generation akzeptiert und durchgesetzt. In diesem Maßstab von Generationen sollte generell auch gesellschaftlicher Fortschritt gemessen und gewürdigt werden. Vor diesem Hintergrund benötigen die Gesellschaften im Nahen Osten, unter Berücksichtigung aller heute bestehenden Beschleunigungsfaktoren von außen, offensichtlich noch mindestens fünf, wenn nicht mehr Generationen, um tatsächlich in der Moderne anzukommen – bzw. in dem, was wir derzeit darunter verstehen – wenn sie das denn wollen.