Kulturrevolution - Ling Ma - E-Book

Kulturrevolution E-Book

Ling Ma

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Beschreibung

Ich denke oft an Erlebnisse aus meiner Kindheit und Jugend in China, die ich in vier Erzählungen niedergeschrieben habe. - An meine Freundin Schuang und ihren Bruder, der zu Anfang der Kulturrevolution in die schwierigen Zeiten hinein wuchs, auf die schiefe Bahn geriet und den wir trotz aller Liebe und Fürsorge am Ende nicht vor der Todesstrafe bewahren konnten. - Wie war die Beziehung zwischen uns drei oder vier jungen Menschen in der Zeit der Kulturrevolution, der Zeit epochaler Umwälzung? Liebe und Hass, Leben und Tod, traten in unser Leben. - Sunda war einst mein Chef, ein starker, aufrichtiger und verantwortungsvoller Mann. Als ich ihn 15 Jahre später wiedertraf, war er total verändert und ein Schatten seiner selbst. Was war der Grund? Jetzt lebte er in völliger Abhängigkeit von seiner Frau und hatte sein eigenständiges Leben aufgegeben. - Was ist eine außergewöhnliche Frau in China? Bailan ist so eine. Sie ist voller Treue in Liebe und Freundschaft. Sie geht konsequent ihren Weg, überwindet die größten Schwierigkeiten, ohne sich selber untreu zu werden und findet doch noch ihr Glück.

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Seitenzahl: 398

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Der Tod begleitete mein Leben

Arbeiten auf dem Land statt Studieren in der Stadt

Kommunismus ist unsere Religion

Bailan

Teil

Teil

I. Der Tod begleitete mein Leben

Vergangenheit ist Heimat

Ein Ereignis meiner Kindheit umrankte wie eine Pflanze mein ganzes Leben. Auch der Lauf der Zeit, vermag die Erinnerung daran nicht entfernen!

Geschehen während einer drei Jahre dauernden Hungersnot -1959,1960 ,1961- Jahre der Dürre. China als großes Agrarland hatte durch diese Dürre mehrere aufeinanderfolgende Missernten mit anschließenden Hungersnöten, die das Leben vieler Menschen bedrohten. Die daraus erwachsenen Probleme standen damals ganz oben auf der Tagesordnung der Kommunistischen Partei.

Parallel zu dieser Katastrophe hatten sich die politischen Beziehungen Chinas zur Sowjetunion verschlechtert, und China war gezwungen, alle Schulden in Form von Lebensmitteln, Waffen und Munition sofort an diese zurückzuzahlen. Dadurch wurde die bestehende Hungersnot noch verdoppelt. Besonders in den ländlichen Gebieten, wo damals die Menschen überwiegend lebten, erheblich verschärft.

Wir hatten das Glück, im Campus zu leben, da unsere Eltern Intellektuelle waren und aufgrund dieses Status eine besondere Fürsorge des Staates genossen. Außerdem waren unsere Eltern sehr sparsam und legten Nahrungsmittelvorräte für uns an. Wir hatten also genug zu essen, so dass wir den Hunger nicht kennenlernen mussten und bis dahin auch nicht von der Hungersnot auf dem Land erfuhren.

In dieser Zeit spielte ich gern mit Jian Lau, einem Nachbarmädchen, auf einem großen Spielplatz, ursprünglich Sportplatz der Universität. Trotz des Hungers im ganzen Lande hatte sich niemand um diese Wiese gekümmert und so war eine Wildwiese mit bunten Blumen und Gräsern in allen erdenklichen Grüntönen entstanden, die sich weit bis an den Horizont erstreckte: Gelber Löwenzahn wechselte mit weißen Margeriten, violetten Nelken und rotem Mohn auf grünem Grund. Ihr Anblick glich einer Tuschezeichnung.

Im Sonnenschein folgten unsere Augen dem Flug der Bienen, dem Bogen des Heuschreckensprungs von Halm zu Halm. Ein Halm beugte sich, hinter den Halmen hervor kam eine Gottesanbeterin auf uns zu, sie schwenkte ihre beiden Füße wie zwei Schwerter. Wir Mädchen streckten gleichzeitig die Hände aus, fingen die Gottesanbeterin und nach ihr noch viele andere Insekten.

Jian Lau befahl mir: „Gib Deine Insekten alle mir!“. Es war ihr verboten, sich schmutzig zu machen, deswegen fing sie sehr wenig. Es waren nur 10 oder 12 Insekten in dem durchsichtigen Glas, das sie in ihrer Hand hielt. Wie sie so stand, war sie sehr schön anzusehen, sie trug ein neues rotkariertes Kleid, ihr Haar hatte das Kindermädchen zu zwei dicken, glänzenden Zöpfen geflochten.

Ich hatte das eigentlich nicht beabsichtigt, aber um ihr zu gefallen, fing ich viel mehr Insekten als sie, es waren etwa 6080 in meinem Körbchen. Und so gab ich in ihre andere Hand meinen Bambuskorb, Ich trug die abgelegten Kleider meiner Mutter, eine alte, graue, geänderte Jacke, die war vom Spiel bestäubt mit grünen, roten und gelben Pollen der Gräser. Mein Haar, sehr kurz geschnitten, stand zerzaust um den Kopf herum. Mein Gesicht hatte nicht so feine Züge wie ihres. Der liebe Gott hatte eben auf mein Aussehen viel weniger Mühe verwendet. Deswegen mit Jian Lau spielen kann, war damals in meine Seele meinen größten Wunsch.

Aber es überraschte mich, als Jian Lau meinen Korb nahm, auf einen Grashügel kletterte und den Korb mit der Öffnung nach unten stülpte. Sie wartete bis die kleinen Insekten unter dem Rand des Korbes hervorkrochen, dann tötete sie sie, indem sie auf ihnen herumtrampelte, sie mit Händen entzwei brach, Beine und Köpfe abriss, so dass ihre Finger ganz schmierig davon wurden. „Was tust Du?“ Rief ich und ein heftiger Schmerz über ihre Grausamkeit durchzuckte meinen ganzen fünfjährigen Körper. Hastig versuchte ich, sie an ihrem Tun zu hindern, hatte aber nicht bedacht, dass sie stärker war als ich.

Jian Lau stieß mich beiseite und gewann so Raum, noch mehr von den kleinen Tieren zu töten, lachte darüber, warf sie hoch in den Himmel, wo im Westen bereits die Sonne unterging und die toten Tierchen sich als schwarze Punkte vom Horizont abhoben und wieder herunterfielen.

Ich sammelte aus dem Gras die verletzten Insekten. Ein Blick auf ihre geschundenen Körper genügte mir, Die Tränen die heiß über mein Gesicht liefen.

Schnell rupfte ich etwas Gras, versuchte die Wunden zu verbinden, die fehlenden Beine, Flügel und Köpfe zu verdecken, richtete Gras zu einer Lagerstatt, um das Leben der verletzten Insekten zumindest bequem zu gestalten. Daneben befürchtete ich deren Entdeckung durch andere Tiere, und so umgab ich das Lager mit einem Wall aus Ziegeln und Steinen.

Als ich mein „Krankenhaus“ fertig gebaut hatte, kamen zwei Studentinnen auf einem Abendspaziergang vorbei. Die eine wurde vom Lachen Jian Laus angelockt, ging zu ihr hin, sah, was sie getan hatte und rief: „Oh, isst du kleine Tiere?! Nein!! Sieht das nicht ekelig aus?“ Die Andere kam ebenfalls und pflichtete ihr bei. „Tu doch so etwas nicht! „Hör damit auf!" Beide versuchten sie, Jian Lau am Töten der Tiere zu hindern.

Jian Lau, immer noch lachend, beachtete sie nicht und warf noch mehr verletzte Tiere, Heuschrecken, Gottesanbeterinnen und andere Insekten, in die Luft.

Während ich mich auf meine Rettungsarbeiten konzentrierte, kamen die beiden Studentinnen zu mir. Die Beiden schauten mich von hinten eine länger Zeit an, so dass sich ihr Atem auf meiner Schulter gleichmäßig ausbreitete: „Was machst du hier?“ Fragte die eine mit sanfter Stimme. Ich war beschäftigt und hatte keine Zeit zu ihr hinzuschauen: „Kannst Du es nicht selbst sehen“, antwortete ich bissig: „Ich baue ein Krankenhaus.“

„Alle sind nicht zu retten, alle sind tot.“ Mit heiserer Stimme stieß ich hervor: „Sie sind nicht verloren! Doch, doch viele davon sind noch lebendig, hier, diese und diese.“ Ich deutete auf die Tiere, welche sich noch bewegten. „Ihr hattet jetzt Zeit sie anzusehen, könnt ihr denn nicht den anderen Tierchen helfen, so viele wie möglich retten oder einfach fortgehen, wenn ihr das nicht wollt. Sie, ich zeigte auf Jian Lau, und sagte fassungslos: Lassen Sie sie nicht noch mehr Insekten töten.“

„Also, Du möchtest sie retten, während diese dort Schaden anrichtet?“ Die Studentin mit der zarten Stimme hatte plötzlich verstanden: „Ja, oh ja, wir helfen Dir. Wir verbinden auch die Wunden! Wir retten auch die kleinen Tierchen.“ Die beide wurden ganz aufgeregt, nahmen die verletzten Insekten und versorgten ihre Wunden. Eine sagte etwas zur anderen, während sie mal zu mir, mal zu Jian Lau schauten. Es war ihnen offenbar wichtig, die Lehren aus dem Studium bei uns praktisch anwenden zu können.

„Gefällt sie Dir?“ Fragte mich nach kurzer Zeit die schöne Studentin und ihr Finger zeigte auf Jian Lau.

„Ja, sie ist doch meine Freundin.“ Damals war ich noch sehr stolz auf sie.

„Aber sie quält und tötet doch kleine Tiere.“

„Dann mag ich sie nicht.“

„Höre mir zu“, die schöne Studentin kniete neben mir nieder, sah mir in die Augen und sagte: „Du solltest nicht mit ihr zusammen spielen. Sie wird Dir schaden.“

„Es wird nichts passieren.“ Daran glaubte ich. Aber sie sieht wirklich sehr schön aus. Ich war überaus besorgt, die Beiden könnten mich als hässlich ablehnen. Ich blinzelte mit den Augen, versuchte ihren Blicken auszuweichen. Zum Glück war für die Beiden mein Aussehen nicht so wichtig. „Wir schauten die Tierchen an, sie leiden Schmerzen wie Du!“ Darüber musste ich lächeln, schüttelte ungläubig den Kopf und brummte: „Sie wird mir nichts tun! Das glaube ich nicht. Nein! Das wird Sie nicht tun!“

Die Studentin war aufgeregt und mit beiden Händen schüttelte sie mich an der Schulter: „Du musst mir glauben! Sie wird Dich später bestimmt auch verletzen! Warum glaubst du mir nicht? Alle Menschen auf der Welt sind nicht so gutmütig wie Du! Glaube mir!“ Der Geruch ihres Parfüms streifte mein Gesicht, ein Hungergeruch bedrängte mich und ihr immer derberes Schütteln. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen: „Ich glaube Dir! Ich------oh! Du hast mir wehgetan!“

Das andere Mädchen zog sie schnell weg: „Du sollst das Kind nicht erschrecken!“

„Ich will ihr etwas sagen, ich will ihr etwas von meiner Erfahrung berichten, damit sie später nicht wie“, sie schluchzte, „wie ich, vom liebsten Freund, von meinem lieben Mann verraten wird. Ich kann das noch nicht glauben. Weißt Du, als er so etwas sagte, ich traute meinen Ohren nicht!“ Sie weinte, die Hand vor dem Mund, „hu, hu“ und das andere Mädchen umarmte sie schnell und flüsterte ihr etwas Tröstliches zu.

Als Jian Lau nach einiger Zeit bemerkte, dass sie von uns nicht mehr beachtet wurde, nahm sie all die verletzten Tiere, kam zu uns und reichte sie mir. Ich fasste sie mit beiden Händen, aber es waren viel zu viele für meine geringen Rettungsmöglichkeiten. Wie lange sollte ich alle Wunden verbinden? Ich war einen Augenblick fassungslos.

Eine der Studentinnen, die weniger Hübsche, erkannte meine Not. „Gib mir die Hälfte Deiner Insekten, wenn es Dir zu viele sind. Lass uns Dir helfen. Ist es gut so?“

„Natürlich ist es gut!“ In meinem fünfjährigen Leben hatte noch niemand nach meiner Erlaubnis gefragt: „Ist es gut oder nicht?“ Ich fühlte mich unterstützt und war darüber sehr überrascht, darum nickte ich schnell.

Die Studentinnen entfernten sich mit den verletzten Heuschrecken. Jian Lau und ich, jede von uns spielten nun ihre eigenen Spiele allein. Hier auf der großen grünen Wiese, wo wir als Kinder so viel Spaß hatten, wurde die Traurigkeit der Erwachsenen gleich verschluckt.

Plötzlich trug der Wind den Geruch von gebratenem Fleisch herüber. Damals hatten viele Menschen nicht genügend zu essen. Der Geruch von gebratenem Fleisch war ein ganz unbegreiflicher Duft und reizte so den Appetit eines jeden hungrigen Menschen!

„Ich gehe um nachzusehen, woher er kommt.“ Jian Lau, immer einen Schritt voraus, sprang auf und rannte los. Bis sie plötzlich rief: „Aha, wie ekelhaft, die essen Heuschrecken, komme schnell gucken, Du! Die beiden Ungeheuer essen Grashüpfer!“

„Schrei nicht so!“ Ärgerlich herrschten die Studentinnen Jian Lau an: „Man muss sich hüten vor so einer Kleinen mit einem so bösem, bösem Herzen. Es wird noch größer und böser werden. Hau ab!“

„Heuschrecken essen, schamlos, Heuschrecken essen, das sind Ungeheuer!“ Schrie Jian Lau laut.

Ich rannte dorthin, auch für mich war das schrecklich anzusehen. Damals gab es noch keine Nahrungswissenschaft, niemand glaubte, solche Insekten essen zu können. Es war für uns sehr ungewöhnlich. Ich schrie gemeinsam mit Jian Lau: „Ungeheuer! Heuschreckenfresser!“

„Du darfst nicht schreien!“ Die hübsche Studentin schimpfte mich aus: „Ich habe Dir gesagt, nie sollst Du mit diesem Mädchen zusammen spielen! Du ahmst sie doch nach, das tut meinem Herzen weh! Verstehst Du mich?!“ Schnell schloss ich den Mund. Jian Lau war mir gefolgt und schwieg nun ebenfalls.

Danach, spät am Tag, waren wir auf dem Heimweg, einer geraden endlosen Straße, auf der wir den Vater von Jian Lau trafen. Er redete, lachte mit einigen Leuten, während er vom anderen Ende der Straße auf uns zukam.

„Onkel, wie geht’s dir?“ Ich freute mich wie eine Schneekönigin. Ihr Vater hatte immer ein so liebes Lächeln für uns.

„Papa, heute haben wir zwei Leute gesehen, die Heuschrecken gegessen haben, stell Dir vor, Heuschrecken!“ Gerade in diesem Augenblick sah Jian Lau die beiden Studentinnen herüberkommen. Sie wies mit den Fingern auf sie und schrie: „Da sind sie, die essen Heuschrecken und Gott----!“

„Was, Sie essen diese Dinge, ist das nicht ekelhaft?“ Der Vater staunte, lächelte aber immer noch.

„Nein! Wir können nicht wählerisch sein. Wir haben einfach nicht genug zu essen.“ Die hübsche Studentin sagte mutig: „Es gibt überhaupt kein Essen mehr in ihrer Heimat.“ Sie zeigte auf die andere Studentin: „Ihre Großmutter ist verhungert, sie hatte es vorher ihrem Vater angekündigt. Nach ihrem Tod war ihr Vater nicht zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei ihres Dorfes gegangen um es zu melden, sondern hatte selbst ihre Großmutter gekocht, damit die Familie überleben konnte. Sie hatte fünf Geschwister, die überleben mussten! Aber der Parteivorsitzende behandelte ihren Vater wie einen Verbrecher, weil er die anderen Dorfbewohner nicht von der Großmutter hatte mitessen lassen. Ihr Vater wurde später für geisteskrank erklärt.“ Ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut, schaute auf die weniger hübsche Studentin. Diese weinte, ihre Begleiterin weinte auch und erregte sich: „Was bedeutet es ‚ der Sozialismus ist die beste Ordnung für China‘?! Die Existenz der Menschen ist nicht gesichert. Ich will sagen, der Sozialismus passt einfach nicht zu China!“ Die andere Studentin versuchte schnell diese Worte zu verhindern, aber es war schon zu spät.

„Sie hat auch noch gesagt, ich habe ein schlechtes Herz“, meinte Jian Lau zu ihrem Vater.

„Wenn du ein gutes Herz hättest, würdest Du nicht den Tierchen schaden“, sagte die hübsche Studentin kühl und ernst zu Jian Lau. Eine Grimasse der Wut überzog das Gesicht des Vaters und es wurde weiß wie Schnee.

„Guck mal, das Sicherheitsbüro ist noch geöffnet. Wie kann hier jemand auf der Straße, öffentlich über unseren Kommunismus so schlecht diskutieren!“ Der Vater von Jian Lau war Vizedirektor in unserer Universität, darum würden viele Leute seine Argumente übernehmen und eben nach seiner Pfeife tanzen.

Auf seine Anweisung wurden die beiden Studentinnen zum Sicherheitsbüro gebracht und eingesperrt.

Seit diesem Tag durfte Jian Lau nicht mehr aus dem Haus. Ihr Vater ließ sie vor Büchern sitzen und zwang sie mit hartem Herzen und mit eisernem Willen zu lesen, zu rechnen und mit Wörtern zu spielen. Man sagte, Wissenschaft könne die Seele der Menschen reinigen. Jian Lau zeigte im Alter von dreißig Jahren das Ergebnis dieser Erziehung. Sie wurde ein gutes Beispiel für diesen Spruch, es schien, als habe sie Herz und Seele verloren.

Aber mein lieber Vater nahm mir meine Kindheitsfreuden nicht so früh. Ich blieb allein auf der großen Wiese, mit grünem Gras, wilden Blumen und Bäumen, mit Insektenfamilien. Ich konnte träumen und bauen und meine Kindheit bis zu ihrem Ende genießen.

Allmählich breitete der Herbst seinen blassen Sonnenschein über das Land.

Eines Tages, ich war gerade auf der Wiese und überlegte: Wohin sollte ich wegen der kommenden Winterkälte mit meinem Krankhaus umziehen? Da kam die eine Studentin von der anderen Seite der Wiese zu mir: „Bist Du allein hier? “ Fragte sie und ich nickte.

„Du bist so klein und versteckt unter dem Grün. Wenn man nicht genau nach Dir sucht, kann man Dich überhaupt nicht finden. Ich habe hier schon ein paarmal nach Dir gesucht, Dich aber nie gesehen.“ Sie sprach vertraulich. Sie war zwar nicht so hübsch wie ihre Freundin, aber trotzdem sehr sympathisch. Ich hob meinen Kopf, damit ich sie ansehen konnte. Sonnenlicht strahlte über ihren Kopf zu mir, ihr Gesicht sah aus wie eine Sonnenblume, sodass ich unwillkürlich lachte. Wir beide lächelten einander an. Dann schaute ich suchend hinter sie. „Sie wird nicht mehr kommen, sie ist tot.“ Die Studentin wusste, wen ich suchte als sie das zu mir sagte.

„Sie------?“ Ich schluckte: „Wie kann sie tot sein? Sie war so hübsch!“ Plötzlich wirbelte der Wind trockene Erde um meine Füße herum, bestimmt waren das die Geister all der toten Insekten, deren Gräber ich zu flach gegraben hatte.

„Unsinn, was Du da sagst!“ Sie schaute mich eindringlich an: „Du weißt nur, was schön oder nicht schön ist. Weißt Du auch, was das Leben eigentlich bedeutet?“ Sie drängte sich ganz nah an mich heran, die gelben Blätter fielen hinter ihr von den Bäumen herab und auch sie fiel wie ein Blatt zu Boden. Sie schaute mich an, sie murmelte: „Ich möchte wirklich das frühere Leben zurück, immer so kindlich bleiben wie du, immer so sorglos." Die Abendstimmung machte sie plötzlich sehr traurig. „Sie hat die Nahrung verweigert, es war Selbstmord.“

„Nein!“ Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. „ Nein!“

„Niemand hat sie geschlagen, nur mit ein paar Worten kritisiert. Sie wollte nicht mehr leben, denn ihr Freund hatte sie verraten“, seufzte sie. „Auf einer Gruppenversammlung an der Universität mussten alle einander anzeigen, sonst durfte die Versammlung nicht beendet werden. Ihr Freund verriet ein paar kritische Sätze, die sie ihm irgendwann anvertraut hatte. Sie konnte dieses Verhalten nicht verstehen, einfach nicht ertragen. Sie hörte auf zu essen. „Die Studentin seufzte noch einmal: „Als wir sie zum Krankenhaus brachten, war es schon zu spät. Was sie dann essen musste, erbrach sie gleich wieder. Kurze Zeit später starb sie.“ Sie weinte, drängte sich noch näher zu mir, als wollte sie sich meines Schutzes versichern.

Ich war in meiner kleinen Seele tief erschüttert: „Sie war so hübsch, sehr hübsch, so besonders hübsch!“ Ich konnte nur diese Worte immer wiederholen. „Darum ich sage Dir, Mädchen, man soll nicht alles zu genau nehmen, hauptsächlich optimistisch denken und möglichst leicht leben. Gut oder schlecht sind relative Begriffe. Sie konnte das nicht verstehen. Für sie gab es entweder sehr gut oder sehr schlecht. Gut oder schlecht waren für sie absolute Kategorien. Wenn sie fand, Du bist gut, dann hattest Du in ihren Augen überhaupt keine Nachteile, sie wollte diese nicht sehen. Bevor sie starb, bat sie mich, ich solle Dir ihre Meinung sagen: Du sollst nicht so gutmütig sein, wie du bist, sonst werden Dich viele Leute ausnutzen. Nicht mit dem anderen Mädchen spielen, sie wird dich später-----.“ Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war ich schon fortgelaufen, so schnell wie ich konnte, als ob hinter mir der Teufel her war. Ich folgte dem Weg auf dem viele Heuschrecken, Gottesanbeterinnen und andere Insekten davonsprangen, um meinen Tritten zu entkommen. Aber wovor versuchte ich auszuweichen?

„Kleines Mädchen, alles ist eine Fügung des Schicksals. Erinnere Dich, oh, bleib stehen!“ Sie rief laut hinter mir her.

Dann schloss ich meine Herbstarbeiten auf der großen Wiese wegen meiner Angst vor dem Leben und der Gesellschaft ab. In meinem Unvermögen, das alles zu begreifen, vertraute ich mich nur meinen Eltern an. Eine Zeit lang weinte ich jeden Tag und meine Eltern bemühten sich sehr um mich. Die ständige Angst vor dem Sterben begleitete mich wie ein Schatten und engte mein Leben ein. Ich weinte und weinte------. Meine Eltern gingen mit mir zur Bibliothek, erschlossen mir die Welt der Bücher in der Hoffnung, das Lesen und die Bekanntschaft mit anderen Schicksalen würden mir helfen, meine Verzweiflung zu überwinden.

Diese Kindheitsereignisse jedoch sollten ein Grundstein auf meinen Lebensweg werden, mit dem ich langsam reifen konnte.

Eines Tages traf ich Schuang durch Zufall. Damals sprachen alle Leute der Universität mitleidig über ihre Familie. Die Mutter von Schuang starb bei der Geburt des fünften Kindes, und so blieb der Vater mit fünf Kindern allein. Das jüngste Baby wurde sofort weggegeben, also gab es noch vier Kinder, deren Ältestes Schuang Schuang, vierzehn Jahre alt war, zwei Jahre älter als ich.

„Chang he, was machst du da?“ Schuang Schuang sah mich und rief gleich von weitem, während sie mir mit ihren vielen Begleitern zu Fuß entgegenkam.

„Ich spiele! Und Du? Was machst Du denn?“ Ich war so froh, dass mich jemand ansprach. „Ich bringe meine Mutter nach Hause“, antwortete Schuang Schuang.

„Deine Mutter?“ Ich war schockiert, lief herum und suchte: „Wo ist sie? Ist sie nicht tot?“ Alle Begleiter lachten über meine kindische Dummheit. Schuang lachte am lautesten, sie war ein gesprächiges, witziges Mädchen. War ihre Mutter doch gerade an den schwerwiegenden Folgen einer Entbindung gestorben, so war ihr noch nicht klar, dass die Erwachsenen von ihr jetzt forderten, sie solle ernst sein, sich eine lange Zeit des Lachens und Redens enthalten. Schließlich, in der Lage endlich lachen zu dürfen, fühlte sie sich frei. Sie lachte, zog mich zu sich, zeigte auf ihrer Mutter Urne und sagte zu mir: „Meine Mutter schläft dort.“

Die Urne war eine schwarz lackierte, rechteckige Holzkiste mit Drachen- und Phoenix-Schnitzereien. Gehalten von einem Paar kleiner Jungenhände, die leicht zitterten und über die sich ein verbittertes Gesicht mit gerunzelter Stirn und einem zum Weinen geöffneten Mund beugte.

„Du kannst das nicht mehr tragen“, sagte ich und versuchte die Holzkiste zu nehmen. Sein Gesicht entspannte sich etwas.

„Nein, nein!“ Die Erwachsen hinderten mich sofort daran: „Es ist seine Mutter, er ist der einzige Junge in dieser Familie, es ist seine Aufgabe, die eigene Mutter nach Hause zu bringen“, sagte der Vater von Schuang streng.

„Ich kann nicht mehr tragen, ich kann nicht mehr------.“ Er weinte, blieb stehen und, wechselte die Last auf die andere Hand.

„Eine so kleine Schwierigkeit kannst Du nicht überwinden, später gibt es viel schwerere Probleme im Leben, was willst Du dann machen? Weinen hilft nichts!“ Mitleidlos sagte der Vater: „Pass auf, gib Dir Mühe! Wenn Du Deine Mutter fallen lässt, werde ich Dich umbringen!“ Der Vater war gnadenlos zu seinem einzigen Sohn.

Ich schwieg und ging an der Seite von Schuang mit ihnen, beobachtete den Bruder von Schuang, dessen Tränen mit Schweißtropfen vermischt auf die Urne seiner Mutter fielen. Es tat meinem Herzen weh! Endlich kam mir ein rettender Gedanke. Ich ging auf des Bruders Seite und löste den Schal von meinem Hals. Damals trugen die Frauen immer viereckige Schals. Ich faltete ihn dreifach übereinander, schob ihn unter der Kiste hindurch auf die andere Seite zu Schuang und ließ sie diese Seite fest in die Hand nehmen. Ich hielt die andere Seite des Schals fest und wir zogen von beiden Seiten den Schal straff, so dass sich das Gewicht in den Händen ihres Bruders plötzlich erheblich verringerte. So war es ihm möglich, nur mit einer Hand die Urne aufrecht zu halten. Des Bruders Gesicht verzog sich langsam zu einem überraschten, zufriedenen Lächeln. Ich schaute stolz zu Schuang, sie schenkte mir ein dankbares Lächeln. Die Erwachsenen, ihr Vater, die Verwandten und Freunde, alle hatten unser Lächeln gesehen, aber alle taten so, als hätten sie es nicht bemerkt.

So kamen wir zum Haus von Schuang .

Zu Hause sahen alle zu, wie der Bruder die Urne der Mutter langsam auf den Tisch stellte. Alle Erwachsenen und Kinder waren hungrig. Der Vater legte das schlafende Kind auf das Bett, wandte sich zu Schuang und sagte: „Ab heute wirst Du für die ganze Familie kochen, es ist jetzt Deine Aufgabe. Schicke Deine Freundin nach Hause, Du hast keine Zeit mehr, mit ihr zu spielen.“ „Ich kann Gemüse waschen“, sagte ich schnell zu ihrem Vater. Als Freundin, die ebenso gern lachte wie Schuang, wollte ich nicht so einfach aufgeben und mich wegschicken lassen.

„Sie kann Gemüse waschen.“ Schuang wollte sich auch nicht von mir verabschieden und nickte ein paar Mal ihrem Vater zu. Schnell holte sie einen Korb, der an der Decke hing, gefüllt mit Gemüse und wollte ihn mir geben. Aber ihr Vater nahm der Korb und bestimmte dann: „Das Gemüse kann Dein Bruder waschen“ und er gab den Korb dem Bruder. „Jetzt seid ihr beide groß, müsst alle Hausarbeiten erledigen. Die Zeit der Spiele ist vorbei!“

Der Bruder nahm den Korb, murmelte: „Ich bin so erschöpft“, gab mir den Korb und ließ sich dann auf das Bett fallen. Ich nahm den Korb, ging zum Becken, verschloss es mit einem Stöpsel und ließ Wasser einfließen. Dann legte ich alles Gemüse hinein und fing an zu waschen.

Der Vater seufzte: „Lässt ein Kind einer anderen Familie unser Gemüse waschen, das ist nicht richtig.“ „Du, nimm das nicht zu ernst, die Kinder möchten bloß zusammen spielen.“ „Ja, Kollege Liu, für Kinder ist alles wie ein Spiel, Hauptsache sie sind zusammen!“ So trösteten die Leute den Vater. Er sagte nun nichts mehr. Auch wenn er etwas dagegen hatte, es war jetzt für mich unwichtig. Ich krempelte die Ärmel auf, nahm die Stücke des Blattgemüses aus dem Wasser, um sorgfältig jedes Blatt zu waschen. Das Wasser plätscherte sehr laut und übertönte das Schnarchen des Bruders. Glücklicherweise wurde zu dieser Zeit kein Wassergeld kassiert, sonst hätte die Familie sehr viel Geld für das Wasser bezahlen müssen, das ich für das Gemüsewaschen verbrauchte. Nach dem Abwasch wandte ich mich vom Waschbecken ab, als plötzlich die Anwesenden Überraschungsschreie ausstießen: „Oh, Du kannst gleich in das Becken zum gewaschenen Gemüse springen“, „Du schwimmst ja geradezu!" „Alle Deine Kleider sind nass.“

Ich beachtete die Aufregung nicht weiter und ging danach sehr zufrieden nach Hause. Das allerwichtigste war doch, dass ich eine neue Spielkameradin hatte. Das war für mich überaus wichtig!

Zu dieser Zeit begann in China die Kulturrevolution, es war eine radikale Veränderung: Im Campus der Universität gab es überall schwarze Wandzeitungen. Jeder musste seine Arbeitskollegen und Freunde, die vermeintlich oder auch tatsächlich etwas gegen die Revolution gesagt oder getan hatten, durch Artikel an der Wandzeitung anzeigen. Jeder hatte Angst vor den anderen. Jeden Tag wurden überall im Campus Professoren, sogenannte reaktionäre Akademiker-Autoritäten, wie Universitätsdirektoren, Verwaltungsfachleute oder Beststudenten als Wegbreiter des Kapitalismus gebrandmarkt. Als sogenannte weiße Fachleute wurden sie auf Demonstrationen durch die Straßen getrieben und zur Schau gestellt. Es gab Hausdurchsuchungen. Der in der Regel respektierte Direktor der Universität, damals selbst Professor, musste einen hohen Hut tragen, beide Arme waren auf seinen Rücken gebunden, um so mit den Rebellen, seinen Studenten, durch die Straßen zu marschieren. Oder er wurde gezwungen, auf dem Platz niederzuknien und sich selbst zu bezichtigen. Falls die Selbstkritik nicht als ehrlich erschien, gab es Backpfeifen oder Prügel. Viele Menschen, darunter auch viele Kinder kamen, um zuzusehen, mitzuspielen. Häufig schlugen Kinder auch mit den Fäusten oder traten mit den Beinen, um sich im Machtausüben zu profilieren. Recht oder Unrecht, das war allen Leuten unklar. Es war ein Chaos der Sinne. Manche Leute attackierten heute andere, morgen mussten sie selbst niederknien auf dem Platz und wurden von anderen attackiert. Später entwickelte sich daraus ein Bürgerkrieg. Zwei Bürgergruppen begannen einander mit Waffen zu bekämpfen. Diese Situation war sehr gefürchtet, überaus gefährlich.

Glücklicherweise hatte ich damals keine Zeit für so etwas, konnte nicht teilnehmen an den Protesten. Ich musste jeden Tag zu Schuang nach Hause gehen. Sie hatte jeden Tag für die ganze Familie Essen zu kochen, ich half ihr beim Gemüsewaschen. Ohne meine Hilfe, war ich überzeugt, wäre die ganze Familie verhungert. Wie waren wir beschäftigt! In der kleinen Küche von Schuang, an einem kleinen Kohleherd, einem großen Waschbecken und einem alten Schrank voller Schalen, Teller, Töpfe, erlebte ich die Freuden meiner frühen Jugend und meine Kulturrevolution.

Der große Bruder von Schuang war damals noch sehr jung. Wenn sein Vater ihn nicht nach draußen gehen ließ, nahm er einen kleinen Stuhl, setzte sich in die Küchenecke, um ruhig zuzuhören wie ich mit seiner Schwester plauderte und lachte. Er verhielt sich dabei ganz still. Damals gab es eine unsichtbare Grenze zwischen der männlichen und weiblichen Jugend. Jungen und Mädchen durften nicht miteinander sprechen, alle taten, als wären sie überhaupt nicht am anderen Geschlecht interessiert. Taten sie es doch, wurden sie von den Leuten als „Sittenstrolch“ beschimpft. Deswegen sprach nicht nur ich, sondern auch Schuang nur selten mit ihrem Bruder. Aber wenn wir lachten, musste er mit uns gemeinsam lachen, wenn wir wütend waren, wurde er auch mit uns wütend. Wenn er lachte, sah er sehr kindlich aus, beide Augen strahlten. Der Klang seiner Stimme war kraftvoll gerade heraus, ohne Behinderung, flog direkt in den Himmel. In meinen Gedanken spürte ich ihren Klang zur Sonne fliegen. Wenn er wütend war, hatte seine Wut viel Kraft, als könnte sie allein jemanden zu Boden schlagen oder jemanden vom Boden aufrichten.

Aber natürlich war es für den Bruder ein großer Genuss, ruhig in der Ecke zu sitzen, auf unser Reden und unser Lachen zu hören, es war für ihn eine Entspannung.

Immer wenn sein Vater Zeit hatte, zwang er ihn, mit zum Familiengrundstück zu gehen, um dort Gartenarbeit zu verrichten. Er sollte pflanzen, gießen, die Erde auflockern und düngen, eben alles tun, was ein Gärtner so zu tun hat, gleichgültig, ob er das wollte oder nicht. Damals gehörte alles dem Staat, es gab kein Privateigentum. Wer Eigentum besaß, war unseres Volkes Feind. Aber sein Vater kam aus dem Dorf und hatte eine besondere Liebe für die Landarbeit. Gerade im Campus gab es viel Ackerland und niemand war daran interessiert. So bepflanzte sein Vater eigenmächtig eine ziemlich große Fläche für den Familienbedarf. Als er fertig war, erinnerte er sich plötzlich daran, dass dieses Land der Universität gehörte und nicht sein eigenes war. Darum stellte er einen Antrag an den Universitäts- Revolutions- Ausschuss, um die Ernte für die Familie einbringen zu können. Der Ausschuss diskutierte drei Tage und informierte danach seinen Vater: „Normalweise wäre jemand, der etwas vom Staat in die eigene Tasche steckt, unser Feind. Aber nach einer Analyse der konkreten Situation haben wir beschlossen, dass Du in diesem Jahr für Deine Familie die Ernte einbringen kannst.“ Anfangs hatte der Vater geglaubt, er hätte bestimmt keine Chance. Als er am Ende aber hörte, er dürfe noch für dieses Jahr ernten, war er so glücklich, dass er es kaum fassen konnte. Doch der Ausschuss machte sein Glück mit einer Bemerkung zunichte: „Aber Genosse Liu, Sie pflanzen so gerne, aber an der Revolution nehmen Sie nicht teil, jeden Tag gehen Sie immer nur pflanzen. Darum hat der Universitäts-Ausschuss entschieden, dass Sie ab heute nicht mehr in der Bibliothek arbeiten, sondern als Bauer für alle das Campus Ackerland bepflanzen sollen.“

„Nein! Nein!“ Sein Vater schüttelte den Kopf, er hatte für diesen Beruf studiert, er wollte nicht sein Arbeitsgebiet verlieren: „Es ist so viel Land, ich allein kann das doch nicht schaffen.“ Der Vater war ängstlich, versuchte aber trotzdem sich zu widersetzen. Er wusste genau, dass er die Bauernarbeit nicht verweigern durfte. Aber er wollte nicht als Bauer arbeiten, obwohl Bauern und Arbeiter damals großes Ansehen genossen.

„Wie konnten Sie so viel wie bisher schaffen?“ „Mein Sohn hat mir geholfen.“ „Dann lasse Deinen Sohn Dir eben weiter helfen“, so befahl der Vorsitzende, um gleich darauf wegzugehen und den Vater stehenzulassen. Es war nicht möglich zu widersprechen. Der Vater grämte sich, bis er fast mit den Nerven am Ende war!

Endlich war die Erntezeit herangekommen. Eines Tages führte der Vater mit mir ein ernstes Gespräch: „Wir haben eine große Menge Weizen, der Weizen ist jetzt erntereif. Wir brauchen einen Helfer. Normalerweise sollte ich einen Erwachsenen einstellen, aber Du kommst jetzt jeden Tag zu uns, ich darf Dich nicht übergehen. Deswegen frage ich zuerst Dich, ob Du bei der Ernte helfen kannst. Es ist eine sehr harte Arbeit, Du wirst sehr müde sein und es dauert ein paar Tage. Ob Du das wirst aushalten können?“

„Ich kann“, erwiderte ich sofort, ohne nachzudenken. Schuang stand neben mir und stimmte mir zu: „Sie kann, das ist 100 Prozent sicher“, gemeinsam mit ihrem Bruders nickte sie: „Sie kann das! Sie kann es ganz bestimmt!“

„Ihr müsst es euch richtig überlegen, es ist kein Spaß. Ihr werdet nicht nur müde sein, es ist auch eine Gemeinschaftsarbeit, jeder ist auf den anderen angewiesen. Es soll nur mitmachen, wer das auch wirklich kann. Außerdem dauert es viele Tage, man muss auch konsequent dabei bleiben.“

„Natürlich, kein Problem!“ Ihr Vater war ein sehr ernsthafter Mensch und die Ernte war für ihn ein sehr wichtiges Ereignis. Aber wir unreifen drei Kinder, hatten es so beschlossen.

Wir hatten unsere Entscheidung vorschnell und ohne zu überlegen getroffen, ohne zu wissen, wie schwer die Arbeit wirklich war. Erst am Tag der Ernte, als der Vater und Schuang vor uns mit der Sichel den Weizen schnitten, ich und der Bruder den Weizen zu Garben binden mussten, wurde mir klar, worauf ich mich eingelassen hatte. Du lieber Gott! Ich wusste nicht, dass Ernte eine so schreckliche Arbeit ist.

Am Anfang konnten ich und ihr Bruder stehend arbeiten, dann war es uns nur noch sitzend möglich und etwas später konnten wir nur noch auf dem Boden kriechen und so unsere Garben binden, so erschöpfte uns diese ungewohnte Arbeit. Zu Beginn dachte ich: Ich bin die ältere Schwester, ab und zu helfe ich noch dem Bruder, aber nach zwei Stunden lag ich wie gelähmt neben ihm. Wir schauten auf das unendliche Weizenfeld und wussten gar nicht mehr, wie das Leben noch weiter gehen könne.

Ihr Vater schnitt die Reihe Weizen zu Ende, kam zurück um uns zu helfen. Er hatte nicht erwartet, dass wir diese Sache sofort gut machen könnten. Aber er hatte auch nicht erwartet, dass wir gleich zu Beginn aufgeben würden. Er schäumte vor Wut! Seine Wut konnte er nicht an mir auslassen und so bekam sein Sohn all diese Wut zu spüren: „ Schau Dich mal an, bist Du überhaupt ein Mann?! Du denkst das vielleicht, Du bist aber wie ein ehrenwertes Fräulein, ein Weichei, wirklich wertlos! Ich schäme mich für Dich.“

„Beschimpfe ihn nicht, ich kann das nicht ertragen. Er ist noch so jung und Du lässt ihn jeden Tag arbeiten. Und trotzdem bist Du immer noch unzufrieden mit ihm!“ Ich wusste selbst nicht, woher mich eine so große Wut und solch ein Mut erfassten, dass ich so plötzlich und so laut seinen Vater anschrie. Nach dieser heftigen Empörung war ich erstarrt und sprachlos. Vater und Bruder erschraken ebenfalls und waren fassungslos. Wir drei, einer stehend, zwei auf dem Boden liegend, starrten einander einen Augenblick wie gelähmt an. Der Vater konnte gar nichts weiter sagen, sondern beugte sich schweigend nieder und griff nach der nächsten Weizengarbe.

Seitdem gab es zwischen dem Bruder und mir eine stillschweigende Übereinkunft, die besagte, immer wenn sein Vater ihn beschimpfte, würde er mich ansehen und dann würde ich seinen Vater ausschimpfen. Wenn ich ihm beistand, würde sein Vater gleich ruhiger werden. Diese stillschweigende Übereinkunft bewährte sich einige Zeit, bis endlich eines Tages sein Vater ihn groß schimpfte und weinte: „ Ich bin so unfähig, mein eigner Sohn lässt mich von einem Mädchen abkanzeln. Ich kann doch gar nichts etwas dagegen machen! Was bin ich für ein Vater!? Wer respektiert mich?!“ Seitdem wagte der Bruder nicht mehr, mich anzusehen, wenn der Vater ihn beschimpfte. Ich wagte es auch nicht mehr, mich gegen Erwachsene aufzulehnen.

Damals, dieser erste Ernte Tag hatte mich völlig erschöpft, war ich zu schwach, um zu stehen. Am Abend brachte mich Schuang halb stützend und halb tragend nach Hause. Sie alle fragten mich, ob ich morgen wieder zur Ernte kommen werde. Ich war überanstrengt, hatte keine Kraft zu antworten. Am nächsten Tag wachte ich zu spät auf. Ich musste schnell frühstücken, hatte zwar Angst vor der Ernte, aber allein zu sein und mich zu langweilen, war für mich noch schlimmer. Als ich am Feld ankam, jubelte die ganze Familie, vor allem ihr großer Bruder. Er hielt die Hände hoch und sprang herum, so dass sein Vater ihn prüfend ansah, einmal und noch einmal. Schuang erzählte mir nachher, dass ihr Vater ihren Bruder verwarnt hatte, er solle keine Luftschlösser bauen. (Bei uns Chinesen heißt es auch: ‚Frösche möchten das Fleisch des Schwans essen.‘) „ Luftschlösser“? Was ist das? Ich verstand nicht, Schuang schüttelte Kopf, sie wusste es auch nicht.

Wie konnten wir die Weizenernte zu Ende bringen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Kann sein: Damals konnte mein Vater unsere Quälerei nicht ertragen. Wie ich jeden Tag von morgens bis abends schuftete und deprimiert zurückkam. Er mobilisierte Studenten, uns zu helfen. Am Anfang der Kultur-Revolution beschäftigten sich die Studenten nur mit der Revolution, anderes hatten sie nicht zu tun, sie waren gelangweilt. Als sie hörten, es gibt so ein gutes Abenteuer zu bestehen, kamen alle gern. So ein bisschen Weizen, rasch brachten sie die Ernte für den Vater vom Feld.

Der Vater von Schuang war sehr glücklich. Erstens, weil die Weizenernte zu Ende war, und zweitens, weil die Studenten die Lage der Familie gesehen und großes Mitleid gezeigt hatten. Daraufhin beriet sich der Uni-Revolutionsausschuss, und alle Felder des Campus wurden seitdem von den Studenten selbst bepflanzt. Der Vater kehrte wieder zu seiner Arbeit in der Bibliothek zurück.

Für die Hilfe bei der Lösung dieser Probleme wollte ihr Vater mir danken. Natürlich war ich nur die Vertreterin meines Vaters, dessen waren wir uns bewusst. Zur Zeit der Kulturrevolution mussten die Menschen in ihren persönlichen Beziehungen sehr vorsichtig sein, sogar eine Einladung zum Essen konnte noch gefährlich werden. Man gebrauchte Ausreden, damit diese Beziehungen nicht als Reaktion gegen die Kulturrevolution eingeordnet werden konnten. Aus diesem Grund würde nur ich zu dem Essen gehen. Außerdem wollte er auch seine bitterarm lebenden Kinder belohnen. Nach der Bestimmung des Termins, begann der Vater drei Tage vorher mit den Vorbereitungen: Weizen wurde zu Mehl gemahlen, sowohl Fleisch als auch Fisch wurden mit Salz bestreut, getrockneter Bambus und Bohnen in Wasser eingeweicht und vieles mehr.

Auch wir begannen, uns drei Tage vorher vorzubereiten. Wichtig war, dass der Magen leer bliebe, wir aßen so wenig wie möglich, damit wir zur Feier umso mehr essen konnten.

Dieser Tag kam endlich heran. Ich war so aufgeregt als mein Vater mich gehen ließ. Wenn ich doch hätte fliegen können! Aber ich musste langsam gehen, wie eine gut erzogene Frau. Als ich zu ihrem Haus gelangte, bekam ich von allen Kindern wieder Beifall: „Oh! Oh! endlich kommt sie, endlich!“ Alle riefen so fröhlich, besonders ihr Bruder, seine Augen glänzten, er sprang hoch und lachte aus vollem Herzen: „Essen! Essen!“ der Vater schaute ihn an, schaute noch einmal und sagte zu ihm: „Du, pass auf. Ich habe doch zu Dir gesagt, ein Frosch möchte Schwanenfleisch essen! Du machst Dich lächerlich, Du überschätzt Dich!“ „Nein“, zuvorkommend erwiderte ich, „meine Mutter hat gesagt: Schwanenfleisch schmeckt nicht! Froschfleisch schmeckt besser!“ ‚Der Frosch möchte Schwanenfleisch essen‘, ist ein Spruch in China und bedeutet: Ein kleiner unscheinbarer Mann möchte eine gute höhergestellte Frau haben. Das wäre nur lächerlich, mehr nicht. Der Vater sagte nichts mehr. Ein quadratischer Tisch wurde herübergebracht. Wir alle setzten uns daran. Schuang sagte zu mir: „Wir alle warteten nur auf Dich, mein Vater forderte von uns, zu warten, bis Du zu diesem Abendessen kommst. Wir haben Hunger, mein Bruder aß fast drei Tage nichts, er kann kaum noch laufen, Du aber kommst so spät.“ Ich schaute auf den Bruder, er lächelte so glücklich und murmelte: „ Endlich können wir essen, endlich.“ „Komm, setz Dich hierher“, sein Vater hatte mich auf den Platz oben gegenüber der Tür gebracht, der ein wichtiger Gastsitzplatz ist. Zu meiner Linken setzte sich sein Vater, zur rechten Seite der Bruder. Schuang und zwei jüngere Schwestern saßen mir gegenüber.

„Schuang, sitz Du bei mir.“ Ich fühlte mich unwohl zwischen beiden Männern und sagte: „Mein Vater wäre damit nicht einverstanden.“ Schuang antwortete ohne sich zu rühren, „dann sitze ich bei Dir.“ Gleichzeitig stand ich auf, wollte mich zu Schuang setzen. „Lass doch, lass es“, sagte ihr Vater und stand auf: „Schuang, Du hast ein Recht, hier zu sitzen. Ich habe sowieso keine Zeit zum Sitzen.“ Schuang freute sich darüber und sprang von ihrem Platz auf, um sich neben mich zu setzen. Wir warteten und warteten. Als ihr Vater wegging, dachten wir alle, er würde kochen. Aber es verging eine lange Zeit und kein Essen kam. Auch war aus der Küche keinen Laut zu hören. „Wo ist Dein Vater?“ Fragte ich Schuang. Sie sagte: „Ich gehe nachsehen, wo mein Vater ist. Wir saßen da, alle hungrig und schlapp. Schuang kam und wunderte sich: „ Mein Vater ist in seinem Zimmer und lacht wie toll, ich habe noch nie meinen Vater lachen gesehen, es ist ganz komisch, er lacht einfach zu komisch.“ „Wieso denn komisch?“ Fragten wir. „Er nickt ganz toll mit seinem Kopf und beide Achseln zucken“. Schuang ahmte ihren Vater nach. „Er ist nicht mehr wie mein Vater, ich mag das Lachen meines Vaters nicht. Besser er bliebe ernst wie immer und würde nicht lachen, dann verdiente er meinen Respekt.“ „Warum lacht er denn? “ Fragte ich. „Und dazu noch allein und versteckt.“ Alle schüttelten Kopf, wir hatten keine Ahnung! „Hunger!“ Schrie da der Bruder. „Wir haben Hunger.“ Wir alle fielen wie ein Echo ein.

Sein Vater hatte inzwischen angefangen zu kochen. Wir nahmen alle unsere Stäbchen. In China, wenn wir jemanden zum Essen einladen, soll immer alles fertig vorbreitet sein, aber noch nicht gekocht. Dann, wenn die Gäste kommen, fängt der Gastgeber an, die Gerichte zu braten, so frisch würde es am besten schmecken. Der Vater stellte das erste Gericht auf den Tisch, es verschwand ganz schnell, ohne eine Spur zu hinterlassen; beim zweiten war es natürlich genau wie vorher. Als das dritte auf den Tisch kam, hielt der Vater es nicht mehr aus: „ Ihr sollt nicht alles selbst auffressen, lasst unseren Gast essen.“ „Sie isst noch schneller als wir“, antwortete der Bruder. Gleichzeitig nahm er die Stäbchen und klopfte damit auf den Tisch, sang: „Hungrig! hungrig!“ Die Mädchen klopften mit den Stäbchen auch auf den Tisch: „Hunger!“ Der Vater erkannte, dass es gleichgültig sei, in welchem Tempo er kochen würde, er könnte es nicht schneller, als die Mäuler hungrig waren. Da besann er sich auf eine List: „Alle machen jetzt eine Pause, und danach gibt es das beste und leckerste Essen.“ Das hatte er bis zum Schluss aufgehoben. Er nannte uns das beste Essen, und es waren selbst gemachte Nudeln. Es war wirklich das Beste von der Welt, von allen Nudeln, die ich je gegessen habe. Bisher hatte ich noch nie so köstlich schmeckende Nudeln gegessen. Sie waren aus dem ersten, frischen, vor drei Tagen geernteten Weizen. Wann kann jemand so frische Nudeln auf dem Tisch haben? Hergestellt aus frisch Gemahlenem, raffiniert, nur der Keim ist zu Mehl vermahlen, nicht ein bisschen Kleie dabei. Vermengt mit dem Fleisch und dem Gemüse, sorgfältig gekocht. Und dem gegenüber stand der Hunger dieser blühenden jungen Leben.

Als ihr Vater die letzte Schüssel mit Nudeln vor mir auf den Tisch stellte, war ich so satt, konnte mich nicht mehr bewegen und hatte keine Kraft zu sprechen. Ich schüttelte nur ablehnend den Kopf.

„Ich esse, gib mir die Nudeln, ich bin noch nicht satt“, der Bruder strahlte über das ganze Gesicht. „Du hast schon sechs Schüsseln gegessen“, der Vater war zu seinem einzigen Sohn immer sehr streng. „Gib ihm doch zu essen“, sagte ich, denn ich konnte nicht ertragen, dass der Bruder mit den Tränen in den Augen einen so traurigen Anblick bot und das Weinen ihm schon fast zur Gewohnheit geworden war. Ich hielt es nicht aus, seine Not zu übersehen. „Er ist ein Junge, ein Junge isst sowieso mehr als wir Mädchen, außerdem arbeitet er viel mehr.“ Sein Vater stellte die Schüssel vor sein Gesicht und sagte: „Denkst Du an diese Schwester, sie hilft Dir immer. Du sollst Dich um sie als Deine Schwester bemühen, kannst Du Dich an unser Gespräch erinnern?“ „Ich erinnere mich.“ Der jüngere Bruder bekam seine Schüssel, nachdem er diese klare Antwort gegeben hatte. „Woran erinnerst Du Dich? An leckere Nudeln bloß. Na!“ Der Vater neckte ihn. „Ich denke wirklich an sie wie an eine gute Schwester.“ Der Bruder erwiderte es ernst, sah zu seinem Vater und ließ lange den verlockenden Duft der heißen Nudeln vor seiner Nase aufsteigen. „Essen! Essen.“ Ich wusste nicht, warum sein Vater so heftig seufzte.

Später begann trotz der Kultur-Revolution wieder die Schule, anknüpfend an den vorherigen Unterricht. Wir besuchten sie nun jeden Tag. Schuang und ich waren in derselben Schule, aber nicht in derselben Klasse. Darum hatten wir immer weniger Kontakt.

Eines Nachmittags ging ich etwas früher als üblich in die Schule. Am Rand des Sportplatzes angekommen, hörte ich einen großen Lärm und ging, nach der Ursache zu sehen. Der Sportplatz unserer Schule lag an einem See, dessen Wasser abgelassen und die Ufer begradigt waren. In einem weiten Bogen standen Tribünen ringsherum. So war ein perfekter Sportplatz entstanden mit einem Fassungsvermögen von eintausend Menschen. Er lag unter dem Niveau der Umgebung und wenn man dem Rand stand, um auf den Sportplatz zu schauen, hatte man einen schönen Panoramablick.

Viele Jungen jagten auf dem Sportplatz einem anderen Jungen hinterher. Lief der Junge nach links, dann liefen alle Jungen nach links; wenn der Junge nach rechts lief, dann folgten ihm alle Jungen nach rechts .Gleichzeitig drohten viele mit den Fäusten und schrien: „Greift das Schwein! Fangt den Strolch! Bringt ihn um!“ Die Dynamik der empörten Zorneswogen war nicht aufzuhalten. Mein Blick auf den Jungen zeigte ihn fassungslos, strauchelnd, sehr schwach, einsam und hilflos. Sein Körper hatte schon mehrere Faustschläge erhalten, er hatte keinen Mut mehr, sich zu wehren.

„Was ist los?“ Fragte ich eine Bekannte, die mit vielen Mädchen auf dem oberen Rand des Platzes stand und nach unten schaute: „Er guckte in die Damentoilette, das Schwein!“ Damals war Sex ein Tabu und mit sehr strengen Regeln belegt. Niemand durfte darüber sprechen. Wir wussten nicht, wie die Körper des anderen Geschlechts beschaffen waren, was den Unterschied zwischen Mann und Frau, abgesehen von langem Haar oder Bart ausmachte. Wer sich mit diesem Thema beschäftigte, der war einfach ein Schwein! Das war gegen die geltende Moral, gegen unsere kulturellen Grundsätze! Jeder durfte solch einen Menschen, der dagegen verstieß, beschimpfen. Jeder sollte ihn bekämpfen. Aber es gab doch manchen, der neugieriger und risikofreudiger war und sich über diese Tabus hinwegsetzte. Je strenger etwas verboten wurde, desto interessanter wurde es doch. Und so schaute mancher Junge heimlich in eine Toilette oder in die Fenster des öffentlichen Bades, um genaueres über den Körper von Frauen zu erfahren. Wurde er dabei von Leuten entdeckt, gab es große Verfolgungen dieses „ Schweins“. Solche Dinge geschahen oft.

„Sie werden ihn schnell einholen! Er kann nicht weglaufen, die Leute werden ihn totschlagen!“ Ich war immer auf der Seite der Schwachen. So grausam die Kultur- Revolution auch war, sie konnte mich nicht verändern, auch ein großer Hass auf diese Spanner konnte meine Einstellung nicht verändern. Viele Mädchen richteten ihre Augen auf mich, eine fragte nach langem Schweigen: „Auf wessen Seite stehst Du? Auf der der Revolution oder der dieses Schweines?“ Ich beachtete das Mädchen nicht. Wir konnten doch nicht einfach zusehen, wie ein Mensch vor unseren Augen von anderen totgeschlagen wurde! In einem „Schwein“ fließt doch auch Blut, nicht wahr! Ein genauerer Blick auf den Jungen, der von den vielen gejagt wurde, ließ mich erstarren: „Mein Gott! Er ist ja der Bruder von Schuang!“ Ihr Bruder hatte mich oft um Hilfe gebeten, was sollte ich tun? Ich konnte nicht zusehen, wie der Bruder totgeschlagen wurde. Aber, woher sollte ich den Mut nehmen, ihn zu retten? So viele Leute, so ein großer Hass. „Ich------! Ich------!“ Ich zitterte, meine Kehle verkrampfte sich, ich konnte nicht reden. Was sollte ich tun? Was sollte ich nur tun? Ich beschloss, Schuang zu informieren, nur sie würde ihren Bruder retten können.

Atemlos rannte ich zu ihrem Klassenzimmer. Gott sei Dank! Sie war da! Saß auf einem Tisch und lachte laut mit ein paar Jungen. „Schuang!“ Ich war blass, meine Stimme vom Schluchzen geschüttelt: „Schnell, rette Deinen Bruder! Viele schlagen ihn, schnell!“ Schuang fiel vom Tisch auf den Boden, sprang aber gleich wieder auf, nahm meine Hand und rannte mit mir davon, so als wäre ihre Mutter gestorben. Sie war nicht nur Schwester für ihre Familie, sondern jetzt auch deren Mutter. Sie war mutig und energisch. Nur sie wagte es, mit Jungen laut zu reden und zu lachen. So eilten wir zum Sportplatz. Ihr Bruder war an einem Baum gefesselt, sein Kopf und Gesicht von den Schlägen geschwollen. Aus allen Richtungen strömten hasserfüllte Menschen zu ihm hin, wollten ihn wohl umbringen.

„Platz, aus dem Weg!“ „Platz, aus dem Weg!“ Schuang drängte sich unter Einsatz des eigenen Lebens vor: „Er hat ein Recht, er ist mein Bruder, unsere Familie stammt aus der Arbeiterklasse. Wir sind Proletarier.“ Damals waren Proletarier die am höchsten geachtete Bevölkerungsschicht. Ich folgte ihr. Gleichzeitig drängten wir uns zum Bruder und riefen laut: „Unser Großer Führer Mao sagte: „Man soll mit Worten kämpfen, nicht handgreiflich werden. Verleumdungen schaden den Menschen.“

„Er ist kein guter Mensch, er ist ein Schwein. “ Manche riefen: „Nieder mit dem Schwein! Nieder mit ihm!“ In dieser Zeit lauter Parolen war es eine Kampfmaßnahme, mit Mao-Sätzen zu antworten. Ich rief weiter: „Kämpft mit Worten, nicht handgreiflich werden!“ „Unser Führer Mao sagte: Die Revolution war keine Einladung zum Essen, nicht zum Artikel schreiben, nicht Blumen zu malen und zu sticken. -----Die Revolution war Aufruhr! War gewaltsamer Kampf einer