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Schonungslos, komisch und klug erzählt Ling Ma acht Geschichten von Menschen, die sich ihren Weg durch unseren kollektiven Irrsinn bahnen. »›Glückscollage‹ spielt die größten Hits der menschlichen Existenz, handelt von Freundschaft, Liebe, Einsamkeit und der Bedeutung von Heimat. Surreal und fantastisch – und doch auf unheimliche Weise vertraut.« Good Housekeeping Pressestimmen »Eine begnadete Autorin, voller Neugier auf die Grenzen alles theoretisch Möglichen.« New York Times Book Review »Ma untersucht das pulsierende Begehren und die Machtdynamiken, die unser aller Beziehungen bestimmen, von intimen Freundschaften und intensiven romantischen Verstrickungen bis hin zu den unsichtbaren und doch allgegenwärtigen Banden der Vorfahren.« TIME »Verblüffend und eindringlich … ein genialer Wurf.« Washington Post »Wie gewohnt bilden Ling Mas große, verrückte Ideen die Bühne für scharfsinnige emotionale Einsichten.« Philadelphia Inquirer »Schonungslos, urkomisch und wahnsinnig klug.« Vulture »Wieder erweist sich Ling Ma als eine der originellsten Autorinnen ihrer Generation.« Sianne Ngai »Mitreißend und gewitzt bringt Ling Ma den emotionalen Seelenzustand der Generation Y auf den Punkt.« Oliver Jungen, F.A.Z. über »New York Ghost« Ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Award, dem The Story Prize und dem Windham-Campbell Literature Prize
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2024
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2024
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 by Ling Ma
Titel der Originalausgabe:
Bliss Montage
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde
mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt
durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.
Übersetzung: Zoë Beck
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Jan Karsten
Korrektorat: Johanna Seyfried
Covergestaltung: Cordula Schmidt Design, Hamburg
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: Juni 2024
ISBN 978-3-95988-253-8
Schonungslos, komisch und wahnsinnig klug erzählt Ling Ma acht Geschichten von Menschen, die sich ihren Weg durch unseren kollektiven Irrsinn bahnen.
»›Glückscollage‹ spielt die größten Hits der menschlichen Existenz, handelt von Freundschaft, Liebe, Einsamkeit und der Bedeutung von Heimat. Surreal und fantastisch – und doch auf unheimliche Weise vertraut. « Good Housekeeping
»Ling Ma beschäftigt sich mit dem Begehren und den Machtdynamiken, die unser aller Beziehungen bestimmen, von intimen Freundschaften und intensiven romantischen Verhältnissen bis zu den unsichtbaren und doch allgegenwärtigen Banden der Vorfahren.« TIME
»Mitreißend und gewitzt bringt Ling Ma den emotionalen Seelenzustand der Generation Y auf den Punkt.« Oliver Jungen, F.A.Z. über »New York Ghost«
Ling Ma
Glückscollage
Storys
Für Daniela ♥
Das Haus, in dem wir leben, besteht aus drei Flügeln. Im Westflügel wohnen der Ehemann und ich. Im Ostflügel wohnen die Kinder und ihre jeweiligen Au-pairs. Und im größten, aber hässlichsten Flügel, der sich wie ein krummer, gebrochener Arm hinter dem Haus erstreckt, wohnen meine 100 Exfreunde. Wir leben in L.A.
Unser Haus hat den schönsten Ausblick in den Hills. Von unserer Küche mit den spanischen Fliesen aus kann ich meine alte Wohnanlage unten am Hügel sehen, ein korallfarbenes Stuckgebäude, das mal ein Motel war. Auf dem ausgebrannten Schild steht EL PARAISO. In meinem Studioapartment wohnt jetzt eine andere junge Frau. Mit T-Shirt und Unterhose bekleidet trinkt sie über das Waschbecken in der von mir gischtgrün gestrichenen Küche gebeugt ein Glas Saft. Es ist drei Uhr morgens, es ist drei Uhr nachmittags.
Sie ist dort, ich bin hier, und alle meine Exfreunde, mit denen ich dort zusammen war, sind auch hier. Aaron. Adam. Akihiko. Alejandro. Anders. Andrew. Und das sind nur die As.
Meine 100 Exfreunde und ich verbringen jeden Tag zusammen. Wir packen uns in den Porsche 911 Turbo S, als wäre er innen größer als außen, und fahren durch die Straßen und Boulevards, die Hügel und Canyons, durch palmengesäumte Alleen und die Parkhäuser der Einkaufszentren. Geoff fährt. Endlos breitet sich die Stadt vor uns aus. Blutergussfarbene Bougainvilleen wachsen über die Zäune der Leute. Manchmal ein Bambushain. Manchmal ein Friedhof. Manchmal eine kostenlose Klinik, die auf die Entfernung geplatzter Kapillaren spezialisiert ist. Die Sonne knallt uns ins Gesicht, wir kneifen die Augen zusammen, unser Haar flattert im Wind.
Auf der Kreditkarte des Ehemanns: 101 Burger von Umami Burger, 101 Eintrittskarten für das LACMA, 101-mal Goldene Milch bei Moon Juice. Wir gehen shoppen. Wir gehen zu Barneys. Wir gehen nach Koreatown. Wir gehen ins Urth Caffé und lesen etwas Unterhaltsames.
Kann ich noch einen Weizengras-Shot haben?, fragt Benoît.
Seh ich in diesem Hoodie dick aus?, fragt Fred.
Wir müssen bald nach Hause, sagt Chang.
Und Aaron, der sagt nichts. Adam auch nicht.
Es ist schon fast Abend, als wir in unsere geschlossene Wohnanlage zurückkehren, der Himmel eine Schichttorte in Pink- und Orangetönen. Am Sicherheitshäuschen öffnen sich, von ihrem eigenen Gewicht fast erdrückt, die schwarzen Eisenpforten.
Nachdem wir ausgestiegen sind, kehrt der Ehemann von seiner Investmentfirma zurück nach Hause. Er tritt leise durch unsere geräuschlose Garagentür. Ich weiß, dass er es ist, wenn ich Eiswürfel gegen Glas klirren höre, dann Bourbon, der aus der Flasche gluckert. Er lässt ihn einen Moment ruhen.
Hallo Schatz, sage ich. Wie war dein Tag?
$$$$, $$$$$$$$$, sagt er. $$$$$$$$$$$$$$.
Aha, ist er gestiegen oder gefallen?
$$$$$$$$$$.
Heißt das, du arbeitest am Wochenende?
$.
Der Ehemann ist ein Platz zum Ausruhen. Er ist wie ein Stuhl. Manchmal drapiere ich mich über ihn und verspüre den körperlichen Trost, nicht allein zu sein. Ich kann es fühlen, wann immer ich will; meistens Samstagnachts, meistens Sonntagmorgens. Aber am dringendsten brauche ich es am frühen Abend, wenn ich das Gefühl habe, mich aufzulösen. Während dieser Zeit zerstreuen sich meine Exfreunde, und der Ehemann und ich gehen irgendwo essen.
Ich ziehe meinen Fliegermantel an, und wir nehmen einen Timesharing-Jet nach Marin County. Gegen acht sinken wir nach Sausalito hinab, wo Danielle Steel wohnt, wo launische Zypressen an steilen Hügeln wachsen und die Ausläufer der tiefen Bucht an die Felsen entlang der Küste schwappen. Hier ist es nett, aber man kann nirgendwo shoppen, außer bei Benetton.
In dem Slow-Food-Restaurant am Hafen strahlt uns ein älteres Paar am Nachbartisch an. Es dauert einen Moment, um zu begreifen, dass wir wie eine jüngere Version der beiden aussehen, nur ohne deren Partnerlook-Pullunder und graue Haare. Zwischen unseren Tischen liegen dreißig Jahre. Ich erwidere ihr Lächeln und wende den Blick ab.
Der Ehemann bestellt einen Rotwein, und ich bestelle eine Cola Light. Man bringt uns die Teller: Thunfisch-Carpaccio mit Sesamkruste, zarte Erbsensprossen an Kalbsmedaillon in abstrakter Kräutersoße, Zucchinispäne mit Minz-Dill-Schaum.
Der Ehemann nippt an seinem Wein und isst sein Kalb, während ich ihm erzähle, was meine Exfreunde und ich den ganzen Tag gemacht haben, welche Kunst wir uns angesehen, was wir gekauft haben. Der Nachtisch kommt, Vanilletorte mit Himbeer-Coulis und Mascarponecreme.
Ich versuche, es zu genießen, aber offenbar schaffe ich es nicht, mich dem Blick des Paares am Nachbartisch zu entziehen. Die Ehefrau kann es nicht lassen. Sie beugt sich vor, legt ihre Hand auf mein Handgelenk und sagt: Sie werden wunderschöne Kinder haben.
Das ist schon erledigt, sage ich zu ihr und ziehe die Hand weg.
Ich habe einen Sohn und eine Tochter, sie kamen Knall auf Fall nacheinander. Sie sind sechs und sieben. Sie kommen in Aussehen und Art ganz nach dem Ehemann. Sie kauen mit geschlossenen Mündern. Sie wissen, wie sie die Gabel richtig halten. Nachts kriechen sie auf meinen Schoß, voll mit mühelos zu enthüllenden Geheimnissen, leicht wie Klappstühle.
Wenn zu Hause die Tochter Himbeersaft auf den Teppichboden kleckert, schimpft der Sohn: Deshalb können wir keine schönen Sachen haben.
Nein, das stimmt nicht, sage ich zu den beiden und sehe die Tochter an. Ihr könnt alles haben.
Wirklich?, fragt sie.
Es gibt nichts, was du jemals aufgeben musst, sage ich und bin mir ziemlich sicher, dass es falsch ist, so etwas zu einer Sechsjährigen zu sagen, aber ich sage es trotzdem. Du kannst den Kuchen behalten und ihn essen.
Ich kann meinen Saft behalten und ihn verschütten?
Klar. Gute Anwendung einer Analogie.
Meine Exfreunde bringen den Kindern abwechselnd etwas Neues bei. Sie üben Klavier, lösen mathematische Gleichungen, führen Logik und Rhetorik vor.
Finde das mittlere C, sagt Philippe.
Löse nach x auf, sagt Akihiko.
Wenn a, dann b, sagt Hans.
Aber Aaron sagt nichts. Adam auch nicht.
Es gibt 100 Exfreunde, aber nur zwei, die wirklich etwas bedeuten. Ihre Namen sind ähnlich: Aaron und Adam. Adam und Aaron. Aaron, weil ich verliebt war, Adam, weil er mich geschlagen hat. Erst lernte ich Adam kennen, dann Aaron. Die Wunde, dann die Heilsalbe. Vielleicht weiß man gar nicht, dass man verwundet ist, bis man die Salbe bekommt. Die Salbe lässt alles zurückkommen. Nachdem man geschlagen wurde, geht man nicht raus. Das Gesicht schwillt zu einer Schnauze an. Man kauft kein Paracetamol und keine Lebensmittel, weil man wie ein ausgebrochenes Tier aussieht. Der Tierschutz würde einen glatt verwechseln. Stattdessen blieb ich drinnen, wusch das Blut von den Wänden und aus den Laken. Behielt das bespritzte Kissen als Beweisstück, nicht für jemand anderen, nur für mich. Ich hörte Musik. Cat Power, The Covers Record. Ich informierte mich. Aus dem Leitfaden für Misshandlung: Geübte Täter schlagen einer Frau nicht ins Gesicht. Nur der Anfänger wird durch extreme, unkontrollierbare Konditionen dazu gebracht. Ich las es noch einmal. Nicht »Konditionen«. »Emotionen«. Ich frischte meine Philosophiekenntnisse auf: Zu leben heißt, in der Zeit zu existieren. Zu erinnern heißt, die Zeit zu negieren.
Mein ganzes Erinnern setzt spät am Nachmittag ein und reicht bis spät in die Nacht. Woher weiß ich denn, fragte Adam einmal, bevor er mich schlug, ob das, was du empfindest, echt ist? Und nicht etwas, das du für jeden empfunden hast, der vorher war? Und für jeden, der danach kommt?
Nach dem Abendessen nehmen der Ehemann und ich den Timesharing-Jet zurück nach L.A. Es ist dunkel, als wir die Flügelspannweite Kaliforniens entlangfegen. Unter uns gehen die Lichter an, Stadt für Stadt, die Zeit zieht vorüber. L.A. ist nachts aus der Ferne so wunderschön wie ein Sternbild. Es breitet sich überallhin aus, aber nicht so sehr als Stadt, sondern als eine Anreihung städtischer Planungsentscheidungen, die ohne Weitblick getroffen wurden. Frank-Lloyd-Wright-Häuser machen Platz für Kirchen im Le-Corbusier-Stil, Bungalows aus der Jahrhundertmitte koexistieren mit mediterranen Villen, Lustschlösser reiben sich an asketischen Lifestyle-Zentren. Es gibt kein Muster, es gibt keine Bedeutung.
Unter der Flugzeugdecke findet die Hand des Ehemanns die meine.
$$$$$$$$$$$$$$?, fragt er.
Natürlich bin ich das, antworte ich und drücke seine Hand.
Als wir nach Hause kommen, schlafen die Kinder schon. Der Ehemann zieht sich in unser Schlafzimmer zurück und ich mich ins Gästehaus, wo ich die meisten Nächte verbringe. Früher hatten wir es vermietet, aber jetzt steht es leer. Ein Steinpfad schlängelt sich durch den weitläufigen Hinterhof und führt mich durch ein Dickicht aus Bougainvilleensträuchern, die vor pollenschweren Blüten nur so strotzen. Das Gästehaus ist mit Stücken möbliert, die frühere Mieter zurückgelassen haben: ein Stuhl, ein Bett, ein Laufband. Ich öffne das Fenster, gehe auf dem Laufband und lese alte Modemagazine.
Jemand klopft an die Tür.
Herein, sage ich.
Die Tür wird geöffnet. Es ist Aaron.
Ich dachte, du redest nicht mit mir, sage ich.
Ich brauche jemanden, der mich fährt. Kannst du mich fahren?
Frag Geoff. Er ist wahrscheinlich noch wach.
Nein, nur du, bitte. Was machst du?
Trainieren.
Er räuspert sich. Ich gehe weg.
Weg wohin?
Weg von hier. Ich ziehe aus.
Mein Atem stockt.
Sag nicht, dass dich das überrascht, sagt Aaron. Alle sind schon viel zu lange hier.
Und sie dürfen gern noch länger bleiben.
Komm schon. Er macht eine Geste, dass ich ihm folgen soll, und ich folge ihm. Der Porsche langweilt sich in der Auffahrt. Er öffnet mir die Fahrertür, und ich steige ein. Der Schlüssel steckt bereits im Zündschloss. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt kurz nach Mitternacht an.
Wo ist dein Gepäck?, frage ich.
Im Kofferraum.
Mehr bleibt mir nicht zu sagen. Wortlos fahren wir den Hügel hinab, an den Anwesen anderer Leute vorbei. Am Fuße des Hügels scanne ich meinen Ausweis, und die schwarzen Eisenpforten öffnen sich triumphierend, wie ein Vogel seine Flügel.
Wohin fahren wir?, frage ich.
Bieg rechts ab, wenn wir zum Freeway kommen. Ich sag dir dann unterwegs, wie es weitergeht.
Unter den flackernden Straßenlaternen wirkt das Gesicht meines Exfreundes heiter und leer. Mir sind vorher nie die Falten aufgefallen, die Krähenfüße. Ich kann einen flüchtigen Blick auf seinen linken Arm werfen, wo die Narbe von der billigen Tattoo-Entfernung immer noch meinen Geburtsnamen erahnen lässt.
Nimm diese Abfahrt, sagt er.
Wir fahren durch Seitenstraßen. Wir brausen über die Alleen. Es ist spät, und die Straßen sind größtenteils leer. Als meine Hände zittern und ich fast ausschere, legt er seine Hand aufs Lenkrad, und ich korrigiere.
Fahr langsam, sagt er.
Wir kommen an vertrauten Orten vorbei. Am Lucky, wo wir immer Eier und Käse kauften, wo wir hinten an den Blutdruckmaschinen neben der Apotheke spielten. In der Nähe war seine alte Wohnung, in der er sich Tropenvögel hielt. Als er zwangsgeräumt wurde, ließ man ihn nicht mehr hinein, um sie zu holen. Als ich ihm sagte, er könne ins Haus des Ehemanns einziehen, sagte er: Das hilft auch nicht. Aber er kam trotzdem.
Wir kommen an der jetzt geschlossenen Taqueria vorbei, in der wir uns kennengelernt haben. Wir waren beide spät dran, um gemeinsame Freunde zu treffen, und sie waren bereits fort und ins Kino gegangen. Wir setzten uns trotzdem hin und aßen Fischtacos. Ich trank eine Ananas-Jarritos und er eine Tamarinden-Jarritos. Ich hatte noch nie Tamarinde probiert.
Als wir fertig waren, standen wir draußen und wussten nicht wohin.
Deine Schuhe sind offen, sagte er.
Ich trug ausgelatschte alte Nikes. Er kniete sich hin und machte einen kunstvollen Knoten.
Als er fertig war, richtete er sich umständlich zu voller Größe auf und sagte: Willst du wohin, wo es ganz sonderbar ist?
Ja.
Es war eine Ladenzeile, zwanzig Minuten den Hollywood Boulevard runter.
Du hast mich zu einer Ladenzeile gebracht, sagte ich.
Es ist eine Ladenzeilenmoschee.
Eine was? Ich sah mich um. Es war eine Ladenzeile, die auf dem Grundstück einer ehemaligen Moschee errichtet worden war. Die gesamte Moschee war abgerissen worden, bis auf zwei dünne weiße Minarette, von denen einst die Rufe zum Gebet ertönten. Sie standen neben einer Patrón-Tequila-Werbetafel, auf der zu lesen war: ALLE ANDEREN HABEN WEIN MITGEBRACHT. In der Ladenzeile selbst war eine Münzwäscherei, eine Brautmodenboutique und eine im Neonlicht erstrahlende mexikanische Bäckerei, in der wir Schmalzgebäck und Kekse aßen.
Oh mein Gott, ich schmalze vor dir dahin, sagte er mit vollem Gebäcksmund über den Tisch.
Lol, sagte ich.
Mittlerweile ist auch die Ladenzeile abgerissen worden. Jetzt befindet sich dort ein leeres Grundstück hinter einem Metallzaun, und an diesem Grundstück fahren wir gerade in unserem stillen Wagen vorbei, auf dem Weg zum – wie mir klar wird, während er mich eine umständliche Route fahren lässt – Flughafen LAX, von wo aus er irgendwohin fliegen wird, ich weiß nicht, wohin. Die Minarette beherrschen noch immer schweigend den Platz.
Woher weiß ich denn, fragte er mich einmal, ob das, was du empfindest, echt ist?
Es ist echt, sagte ich.
Ja, aber woher soll ich das wissen?
Es ist ganz in echt echt!, herrschte ich ihn an, aber er sagte nichts. Ich weiß es nicht, antwortete ich schließlich.
Es war dieser deprimierend heiße Sommer, in dem wir viel zu lange in seiner Wohnung eingepfercht waren, weil wir es uns nicht leisten konnten, irgendwohin zu gehen, wo es eine richtige Klimaanlage gab. Ein Biscotto kostet einen Dollar, sagte ich. Ich konnte gar nicht schnell genug entkommen. Wir konnten den Deckenventilator nicht anstellen, weil er seine eifersüchtigen, bissigen Vögel herumfliegen ließ. Was, wenn ich meine Gefühle sezierte und auseinanderrisse und sie verrohen ließe, damit er wissen würde, dass sie echt sind?, fragte ich ihn. Wie wäre das? Sie würden explodieren und wie Körperflüssigkeiten alles besudeln, und am Ende wäre er schließlich gezwungen wegzusehen.
Wenn das möglich ist, wenn sich so etwas durchführen ließe, kann ich es dann jetzt tun und rückwirkend anwenden?
Und jetzt halt an, sagt Aaron. Gleich hier. Delta. Das ist mein Gate.
Auf dem Schild steht INTERNATIONALE FLÜGE. Ich öffne den Kofferraum, und er nimmt sein Gepäck heraus. Wir stehen am Bordstein und wissen nicht, was wir sagen sollen. Wir sind seit sieben Jahren getrennt.
Mach’s gut, sage ich, und meine Arme hängen an mir herab.
Ach, komm her. Er beugt sich vor und umarmt mich. Mach’s gut. Ich schmalze vor dir dahin.
Es sind 99 Exfreunde. Dann 59. Dann 29. Dann 9. Sie ziehen aus. Sie finden Arbeit. Sie heiraten. Ihre Weihnachtskarten füllen unseren Briefkasten, zusammen mit Chanukka- und Kwanzaa-Karten, denen Fotos von Familien in einheitlichen Pullundern auf Skihängen in den Alpen oder vor einem Bluescreen-Kamin beiliegen. Sogar die Karten dünnen nach und nach aus. Die verbliebenen Exfreunde rühren sich nicht vom Fleck, sind aber ganz schüchtern, so als dürften sie nicht hier sein. Diejenigen, die geblieben sind, wollen nicht wirklich gefunden werden. Sie drücken sich in den Untiefen des Hauses herum; morgendliche Filme dröhnen aus dem Vorführraum, Marihuanarauch kräuselt sich aus einem unbenutzten Schrank.
Mit jedem einzelnen Jahr, das vergeht, schrumpft der hintere Flügel weiter zusammen, wie die Hoden eines alten Mannes, die sich nach und nach in seinen Körper zurückziehen.
Caleb. Chang. Charles. Chris. Cornelius. Ich will euch alle.
Als ich schließlich den hinteren Flügel öffne, riecht es wie in einem schimmeligen Kirchenkeller. Die Klimaanlage läuft auf der höchsten Stufe, seit Jahren schon. Ich schalte sie aus. Ich gehe herum, huste von den Staubwolken, öffne Fenster, drücke auf Lichtschalter. Die Glühbirnen sind ausgebrannt, abgesehen von einem letzten flackernden Küchenlicht. Im Wohnzimmer leere ich Aschenbecher, die von jahrealtem Abfall überquellen: Zigarettenstummel, ein Busticket, ein Jeton. Ich wische den Staub von den leeren Bücherregalen. Im Flurschrank finde ich einen alten Staubsauger und sauge die Schlafzimmer, öffne dabei eine Tür nach der anderen.
Es dauert fünf Minuten, um ein Zimmer zu saugen, aber es sind 100 Zimmer. Ich bin an Tür drei, als ich durch das Dröhnen des Staubsaugers ein schwaches, zittriges Geräusch höre, das wie das Klimpern von Kleingeld in der Hosentasche klingt. ¢ ¢¢¢¢ ¢¢¢.
Ich schalte den Staubsauger aus. Es ist so schwach, dass ich mich anstrengen muss, um es zu hören.
¢¢ ¢¢¢ ¢¢¢¢.
Ich gehe aus dem Raum, öffne reihenweise Türen, die zu leeren Zimmern führen, versuche, dem Geräusch zu folgen. Hallo?, rufe ich. Ich öffne die Türen vier, fünf und sechs. Nichts. Ich mache weiter. Sieben, acht, neun. Erst bei Tür neunundvierzig finde ich ihn: den Ehemann, der in einem alten Sessel sitzt. Wir haben uns länger nicht gesehen. Obwohl er mit den Händen sein Gesicht verbirgt, erkenne ich, dass er gealtert ist; eine Haarsträhne so silbern wie ein Blitzstrahl. Er trägt einen Pullunder. Seine Beine sind überkreuzt. Als er aufschaut, sehe ich sein nasses, schmerzverzerrtes Gesicht. ¢¢ ¢¢¢ ¢. Es ist das Geräusch von Tränen so scheu wie Rehkitze, die über sein zerfurchtes, mit weißen Barthaaren übersätes Gesicht strömen.
Mit gesenktem Kopf knie ich mich vor ihn hin und nehme seine feuchten Hände in meine.
Ich habe nach dir gerufen. Warum hast du nicht geantwortet?, versuche ich es noch einmal. Was ist denn los?
Endlich öffnet er den Mund. $$$.
Na ja, offensichtlich ist es nicht nichts.
$$$$$$$$$$$.
Natürlich weiß ich, wie du heißt.
$$$$$$. $$$$$$$$$$.
Natürlich kann ich mich daran erinnern.
Ich habe den Ehemann auf GesenkteErwartungen.com kennengelernt. Er war der Erste, mit dem ich mich traf, nachdem ich mein Profil angelegt hatte. Bei Lieblingsessen schrieb ich: Tacos. Bei Lieblingsmusik schrieb ich: Cat Power. Ich schrieb alle Geschmackskriterien auf, die die Kluft zwischen mir und jemand anderem überbrücken sollten. Bei Wonach Ich Suche schrieb ich: Ich will jemanden länger als nur ein paar Jahre kennen. Ich will wissen, wie sich das anfühlt. Ich will außerdem nicht fliehen müssen. Damit meine ich, dass ich Beständigkeit will. Ich will beständig sein.
Zu unserem ersten Date trug ich wildlederne Ferragamo-Pumps mit hohem Absatz, dasselbe Paar, das ich zu meinem Collegeabschluss getragen hatte. Es war das Hübscheste, was ich besaß.
In seiner abgedunkelten, mit Vorhängen verhängten Wohnung bat er mich, sie auszuziehen. Er sagte: Mal sehen, wie groß du wirklich bist.
Du willst, dass ich meine Schuhe ausziehe?
Es war drei Uhr nachmittags. Er wohnte in einem der obersten Stockwerke eines Hochhauses in der Innenstadt. Die Luft war abgestanden, als hätte hier sehr lange Zeit niemand gelebt.
Er hielt meine Hände, als ich die Ferragamos abstreifte und offenbarte, sehr klein zu sein.
$$$$$$, sagt der Ehemann jetzt.
Ich komme dem nach und sehe ihn an.
$ $$$$$ $$ $$$$$ $$$$$$$$$$$$$$ $$$$. $$ $ $$$$ $$ $$$$$ $$$$$$$ $$$$$ $$ $$$$ $$$ $$$$$$ $$$$ $$$$ $$ $ $$$$$$$$$ $$$$$$ $$ $ $$$ $$$$$$$$$$ $$$ $$ $ $$$ $$$ $$ $$$ $$$$ $ $$ $$$ $$$$$$ $$$ $$ $ $$$ $$$$$$ $$$ $ $ $ $$$$$ $$$$$$$$ $$$ $$$ $$$$$$$$$. Er spricht schnell, mit rechtschaffener Überzeugung. Wenn einen die Wahrheit schließlich trifft, klingt es ziemlich genau wie der Jackpot beim Glücksspielautomaten.
$$$$$$!, beharrt der Ehemann und packt meine Handgelenke. $$ $$$ $ $$$$$$$$$??!!
Es klingelt an der Haustür.
Darf ich dich bitten, einen Moment zu warten?, frage ich ihn. Nur ganz kurz?
Es klingelt wieder. Ich renne durch den hinteren Flügel zur Haustür.
Beim Öffnen zeigen sich zwei Polizeibeamte, einer groß, einer klein.
Ma’am, wir sind vom LAPD, sagt der Große. Er hält kurz inne. Wie geht es Ihnen heute Abend?
Gut. Kann ich Ihnen helfen?
Wir suchen nach einem Verdächtigen in einem Fall häuslicher Gewalt – eigentlich handelt es sich um eine ganze Reihe Fälle häuslicher Gewalt. Wir haben Grund zur Annahme, dass sich der Verdächtige auf diesem Anwesen aufhält. Der Kleine zeigt mir ein Foto.
Ja, das ist Adam. Er wohnt hier, oder wohnte.
Sie sagen also, dass Adam bei Ihnen untergebracht ist? Der Kleine betrachtet mich aufmerksam. In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?
Er ist mein Exfreund. Er hat hier eine Weile gewohnt. Ich bin mir nicht sicher, ob er immer noch da ist.
Der Große zögert, leckt sich die Lippen. Hat er Sie jemals geschlagen?
Ja, sage ich schließlich.
Wann war das?
Das war … Ich rechne nach, zähle die Jahre. Na ja, mindestens vor zehn Jahren.
Der Große und der Kleine werfen sich einen Blick zu, bevor der Kleine endlich etwas sagt. Das ist verjährt.
Warum wollten Sie dann, dass ich es Ihnen erzähle?, blaffe ich. Ein Bild schießt mir durch den Kopf: ein blutiges Kissen, begraben in einem Koffer, im obersten Fach meines Schlafzimmerschranks.
Ma’am, sagt der Große. Er hat Vorstrafen. Es geht nicht nur um häusliche Gewalt, sondern auch um unerlaubten Waffenbesitz.
Davon wusste ich nichts, sage ich bestürzt. Hätte ich das gewusst, ich hätte ihn nicht hier wohnen lassen.
Der Ehemann kommt zur Tür und steckt den Kopf heraus. Und die Kinder, bereits in ihren Schlafanzügen, ebenfalls.
Was macht ihr denn noch auf?, frage ich die Kinder. Es ist schon spät.
Die Tochter verdreht die Augen. Mom. Es ist erst kurz nach zehn. Was glaubst du, wie alt wir sind?
Diese Polizisten suchen Adam. Habt ihr ihn gesehen?
Ja, gerade eben noch, sagt der Sohn, vor ein paar Sekunden. Er sagte, er müsse wohin.
Ich kümmere mich darum, sage ich.
Ma’am, sagt der Große und tritt vor. Das sollten Sie uns überlassen.
Aber er ist mein Exfreund.
Können Sie uns reinlassen?, fragt er, den Fuß bereits hinter der Türschwelle. Dann brauchen wir keinen Durchsuchungsbeschluss.
Ich zögere. Sie können reinkommen, aber ich werde ihn finden. Die Kinder rennen los zur Hintertür. Wartet!, rufe ich und jogge ihnen hinterher.
Aber ich weiß, wo Adam ist!, schreit der Sohn zurück. Er war eben noch hier!
Ma’am!, ruft der Kleine.
Die Kinder laufen voraus. Sie sind schnell, Bestplatzierte der Schulauswahl in Leichtathletik. Sie sprinten durchs Haus, springen fröhlich über Sofas, Sitzkissen, Sessel, werfen Buffets und Stehlampen um.
Kinder!, rufe ich.
Sie knallen durch die Tür, die zum hinteren Flügel führt, ich bin ihnen auf den Fersen. Sie rennen den geschrumpften Flur hinab, öffnen die verbliebenen Räume. In der Ferne höre ich ein vertrautes, angestrengtes Atmen. Dann schlägt eine Tür zu.
Er ist rausgegangen!, kreischt die Tochter.
Draußen halte ich einen Moment inne, scanne den mächtigen Hügel, der zum größten Teil in unserem Besitz ist, strotzend vor ungezähmter Flora und Fauna. Am Fuß des Hügels verläuft eine Autobahn. Es ist kalt. Unser Atem ist wie Nebel.
Es ist Vollmond. Ihre blonden Haare flattern und umkreisen ihre Köpfe wie Heiligenscheine.
Kinder!, rufe ich wieder. Ich kann andere Schritte hinter uns hören. Ich weiß nicht, wer wem nachläuft. Die Kinder laufen ihm nach. Ich laufe ihnen nach. Der Ehemann läuft mir nach. Die LAPD läuft uns nach. Wir laufen ihm nach.
Er ist nach da drüben!, schreit der Sohn und dreht nach links ab.
Die Kinder verschwinden in dieser Richtung, und trotz meiner Proteste laufen sie weiter, mit dem Ehemann und dem Großen und dem Kleinen nicht weit hinter ihnen. Ich laufe in die entgegengesetzte Richtung, folge einer Intuition, einem Schatten, einer Bewegung, einer Erinnerung. Auf dieser Seite des Hügels sind die Dinge schwerer zu erkennen. Der Boden ist uneben, mit Steinen und Zweigen und Wildwuchs übersät. Dornige Sträucher zerkratzen meine Haut. Mein Oberteil verhakt sich an einer Kiefer. Kieselsteine gelangen in meine Sandalen und zerschneiden mir die Fußsohlen.
Ich glaube, ich kann seinen angestrengten Atem hören, aber ich kann mir nicht sicher sein, ob es nicht vielleicht mein eigener ist. Ich renne immer weiter. Ich renne, bis ich keine Luft mehr bekomme und nicht weiterlaufen kann. Scheiiiiiiße!, schreie ich. Vor meinen Augen verschwimmt alles. Ich habe Seitenstechen. Als ich blinzle und wieder klarer sehen kann, bemerke ich in der Ferne ein einzelnes erleuchtetes Fenster mit einer jungen Frau dahinter. Sie steht in ihrer Küche in El Paraiso, barfuß in einem Sommerkleid. Es ist Freitagabend. Sie wird ausgehen. Sie zieht Schuhe an, eine Jacke. Sie blickt aus dem Fenster, und für einen kurzen, unwahrscheinlichen Moment hätte ich schwören können, dass sie mich ansieht. Dann schaltet sie das Licht aus.
Da sehe ich ihn hinter einem Baum stehen, nur wenige Meter entfernt. Ich sehe seinen Körper, nicht so groß und kräftig, wie man erwarten würde, aber auch nicht schlaksig. Ich sehe sein Gesicht, das den Babyspeck immer noch nicht ganz verloren hat. Die hellen Augen, das dunkle Haar. Die Lippen immer bereit zu einem Lächeln, immer darauf erpicht zu sagen, dass alles wieder gut werden wird, immer schnell mit dem Versprechen, dass es nie wieder geschehen wird. Wir sind erstarrt, betrachten einander. Er atmet gleichmäßig und vorsichtig. Seine Finger legen sich unruhig auf die Baumrinde. Ich kenne seinen Atem, als wäre es meiner. Ich kenne seine Hände mit ihren zerschlissenen Knöcheln, als wären es meine.
Als er hinter dem Baum hervortritt und sein Gesicht durch den Schatten gleitet, ist es fast, als wolle er mich begrüßen, wie alte Freunde sich nach Jahren der Trennung begrüßen. Vielleicht wird er mich auf einen Kaffee einladen, und wir klären das alles bei Starbucks. Er macht einen Schritt nach vorn, geht aber nicht weiter, er will mir nur zeigen, dass er es kann, und erst da wird mir klar, wie verletzlich ich bin. Ich bin allein.
Und trotzdem.
Stopp!, rufe ich.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht verändert sich. Er rennt wieder los, und das sagt alles. Ich stürme den Hügel hinab, sprinte so schnell ich kann, beschleunige so sehr, dass ich nicht weiß, ob ich renne oder einfach taumele, ob ich falle. Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn ich ihn tatsächlich erwische. Ich kann ihn nicht festhalten. Ich kann ihn nicht verhaften. Aber ich bin ihm nahe genug, um die Gänsehaut auf seinen Armen zu sehen, und erst, als ich ihm so nah bin, wird mir klar, wie sehr ich ihn fangen will. Ich will ihn mit den Zähnen zerreißen. Ich will auf ihn draufkotzen und ihn mit meiner Magensäure überziehen. Ich will eine Million Babys in ihm entfesseln und ihm ihre Aufzucht aufbürden.
Ich jage ihn in Richtung des Freeways, der Ampeln, Autos hupen, aus den Radios dringt ein Songbrei über Liebeskummer und Untergang, Liebeskummer und Erinnerung, Liebeskummer und Hass, darüber, dass er die größere Intimität sei.
Ich strecke die Hand aus und berühre fast sein Oberteil. Ich kann die Wärme seiner Haut spüren, ich kann seinen Schweiß riechen. Er springt von mir weg.
Aber ich bin nah dran. Ich bin ganz, ganz nah.
Als ich eines Abends aus dem Büro kam, sah ich Adam aus der Drehtür des gegenüberliegenden Wohnhauses kommen. Er wandte sich nach links in Richtung der Hauptstraße. Er sah mich nicht. Ich wartete einen Moment, gab ihm Zeit, sich in der Menge zu verlieren.
Ich überlegte, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, meinen Zug von einer anderen Haltestelle zu nehmen, aber dann dachte ich: Wenn irgendjemand einen Umweg machen sollte, dann er und nicht ich.
Er arbeitete in der Gegend. Als ich ihn das letzte Mal sah, erzählte er mir, er sei bei einem Hundesitterservice angestellt, der für wohlhabende Klienten in der Innenstadt tätig sei. Den ganzen Tag gehe er in ihren Hochhaus-Wohnungen ein und aus, hole ihre Zuchthunde mit Stammbaum ab, um mit ihnen Gassi zu gehen und zu spielen. Es war so lange her, seit ich ihn gesehen hatte, dass ich einfach davon ausgegangen war, seine Lebensumstände hätten sich geändert, er hätte einen neuen Job oder wäre in eine andere Stadt gezogen.
Ich setzte meinen üblichen Weg zum Bahnhof fort, und da sah ich ihn wieder. Vielleicht war er es gar nicht. Aber als wir an einer spiegelnden Oberfläche nach der anderen vorbeikamen – glänzend schwarze SUVs, Luxusgeschäfte – war klar: Es war sein Profil, seine nachlässige Haltung, sein plattfüßiger Gang. Die ausgefransten Jeanssäume schleiften über den Gehsteig.
Er blieb vor dem Laden einer Bekleidungskette stehen, in den Schaufenstern gesichtslose Puppen in Wollmänteln, gesprenkelt mit falschen Schneeflocken. Ich ging langsamer, versuchte, ein paar Schritte Abstand zwischen uns zu halten. Es war egal, denn als er den Türgriff losließ, weil er sich entschieden hatte, doch nicht hineinzugehen, sah er mich direkt an.
Ich erstarrte.
Er hielt eine Sekunde lang meinem Blick stand, wandte sich dann ab und ging die Straße hinunter. Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass mein Schal die Hälfte meines Gesichts verbarg.
Seine Ahnungslosigkeit machte mir Mut. Wir gingen am Bahnhof vorbei. Ich folgte ihm in einiger Distanz. Immer wieder ließ ich ihn vorgehen, er wurde kleiner und verlor sich fast aus meinem Blick, und dann ging ich schneller, um aufzuholen. Immer, wenn ich gerade dachte, ich hätte ihn verloren, erschien er wieder in meinem Blickfeld.
Die E-Mail hatte mich vor ein paar Jahren erreicht. Sie landete nachts in meinem Posteingang. Die Schreiberin nannte sich Christine, eine Exfreundin von Adam. Sie waren lose befreundet gewesen, bevor sie miteinander ausgingen, und dann war er bei ihr eingezogen, schrieb sie. Nach einem Vorfall bei ihr zu Hause, so teilte sie mir mit, war er verhaftet und wegen schwerer häuslicher Gewalt und zwei weiterer Vergehen angeklagt worden. In der E-Mail wurde dann jede der drei Anklagen mit Details dessen, was er getan hatte, aufgeführt. Dass »er mich gewürgt hat, bis ich fast ohnmächtig wurde«. Dass »er mir ins Gesicht geschlagen hat, unter anderem«. Ihr Sohn war es, der den Notruf gewählt hatte.
Dass ich mit Adam eine Beziehung hatte, lag schon sehr lange zurück. Ich war damals in meinem zweiten Jahr am College, und er war mein Vorgesetzter in einem Restaurant, in dem ich jobbte. Die Nachricht war sowohl aufschlussreich als auch wenig überraschend.
Christine formulierte ihre Bitte vorsichtig: Statistisch gesehen bestand die Wahrscheinlichkeit, dass Adam auch mir gegenüber gewalttätig gewesen sei. Es würde ihrem Fall helfen, wenn sie Aussagen über ähnliche Erfahrungen mit ihm aus früheren Beziehungen sammeln könne. »Auch wenn alles, was er Ihnen angetan hat, schon verjährt sein mag, wäre eine Aussage bezüglich ähnlicher Taten im laufenden Fall als Beweis für seine Gewaltbereitschaft zulässig.« Sie stellte klar, dass sie sich nicht anmaße, etwas darüber zu wissen, was zwischen mir und Adam vorgefallen sei, aber.
War mit etwas Ähnliches zugestoßen?
Die E-Mail enthielt außerdem das Aktenzeichen, die Kontaktdaten des stellvertretenden Staatsanwalts, der den Fall bearbeitete, und einen Link zur Website des Bezirksgerichts, wo ich Adams Namen eingeben und die Gerichtsakten einsehen konnte.
Ich klickte auf den Link. Ich suchte nach seinem Namen.
Ich gelangte zu seiner Kriminalakte mit einem Polizeifoto von seinem inzwischen aufgedunsenen Kindergesicht. Nur, wenn ich ganz nah heranging, konnte ich ihn erkennen. Er sah nicht direkt in die Kamera, sondern ein wenig daran vorbei. Der Blick seiner hellen Augen war abwesend, als hätte er sich aus seinem Körper gebeamt. Und doch grinste er, ganz leicht nur, als wäre es seine heldenhafte Entscheidung, im Angesicht des »Systems« widerständig zu bleiben.