Glut im Eis - Inge Ruth Marcus - E-Book

Glut im Eis E-Book

Inge Ruth Marcus

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Beschreibung

Im Jahr 1899 ist Josef Naumann 20 Jahre alt und Angestellter in Hamburg. Er will der Enge seines vorbestimmten Lebens entfliehen und bekommt ein Angebot von einem deutschen Handelshaus in Wladiwostok, Sibirien. Vor Ort bestimmen Begegnungen mit Menschen aus vielen Kulturen und ungewohnte Herausforderungen sein Leben. Aber zwischen Russland, China, Japan und den Kolonialmächten spitzen sich politische Konflikte zu, ein Krieg folgt dem nächsten. Durch den 1. Weltkrieg gerät Josef Naumann selbst in sibirische Verbannung, lebt sieben Jahre unter Burjaten und gründet eine Familie. Er unterstützt das IRK bei der schwierigen Rückführung deutscher Zivilgefangener. Als er von der Roten Armee mit dem Tode bedroht wird, flieht er mit seiner Familie im Schlittenkonvoi durch die Fronten des Bürgerkrieges. In Wladiwostok angelangt, findet er statt der erwarteten Alliierten ein sowjetisches Regime vor, das die Handelshäuser geplündert hat. Sowjetische Funktionäre ordnen Josef Naumann an, die Versorgung der Bevölkerung wieder aufbauen, wobei sie ihn - mit solidarischen Ausnahmen - systematisch daran hindern. Als er einem Verfolgten zur Flucht verhilft, wird er verraten. Ihm drohen Todesstrafe oder Gulag. Chinesische Freunde verhelfen der Familie zur Flucht nach Harbin in der Mandschurei. Nach Jahren des Friedens holen auch da politische Wirren im Spannungsdreieck Russland – China – Japan die Familie ein, wieder folgt ein Krieg dem nächsten. Nach dem 2. Weltkrieg marschiert die Rote Armee in die Mandschurei ein, um die Mandschukuodiktatur zu beenden. Die Familie wird verfolgt und getrennt, in der Nachkriegszeit versuchen ihre Überlebenden, sich wieder zu finden.

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Seitenzahl: 980

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Glut im Eis

Vier Generationen zwischen fünf Diktaturen

Nikolaus II – Hitler – Mandschukuo – Stalin – Mao Zedong

Biografischer Roman

2. überarbeitete Fassung

© 2023 Anthea Verlag

Hubertusstraße 14, 10365 Berlin

Tel.: 030 / 993 93 16

e-Mail: [email protected]

Verlagsleitung: Margarita Stein

www.anthea-verlag.de

Ein Verlag in der Anthea Verlagsgruppe

Satz: Daniel Aldridge

Umschlaggestaltung: Imanuel Marcus

Portraitfotografie: © Dieter Düvelmeyer

ISBN 978-3-89998-391-3

Diesen Familienroman widme ich meinem Sohn,

meinen Enkeln und meinem Bruder

Vorbemerkungen

Dieser Roman gründet auf der Geschichte meiner Großeltern mütterlicherseits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie spielt zwischen Deutschland, Russland, China, Japan in der Mandschukuo-Epoche und streift Korea. Die Eckdaten der Lebensläufe und Erfahrungen meiner Großeltern, in Ausschnitten auch der Eltern, sowie die historischen und geografischen Hintergründe sind authentisch. Die Handlungsfolge entspricht ihrem realen Verlauf über das halbe Jahrhundert. Phasen ihres Lebens, über die ich keine Informationen zur Verfügung hatte, ergänzte ich durch zeitgenössische Mitwirkende und historisch verbürgte Ereignisse.

Im Anhang finden sich eine Liste der handelnden Personen, ein Sachregister, eine Medien- und Literaturliste, ein Foto vom ersten Verbannungsort meines Großvaters sowie eine Fernost-Landkarte mit den Orten seiner Aufenthalte in Nord-Asien.

Inge Ruth Marcus, 2022

Hamburg – Fernost 1897 – 1899

Sehnsucht nach Ferne und Weite

Man schrieb das Jahr 1896. Er hatte es schon lange vor. Gelegentlich hatte er sich so tief in seine Wunschvorstellung von Leben und Arbeit in weiter Ferne hineingedacht, dass ihn die eigene Fantasie überraschte, er würde sich von seinem privaten und beruflichen Umfeld verabschieden. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass er aus der Enge seines vorgezeichneten Lebensweges ausbrechen würde. Offen waren noch ein paar Fragen, die ihm gegenüber diesem weitreichenden Entschluss zweitrangig erschienen: Wohin, wann, für wie lange und wovon er in der Zeit leben könnte.

Josef war von mittlerer Größe, schlank, zart in der Erscheinung, von sportlicher Statur. Er hatte dunkelbraunes, modern geschnittenes Kurzhaar und einen schlichten Schnauzbart, war stets angemessen gekleidet, am liebsten in seemännischem Weiß, hatte beste Manieren und war der Stolz der Familie. Mit seinen zwanzig Jahren fühlte er sich erwachsen. Dass er erst im nächsten Jahr volljährig würde und das Vaterland erst dann selbständig verlassen durfte, erschien ihm rückständig. Sein Vater würde ihm jetzt schon einen Aufenthalt im Ausland zugestehen, wenn er dafür eine sichere Ausgangslage wie einen Arbeitsvertrag vorweisen könnte. Sein Vater war liberal und weltoffen, als Beamter im Hamburger Wirtschaftssenat war er für Auslandsfragen zuständig und in Europa herumgekommen.

Er bedauerte, dass ihre gemeinsamen sonntäglichen Unternehmungen, wie Ausritte mit ihm und seinem jüngeren Bruder Arnulf in den letzten Jahren dahingeschmolzen waren. Das Gleiche war mit den Spaziergängen, Bootsfahrten, Picknicks und der Hausmusik mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester Elke geschehen. Die Familie lief allmählich auseinander. Seine Geschwister gingen ihrer Wege, wie auch er. Der Vater war mit jeder Beförderung mehr beansprucht, und die Mutter folgte zunehmend gesellschaftlichen Verpflichtungen und wohltätigem Engagement.

Immerhin konnte Josef seit kurzem an den sonntäglichen Freundes- und Kollegenrunden des Vaters teilnehmen, wenn sich die Herren nach gemeinsamem Mittagsmahl im Salon zufrieden in den Ledersesseln rekelten, zu Mokka und Cognac Zigarre oder Pfeife rauchten und sich über Gott und die Welt unterhielten. Er hatte sich dort Einsichten in – seiner Meinung nach überfällige – Neuerungen in Politik und Gesellschaft sowie weltweite Entwicklungen erhofft.

Nach einem Vierteljahr der Teilnahme an der Runde war Josef enttäuscht, in den Gesprächen ging es ausschließlich um Wahrung von Gewohntem: Studium – familiärer und beruflicher Aufstieg – altersbedingter Abstieg – Ehrungen – Pension – Exitus. Seine eigenen weiterführenden Anregungen und Fragen waren jeweils altväterlich zugewandt ignoriert worden. Daher fasste er den Mut, dem Vater seine Meinung zu sagen und hatte sich dafür eine Formulierung zurechtgelegt

– Vater, nach einiger Zeit der ‘Zusatzausbildung’ in@@ dem erlauchten Kreis....

Sein Vater unterbrach ihn mit schallendem Lachen, aber er wollte seinen Satz zu Ende bringen

– ... bitte ich dich um Nachsicht, dass ich ihm von nun an fernbleiben möchte!

– Er ist dir zu behäbig, zu langsam und zu traditionell für deine Vorstellungen von allem, was unsere Zukunft in Hamburg, Berlin, Europa und der ganzen Welt ausmacht, richtig?

– Du hast es gewusst?

– Josef, du bist jung und suchst die Moderne, dagegen ist doch nichts zu sagen.

Der, sprudelnd

– Wie gut, dass du das so siehst! Die weltweite Entwicklung in Politik, Handel und allem bewegt sich mit solch einer Geschwindigkeit, dass wir viel schneller werden müssen, um Schritt halten zu können, geschweige denn, selbst an einem Rädchen drehen zu können.

– Ist ja gut, mein Junge! Lass dich bei deinen Ideen weder stören noch aufhalten!

– Danke, Vater, genau das habe ich vor. Ich weiß nur noch nicht, was es wird.

Josef hatte eine dreijährige Lehre zum Außenhandelskaufmann bei der Im- und Exportfirma L&M (Lux & Mannheimer) abgeschlossen, war dort als Außenhandelskaufmann angestellt und für die Firma bereits kurz in Holland, Schweden und St. Petersburg gewesen. Daher sah er in einem längeren Auslandsaufenthalt für die Firma eine Möglichkeit, sich seinen Ausstiegswunsch zu erfüllen. Es gab allerdings eine gesellschaftliche Hürde: der familiäre Erwartungsdruck. Um sicher zurückzukehren, sollten junge Männer seines Rangs nicht in die Ferne ziehen, bevor sie nicht in der Heimat mittels Familiengründung Wurzeln geschlagen hatten, um sie vor exotischen Versuchungen, in welcher Gestalt auch immer, zu bewahren.

Der Abschied von der Mutter würde schwieriger werden, sie war nicht nur eine sehr schöne und feinsinnige, sondern auch eine gefühlvolle, zu Sentimentalität neigende Frau. Ihre Sorgen und Bedenken zu verscheuchen, ihre Tränen zu verhindern, erforderte höhere Diplomatie.

Im Übrigen empfand er beim Gedanken an den Abschied von seinem Elternhaus nichts Unangenehmes. Im Gegenteil, er fühlte förmlich, wie er durchatmen würde, wenn er diesem liebevollen Käfig, dem bis ins Kleinste geregelten Familientrott und den drögen gesellschaftlichen Pflichten entkäme. Zu diesen gehörten die Sommerurlaube auf Sylt, zu denen sich die Großfamilie alljährlich in ‘Windfang‘, ihrem reetgedeckten Strandhaus, traf. Dem ging jedes Mal ein nahezu gleichlautender Mutter-Sohn-Dialog voraus.

– Josef, es ist eine Ehre, einmal im Jahr mit der ganzen Familie vereint zu sein! Onkel Knut kommt mit seinen Lieben schließlich extra aus Hannover zu uns angereist!

Josef dachte jedes Mal ‘Für einen kostenlosen Urlaub auf Sylt brauchen die Lieben vermutlich keine besondere Überwindung’ und sagte

– Ich weiß! Nicht jede Familie kann Ferien am Strand verbringen, und dafür bin ich auch dankbar.

– Aber?

Was sich für ihn an der Stelle nicht zu sagen gehörte: Er kannte alles im Voraus, jeden Spruch von jedem Onkel über die Verderbtheit der Welt, jede Klage jeder Tante über ihre Gewichtszunahme, jede phantasielose Unart von Arnulf, jede Plattitüde von Elke und die Bemühungen seiner Eltern um etwas Niveau gegen die Niederungen der auf Alltag und Sensationen eingeengten Konversation.

– Es ist das ewige Einerlei. In den kostbaren zwei Wochen meines Jahresurlaubs möchte ich mit Freunden etwas Neues erleben, etwas Wichtigeres tun.

Er kannte ihren bemühten Blick an dieser Stelle des Dialogs, ihr betontes

– Wichtigeres?

– Du sagst doch immer, ich solle an meine Zukunft denken. Genau dafür würde ich gerne Freundinnen einladen und mit ihnen an Windfang vorbeisegeln!

– Ich bitte dich! Was sollen die Familie und unsere Nachbarn denken! Wenn er aufgegeben hatte, genehmigte er sich jedes Mal, in einer Fantasiereise mit Freunden auf einem spannenden Segeltörn um Dänemark oder bis Frankreich oder Portugal unterwegs zu sein. Einen solchen beschloss er jeden Sommer aufs Neue für das nächste Jahr und schalt sich regelmäßig einen Feigling, wenn er diesen kleinen Ausbruch wieder nicht geschafft hatte.

’Das kommt davon, dass ich ihr Ältester bin‘, dachte er. ‘Arnulf hat dauernd neue Freundinnen und gilt als leichtlebig. Mich kann man vorzeigen, ich soll das Familienansehen hochhalten‘. Immer wieder fragte er sich, welche Rolle seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse dabei spielten, und endete mit der Erkenntnis ‘Ich bin zu brav!‘

Auch das hatte Tradition. Seine bildungsorientieren Eltern hatten darauf geachtet, dass ihre Kinder ‘standesgemäße Kenntnisse und Befähigungen‘ erwarben. Als Jugendlicher hatte Josef gegen das übervolle Wochenprogramm neben Schule und Hausaufgaben rebelliert, ebenfalls vergeblich. Was die Hausmusik betraf, hatten sich die Geschwister damals zwar Instrumente aussuchen können – er hatte Klavier, Arnulf Gitarre, Elke Querflöte gewählt –, aber den wöchentlichen Unterricht und das tägliche Üben hatte es unerbittlich dazugegeben. Arnulf hatte das nicht so genau genommen und die mütterlichen Vorwürfe an sich abperlen lassen. Als kleinen Ausgleich zu der Mühsal gab es den ‘Pflichtsport‘: er Segeln, Arnulf Fechten, Elke Gymnastik, wöchentlich in entsprechenden Vereinen. Was Fremdsprachen anbetraf, wurden sie von Privatlehrern zu Hause unterrichtet. Der Vater hatte Wert darauf gelegt, dass jedes Kind eine andere Weltsprache erwarb. Josef hatte Englisch, Arnulf Spanisch, Elke Französisch getroffen. Darüber hinaus hatte Josef mit fünfzehn Jahren begonnen, heimlich Russisch zu lernen, und das hatte folgende Bewandtnis. Sein junger, witziger Englischlehrer, Dieter Krepkin, deutsch-russischer Abstammung, hatte es geschafft, Josef aus seiner chronischen Lernunlust hervorzuholen, indem er seinen Unterricht mit flotten schauspielerischen Einlagen belebt und ihn zu gemeinsamem Rollenspiel animiert hatte. Krepkin beherrschte auch das Russische und hatte den Englischunterricht gelegentlich mit russischen Ausrufen garniert. Nachdem Josef ihn einmal dazu überredet hatte, einen solchen Satz, der vom Ton her wie eine Schimpftirade geklungen hatte, zu übersetzen, hatte sich herausgestellt, dass es sich um eine witzige Redewendung handelte. Daraufhin hatte Josef nicht genug deftige Sprüche hören können und sie auswendig gelernt.

Im Laufe der Zeit hatte ihm Krepkin russische Weisheiten beigebracht wie ’Aus Kot kann man keine Knöpfe machen‘. Schon wegen seiner wunderbaren Anstößigkeit hatte Josef diese Redewendung nie vergessen und sich als Gegenleistung für sein Stillhalten erbeten, ein Viertel der Unterrichtszeit durch das Russische zu ersetzen. Das war ihm unter der Bedingung gewährt worden, dass er im Englischen ein Viertel schneller lernte. Auch dies war bestätigt und das Abkommen per Handschlag besiegelt worden. Sie hatten sich damals beidseitig zugesagt, niemandem etwas über ihre Spracheskapaden zu verraten.

Josef hatte den Coup als selbstbestimmten Akt gegen die allgegenwärtige Bevormundung empfunden, er wurde zum Quell verschmitzter Freude. Da er seine russischen Studien mit viel mehr Ehrgeiz verfolgt hatte als das Pauken des Englischen vorher, verbesserte sich letzteres im Sog des Geheimen und Lebendigen ebenfalls. Seine Mutter hatte die bessere Note im Zeugnis für ein Zeichen männlicher Reifung gehalten. Josef hatte das nicht vertiefen wollen.

Das Geheimnis war letztlich durch einen Zufall aufgedeckt worden. Als Josef einmal Elke auf ihren Wunsch, auf dem Jungfernstieg zu flanieren, begleitete, begegnete ihnen ein russisches Besucherpaar, das bei starkem Wind mit einem flatternden Stadtplan kämpfte. Josef hatte sich den beiden genähert und ihnen geholfen, den Plan einzufangen und ihr Ziel und die Wegstrecke dahin zu finden. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er dabei Russisch gesprochen hatte. Elke hatte ihn erst entgeistert angestarrt und dann begeistert umarmt. Kaum zu Hause angekommen, war sie zum Salon gestürmt, wo ihre Mutter in ihrem ‘Thematischen Teekreis’ mit Freundinnen zusammengesessen und über Gott und die Welt sinniert hatte. Sie hatte die Tür aufgerissen und hineingeprustet

– Josef kann Russisch!

Sie hatte sich entschuldigen und die Gäste knicksend begrüßen müssen. Beim Abendbrot war Josef gefeiert worden, der Vater hatte lauthals gelacht und ihm anerkennend auf die Schulter geklopft, die Mutter hatte eine – aufkommender Rührung geschuldete – Träne mit einem Spitzentaschentuch abgefangen.

Inzwischen verbrachte Josef seit Jahren seine Freizeit selbstbestimmt – gerne allein oder mit Freunden auf dem familieneigenen Segelboot ‘Elvira‘, benannt nach seiner Großmutter, der berühmten ersten Alleinseglerin Hamburgs. Ein Abschied von Elvira würde ihn in gewisser Weise schmerzen. Sie war eine Art gute Kameradin, war immer einsatzbereit, immer für ihn da, gab immer ihr Bestes und stand immer zur Verfügung. Das Segeln bedeutete für ihn Freiheit und Selbstbestimmung.

Der Abschied von seinen Freunden und Freundinnen würde schwierig werden. Mit ihnen traf er sich an sonnigen Nachmittagen und warmen Abenden im Alsterpavillon, dessen Terrasse so weit in die Binnenalster hinaus ragte, dass man sich bei windigem Wetter wie von einem Floß über leichte Wellen getragen fühlte. Oder sie verabredeten sich auf den breiten Stufen der Süllberghöhe draußen in Blankenese, von deren schattigem Gartenrestaurant man – noch weit vor den Hafenanlagen – ankommende und abfahrende Schiffe beobachten konnte. Er mochte beides, die aufregenden Schiffe und die lebhaften Gespräche unter Freunden, den Witz, die Sticheleien, das helle Lachen der Frauen und das um Aufmerksamkeit und Zuwendung Wetteifern der Männer.

Nasskalte und stürmische Abende verbrachte er mit seinem Freund Bruno Schubert. Äußerlich waren die beiden jungen Männer ein ungleiches Paar, Bruno war groß, breitschultrig, blond, hatte einen breiten Lippenbart und war eine strahlende Erscheinung. Dann saßen sie im ‘Zum Kapitän’ am Elbufer, in dessen hoher, dunkler Haupthalle verräucherte Modelle alter, sagenumwobener Schiffe von der Decke hingen und bei jedem Luftzug leicht schwankten, als ob sie sich auf großer Fahrt befänden. Josef träumte sich gerne in sie hinein.

Seine Freunde – und besonders seine Freundinnen – nahmen ihm halbherzig scherzend übel, dass er sich mehr für Schiffe als für sie interessierte und mehr über Schiffe wusste als über sie. Seit einiger Zeit achtete er bei gemischten Treffen darauf, nicht von sich aus Schiffsthemen anzusprechen und vor allem keine spontane oder gar laute Begeisterung zu zeigen, wenn ein neues Dampfschiff oder ein legendärer alter Segler auf der Elbe auftauchten. Ebenso passte er auf, nicht zu tief – möglichst gar nicht – in Wohlverhaltens- und Ehethemen einzusteigen. Diese Bereiche überließ er in unauffälliger Zurückhaltung den allwissenden Freunden.

Schlimm genug, dass er als ‘schöner Josef von Hamburg’ und aufgrund seines soliden familiären Hintergrundes als gute Partie galt, jedenfalls nach derzeitigem Geschmack. Sein nüchternes Desinteresse hatte schon manche junge Frau mit bemühten Absichten enttäuscht oder gekränkt. Nur bei einer musste er seinen Gefühlshaushalt im Zaum halten: Judith. Er wollte es nicht und versuchte, es zu unterdrücken, aber wenn er Judith sah oder traf, wurde ihm warm ums Herz. Judith war Brunos Schwester, sie kannten sich seit Kindertagen. Sie war klein und zart von Wuchs und hatte feine, nahezu südländische Gesichtszüge. Ihr langes dunkles Haar trug sie gern zu Hochfrisuren aufgesteckt und schmückte es mit spanischen Kämmen. Was Josef an ihr besonders mochte, war das wechselvolle Spiel ihrer großen, dunklen Augen und ihres mal nahen, mal fernen, mal fragenden oder befremdeten Blicks. Sie sprach wenig, umso breiter gefächert waren ihr Wissen und ihre Interessen, wie seine galten sie aktuellen Fragen ihrer Gesellschaft, Kunst, Literatur und im weitesten Sinne Entwicklungen in der Welt.

Einerseits wollte Josef mehr mit ihr erleben. Andererseits wollte er bei ihr keine ‘voreiligen’ Hoffnungen wecken und sich nicht ernsthaft in sie verlieben. Für ihn war die ‘Zeit dafür noch nicht reif‘. Daher gestand er sich nicht ein, ihr liebevoll zugeneigt zu sein und sich ihre Nähe zu wünschen. Gleichzeitig wollte er ihre freundschaftliche Zuwendung über die Phase seiner geplanten Reise erhalten, in gewisser Weise einfrieren. In seinem tiefsten Inneren wusste er, dass es eigennützige Ausreden waren. Aufgrund dieser Hintergedanken lud er sie nirgendwohin ein. Das besorgten seine und ihre Mutter, die sie auf Familienfesten in peinliche Situationen zwangen. Dann mussten sie miteinander reden oder etwas unternehmen, um nicht unhöflich zu werden. Ganz zu schweigen von allseits beliebten Gesellschaftsspielen, am schlimmsten bei Silvesterfeiern, wenn die hinterlistigen Mütter sie ‘zufällig’ im Spiel verkuppelten oder bei Tanzwahlen trickreich zusammenführten. Dies war beiden peinlich, verfestigte aber in gewisser Weise die Distanz zwischen ihnen, worüber Josef nicht unbedingt böse war. Zwar kritisierte er seine Mutter regelmäßig dafür und verbat sich ihre Anbahnungstricks, insgeheim dankte er sie ihr.

Er kannte alle bedeutenden Segel- und Dampfschiffe, die Hamburg anliefen. Schon von Berufs wegen las er jeden Tag im ‘Hafenanzeiger‘, welches Schiff die Stadt erreichte, woher es kam, welche Passagiere oder Waren es mitführte, wie lange es im Hafen lag und wann es wieder ablegte. Während das Einlaufen große Segler oder Dampfer Spannung und Neugier in ihm auslöste, beschlich ihn Wehmut, wenn er ihr Auslaufen beobachtete. Und wenn es sich dabei um Schiffe wie den stolzen Dampfer ’Phoenicia’ handelte, die unfassliche acht Male im Jahr nach New York auslief, löste ihr Anblick eine derart starke Sehnsucht nach Ferne und Weite in ihm aus, dass er ein Ziehen in der Herzgegend spürte. Gleichzeitig belächelte er gnädig seine Fantasie: was für ein aussichtsloser Wunsch, als kleiner Sachbearbeiter für Außenhandel auf der Phoenicia dem engen Korsett seiner Umgebung zu entkommen. Dann schaltete sich pflichtbewusst sein Kopf ein ‘Was willst du in Amerika? Eigentlich nichts!’ Da er keinerlei Bezug zu Amerika hatte, beruhigte ihn diese Bestandsaufnahme. Oft sah er im Hafen, wie Menschen aus fernen Ländern von anlegenden Schiffen strömten, schnelle, leise Asiaten, laute Lateinamerikaner, korrekt gescheitelte Männer und vornehm gekleidete Frauen aus England, den Vereinigten Staaten oder Kanada. Dann nagte in ihm die Sehnsucht, dort zu sein, wo Menschen anders dachten, fühlten, sprachen, über andere Situationen lachten, anders aßen, tranken und andere Herausforderungen zu bewältigen hatten. Beim Anblick der grau-braun-blauen Menschentrauben von Auswanderern, die langsam, dicht an dicht, meist schweigend, überladen mit verschnürten Kartons die Phoenicia bestiegen, schämte er sich jedes Mal seiner Fantasien und Träume. Er konnte nicht ahnen, dass er sich selbst mehrmals in solchen Situationen befinden würde.

Was seine Firma anging, wunderte ihn nicht, dass ihm die Vorstellung seines Abschieds von Büro und Kollegen vergleichsweise schwerfiel. Immerhin verdankte er L&M seine bisherigen Kontakte zur Welt und den Blick über den Horizont von Hamburg, Hannover und Sylt hinaus. Mit dem Beginn der Dampfschifffahrt wurde die Seefahrt noch stärker sein Thema. An erster Stelle stand die Frage, ob Dampfschiffe je in der Lage sein würden, Segelschiffe und -frachter zu verdrängen. Welche Antriebsform war für die weltweiten Warentransporte von L&M die preisgünstigere, sicherere und schnellere Alternative? Schließlich war seine Firma europaweit mit Handelspartnern verbunden und hatte Filialen bis St. Petersburg. Der Firmenchef, Mannheimer, wollte die durch Dampferverbindungen beschleunigte Entwicklung des Welthandels nicht verschlafen und dachte an eine globale Ausweitung des Handels seines Unternehmens.

Josef unterstützte diese Pläne und empfahl, bei kürzeren Strecken wegen ihres kostenlosen Antriebs und ihrer größeren Beweglichkeit Segler einzusetzen und bei langen Strecken wegen ihrer Windunabhängigkeit Dampfer zu nutzen. Seine Sachlichkeit glättete manche Konfliktwoge. Er sagte die Entwicklung von Seglern mit Motor voraus und provozierte gern seine Kollegen

– Wir befinden uns in einer Epoche des technischen Umbruchs.

Schiffsantriebe werden die gleichen wie die von Automobilen sein:

Dampf, Öl, Gas, Elektrizität – sucht etwas aus. Ich gebe eure Wünsche an amerikanische Reedereien weiter!

Er kannte ihre Reaktionen im Voraus

– Damit verlierst du jede Wette!

– Träum’ weiter, kost’ ja nichts!

– Na, denn, ‘Fliegender Hamburger‘!

… und Ähnliches. Er konnte selbst nicht wissen, dass es fast alles davon in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits gab und einige solcher Modelle in absehbarer Zeit die Weltmeere erobern würden.

Eine zwiespältige Einladung

Josef war mit Freunden zur Abschiedsfeier von Xaver Gütermann in das ’Felicidade de Rosa’ eingeladen, ein Restaurant des portugiesischen Viertels im Hafen. Xaver würde sich ein paar Tage später für ein halbes Jahr nach Deutsch-Südwestafrika einschiffen. Sein Auftrag war, angesichts der sprunghaft wachsenden Nachfrage nach Merinowolle und Karakulfellen Geschäftskontakte für die Kürschnerei, Textil- und Pelzwirtschaft seiner Familienfirma zu knüpfen. Josef hatte sich vorgenommen, dem Glücklichen gegenüber keinen Neid aufkommen zu lassen. Die Freunde waren um einen langen, ovalen Tisch gruppiert und lauschten Xaver voller Bewunderung. Der mit etwas schwerer Zunge

– Außerdem will ich meinen Onkel Herbert besuchen. Der besitzt in Deutsch-Südwestafrika eine riesige Rinderfarm mit Fleischverarbeitung. Und seit Neuestem wird das Fleisch auf Kühlschiffen nach Hamburg gebracht!

– Kühlschiffe?

– Über solch eine lange Distanz?

– Bestimmt deutsche Technik!

– Na klar, woher sonst? Neue Technik und Transportmöglichkeiten bedeuten rasant steigende Chancen für Fleischimporte. Die müssen wir nutzen, bevor andere den Markt abgrasen.

Josef war von Xavers Überheblichkeit abgestoßen, schob sie aber auf dessen ansehnlichen Alkoholpegel, den er bereits von der Abschiedsfeier in seiner Firma mitgebracht hatte. Er schaute sich um. Schade, Bruno war nicht da, wie gut, Judith auch nicht. In erster Runde wurde mit Schaumwein angestoßen. Man saß traditionell in bunter Reihe. Josef hatte man zwischen die hübschen Zwillinge Sabine und Pauline Zimmermann platziert (in der gemeinsamen Schulzeit ‘Zimmermädchen’ genannt). Sabine war wie immer auffällig geschminkt und offenherzig gekleidet, Pauline kam gewohnt schlicht daher. Josef unterhielt sich locker und heiter mit ihnen und genoss das entspannt Seichte. Er war über Sabines Aufmerksamkeit heischende Darbietungen und die zunehmend enthemmten Sprüche von Xaver, eigentlich über alles, was ihn von sich selbst ablenkte, froh und dankbar.

Die Tür ging auf, Bruno und Judith kamen etwas außer Atem herein und entschuldigten sich für ihre Verspätung. Man rückte Stühle, und unversehens saßen sich Josef und Judith gegenüber, ohne dass irgendeine Mutter das arrangiert hätte. Zu ihrer Begrüßung wurden noch einmal die Gläser gehoben. Trotz eiserner Konzentration seines Blickes auf Bruno kam es zu einem Sekundenblickkontakt mit Judith, die ihm etwas bleich, aber wunderschön, mit einem kleinen, verschmitzten Lächeln zuprostete: Ertappt, mein Herr! Xaver laut und feucht

– Auf die Karakulfelle! Die machen unsere Frauen schön und uns Männer reich und stolz!

Judith flüsterte Bruno entrüstet etwas zu, Josef verstand aufgrund seines vor unterdrückter Sehnsucht feinst geeichten Gehörs jedes ihrer Worte

– Karakulfelle werden Lammföten abgezogen! Dafür werden sie in den Muttertieren getötet. Das ist unmöglich! Und das auf Farmen von Deutschen!

Bruno flüsternd

– Du hast recht! Aber lass es bitte hier und jetzt unerwähnt!

Judith fügte sich ernüchtert. Auf großen Silberplatten wurden fremdartige Gerichte aus Meeresfrüchten, verschiedenen Fischsorten, frittierten Tintenfischringen und Algenblättern in der Tischmitte platziert und nach lautstarker und wortreicher Begutachtung serviert. Einige der jungen Frauen bestellten Rindfleischgerichte. Dazu Xaver

– Nur zu, die Damen! Auch eure Speisen kommen aus dem Ausland – vielleicht sogar von der Farm meines Onkels Herbert. Ich werde ihm berichten, dass ihr sie unbekannten Leckereien vorzieht, er wird sich freuen und euch einladen!

Bravorufe angeheiterter Damen. Josef fand die Geselligkeit zunehmend anstrengend. Und auf einmal war es da wieder, dieses innere Nagen, das Ziehen in der Herzgegend. Weder die zarten Venusmuscheln mit weichem Madeira noch der Portwein zu den Blätterteig-Törtchen beim Dessert konnten es verscheuchen. Er hörte förmlich die Frage: Warum bist du es nicht, der jetzt wegfährt? In eine Sprechpause hinein fragte ihn Sabine laut – offensichtlich an die ganze Umgebung gerichtet

– Und wenn du es wärst, der jetzt für wer weiß wie lange Hamburg verlassen würde, welche von uns beiden würdest du mitnehmen: mich oder Pauline?

Schon früher hatte sie die hellseherische Gabe, den Nerv jeder heiklen Situation zu treffen. Josef schreckte etwas irritiert auf. Erwartungsvolle, belustigte Blicke richteten sich auf ihn. Er schaffte es.

– Was für eine Frage, natürlich beide!

Allgemeines Lachen.

– Und was würdest du uns in der Fremde bieten?

– Ist doch klar: Zunächst würdet ihr Stadt, Land, Fluss kennenlernen, Kalkutta, Johannesburg, Buenos Aires, Peking, St. Petersburg...

Allgemeines Lachen.

– War klar... und dann?

Allgemeine gespielte Enttäuschung.

– Oooh!

– Dann würdet ihr bei attraktiven Privatlehrern die Landessprache lernen, Hindi, Urdu, Chinesisch...

Allgemeines Lachen. Sabine fordernd

– Jetzt im Ernst! Kannst du endlich meine Frage beantworten?

Er bekam Lust, Sabine zu provozieren.

– Dann würde ich Pauline fragen...

Allgemeines Aufmerken, Pauline errötete. Sabine leicht spitz

– Und was würdest du sie fragen?

– Ob sie dem Küchenpersonal beibringen kann, Labskaus und Hamburger Aalsuppe zu kochen.

Lautes Gelächter. Sabine beleidigt

– Wir kommen nicht mit.

Allgemeines enttäuschtes

– Oooh!

Josef zwinkerte Pauline beruhigend zu Das war ein Scherz! und sagte

– Schade, ich begann gerade, mich darauf zu freuen!

Aber Sabine hörte ihn nicht mehr, sie sprach bereits mit ihrem Nachbarn zu Rechten. Geschafft! Ihn traf ein anerkennender Blick von Judith. Spontan hoben sie ihre Gläser und prosteten sich über den Tisch lächelnd zu. Josef schwankte zwischen tiefem Wohlgefühl und Resignation. Genau das hatte er vermeiden wollen. Vermutlich hatte er zu viel getrunken.

Der Sitz seiner Firma befand sich in einem stolzen, vierstöckigen Gebäude im Kontorhaus-Viertel Hamburgs. Seine Fassade bestand aus dunkelrot glasierten, fein gemusterten Klinkersteinen. Die mächtigen Flügel des tannengrünen Eingangstors waren aus schräg zur Mitte versetzten Paneelen gefertigt. Rechts und links davon schmückten schmiedeeiserne, drachenförmig geschwungene Lampen den Eingang. Die Messinggriffe des Tores hatten die Form von Booten, die durch vielfältigen Gebrauch glänzend poliert waren. Wenn Josef in der Mitte der hohen Eingangshalle, die das Gebäude wie ein Kirchenschiff durchzog, durch die verglaste Tür trat und in die Abteilung ‘Auslandskontore’ ging, hatte er das Gefühl, in die Weiten der Welt einzutreten. Das Unternehmen vertrieb die jeweils modernste nautische Steuerungs- und Messtechnik einschließlich Schiffsschrauben verschiedener Art und Größe. In seinen Lagerräumen in den Kellern der neuen, schlanken Hochhäuser der Speicherstadt türmten sich Kisten mit Instrumenten und Geräten aus Deutschland und dem Ausland. Eine Auswahl von ihnen lag wie kostbarer Schmuck messing- und edelstahlglänzend in großen Vitrinen der Eingangshalle.

Das Geschäft seiner Firma mit Reedereien in den Hansestädten wuchs ständig, wie auch ihr Umsatz. Gleichzeitig entwickelten sich lukrative Beziehungen mit Unternehmen für Ausstattung von Schiffen in Skandinavien. Josef hatte die Kontakte dahin geknüpft. Da er gut Englisch sprach, war er während seines dritten Lehrjahres mit seinem Vorgesetzten, Hasler, als Dolmetscher unterwegs gewesen. Er mochte den umfangreichen, zwar strikt fordernden, aber gern und ausgiebig lachenden Leiter der Abteilung Nord- und Westeuropa. Haslers ausladender Schnauzbart wurde allgemein als ‘Botschafter’ bezeichnet, weil er dessen Befindlichkeiten verriet und im Takt zitterte, wenn Hasler aufgeregt war. Bei Stakkato war abteilungsübergreifend Vorsicht angeraten.

Josefs Sprachkenntnisse hatten zu mehreren Arbeitsaufträgen bei verschiedenen Auslandsfirmen geführt, darunter einem zweimonatigen Aufenthalt in Stockholm, wo er nebenbei leidlich Schwedisch gelernt hatte. Das war ihm leichtgefallen, weil es sich seiner Meinung nach aus ein paar Brocken Englisch und ein paar Floskeln Deutsch zusammensetzte. Nun fragte er sich, wie es mit einem halben Jahr Schweden wäre. Gern würde er mit Elvira durch den neuen Kaiser-Wilhelm-Kanal hinsegeln und die Inselwelt erkunden. Bilder von Stockholm und den weiten Landschaften Schwedens tauchten in ihm auf. Die Schweden hatte er freundlich und entspannt erlebt. Frauen, denen er begegnet war, schienen ihm arglos zugewandt, ohne taktische Berechnung, natürlich und selbstsicher zu sein. Sie hatten ihm die Augen darüber geöffnet, dass auch in der oberen Gesellschaft vieles nicht so formal vonstattengehen musste wie in Hamburgs bürgerlichen Kreisen mit – in verschiedener Hinsicht – eingeschnürten Damen. Die Firma würde einen dortigen ‘Arbeitsaufenthalt’ sicher begrüßen, für ein halbes Jahr in Stockholm würde er auch seine Familie erwärmen können. Doch beim nächsten Hafenbesuch entschied er sich gegen Schweden und für weitere Ferne, fremderes Neues. Er hatte in der oberen Ebene der Landungsbrücken auf die Ankunft einer Viermastbark aus Brasilien gewartet. Von dort aus sah und hörte er eine Traube aufgeregt redender und laut lachender Männer und Frauen förmlich die Laufbrücke herunter tanzen. Er war fasziniert. Was war das für ein Land, in dem die Menschen so bunt und der Umgang miteinander so locker, unbeschwert, heiter und laut sein konnten?

Er wollte auch ein Leben ohne ständiges Lauern auf Wohlverhalten führen, ein Leben, in dem Spontaneität wichtiger war als Scham und Scheu und wo nicht jede impulsive Äußerung schief angesehen würde. Gerade neulich war es ihm so ergangen, als er aus Freude darüber, dass eines der Schiffe seiner Abteilung mit einer großen Ladung teurer Güter, das als vermisst gemeldet war, wieder aufgetaucht war und er laut gejubelt hatte. Danach hatte er sich darüber geärgert, dass er sich dafür auch noch entschuldigt hatte.

Vielleicht war ein südeuropäisches Land, das Brasilien ähnlich war, etwas für ihn. Er fragte Bruno, den Südeuropaexperten von L&M, welches Land er ihm für einen ‘halbjährigen Studienaufenthalt’ empfehlen würde

– Was meinst du zu Italien, dem Lieblings-Ferienland der Deutschen?

Dort ist es doch schön, warm und bunt, die Leute sind lebhaft, es gibt leichtes Essen und hervorragende Weine.

– Italien? Schön ja. Aber es hat vor nicht allzu langer Zeit seine österreichische Fremdherrschaft abgeschüttelt, ist noch von seinen drei Unabhängigkeitskriegen her gespalten, voller sozialer Unruhen und besonders im Süden total verarmt.

– Mann, bist du nüchtern! Also nicht Italien. Schade. Was ist mit Spanien?

– Es ist ein Agrarland mit feudalen Eigentumsverhältnissen. Spanien liegt zur Zeit mit den USA um seine zentralamerikanischen Kolonien im Krieg.

– Du Schwarzmaler! Ich will dort doch keinen Handel treiben! Jedenfalls auch keine gute Ausgangslage! Dann eben Portugal!

– Willst du es nun hören oder nicht?

– Schieß los, Miesepeter!

– In Portugal ist vor kurzem die Monarchie zusammengebrochen, die Folgen sind Armut, Bildungsmangel, Staatsbankrott. Aufstände sind an der Tagesordnung...

– Danke, das reicht! Ich glaube, du willst einfach nicht, dass ich wegfahre.

– Was sonst? Nein, im Ernst, was glaubst du, warum wir in diesen Ländern weder einen Handelspartner noch eine eigene Niederlassung haben?

Oder vielleicht doch St. Petersburg? Seine Eindrücke von seiner einwöchigen Geschäftsreise dahin waren in ihm noch sehr lebendig. Der Besuch dieser Stadt war eine sinnliche Explosion gewesen: Größe, Pracht, Goldornamente, mächtige, überbordende Architektur, langgestreckte filigran verzierte Zarensitze, Paläste voller europäischer Kunstwerke, bunte Märkte, luxuriöse Einkaufspassagen, französische Parkanlagen, italienische Kanal- und Brückensysteme, Hunderte marmorner Statuen, meisterhafte Opern- und Ballettaufführungen. Dort war der Geist Peters des Großen lebendig.

Seine Geschäftspartner hatten ihm dort einige Kirchen gezeigt. Jede war in einem anderen Stil erbaut, eine gewaltiger als die andere. In der monumentalen Kasaner Kathedrale hatte er derart bassdröhnende und jauchzende A-cappella-Chorgesänge gehört, dass er nur mit Mühe sachliches Interesse wahren konnte, wie es seine damalige Funktion verlangte. Für ihn war diese Erfahrung die erste Begegnung mit den Tiefen der ‘russischen Seele‘. Er konnte nicht ahnen, welche Bedeutung diese Stadt für Jahrzehnte seines Lebens bekommen würde.

Während dieser Woche hatte er kaum geschlafen. Es war Juni, und die weißen Nächte hatten seinen Körperrhythmus durcheinandergebracht. Von Glück berauscht war er nach Hamburg zurückgekehrt.

Als er nun - in Erinnerungen schwelgend - am Elbstrand entlang ging, sah er sich im Tagtraum Arm in Arm mit Judith auf dem Newskij-Prospekt spazieren und im deutschen Café österreichischen Strudel und russische Schokolade genießen. Sie sah glücklich aus und legte ihre Hand auf seine. Erschrocken und zugleich ungern schob er das Bild weit von sich. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, rasselten in ihm die Gegenargumente zu St. Petersburg nur so herunter. Für einen längeren Aufenthalt dort sprach er zu wenig Russisch, kyrillisch zu lesen und zu schreiben fiel ihm noch schwer. Außerdem war ihm bewusst, dass er dort eine der wenigen goldenen Wochen des Jahres erlebt hatte. Genau genommen war die Stadt nur zwischen Mai und September unbeschwert bewohnbar. Davor und danach spielte sich das Leben der Bewohner in Dunkelheit, Nebel, Kälte, Regen, Schnee, Eis und Stürmen ab und wurde nicht selten zur Qual. Außerdem hatte L&N lange keine geschäftlichen Kontakte mehr zu seinen Partnern in St. Petersburg gehabt. Im Gegenteil, die in Deutschland hergestellten Geräte stießen dort auf harte Konkurrenz mit holländischen und amerikanischen Produkten, die billiger waren.

Am Kay glitt ein Prachtexemplar von weißem, elegantem Dampfschiff an ihm vorbei, der Reichspostdampfer ‘Preußen’ der Ostasien-Linie Hamburg-Shanghai. An seiner langgestreckten Reling standen Kopf an Kopf Passagiere und Matrosen, die Blicke nach vorne gerichtet. Sollte das ein Wink sein? Sollte er an Ostasien, an China denken? Gerade heute hatte er während der wöchentlichen Arbeitssitzung unwillkürlich aufgehorcht. Nachdem er seinen Bericht präsentiert und nur noch mit halbem Ohr zugehört hatte, weckte ihn ein Wort: ‘China‘. Der Leiter der außereuropäischen Abteilung und notorischer Bedenkenträger, Meyer, hatte genäselt

– Der Welthandel mit China verzeichnet zur Zeit sprunghafte Wachstumsraten. Uns interessiert das weniger, wir werden uns an der Konkurrenz mit den USA, Japan und Australien nicht die Finger verbrennen: Zu weit, zu risikoreich!

Josef entnahm dieser Information, dass es dort mehr und sichere Arbeitsplätze geben würde. China als Ziel? Er resümierte: Ein riesiges Land, eine Hochkultur, eine Gesellschaft, die in jahrtausendealten Traditionen verhaftet war und nun eine degenerierte Regierung hatte, die dabei war, ihre großartigen kulturellen, technischen, politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften zu verspielen und wertvolle Territorien des Landes zu verscherbeln. Gleichzeitig dachte Josef voller Ehrfurcht daran, dass es die Chinesen waren, die bereits im 15. Jahrhundert präzise Steuerungs- und Orientierungstechnik für die Schifffahrt1 entwickelt hatten, mit der sie auf Schiffen von 120 Meter Länge und 50 Meter Breite in ganz Asien und bis Amerika gesegelt waren. Und heute? Im Bereich Navigationstechnik waren die deutschen Fabrikate den chinesischen weit überlegen. Folglich wäre China ein guter Absatzmarkt für Firmenprodukte.

Genügte ihm das? Er verscheuchte den Gedanken mit so heftiger Geste, als sei er in einen Mückenschwarm geraten. Er sprach kein Chinesisch, und das war nicht so leicht zu erlernen wie das Schwedische. Sein ‘eigentliches’ Leben und seine Arbeit mussten zwar nicht konfliktfrei, konnten durchaus entbehrungsreich und anstrengend sein, sollten aber frei von Kriegen in friedlicher Umgebung stattfinden. Er konnte nicht ahnen, dass er dafür zur falschen Zeit an falschen Orten lebte.

Ohne Anker und Kompass

Wieder einmal stand er auf den Landungsbrücken und wartete auf die nächste Ankunft der ‘Patricia‘. Kaum hatte er sie fern auf der Elbe entdeckt, spürte er ein wellenförmiges Rauschen im Kopf und fragte sich besorgt, welcher Teil seines Gehirns ihm diesen Streich spielte. In dem Moment stellte er fest, dass zur Zeit kein ‘Ausland’ als konkretes Reiseziel für ihn in Frage kam. Obwohl nicht überraschend, traf ihn diese Erkenntnis hart. Das Rauschen war verschwunden. Dafür prasselten aus seinem Inneren Fragen auf ihn ein: Waren all seine Gedanken und Gefühle Illusionen? War er zu feige, einen Neuanfang zu wagen? War er bereits zu etabliert, um ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen? War er zu bequem, eine weitere Sprache zu lernen? War er unfähig, sein Elternhaus zu verlassen und eine andere Laufbahn als die vorbestimmte zu ergreifen? War er dabei, seine Jugend, seine tiefsten Wünsche und Träume zu verraten? Er hatte keine Antworten.

Resigniert tauchte er in Melancholie ab, fühlte sich hohl und ohne Bezug zu seiner Umwelt. Er zwang sich, im Familienkreis und am Arbeitsplatz korrekt und angemessen freundlich aufzutreten, obwohl er die ihm zur zweiten Natur gewordene ‘Scheinfreundlichkeit’ verabscheute. Er mied Kontakte, denen er ausweichen konnte. Seine Freunde und Elke luden ihn zu gemeinsamen Veranstaltungen und Ausflügen ein, er hielt sie mit Ausreden hin. Nachts flohen seine Gedanken wie Schleierwolken, die im Sturm über dunkle Himmel hasten. Er fühlte keinen Anker und keinen Kompass in seinem Leben.

Als er nach einem sonntäglichen Mittagsmahl rasch nach draußen entfliehen wollte, hielt ihn seine Mutter am Ärmel seines Jacketts fest.

– Josef, warte einen Augenblick. Bitte sag mir, was los ist. Ich merke seit Tagen, dass du dich bemühst, zu verbergen, dass es dir nicht gut geht. Bitte sag mir, was es ist.

’Diese Mütter!‘

– Gar nichts, Mamá, mach dir keine Sorgen um mich, bitte!

– Doch, ich mache mir Sorgen, solange ich nicht weiß, was dich quält.

– Nichts Schlimmes, Mamá. Ich denke nur über ein Vorhaben nach.

– Ich wäre froh, wenn du andeuten würdest, worum es dabei geht.

– Sag’ ich dir bald, Mamá. Ich muss jetzt fort, ich bin verabredet.

Sie ließ ihn los und seufzte ihm sorgenvoll hinterher. Er hatte zwar keine Verabredung, aber die kam schneller, als ihm lieb war. Als er auf dem Weg ins Kontor, wohin er zu flüchten gedachte, durch die Mellin-Einkaufspassage im Hamburger Hof eilte, hängten sich behänd zwei Frauenarme rechts und links in die seinen. Sabine und Pauline. Ihm drängte sich die Frage auf, ob Pauline alle Eskapaden von Sabine mitmachte und ob sie überhaupt noch zu etwas Eigenem fähig war oder etwas Persönliches zu sagen hätte. Sabine

– Danke, dass du uns in die Mellin-Konditorei eingeladen hast!

– Habe ich das? Ich...

– Lange her. Keine Ausflüchte!

Pauline hatte – als sie seinen Unmut über ihren Überfall bemerkte – ihren Arm zurückgezogen. Entschuldigend hob sie ihre Schultern hoch, errötete und schaute ihn mit ihren großen wasserblauen Augen peinlich berührt an. Inzwischen hatte Sabine ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Sein Ärger über ihre Übergriffigkeit veranlasste ihn, darauf einzugehen. Nach seiner letzten Erfahrung würde er sie auf diese Weise am schnellsten loswerden.

– Also gut, aber zwanzig Minuten, ich muss noch etwas im Kontor erledigen.

– Doch nicht am heiligen Sonntag!

– Wer sagt denn, dass es Arbeit ist? Abgesehen davon, halten Schiffe sonntags gewöhnlich nicht an, wenn unser Kontor geschlossen ist.

– Was ist es dann? Lass mich raten! Du triffst dort Judith!

Wut stieg in ihm hoch, wieder hatte sie einen empfindlichen Nerv getroffen. Sie fixierte ihn mit triumphierendem Blick. Er riss sich zusammen, es gelang ihm, die gebotene Gelassenheit an den Tag zu legen, er sagte augenzwinkernd

– Neugier ist unziemlich für eine Dame und steht dir gar nicht!

Gleichzeitig fragte er sich: Wusste Sabine etwas von seiner Haltung Judith gegenüber? Wussten es vielleicht alle? Nur er wüsste nicht, dass sie es wussten?

– Wie aufregend! Wir spielen mit, nicht Pauline?

Die war bleich vor Scham. Er dachte ‘Das Leben unterdrückter Zwillinge scheint schicksalhaften Bahnen zu folgen‘. Als sie im Café ankamen, waren alle Tische besetzt. Seine Freude darüber währte nur kurz, als er Atem holte, um das Treffen bedauernd zu verschieben, wurde einer frei.

– Entschuldigt mich einen Moment, und bitte bestellt schon einmal – für mich einen Kaffee Melange und ein Baiser.

Sabine war über diese Unziemlichkeit zu überrascht, um frivol zu kontern und schaute ihm beleidigt hinterher. Er war – ohne ihre Reaktion abzuwarten – schnurstracks in einer Telefonkabine verschwunden. Von dort rief er Elke an, die ihm zusagte, ihn baldmöglichst vor Ort abzulösen. Die Übung war ihr geläufig, mit ihren siebzehn Jahren hatte sie pubertären Spaß an diesem Spiel.

Josef schlenderte gelassen zurück zu den ‘Zimmermädchen‘. Sie wurden gerade von einem makellos gekleideten Ober mit gestärkter Hemdbrust in vollendet steifer Haltung bedient. Er dachte ‘Hamburg eben. Das Lineal im Rücken‘.

Sabine nach dem Austausch der üblichen Belanglosigkeiten

– Hast du von Xaver gehört?

– Nein, aber er wird dort viel um die Ohren haben, forschen, herumkommen...

– Du weißt es nicht! Damit ist es leider nichts. Er hat Wechselfieber bekommen und kommt zurück, sobald sein Arzt es erlaubt.

– Böse Geschichte!

Da übernahm – für ihn überraschend – Pauline

– Zum Glück gibt es auch dort deutsche Ärzte für die Erstversorgung. Er schaute sie erstaunt an. Er hatte befürchtet, sie sei endgültig verstummt, aber sie unterbrach sogar Sabine, die gerade zum Sprechen ansetzte

– Und wenn er hier ist, kommt er zu Dr. Nocht in das neue Krankenhaus für Tropenkrankheiten, dort ist er in besten Händen.

Josef schmunzelte in sich hinein, ‘Sie braucht gar keine Hilfe!‘, und sagte

– Ich erinnere mich noch gut an Dr. Nochts entschlossenen Umgang mit unserer Choleraepidemie vor fünf Jahren...

– Ja, ein mutiger Arzt! Ohne seine Anordnungen und seine Strenge hätte es viel mehr Tote gegeben!

Kaum hatte er an seinem Kaffee und dem Baiser genippt, als Elke elegant mit Spitzenschirm hereinkam und in gespielter Überraschung auf sie zusteuerte

– Ich habe euch von außen gesehen. Was macht ihr denn hier?

Er augenzwinkernd

– Im Gegenteil: Was machst du hier? Du kommst wie gerufen, unser Gespräch fortzusetzen, ich habe eine Verabredung im Kontor.

Er sprang wie eine Feder auf und fürchtete im gleichen Augenblick, dass ihn das verraten könnte. Aber die drei jungen Frauen begrüßten sich bereits freudig. Er bot ihr seinen Platz an, nickte im Herausgehen Pauline aufmunternd zu, tippte zum Abschied an seine Hutkrempe, zahlte die Runde an der Kasse und eilte hinaus. Elke machte es sich auf seinem weißen Wiener Stuhl bequem

– Habt ihr schon von Xaver gehört?...

Als Josef die drei Frauen durch das Schaufenster gemütlich an ihrem Ecktisch sitzen und angeregt reden sah, drängte sich ihm das Bild auf, er säße dort mit Judith. Er beschloss, ihr seine Zuneigung zu gestehen und sie zu fragen, wie sie zu ihm stünde. Gleichzeitig wollte er sie um Verständnis dafür bitten, dass er sie erst nach seiner geplanten Auslandsreise heiraten würde, wenn sie es auch wollte. Heute noch würde er sie anrufen und dazu einladen. Zu diesem Gespräch kam es nicht mehr. Er hatte sich zu lange in Arbeit vertieft, bis es zu spät dafür war und er es wieder verschob. Ein folgenschweres Versäumnis.

Als er am sonnigen Sonntag seines 22. Geburtstags aufwachte, wusste er, dass sich in seinem Leben etwas entscheidend ändern würde, er war wieder eins mit sich und der Welt. Er hatte keine Ahnung, was, wie, wann und wo das sein könnte, hatte aber das sichere Gefühl, dass etwas Wegweisendes geschehen würde. Er rasierte sich flott, zog sich sorgfältig an und ging pfeifend ins Esszimmer, genießend, dass das Pfeifen sich an der Stelle nicht ziemte. Seine Mutter und Elke kamen ihm voller Freude entgegen. Sie fühlten, dass seine Fröhlichkeit echt war, und umarmten ihn. Seine Mutter hatte Tränen in den Augen und rief gefühlvoll

– Da bist du ja endlich wieder, mein Junge!

Elke

– Lass das, Mamá!

Die schicksalhafte Konferenz

Am nächsten Tag kam es wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Nach zahlreichen Gratulationen zu seinem Zweiundzwanzigsten im Büro saß man in der wöchentlichen Koordinationsrunde zusammen. Dieses Mal war Mannheimer selbst anwesend und eröffnete die Sitzung.

– Es gibt Änderungen in unserem Handelskonzept sowie neue kurz-, mittel- und langfristige Perspektiven und dazu eine entsprechende Planung.

Gespannte Aufmerksamkeit am langen Konferenztisch.

– Lassen Sie mich von hinten anfangen. Sie wissen, dass wir seit einem Jahr einen Partner in Wladiwostok haben, das Handelshaus ‘Gebrüder Rütters‘, genannt ‘R&R‘. Es vertreibt vorwiegend technisches Gerät für alle Lebens- und Arbeitsbereiche von Schiffsbedarf über medizinische Instrumente, Maschinen für die Bau-, Land- und Hauswirtschaft bis hin zu Fleischwölfen.

Lachen am Konferenztisch.

– Waffen verkauft R&R nicht, aber jeder Mitarbeiter hat eine, denn dort gibt es echte Wölfe, andere Raubtiere und vergleichsweise viele kriminelle Banden.

Staunen am Konferenztisch. Meyer näselnd

– Waffen können wir nicht liefern, das lassen unsere Gesetze nicht zu.

– Keine Sorge! R&R bezieht weniger als 10 Prozent seiner Waren über uns. Ihre Waffen importiert die Firma aus den USA. Die liegen sowieso 1.000 Kilometer näher an Wladiwostok als Hamburg, und der Schiffstransport ist viel einfacher, billiger und schneller. Da geht es immer nur geradeaus.

Meyer verstärkt näselnd

– Wozu braucht R&R uns dann noch?

– Wir sind nicht nur ein Handelspartner von R&R, sondern auch ihr juristischer und wirtschaftlicher Anker in Hamburg und wickeln den europäischen Teil ihrer Bestellungen und Bankgeschäfte ab!

Josef

– Wie es sich anhört, könnte uns dieser Umstand Perspektiven in Fernost eröffnen.

– Richtig! Meine Herren und meine Dame, ich komme zu meinem Hauptthema: Glauben Sie nicht, dass wir uns heute allein durch den Handel mit nautischem Gerät dauerhaft am Markt halten können! Außerdem sind deutsche Produkte teurer als die nordamerikanischen und kanadischen und das einschließlich längerer Transportwege! Da nützt es nichts, dass unsere technisch besser sind. Wir müssen sowohl unser Produktangebot als auch den Kreis unserer Lieferanten und Kunden erweitern. Einer unserer neuen Schwerpunkte dabei ist, Handelspartner in Ostasien und ganz allgemein im Fernen Osten zu suchen und möglichst auch zu finden.

Meyer vorwurfsvoll näselnd

– Das trifft mich und die außereuropäische Abteilung am stärksten!

– Nein, Herr Meyer, der Vorstand hat beschlossen, dass wir uns diesbezüglich neu aufstellen, darauf komme ich gleich zurück.

Leichte Unruhe am Konferenztisch.

– Wladiwostok ist zwar eine rasant wachsende Hafenstadt, hat aber kaum produzierendes Gewerbe, das mit seiner Entwicklung Schritt hält. Dort fehlt es an allem, angefangen von Baumaterial über Werkzeug bis zu Maschinen für jede Art von Konstruktion.

Meyer belehrend näselnd

– Am Baugewerbe haben wir doch gar kein Interesse!

– Nicht direkt und nicht in Hamburg! Wir werden uns in Zukunft weiteren Produktzweigen zuwenden – als nächstes der Medizintechnik und dem Bauwesen – und uns diese Geschäfte mit ausländischen Interessenten nicht mehr entgehen lassen. Das heißt: Wir nehmen deren Bedarfslisten entgegen, kontaktieren entsprechende Lieferanten und organisieren für unsere Kunden Einkauf, Genehmigungen, Gutachten, Transport, das heißt die ganze logistische Abwicklung.

Hasler

– Das gleiche Prinzip, nach dem wir bereits nautische Geräte innerhalb Europas verkaufen.

– Genau! Es ist doch sinnvoller, ganze Schiffsladungen mit Bedarfsgütern an das technische Kaufhaus R&R oder andere Partner in Ostasien zu verschiffen, als einem großen Überseedampfer ein paar nautische Spezialgeräte als Beipack mitzugeben. In der Zeit füllen andere Unternehmen die Schiffe mit Waren jeder Art und kassieren mit diesem Vorgehen doppelte und dreifache Summen.

Meyer eifrig näselnd

– Ach, daher weht der Wind! Für neue Absatzmärkte außerhalb Europas erweitern wir den Angebotskatalog? Das brächte aber eine gehörige Ausweitung unserer Personal- und Lagerkapazitäten mit sich!

– Ganz und gar nicht! Wir bestellen die Bedarfsartikel der Kunden direkt bei deren Produzenten, lassen sie von denen zu den nächstgelegenen Häfen auf den jeweiligen Schiffsrouten transportieren und das nicht nur aus Hamburg und anderen deutschen Städten, sondern aus ganz Europa, perspektivisch gesprochen, weltweit. Wenn ein Produkt in Indien billiger hergestellt wird, hält unser Schiff auf seinem Weg nach Wladiwostok dort an und nimmt es an Bord.

Meyer ironisch näselnd

– Und fährt halb leer von Hamburg nach Indien?

– Keineswegs, Herr Meyer. Wir werden auch auf dem Weg nach Indien in bestimmten Häfen Partner haben, denen wir Waren liefern, oder umgekehrt, die ihre Produkte über uns vermarkten. Für uns sind das neue logistische Herausforderungen. In dieser Disziplin sind wir wirklich noch keine Weltmeister!

Meyer belehrend

– Dagegen wird sich das British Empire zu wehren wissen!

– Da haben Sie Recht, Herr Meyer. Und das heißt: ein weiterer Schwerpunkt unserer außereuropäischen Abteilung wird internationales Handelsrecht sein.

Meyer säuselnd

– Und diese Informationen soll meine Abteilung besorgen.

– Nein, Herr Meyer, die wird sich weiterhin um außereuropäische Belange kümmern. Aber aufgrund der rasanten Entwicklungen im asiatischen Raum hat der Vorstand beschlossen, im Rahmen unseres neuen Handelskonzeptes eine gesonderte Fernost-Abteilung einzurichten.

Aufgeregtes Gemurmel am Konferenztisch.

– Mit Herrn Hasler haben wir die geplante Umstrukturierung bereits durchgesprochen: Nord- und Südeuropa werden zusammengelegt, da sich unsere Südeuropaabteilung im Moment nicht auszahlt. Die außereuropäische Abteilung leiten in Zukunft Sie, Herr Schubert. Und Sie, Herr Meyer bitten wir, die Koordination unseres gesamten Archivs zu übernehmen.

Erschrockene Stille am Konferenztisch. Sekundenlang war kein Laut zu vernehmen, bis Meyer aufstand, heiser, ohne jedes Näseln hinwarf

– Das wollen wir erst einmal sehen, Herr Mannheimer!

und erhobenen Hauptes zur Tür hinausging, während Mannheimer sagte

– Wie Sie meinen, Herr Meyer!

Er wartete, bis Meyer draußen war, und zündete sich eine Zigarette an. Langsam kamen die Kollegen wieder ins Reden und nach kurzer Weile wieder in gewohnter Lautstärke. Bruno stieß Josef an und flüsterte

– Mit Südeuropa hat er natürlich Recht. Gut, dass ich die außereuropäische Abteilung übernehmen kann. Aber bist du nicht der beste Kandidat für die Fernost-Abteilung?

– Da ist noch etwas im Busch, vermutlich irgendwo in Asien außerhalb des British Empire. Lass uns abwarten!

Mannheimer stand auf, ging federnden Schritts zur Weltkarte und griff einen Zeigestock, von dem er ausschweifend Gebrauch machte.

– Wie Sie wissen, ist Russland ein Land von der Dimension eines ganzen Kontinentes. Sein sogenanntes ‘europäisches Kerngebiet’ – außer Metropolen wie St. Petersburg, Moskau, Kiew und Jekaterinburg – ist noch feudalistisch strukturiert. Der größte Teil des Landes, Sibirien, ist noch nicht einmal Agrarland. Dort gibt es – neben Inseln der Zivilisation – Naturvölker, die vom Jagen und Fischen leben. Über Zigtausende von Kilometern sind Flüsse, Seen und Meere die Hauptverkehrswege. Personen bewegen sich im Sommer zu Pferd, per Kutschen, Flussdampfern und Lastkähnen und im Winter per Pferdeschlitten fort.

Die Winter dort dauern durchschnittlich, er betonte - durchschnittlich sieben Monate. Zum Glück nicht in Wladiwostok.

Erstauntes Raunen am Konferenztisch.

– Sibirien ist voller Bodenschätze, Gold, Diamanten, Erdöl und so weiter. Allerdings ist das meiste davon noch nicht erschlossen – bis auf den Kohleabbau und das Goldwaschen in Flüssen. Dazu gibt es wertvolle Zobel- und Silberfuchspelze sowie andere Naturprodukte im Überfluss. Trotzdem importieren die Eliten in den russischen Metropolen ihren europäischen Lebensstandard einschließlich der Fachleute aus Westeuropa.

Josef

– Tut die Regierung denn schon etwas, um Sibirien zu erschließen?

– Oh ja, die Regierung hat das erkannt, beeilt sich, das zu ändern und lädt ausländisches Wissen, Können und Kapital dazu ein, sich dort mit Rat und Tat anzusiedeln. Daher ist die Nachfrage nach Waren, Technik und Fachleuten gewaltig, für die Umsetzung ihrer gesamtsibirischen Ziele bräuchte sie Tausende von Experten. Das größere Problem dabei ist, dass es vor Ort weder Infrastruktur noch modernen Transport gibt.

Daher werden die meisten Waren für den Fernen Osten Russlands aus dem Ausland importiert, auch im eigenen Kernland produzierte Produkte gelangen nicht nach Sibirien. Eine Sendung von Moskau nach Wladiwostok dauert länger als eine von Hamburg per Dampfschiff um die halbe Welt.

Erstauntes Raunen am Konferenztisch.

– Die Regierung lässt gerade die sogenannte GSE, die ‘Große Sibirische Eisenbahn‘2, von Wladiwostok nach Moskau bauen, mal eben 10.000 Kilometer. Fünf oder sechs Trassenabschnitte von je etwa 1500 Kilometern werden gleichzeitig verlegt. Ein absolut imposantes Projekt. Von Wladiwostok aus gibt es bereits einen Trassenabschnitt von 800 Kilometern. Das wäre hier durch dreiviertel Deutschland, dort ist es nur ein Bruchteil der Strecke, Nahverkehr sozusagen.

Josef

– Kommen die Fachleute dafür auch aus Deutschland?

– Die meisten kommen aus industriell fortschrittlichen Ländern, dazu ein paar aus dem europäischen Russland. Auch die meisten Materialien für das Mammutprojekt kommen aus dem Ausland. R&R importiert Schienen, Schwellen und Weichen, einschließlich Zubehörs aus Australien und den USA.

Hasler

– Gut, dass wir bei der rasanten Weltentwicklung durch R&R bereits vor Ort vertreten sind!

– Da kann ich Sie beruhigen, der ‘Ferne Osten’ Russlands wird vor allem von Deutschen, und… (er blickte schmunzelnd über den Rand seiner Brille) …natürlich vorwiegend Hamburgern, so auch Severin Rütters, unter schwierigsten Bedingungen mit Fleiß und Schweiß entwickelt. Davor können wir nur den Hut ziehen, meine Herren!

Allgemeines Gemurmel am Konferenztisch, aus dem mehrfach ‘Respekt!‘ herauszuhören war.

– Jetzt sehen Sie, was für ungeahnte Möglichkeiten wir durch R&R dort haben. Vor Ort herrscht ein unendlicher Bedarf an Industriegütern.

Und das wird über Jahrzehnte so bleiben. Nun zum konkreten Anliegen von R&R. Es wird Sie nicht überraschen! Die Firma ist in den zwanzig Jahren seit der Gründung gewachsen und hat ihr Fachpersonal aus aller Welt rekrutiert. Der größte Teil davon sind Abenteurer oder Fachleute oder beides. Aber Buchhaltung und Verwaltung hinken hinterher und benötigen eine professionelle Hand und eine sachgerechte ‘Modernisierung’ – vermutlich herrscht da Chaos. Vor Ort hat sich niemand gefunden, der das leisten könnte. Im Klartext: R&R sucht dringend einen deutsch-, englisch- und russischsprachigen Buchhalter, der zusätzlich einige Firmeninterna verwalten soll. Unser Vorstand hat wegen der Bedeutung dieser Partnerschaft beschlossen, zunächst im Rahmen unserer Belegschaft nachzufragen. Eine Bewerbung von uns könnte sich positiv auf unsere Expansion in Richtung Fernost auswirken.

In Josef begann es zu rumoren. Ihm blieb die Luft weg, ihm wurde schwindlig. Frau Riekmann, Leiterin der Firmenbuchhaltung

– Wo würde die Kraft angestellt, und von wem würde sie bezahlt?

– Alles vor Ort, Frau Riekmann. Die Bezahlung entspricht der hiesigen mit Auslandszuschlag. Transport, Logis, Kost und Verpflegung sind kostenlos, der Urlaub beliefe sich auf sechs Monate alle sechs Jahre.

Nach kurzem der Fülle und Tragweite der Information geschuldetem Schweigen brandete ein lautes, erregtes Stimmengewirr um den Konferenztisch auf.

– Frau Riekmann, können Sie sich vorstellen, dass jemand aus unserer Buchhaltung solch einen Schritt wagen würde? Der Auslandszuschlag wäre ein finanzieller Anreiz.

– Ich habe gerade darüber nachgedacht und kann Ihnen keine großen Hoffnungen machen. Unsere drei Buchhalter und ich sind hier fest verankert und haben schulpflichtige Kinder. Außerdem spricht niemand von uns Russisch...

Mannheimer unterbrach sie

– Das ist nachvollziehbar. Aber – spontan und unverbindlich gefragt – wie sieht es in den anderen Abteilungen aus?

Man machte sich klein, blätterte in Unterlagen, zwirbelte an Schnurrbärten, schaute ratlos, kratzte sich nachdenklich am Kopf. Insgesamt herrschte lautlose Stille. In die hinein sagte eine Stimme unvermittelt, ruhig und entschieden

– Ich nehme an!

Blitzartig wandten sich alle Gesichter Josef zu. Nach außen war er die Ruhe selbst, innerlich war er aufgewühlt. Wer oder was in ihm hatte das gerade beschlossen? Er war irritiert. Jetzt hieß es Contenance! Er schaute in die Gesichter der Kollegen: Staunen, Überraschung, Befremden.

– Genau darauf hatten wir gehofft! Wer sonst hat die erforderlichen Kenntnisse, internationale Erfahrung und beherrscht auch noch das Russische?!

Mannheimer nickte Josef anerkennend zu. Von den Kollegen fasste sich Bruno als erster.

– Aber Josef! Das ist für dich doch ein enormer Abstieg vom Abteilungsleiter zum Buchhalter! Allein finanziell, vom Karrierestatus ganz zu schweigen!

Josef war wieder ganz er selbst.

– Ich habe das soeben kurz durchgerechnet und gehe davon aus, dass es dort zumindest Kohlen zum Heizen, einen Bärenfellmantel und Stiefel aus Rentierleder umsonst gibt.

Bruno, ungehalten

– Das ist nicht witzig! Die Winter dort sind doppelt so lang und dreimal so kalt wie hier.

Hasler meldete sich mit geröteten Backen, die Enden seines Schnauzers zitterten im Stakkato.

– Das können Sie nicht machen, Josef, Sie sind die Säule unserer Nord- und der Westeuropa-Abteilungen. Diese Verantwortung können Sie doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts fallen lassen.

Mannheimer ruhig

– Herr Naumann verdient für seinen mutigen Schritt nur eines: unsere Unterstützung und zunächst einmal den gebührenden Applaus!

Alle stimmten ein, man stand auf, ging zu Josef, umarmte ihn und äußerte in vielfältiger Form seinen Respekt einschließlich Schulterklopfen. Dabei trafen ihn auch einige recht kräftige Schläge, von denen er nicht wusste, wie sie gemeint waren. Aber das war ihm in Anbetracht seines inneren Chaos gleich. Mannheimer verkündete das Ende der Sitzung. Als man auseinanderlief, ging er auf Josef zu.

– Jetzt wissen Sie, warum Sie nicht unser Fernost-Koordinator geworden sind.

– Sie kennen mich offensichtlich besser als ich selbst!

– Dagegen haben Sie doch hoffentlich nichts! Ich erwarte Sie in meinem Büro.

Er schmunzelte zufrieden, nickte, drehte sich um und entfernte sich federnden Schrittes. Josef flüsterte Bruno zu

– Ich wusste, dass etwas passiert! Bruno, das ist mein Tor zur Welt.

Lass uns nachher treffen. Und bitte: Ich sage es Judith selbst!

Bruno nickte geistesabwesend. Beim Zurückschauen sah Josef, dass er als einziger der Runde zusammengesunken auf seinem Stuhl sitzengeblieben war.

Abschied und Aufbruch

Man schrieb das Jahr 1898. In Gesprächen mit Mannheimer nach der entscheidenden Sitzung hatte Josef erfahren, dass er aufgrund einer günstigen Schiffspassage nur einen Monat Zeit hatte, seine Übersiedlung nach Wladiwostok vorzubereiten. Außerdem würde ihn seine Reise zunächst für vierzehn Tage nach London führen. Dort sollte er Kooperationsverträge mit L&M-Partnern erstellen, Warenkäufe tätigen und Transporte für R&R auf den Weg bringen. Sein Ansprechpartner für die juristische und finanzielle Abwicklung der Geschäfte sei Mr. Nathaniel Smith, Auslandsbeauftragter der Parr‘s Partnerbank. Mit dieser sollte er vorverhandelte Warenkreditverträge überprüfen und sie nach telegrafischer Endabstimmung mit Hamburg einschließlich Unterschriften der Bank zurücksenden.

Danach würde er sich auf der ‘Ardgay’ nach Wladiwostok einschiffen. Neben den von Rütters bestellten Waren seien auch erstmalig andere Produkte für ein weiteres deutsches Unternehmen auf dem Weg an Bord, die nach den neuen Regelungen von L&M verschifft würden. Er würde die Abwicklung dieser Transporte begleiten. In vier der Häfen, die das Schiff anlaufen würde, gäbe es Post- und Telegrafenämter. Mannheimer hatte sein Büro angewiesen, Josefs Reisedokumente und die Vertragsunterlagen vorzubereiten, auch hatte er die neue Fernost-Abteilung gebeten, alle Warenpapiere einschließlich benötigter Genehmigungen und Gutachten zu besorgen.

Mit großer Freude und überschäumendem Tatendrang machte sich Josef daran, einen Arbeitsplan für die verbleibenden Tage in Hamburg aufzustellen. Aufgrund der Menge und der komplexen Herausforderungen seiner Aufgaben schwirrte ihm der Kopf, aber das Gesamtprojekt kam seinem Unternehmungsgeist in jeder Hinsicht entgegen, ja, es schien für ihn gemacht. Mannheimers Firmenpolitik konnte er herunterbeten, aus den Koordinationssitzungen der Firma kannte er die meisten Produktdaten. Er hatte erfolgreich mehrere Auslandsreisen für die Firma absolviert und konnte leidlich Russisch.

Insgesamt fühlte er sich für das Abenteuer bestens gerüstet. Aus Dankbarkeit, diesen Zuschlag bekommen zu haben und aus Ehrgeiz, diesem Auftrag gerecht zu werden, stand für ihn an erster Stelle, alles zur Zufriedenheit der Firma zu meistern. Daher nahm er Unmengen an Informationen zur Reise und zu den Arbeitsbedingungen rasch auf und stimmte ihnen einschließlich der harten Urlaubsregelung bedenkenlos zu. Im Geist befand er sich bereits auf den beiden Schiffen, fuhr auf der ‘Columbia‘ nach England und auf der Ardgay durch das Mittelmeer, den Suezkanal, das arabische Meer, den Indischen Ozean sowie das chinesische und japanische Meer nach Wladiwostok. Unterwegs zu sein, Weltmeere, dazu ferne Länder und Völker kennenzulernen, als Bonbon noch vierzehn Tage lang London erleben zu können, und alles von der Firma bezahlt, erschien ihm wie ein Märchen und versetzte ihn in einen permanenten Glückszustand.

Die erste leise Verunsicherung klopfte an seinen Verstand, als ihm auf dem abendlichen Heimweg bewusst wurde, wie wichtig es ihm war, seine Familie für diese Entscheidung zu gewinnen. Wie würde sie die Nachricht aufnehmen? Würde sie zustimmen? Aber er schob jeden Zweifel als Folge der außergewöhnlichen Herausforderungen beiseite. An dem Tag war es sowieso zu spät, mit der Familie zu sprechen.

Die tiefere Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag, als er sie am nächsten Tag nach dem Abendessen in den Salon gebeten hatte. Bereitwillig und fröhlich war man seinem Vorschlag gefolgt. Elke und die Mutter hatten augenzwinkernd bedeutungsvolle Blicke gewechselt. Als alle gemütlich saßen – er war stehengeblieben –, verkündete er locker in einer Art Vortrag die Neuigkeit über seinen Firmenauftrag, der ihn mittels einer Schiffsreise um die halbe Welt bis nach Wladiwostok führen würde. Dem fügte er eine Schilderung des Ortes als unterentwickelte Hafenstadt an, bei dessen Aufbau er nun mitwirken könnte.

Erwartet hatte er ähnliche Reaktionen wie im Kontor: Nach anfänglicher Überraschung würde sein Vater ihm anerkennend applaudieren, die Mutter würde – zunächst weinend, aber letztlich zustimmend – folgen. Die Geschwister würden ihn erstaunt befragen und stolz hochleben lassen. Doch was dann kam, war alles andere als das. An ihn wurde kein Wort gerichtet. Er hatte noch nicht geendet, als die Mutter aufschluchzte und sich dem Vater in die Arme warf, der versuchte, sie zu beruhigen. Arnulf erbleichte und sah Josef mit schräg verzogenem Gesicht ungläubig an. Elke war grau geworden und starrte ihn wie gelähmt an. Etwas schnürte Josef die Kehle zu. Bleierne Schwere zog ihn auf das Sofa. Tief erschrocken über seine Fehleinschätzung verstummte und erblasste auch er und stellte sich die Frage, ob er auf das Angebot wegen der Schiffsreise um die halbe Welt eingegangen war. In seinem Sturm und Drang hatte er verdrängt, dass er mit Leib, Seele und Geist zu diesen Menschen gehörte, dass er dabei war, all das leichtfüßig aufzugeben, abgesehen davon, dass dieses Projekt eine andere Dimension von Abschied und Neubeginn bedeutete, als er sie bisher kannte:

Es war für sechs Jahre, und es ging an die Ostküste Russlands, das bedeutete, auf die gegenüberliegende Seite der Erdkugel. Russland war ein diktatorisches Zarenreich, Wladiwostok war ein kleiner Hafen und militärischer Vorposten. Dort lebten vorwiegend chinesische und koreanische Arbeiter sowie russische Soldaten und ein paar deutsche Abenteurer und Unternehmer, die Warenhäuser in die Landschaft stellten. Er vermutete, dass es dort kaum medizinische Versorgung gab, von kulturellen Veranstaltungen und sportlichen Betätigungen wie Segeln ganz zu schweigen. Außerdem kannte er seinen zukünftigen Chef, Herrn Rütters, und dessen Mitarbeiter nicht. Es war also ein Aufbruch in absolute Ungewissheit, ein Abschied von Europa, von Deutschland, von Hamburg mit all seinen Angeboten und Sicherheiten, von politischer Liberalität und zuallererst von seiner Familie und seinen Freunden, Mannheimer und seinen Kollegen.

Der Vater fand als erster um Fassung ringend mit heiserer Stimme zu Worten zurück

– Josef, du hast mit uns gar nicht darüber gesprochen!

Josef kleinlauter

– Das tue ich doch gerade, Vater. Du hattest mir gesagt, ich solle mich bei meinen Ideen weder stören noch bremsen lassen!

Der Vater streng

– Josef! Solch ein Projekt war nicht gemeint. Das ist kein Praktikum! Du hast uns in diese Entscheidung nicht einbezogen. Die geht uns aber alle an und verändert unser aller Leben. Seit wann wusstest du davon?

– Erst seit gestern! Auch für mich ist das alles neu!

– Hast du dir keine Bedenkzeit ausgebeten?

Josef, wesentlich zaghafter

– Nein!

Er konnte ja nicht zugeben, dass ihm die Worte der Zustimmung aus dem Mund gefallen waren, bevor er sie richtig überlegt hatte, und dass er sie einfach stehengelassen hatte. Die Mutter hatte sich etwas gefasst und fragte mit noch schluchzender Stimme

– Können wir daran noch etwas ändern? Sechs Jahre ohne dich halten wir nicht aus. Und du ohne uns auch nicht, da kenne ich dich besser als du dich selbst!

Elke mischte sich weinend ein.

– Und warum so weit? Es muss ja nicht das blöde Hannover sein. Aber ausgerechnet Russland und dann noch dieses hinterletzte Fischerdorf! Arnulf ungläubig

– Hast du bei deiner Entscheidung außer an Abenteuer und Schifffahrt noch an irgendetwas anderes gedacht?

Die Mutter, sich verhaspelnd

– Mannheimer wird verstehen, dass wir damit nicht einverstanden sind.

Er hat dich genommen, weil du unverheiratet bist. Wir kennen uns ja! Er hat auch Familie und würde selbst bestimmt nicht fortgehen! Karl, redest du mit ihm?

Der Vater schüttelte den Kopf.

– Nein, Margarete, Josef ist erwachsen und will seiner Wege gehen. Es ist nur so überraschend, so weit und für so lange Zeit!

An Josef gewandt

– Du musst unbedingt die Bedingungen neu verhandeln und mindestens alle zwei Jahre Heimaturlaub beantragen!

So ging es weiter und weiter. Josefs Herz wurde bei jedem Satz schwerer. Bald schwiegen alle, nach langer Pause sagte der Vater

– Wir reden morgen weiter! Ich gehe nicht zur Arbeit, wir müssen vieles regeln.

Der Vater ging nicht zur Arbeit? Das war noch nie passiert. Und das seinetwegen! In der Nacht konnte Josef nicht schlafen. Die Folgen seines Entschlusses stürmten auf ihn ein wie ein aufgewühltes Meer. Er hatte sich nicht bewusst gemacht, was für persönliche Veränderungen das Projekt mit sich bringen würde. Am Folgetag konnte er zwar mit prinzipieller Unterstützung seines Vaters die Wogen in der Familie glätten, aber die Gesamtstimmung blieb angespannt.

In der Nacht darauf war Josef außerdem eingefallen, dass ihm die heikelste Aufgabe noch bevorstand: das Gespräch mit Judith. Er wunderte sich, wie sehr dieser Abschied seine Freude überschattete. Jetzt, wo seine Sehnsucht nach Ferne und Weite auf konkrete Gleise gestellt war, gestand er sich ein, dass ihn der Abschied von ihr in bisher unbekannter Tiefe schmerzte. Offensichtlich hatte sich sein Herz schon länger für sie entschieden. Dabei hatte er jahrelang versucht, genau das zu vermeiden. Bestürzt stellte er fest, dass – was Judith anging – seine Gefühle und sein Verstand ein unverbundenes Eigenleben geführt hatten.