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»Wenn wir brennen, brennen wir gemeinsam.« Laire hat das Erbe ihrer Eltern angetreten und wurde von den Aufständischen zur Anführerin des Widerstands gewählt. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land und so wird Laire zum Gesicht der Bewegung, deren Ziel es ist, König Tevin zu entmachten. Als dieser zu einem Ball anlässlich seiner Verlobung lädt, spielen Laire und Kelden mit ihrem Eintreffen Tevins grausamen Plänen in die Hände: Nur, wenn Laire Keldens Schuld aus der Abmachung mit ihm begleicht, können die Menschen, die sie lieben, gerettet werden. Doch der Preis erscheint zu hoch und Laire muss schon bald eine folgenschwere Entscheidung treffen – für sich, ihre Liebe und ihr Land. Band 1: Glutmädchen - Flamme der Highlands Band 2: Glutmädchen - Feuer der Highlands
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Seitenzahl: 604
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Copyright © 2024 by
Lektorat: Maya Shepherd
Korrektorat: Wortkosmos
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittgestaltung: Giessel Design
www.giessel-design.de
Bildmaterial: Shutterstock
Kapitelillustrationen Printausgabe: Sameena Jehanzeb
www.saje-design.de
ISBN 978-3-95991-785-8
Alle Rechte vorbehalten
Es handelt sich um ein fiktives Werk, Ähnlichkeiten zu realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Warnung
Laires Geschichte ist von grausamen Erlebnissen geprägt, die für sensible Leser Auslösereize darstellen und sie beunruhigen können. Wenn du dazu gehörst, betrachte diesen Hinweis als Reisewarnung und brich nur dann zum Lesen auf, wenn du es für dich verantworten kannst.
Feuer der Highlands – Playlist
1. Zuhause
2. Widerstand
3. Anführerin
4. Frieden
5. Duell
6. Abschied
7. Angriff
8. Auferstehung
9. Sturm
10. Glut
11. Trunken
12. Sommermohn
13. Wahrheit
14. Bruder
15. Königin
16. Esme
17. Königsmörder
18. Maskenball
19. Gebieter
20. Feuer
21. Vollzug
22. Pamphlet
23. Spiegelbilder
24. Flamme
25. Blaues Blut
26. Hässlich
27. Prinzessin
Epilog
Danksagung
Drachenpost
Nicht aufhören
Main Theme
Empire – Beth Crowley
Zuhause | Kapitel 1
Giorni Dispari – Ludovico Einaudi, Franceso Feruglio
Widerstand | Kapitel 2
Northern Lights – Michele McLaughlin
Duell | Kapitel 5
War of Hearts – Ruelle
Alecs Theme | Kapitel 6
Body – SYML
Verfolgung | Kapitel 7
Run With Your Heart – Dream Cave
Auferstehung | Kapitel 8
Inspiration – Florian Christl, The Modern String Quintet
Ro & Kerr | Kapitel 12
Endless Story about Sun and Moon – Kai Engel
Tanz | Kapitel 12
Float – Flogging Molly
Sommermohn | Kapitel 12
Wild Side – Roberto Cacciapaglia
Weckruf | Kapitel 13
Donald Where’s your Trousers – The Irish Rovers
Wahrheit | Kapitel 13
An Isolatet Moment – Keith Merrill
Found Family | Kapitel 18
Leave a Light On – Red Hot Chili Pipers feat. Tom Walker
Tevin | Kapitel 19
Here comes the King – X-ray Dog
Gebieter | Kapitel 19
Concertino – Florian Christl
Flamme | Kapitel 20
Retribution – Samuel Bohn
Aufstand | Kapitel 24
Our Last Dance – Samuel Bohn
Prinzessin | Kapitel 27
Black Heart – BrunuhVille
Laire & Kelden | Epilog
Remembrance – Tommie Profitt, Fleurie
Struans Song | Epilog
Red is the Rose – The High Kings
Outro
Sea of Stars – Michael Logozar
Die komplette Playlist ist auf Spotify zu finden.
Kelden
Ich beobachte sie wie durch Glas. Meine Augen gaukeln mir vor, dass ich sie haben kann, doch der Versuch, mich ihr zu nähern, scheitert an der unsichtbaren Barriere zwischen uns: Alec Kincade.
Der Kerl, den ich für Laire aus dem Feuer gezogen habe und der zu meinem Bedauern immer noch atmet. Dabei verdankt er es vor allem ihr, dass er weiterhin unter den Lebenden weilt. Nachdem Wallace’ Schuss ihn dem Tod nähergebracht hat als dem Leben, war es Laire, die seine Wunden reinigte, sein Fieber eindämmte und sogar die verdammte Kugel an seiner Lunge vorbei entfernte. Keinen Moment wich sie ihm von der Seite. Umsorgte ihn wie jemanden, der ihr nahesteht. Der ihr etwas bedeutet.
Ich verdamme den Mistkerl für die Vertrautheit, mit der sie ihn ansieht. Dafür, wie sie ihm das Haar aus dem Gesicht streicht, wenn er sich unter Albträumen windet. Dass ihn ihre sanfte Berührung niederdrückt, sobald er sich vor Schmerzen aufbäumt. Und weil sie ihm zuflüstert, während sie für mich nur Schweigen übrighat. Dann wünschte ich, ich würde statt seiner im Delirium schwelgen, und die einzige Aussicht auf Hoffnung wäre sie.
Bereits während der Widerstand in das Anwesen eindrang und ich zusammen mit meinen Männern den Plan umsetzte, die Erbin zu retten, hätte ich es sein müssen, der sie befreit. Ich hätte Laire beiseitestoßen, den Balken abwehren und die Kugel abfangen müssen. Weil ich, bei den Göttern noch mal, die Abmachung mit dem König für sie gebrochen habe. Den Handel mit meinem verdammten Bruder, dessen Geheimnis sie nun kennt. Ich habe ihr mein Leben verschrieben und das aller in Gefahr gebracht, die mir etwas bedeuten. Habe eine Lüge erschaffen, sie wäre nur irgendein Mädchen, das mir das Bett wärmt, die ich selbst nie glauben würde.
Weil sie kein Mädchen ist.
Nicht irgendeines.
Tatenlos zuzusehen, wie ein anderer ihre Rettung war, spuckte auf diesen unausgesprochenen Pakt, der so viel mehr ist als ein Schwur unter Eid.
Er verheißt, dass ich wieder lieben kann.
Dass es mein Herz ist, was in ihrer Nähe so schnell hinter meiner Brust schlägt.
Meine Kehle ist taub vom Brand, als die goldgelbe Flüssigkeit zum wiederholten Mal meinen Rachen hinunterrinnt. Während ich die Flasche absetze, fängt sie den Schein des Feuers ein, hinter dem Laire über Kincade gebeugt lehnt und seine Stirn befühlt. Nachdem sie einen kühlen Stofffetzen darübergestrichen hat, beginnt sie, sein Hemd aufzuknöpfen, und ich muss einen weiteren Schluck nehmen, um das Bild zu unterbrechen.
Im Hintergrund unseres notdürftigen Lagers bereiten sich die anderen auf die Nacht vor. Außer dem Whiskyjungen ist niemand ernsthaft verletzt und doch sind die meisten müde und suchen den Schutz der Dunkelheit unter den Bäumen. Die Flammen zu ihren Füßen können ihre frierenden Knochen nicht ausreichend wärmen, deshalb sind einige von ihnen zusammengerückt und versuchen, sich gegenseitig Geborgenheit zu schenken. Ganz in der Nähe säuselt Bains leises Schnarchen unter regelmäßigen Atemzügen ein kleines bisschen Frieden vor, während Glenn nie ruht. Der erfahrenste meiner Männer lehnt an einer dicken Eiche und hält seinen Blick wachsam ins Dickicht gerichtet. Dorthin, wo uns jederzeit ein neuer Hinterhalt erwarten kann. Wie die meisten von uns ist auch er sich bewusst, dass Wallace mit seinen Königstreuen zurückkehren könnte und hier draußen leichtes Spiel hat, wenn wir uns zu früh in Sicherheit wähnen. Unter den Sternen gibt es kein Überraschungsmoment, keine Deckung hinter festen Mauern, keine Möglichkeit auf schnellen Rückzug. Nur einen weiteren Grund zum Kampf, in dem die Unaufmerksamen ihr Leben verlieren.
Ich bin nicht der Einzige, der Laire beobachtet. Auch die Aufständischen werfen ihr verstohlene Blicke zu. Sie wissen, wer sie ist, und haben Erwartungen an sie. Hoffnung. Sie fragen sich, ob sie ihr Schicksal annehmen und ob sie ihm gewachsen sein wird.
Das Widerstandsmädchen aber weiß gar nichts. Als wir auf die anderen trafen, die nach Laires Befreiung vorausgeritten waren, vertröstete man sie – wie auch ich sie schon immer im Dunkeln gelassen habe. Morgen jedoch werden wir unser Ziel erreichen, dann wird sie verstehen. Dann wird sie Antworten bekommen. Und eine Entscheidung treffen müssen.
Kurz bevor ich einen nächsten Zug hinunterspülen kann, wird mir die Flasche aus der Hand gerissen. Ich huste, weil ich es nicht kommen sah und gierig versuche, noch möglichst viel Whisky zu schlucken. Als mein trüber Blick dem von Kerr begegnet, legt sich ein Schleier aus Wut darüber, weil er den Inhalt der Flasche soeben geräuschvoll auf den Waldboden plätschern lässt. Ich staune selbst, wie hart meine Stimme klingt, als ich ihn anfahre: »Bei den Göttern … Was denkst du, wer du bist?«
»Dein Freund.«
Sein behutsamer Ton macht mich rasend. Ich stürze auf ihn zu und pralle gegen ihn. Die Flasche geht zu Boden, aber sie zerspringt nicht. Stattdessen leckt der restliche Alkohol aus ihr, der eigentlich durch meine Kehle fließen sollte. Kerr packt mich an den Oberarmen und verhindert so, dass ich ihn von den Füßen reiße.
»Lass mich! Wenn er sie mir schon wegnimmt, kann ich wenigstens seinen Whisky trinken.«
»Du machst dich lächerlich. So treibst du sie von dir fort.« Kerr wirft einen Blick über meine Schulter und ich bin mir sicher, dass Laire uns beobachtet.
Meine Zunge ist müde. Fast so schwer, wie der Klumpen in meiner Brust. »Das ist sie schon. Meilenweit.«
Kerr antwortet mit einem Flüstern: »Dann hol sie ein, anstatt sie vor dir herzutreiben.«
»Ich bin es nicht, der sie jagt. Sie ist fortgelaufen. Weg von mir.«
»Aye, mein Freund. Du hast recht. Du jagst sie nicht. Du verjagst sie. Weil du ihr Bruchstücke deiner Wahrheit hinwirfst und sie dann sich selbst überlässt. Mit all ihren Fragen, all dem, was sie nicht versteht. Aber anstatt ihre Not zu sehen, bist du blind vor Hass auf einen Mann, der mehr tot ist als lebendig. Du warst so kurz davor …«
»Ich war kurz davor, ihr alles zu erzählen, aye. Und wofür? Dass ihre Finger überall auf dem Kerl sind und wer weiß, wo sie noch …«
»Kelden!«
Mein Name aus seinem Mund rüttelt mich wach. Er ist ein Echo, das Laires geweitete Augen, ihre Zerrissenheit und ihre Angst zurück in mein Gedächtnis rufen. Die Erinnerung, wie sie ihn mir nachrief, als ich sie an der Hand hinter mir aus dem Großen Festsaal zog und nie mehr loslassen wollte. Bevor ich ihren Plan zur Flucht vereitelte, sie freigab und sie dennoch in mein Bett gestiegen war. Bevor wir …
»Es …« Mein Kopf ist so schwer, dass er mir auf die Brust sackt. Das Stöhnen, das es mir abverlangt, nicht aufzuschreien, klingt nicht länger nach mir. Kerr hat Mühe, mich zu halten, als ich ihm entgegentaumele. Die nächsten Worte hole ich so tief begraben aus mir hervor, dass sie kaum mehr als ein Wispern sind, dem sich mein Freund nähern muss, um es zu verstehen. »Es tut weh.« Ich keuche und Kerr hört geduldig zu. Auch, als ich dem Schmerz einen Namen geben will und damit ein Gesicht, das uns beide seit einer Ewigkeit verfolgt. »So wie damals, als …«
Und doch ganz anders, denke ich. Ich wünschte, der Nebel des Hochprozentigen würde mich endlich einhüllen, bedauerlicherweise bin ich jedoch so klar, wie der Nachthimmel über uns.
»Sie ist aber nicht Esme …« Kerr klingt so gequält, dass ich mich augenblicklich schuldig fühle. Für all den Kummer, der zwischen den Wintern ohne sie liegt und den ich aus Selbstsucht wieder hervorhole. Nur weil ich zu feige bin, der Mann zu sein, der ich sein sollte.
»Sprich nicht von ihr!«
»Das tue ich für dich. Oder glaubst du, mich befriedigt der Schmerz, wenn ich an sie denke? Nein, mein Freund. Er zerstört mich, wie dich. Jedes Mal. Selbst nach all den Jahren. Bei Gott … sie war meine Schwester.« Seine Stimme bricht ab. »Und jetzt hör mir zu! Laire ist nicht sie. Du wirst sie nicht verlieren. Nicht heute, nicht an diesem gottlosen Ort, nicht an irgendeinen Pakt mit dem Teufel. Schon gar nicht an diesen Jüngling, der mit einem Bein im Grab steht. Du hast Laire gezeigt, wer du bist, welcher Mann du sein willst. Enttäusche dieses Vertrauen nicht, indem du dich aufführst wie ein tollwütiger Eber.«
»Ich habe sie geschlagen. Welchen Mann sieht sie wohl in mir?«
»Um sie zu retten! Du bist hier, um sie zu retten. Ihresgleichen. Vor allem aber, um ihr Leben zu beschützen, das nicht mehr sicher war, seit sie unter dem Gesetz aufwachsen musste.«
Und für das ich verantwortlich bin …
»Aye.« Mein aufgebrachter Atem stirbt, als ich mich den Worten meines besten Freunds ergebe. »Sieht sie zu uns?«
Kerr blickt erneut an mir vorbei, dann lässt er den Druck auf meine Oberarme verschwinden, nicht aber die Falte auf seiner Stirn.
»Nein.«
Lügner.
»Sie hat nie aufgehört, uns zu beobachten, aye?«
»Aye.«
Ich erwidere Kerrs Grinsen und klopfe ich ihm zum Dank auf die Schulter, während er die Arme vor der Brust verschränkt. Mit einer stummen Geste fordert er mich auf, mich Laire zu stellen.
»Die Götter seien mir gnädig …«
Der leichte Wind streicht meine Mundwinkel nach unten, als ich mich zu ihr umdrehe und sofort ihre Aufmerksamkeit habe. Beim Umrunden des Feuers hat eine Böe es so stark angefacht, dass Funken in die Luft stieben. Sie sind wie sie und ich. Heiß glühend und auf der Flucht voreinander. Nur, dass sie sich irgendwo auf dem Weg zu den Sternen vereinigen, während Laire und ich in gegensätzliche Richtungen taumeln.
Sie beobachtet, wie ich auf sie zugehe, und ich, wie sie augenblicklich von Kincade ablässt, als hätte ich sie bei etwas Unzüchtigem erwischt.
Gut so.
Gleichzeitig lese ich die Fragen in ihrem Gesicht wie mit Tinte auf ihre Haut geschrieben. Sie will wissen, was sie soeben beobachtet hat. Wer der Mann ist, mit dem ich gestritten habe. Wieso er Laire gesehen hat, aber nicht eingriff, als Wallace sie entführte. Wer die Menschen um sie herum sind und weshalb sie sie heimlich begutachten. Warum sie sie zu kennen scheinen. Wie ich der Bruder des Königs sein kann.
»Worum ging es bei eurem Streit?«, ist stattdessen ihre Frage.
»Wie geht es deinem Patienten, Laire?«
»Wieso entgegnet Ihr auf meine Frage mit einer anderen?«
Es trifft mich mit aller Gewalt. Nicht ihre Widerworte, sondern die Art, wie fern sie diese formuliert. Sofort weiß ich, dass ich es vermissen werde, wie nah sich das »Du« und wie schön sich mein Name anhörte, nachdem ihre Lippen ihn verlassen haben. Wie nur noch ihr Atem zu mir sprach, weil ihr die Lust die Worte genommen hat.
»Ich mag nicht mehr dein Laird sein. Trotzdem muss ich dir darauf nicht antworten.«
Sie nickt nur und ich bereue mein Gesagtes sofort. Laire hat aufgehört, sich von mir Antworten zu erhoffen. Irgendetwas von mir zu erwarten. Zu wollen. Sie erträgt nur noch und vergräbt sich in ihrer Sorge um den sterbenden Mann vor ihr, weil er das Einzige ist, das für sie greifbar ist.
Kerr kann uns nicht hören, aber ich bin mir sicher, dass er Laires Miene deutet und die Augen rollt. Das hier läuft nicht, wie es sollte.
»Brauchst du etwas?« Es klingt so weich, so hoffnungsvoll und kostet mich alle Überwindung.
Tatsächlich sieht Laire zu mir auf. Ihre langen Wimpern legen beim Aufschlagen einen überraschten Ausdruck frei. Doch er verschwindet, als sich ihre Brauen über dem Grün ihrer Iriden zusammenziehen.
Sie ist wütend.
»Von Euch brauche ich nichts. Alec hingegen, falls es für Euch von Interesse ist, benötigt Wärme. Deshalb bleiben wir in der Nähe des Feuers und ich werde aufpassen, dass es nicht ausgeht.«
»Das kann ich übernehmen, wenn du willst. Ich werde ohnehin nicht …«
»Ich sagte, ich will nichts!«
Ihre Stimme bebt. Dann wringt sie den Stoff aus, mit dem sie den Kranken zuvor versorgt hat, ehe sie ihn achtlos in die kleine Schale mit dem blutgefärbten Wasser wirft. Während sie eine Hand an ihrem Kleid trocknet, greift sie mit der linken unter das Fell, das Kincade bedeckt. Nach einem langen Augenblick, den wir einander ansehen, wendet sie sich dem anderen Mann zu. Unser Moment bricht ab.
Aber, was …
»Was tust du da?«
»Ihm das Bett wärmen.«
Dann steigt sie zu ihm, verschwindet unter dem Fell und dreht mir den Rücken zu. Ich warte, dass sie die Situation auflöst, von ihm abrückt und wieder aufsteht. Aber sie schmiegt sich nur enger an ihn und verbirgt ihr Gesicht an seiner Schulter. Es ist eine Geste, die so natürlich ist, dass sie mich bestätigt: Der Kerl bedeutet ihr etwas.
»Verstehe.«
Laire
Kelden versteht gar nichts. Nicht, wie sehr sich mein Herz zusammenzieht, wenn ich ihn ansehe. Wie es ins Straucheln gerät, wenn er mit mir spricht. Wie es um Hilfe fleht, sobald er meinen Namen nennt, und wie mich der Schmerz überrennt, wenn ich ihn von mir fortstoßen muss. Weil seine Nähe grausamer ist als die Sehnsucht nach ihm.
Für mein Herz bin ich eine Verräterin. Es wollte ihn küssen, als wir in der Nacht meines Aufbruchs beieinandergelegen haben. So sehr. Zwischen jedem Klopfen hat es darauf gewartet, dass ich dem Verlangen nachgebe und es geschehen lasse. Ihn küsse, wie eine Frau einen Mann küsst, dem sie bereitwillig alles von sich geben würde. Dass sich meine Lippen auf seine legen und mit sanftem Druck erkunden, wem sie gehören. Wie sie sich anfühlen, schmecken, welchen Takt sie vorgeben und ob er genauso mitreißend ist, wie das Gefühl, mit ihm zur Musik zu tanzen. Stattdessen habe ich mich von ihm fortgedreht, damit ich nicht nachgeben muss und nicht mehr aufhören kann. Sodass er glaubt, die Abmachung ließe darüber hinaus nichts zu.
Mein Herz begreift noch immer nicht, was Keldens Offenbarung bedeutet. Was es für mich heißt, dass er der Königsfamilie entstammt und damit einer Reihe von Männern, die Meinesgleichen versklavt, ihnen die Freiheit nimmt und sich ihrer bemächtigt. Die meine Eltern ermordeten und viele weitere, die sich aufgelehnt haben, ihre grausame Herrschaft zu beenden.
Auch ich hatte vor, mich ihnen in den Weg zu stellen und mit dem Widerstand Seite an Seite in die Schlacht zu ziehen. Und sei es drum, dass ich meinen letzten Atemzug dafür hergeben muss. Ich wollte als eine der Letzten für das Regime sterben, damit es niemals mehr eine andere muss. Heißt das nun, dass ich mit dem Feind das Bett geteilt habe und irgendwann auch gegen ihn kämpfe? Habe ich den Widerstand verraten, weil ich es immer wieder tun will? Hat mein Herz die Seite gewechselt?
»Erkläre es mir!«, verlangte ich von Kelden, nachdem er mir seine Wahrheit gestanden hatte. Hinter uns das brennende Haus, das beinahe unser Verderben gewesen wäre. »Wenn Tevin dein Bruder ist, wieso bist du dann nicht bei ihm am Hof? Weshalb scheint niemand davon zu wissen? Weiß es Callum?«
Aber noch während ich den letzten Satz beendete, merkte ich, dass er sich verschloss. Sich zurückzog hinter die Mauern seiner tiefschwarzen Geheimnisse. Er versuchte, sich von mir fortzudrehen, doch ich hielt ihn an der Schulter zurück. Seine Augen richteten sich wie eine Klinge auf meine Finger und ich ließ ihn augenblicklich los. Sie brannten. Trotzdem stoppte er in der Bewegung. Sah mich an. Und ich erwiderte seinen Blick, so fest ich konnte.
»Warte. Wie alt ist König Tevin?« Ich war noch näher an ihn herangetreten und er sah von oben auf mich herab. Er wirkte ruhig, aber die kleine Falte auf seiner Stirn verriet ihn. Schließlich entwich mir ein Keuchen, als mir klar wurde, was mein Gedanke bedeutete: »Wenn er weniger Winter zählt als du, dann hieße das …«
»Schluss jetzt!«, unterbrach er mich barsch. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte sich verändert. Unter das Bedauern, sein Geheimnis überhaupt ausgesprochen zu haben, mischte sich eine verzweifelte Wut. Etwas, das uns zurück in unsere Rollen presste, die das Gesetz für uns vorgesehen hatte. Was mir deutlich machte, dass ich solche Fragen nicht stellen durfte. Weil es nicht mein Recht war, die Antworten zu kennen. »Das muss reichen«, sagte er rau. »Damit weißt du mehr, als du solltest.«
Jetzt war ich die Wütende. »Das ist zu einfach. Und es reicht mir nicht. Selbst Laird Wallace scheint Näheres zu wissen und mit ihm hast du nicht das Bett geteilt.« Als ich begriff, was ich gesagt hatte, biss ich mir auf die Lippe. Es kam viel zu schnell aus mir heraus und entflammte vor Scham meine Wangen.
Kelden schluckte, aber er ging nicht darauf ein. »Was hat er gesagt?«
Ein bitteres Lachen entwich mir. »Das Einzige, was ich sicher weiß: dass es hierbei nicht nur um dich geht. Ich bin ein Teil davon, den du nicht unbeachtet lassen kannst. Aber sei unbesorgt, ich verrate dein kleines Geheimnis nicht, Prinz. Und ich werde auch keine Fragen mehr stellen. Ganz so, als wäre ich noch immer dein Besitz. So hast du es doch am liebsten, aye?«
»Laire, ich …«
Ich winkte ab. »Lass uns weiterreiten. Ich muss nach Alec sehen.«
Ich sattelte auf und Kelden folgte mir, bis er neben dem Gaul zum Stehen kam. Wie er mich dann ansah, machte etwas mit mir, das sich schmerzhafter anfühlte als die Enttäuschung über sein Schweigen. Er wirkte gequält. So, als könne er die Last, die er verbarg, nicht länger tragen. Und glaubte doch, sie verdient zu haben.
Da begriff ich, er verbirgt eine tiefe Schuld.
* * *
Irgendwann schlossen wir zum Rest der Gruppe auf. Zwischen den Männern und Frauen entdeckte ich bekannte Gesichter wie Glenn, der mit Alec vor seinem Brustkorb voranritt, einen Mann namens Bain und einen weiteren, der zu Keldens Gefolgsleuten gehört. Alle waren mir auf Burg Lachlan schon einmal begegnet. Der Rest war mir fremd. Ich zählte ein knappes Dutzend, von denen ich mir sicher war, dass sie nicht Teil des Clans sein konnten. Trotzdem wirkten sie, als kannten sie unser Ziel. Niemand schien verwundert darüber, wohin wir ritten oder dass wir den Weg gemeinsam zurücklegten.
Außer mir.
Wer sind all diese Menschen? Sind es die Bewohner des Hauses, das wir brennend zurückgelassen haben? Konnten sie gewarnt werden, bevor sich Wallace und seine Männer Zutritt verschafften? Kommen sie jetzt mit uns, weil sie seit dem Angriff heimatlos sind? Und Alec? Wieso war er dort? War er vielleicht nicht allein gekommen, als er mich gebeten hatte, mit ihm zu gehen? Hatten sie Kelden zwingen wollen, mich freizugeben oder vor, bei meiner Flucht helfen?
Als ein junger Mann mit uns gleichzog, fragte ich ihn: »Wer seid Ihr?«
Doch er schreckte förmlich zurück und als sein Blick Keldens traf, der hinter mir aufsaß, ritt er zügig weiter.
»Hab Geduld«, sagte mein Laird, der er nicht mehr ist, daraufhin dicht an meinem Ohr. Ich schnaubte nur. Weil meine Geduld aufgebraucht war. Und weil er einen Moment zu lang meine Nähe suchte und mein verräterischer Körper ihn anflehte, sie nie mehr von mir zu nehmen.
Die Erinnerung an den Moment vermischt sich mit der Trauer um das, was hätte sein können, und der Erleichterung darüber, mein Herz in unserer gemeinsamen Nacht ignoriert zu haben. Mit der Gewissheit, dass ich niemals nachgeben werde, ihn zu küssen.
Während Tränen in mir aufsteigen, bete ich zu den Göttern, dass sich Keldens Schritte entfernen werden und er mich mit meinem Kummer allein lässt. Ich bin so wütend auf ihn. Auf die Umstände. All die fremden Menschen, die mich immer dann betrachten, wenn sie annehmen, ich bemerke es nicht. Die fehlenden Antworten. Über Keldens Verbindung zu König Tevin. Dass er als Älterer den Thron führen müsste, wenn er die Wahrheit spricht. Über all das Dunkel, in dem er mich umherirren lässt. Und dass er mir in der Schwärze die Hand entreißt, die er kurz zuvor noch nach mir ausgestreckt hat.
Doch neben all dem Zorn, der in meiner Brust wie das Verderben nistet, ist da diese allumfassende Wärme. Sie ist heißer als Alecs fiebernde Haut unter meiner Wange. Glühender als das Feuer zu meiner Rechten. Lauter als das plötzliche Knacken eines niederbrennenden Scheits vor der sanften uns allumgebenden Stille.
Weil Kelden nicht geht.
Unter seinen Schuhen knirschen kleine Kiesel, da er unschlüssig auf der Stelle tritt. Ein Ringen mit sich, in dem die Steinchen die Verlierer sind. Ergeben bohren sie sich in den Grund.
»Laire?« Seine Stimme klingt belegt.
»Aye?« Meine Antwort kommt zu schnell. Als hätte ich den Moment herbeigesehnt. Vielleicht habe ich das. Ich weiß es nicht.
»Er ist wach.«
Zunächst begreife ich nicht, aber als Kelden in unsere Richtung nickt, spüre ich Alecs Regung unter mir. Noch während ich mich ihm zuwende, verzieht er das Gesicht zu einem schiefen Lächeln.
»Das ist … ewig her«, presst er hervor. Gleichzeitig schließt mich sein Arm fester ein.
»Was meinst du?«
»Dass du in meinen Armen gelegen hast.« Er grinst gequält.
»Sprich noch nicht. Du musst dich ausruhen.«
»Wenn das meine letzten Momente sein sollen, beschwere ich mich nicht.« Sein Auflachen geht in einem Husten unter, dann muss er vor Schmerz die Luft einziehen.
»Wieso wirfst du dich auch vor einen Pistolenlauf?« Meine Erleichterung lässt mich dumme Sachen sagen.
»Du weißt, wieso.«
Wegen mir.
»Weshalb warst du überhaupt dort? Du solltest mich nicht finden. Ich wollte nicht, dass das passiert.«
»Habe die rechte Hand deines Lairds so lange bedrängt, bis er mich mitmachen ließ.« Wieder grinst er.
»Was sagst du da?«
Als ich mich zu Kelden umdrehe, beobachtet er uns. Härte liegt in seinen Zügen und sein Kiefer mahlt angestrengt. Schließlich nickt er knapp und wendet sich ab, bis ihn seine Schritte aus meinem Gesichtsfeld tragen.
»Hat er dir gesagt, wer die anderen sind? Wieso er dich nicht einfach zurück zur Burg bringt?«
Mein Kopf schnellt zu Alec herum. Sein Blick hat sich verändert, ist ernst und bedeutsam. In seinem dem Feuer zugewandten Auge lodert eine Flamme, das andere liegt in der Dunkelheit ganz nah vor meinem. Sein Atem rasselt und streicht über meine Wange.
»Nein.«
»Weil du zu Hause bist, Laire.«
»Ich verstehe nicht.«
»Die anderen sind der Widerstand.«
Laire
Meine Hand liegt auf Alecs Brust, während ich seine rosigen Wangen betrachte, die im Schein des Feuers glühen. Sein Herz schlägt schnell, weil er noch immer fiebert, aber es hat schon länger nicht mehr ausgesetzt. Seine Verletzung ist sauber und zeigt keine Anzeichen von Wundbrand. Wenn er die Nacht übersteht, ist er vielleicht bereits am Morgen dem Leben wieder näher als dem Tod.
Ich wage es kaum, den Göttern zu danken. Aber ich tue es. Bin dankbar dafür, dass er ins Hier zurückgefunden hat, und für die Hoffnung, dass er überlebt. Dass ich meinen Freund zurückbekommen könnte, der nie wichtiger für mich war. Der mir die Augen öffnete und mich zwang, zu sehen.
Genau hinzusehen.
Zu all diesen Menschen, die zu viele sind, um in einem Haus im Wald gelebt zu haben. Die kampferprobt sind, bewaffnet und auf Befehl reagieren.
Auf Keldens Befehl.
Menschen, die wirken, als hätten sie viel Leid erlebt, und trotzdem nicht mutlos erscheinen. Als gäbe es ein Ziel, auf das sie mit aller Zuversicht hinsteuern.
Aye, ich sehe sie nun. Als das, was sie sind. Ich sehe die Frau gegenüber, die ihren Kopf in den Schoß eines Mannes gebettet hat und voller Liebe und Vertrauen die Lider schließt. Er streicht ihr über das schmutzige Haar, vorbei an der kleinen Wunde auf ihrer Stirn. Behutsam, weil er sie nicht verletzten will. Ein anderer steht auf, um Holz nachzulegen, und hinkt dabei unter Schmerzen. Trotzdem schlägt er die Hilfe einer Frau aus, die es dem Gesetz nach an seiner Stelle tun müsste. All diese Gesten sind nicht meine Wahrheit, aber es ist ihre. So sieht der Widerstand aus. Zurückgedrängt, angeschlagen und doch kraftvoll in ihrem Urvertrauen in die Sache, die sie vereint. Die keine Unterschiede macht. Mann und Frau. Frau und Mann. Sie sind eine Einheit und teilen die feste Überzeugung, dass die Krone fallen muss.
Ich fühle mich einfältig. Ständig habe ich von Kelden Antworten eingefordert, als wäre nur er es, der sie mir geben kann. Als hätte ich das Denken verlernt und den Scharfsinn verloren, den meine Eltern mir anerzogen haben. Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass Kelden König Tevins Bruder ist.
Ich hätte es nie ausschließen dürfen.
Anzeichen hat es im Nachhinein genug gegeben: die Fehde mit Laird Wallace, dem gegenüber Kelden seinen König denunzieren durfte; die Abmachung zwischen ihm und dem mächtigsten Mann des Landes und schließlich die Abgesandte, die ihn mit blutiger Handschrift daran erinnerte; dass ich alles über die anderen Clans in Erfahrung bringen konnte, aber nicht über seinen oder seine Familie.
Dass man ihn Bastard nannte.
Ist er der Königin hinterbliebener Bastard?
Meine Augen finden Kelden wie von selbst. Das Blut rauscht in meinem Ohr, welches soeben noch auf dem anderen Mann gelegen hat. Es war ein unbewusstes Aufsehen, nur ein Augenaufschlag in seine Richtung, aber Kelden sieht mich direkt an. Wie von ihm angezogen, erfasst er meinen Blick und verankert sich in der Frage darin.
Wenn er nicht des Königs Sohn ist, hat er kein Anrecht auf den Thron.
Aber wieso …
Warum ist er dann noch hier?
Was hat er mit dem Widerstand zu tun?
Was der Widerstand mit ihm?
»Was beschäftigt dich, Laire?« Unsere Verbindung bricht ab, weil Alecs geschwächte Stimme sie durchtrennt. Es ist so ungewohnt, ihn meinen Namen sagen zu hören. Er tut es nicht so wie Kelden und doch auf ähnliche Weise. Es ist immer etwas Flehendes darin.
Ich weiche aus. »Ich fürchte mich. So lange war ich auf der Suche nach ihnen und habe den Moment, sie zu treffen, herbeigesehnt. Jetzt macht es mir Angst.«
Alec weiß sofort, wovon ich spreche. Wir setzen dort unser Gespräch an, wo er vor einiger Zeit weggedämmert ist. »Aye. Das ist gut.«
»Was soll daran gut sein?«
»Angst lässt uns wachsam sein und kluge Entscheidungen treffen. Nichts ist gefährlicher als Leichtsinn.«
»Was bleibt mir außer meinem Leichtsinn, wenn ich nicht weiß, was ist oder sein wird?«
»Wissen ist nicht der Grund, weshalb du hier bist. Es ist nicht dein Antrieb. Es ist der Wille, etwas zu verändern. Ich kann ihn wie ein Feuer in dir brennen sehen.«
»Und wenn ich mich an ihm verbrenne, was dann?«
Er schweigt und lächelt dabei. So, als wäre er ganz sicher, dass das nicht geschehen wird.
Nach einem stillen Moment regt er sich plötzlich, hebt seine freie Hand über seinen Bauch hinweg und berührt mit ihr meine. Zunächst schrecke ich zurück, doch dann umfasst er so vorsichtig meine Finger, dass ich sie nicht fortziehen kann.
Alec hat mein Zögern bemerkt. »Schon gut. Ich halte dich nur. Jeder braucht es irgendwann, gehalten zu werden. Auch du. Ich erwarte nichts dafür.«
Kaum hat er die Worte ausgesprochen, fällt mein Kopf zurück auf seinen Brustkorb und ich schluchze in sein Hemd, wie ich noch nie geweint habe. Ich dachte, ich hätte längst alle Tränen vergossen. Alles betrauert, was es zu betrauern gibt. Doch es ist der gleiche Schmerz, der an mir rüttelt, und Alecs Hand ist mein Anker, der ihn aus der Tiefe hinaufzieht. Bis ich wieder atmen kann.
Als ich fertig bin, ist Alec vor Erschöpfung eingeschlafen, weil er irgendwann damit begonnen hatte, über mein Haar zu streichen, und ich nichts tröstlicher fand, als darin Halt zu suchen.
* * *
Als sich aus dem Morgennebel eine Steinmauer erhebt, spüre ich, dass wir angekommen sind. Sie stützt den Fuß einer Ruine, die zwischen knorrigen Ästen und urigen Baumstämmen mit der Landschaft verwachsen ist. Offensichtlich im Verborgenen erbaut und schon längst von der Natur erobert, wirkt der Ort vom Leben verlassen. Und damit wie dafür gemacht, einen Angriff auf den König zu planen.
In der Mauer selbst klafft ein Loch, das einem Torbogen gleich den Durchgang auf die andere Seite bildet. Je näher wir ihm kommen, desto aufgeregter huschen die Schemen dahinter umher. Einer von ihnen hält kurz an, schiebt vorsichtig seinen zerzausten Kopf hindurch und späht zu uns. Dann ruft sein helles Stimmchen: »Sie kommen!«
Ein Kind.
»Du hast es geschafft, zorniges Mädchen.« Alec stößt seine Worte mit einem erleichterten Lachen aus. Sein Kopf lehnt auf meiner Schulter, doch sein Körper ist zu schwach, um ihn ruhig zu halten. Immer wieder droht er, abzurutschen, sackt gegen meinen Hals oder ihm auf die Brust. Ein Keuchen dann und wann verrät, dass Alec Schmerzen hat. Ich wusste, dass der Ritt mit ihm schwer werden würde, aber ich habe dennoch darauf bestanden, dass er vor mir aufsitzt. Keldens Einwand, dass er immer noch vom Pferd stürzen und sterben könnte, wurde von dem Mann unterbrochen, mit dem er in der Nacht gestritten hat.
»Kerr«, nannte er mir seinen Namen, ehe er Alec vor mir in den Sattel hob. Als hätte er meine Gedanken gelesen, die sich wiederholt fragten, wer er ist.
Es ist das Gefühl von Heimkommen, das mich mit den letzten Hufschlägen plötzlich überkommt. Es webt mich in einen warmen und wohligen Mantel, der den Zorn außen vor und die Fragen in meinem Kopf ganz still werden lässt. Weil ich weiß, dass ich hier Antworten bekommen werde.
»Aye, wir sind da«, sage ich in Alecs Ohr und zu mir selbst.
Ich bin endlich da.
Kerr reitet voran. Zwischen uns befinden sich die Widerständler, während Kelden mit etwas Abstand den Schluss bildet. Vor dem Tor halten wir unsere Pferde zu einem langsamen Trab an und ziehen die Köpfe ein, um es zu passieren. Alec stöhnt, weil er dazu von mir gestützt werden muss. Im nächsten Moment erreichen wir die andere Seite.
Und da sind sie.
Menschen, wohin das Auge reicht. Zwei Dutzend, wahrscheinlich sogar mehr. Frauen, Männer, Heranwachsende, Kinder. Ein Feuer brennt in der Mitte des Platzes, der einen Teppich aus Laub trägt. Über den Flammen drehen Hasen an einem Spieß. Die Luft ist geschwängert vom Bratenduft, dem Moos des Waldbodens, vermischt mit dem Harz der Bäume und aufgeladen vor Neugier. Die Widerständler starren uns an. Mit unserem Eintreffen haben sich ihre Köpfe gewendet. Sie unterbrechen ihr Tun, legen ihre Arbeit nieder, Gespräche verebben. Menschen treten hinter Planen hervor, die über Bäume gespannt oder auf Äste gezogen wurden, einige kommen aus der Ruine zu unserer Linken hinzu. Scheinbar ist es mehr als die Natur, die darin Einzug gehalten hat.
Ihnen voran geht eine junge Frau, nur wenig älter als ich, mit rotem Haar, kaum anders als meins. Und doch gleicht sie mir kein bisschen. Ihre Anmut erfüllt den gesamten Ort und lässt mich nicht mehr wegsehen, sobald sie die ersten Schritte in unsere Richtung setzt. Ihr Lächeln ist warm und alles vereinnahmend. Hätte ich Misstrauen in mir, würde sie es mir mit vertrauensvollen Händen abnehmen. Ich mag sie auf Anhieb. Als Kerr aus dem Sattel gleitet und auf sie zugeht, empfängt sie seine Umarmung erleichtert und kurz darauf auch seinen Kuss. Meine Wangen beginnen, zu glühen, als er eine Hand in ihren Nacken legt und ihre Lippen einander finden. Leidenschaftlich, nicht flüchtig, aber ebenso nicht zu lang. Wie zwei Liebende. Nachdem sie sich voneinander gelöst haben, gibt Kerr ihr einen weiteren Kuss, diesmal auf die Stirn.
»Wie viele sind verletzt?«, will die Frau wissen.
»Die meisten leicht, einer schwer.«
Sie nickt. »Colin, Euan? Helft den Verletzten. Gebt ihnen Essen und ausreichend Wasser. Danach brauchen sie Ruhe, damit sie zu Kräften kommen.«
Zwei Männer durchbrechen die Reihen. Keiner der beiden stellt die Anweisung der Rothaarigen infrage. Niemand der anderen hält sie dafür auf.
Dann wendet sich die Frau an ein Mädchen, das hinter ihr aufgerückt ist. »Tam, kümmerst du dich um ihre Wunden?«
»Natürlich.«
Das Mädchen mit dem sonderbaren Namen, der vermutlich eine Kurzform ist, eilt den Männern nach. Es wendet den Kopf zu mir, als es an mir vorbeigeht, und wirkt dabei offen und freundlich.
Die ersten Widerständler steigen von ihren Pferden ab, um zu zeigen, dass sie keine Hilfe benötigen. Sie unterstützen diejenigen, die nur unter Schmerzen absitzen können, und übergeben die Frau mit der Wunde auf der Stirn an das Mädchen. Es begleitet sie, bis beide in der Ruine verschwunden sind. Als die Männer Alec übernehmen, muss er mir versichern, dass es in Ordnung für ihn ist. Erst dann steige auch ich ab.
»Danke«, flüstert die Rothaarige den Vorbeieilenden zu. Einer der Männer, die von ihr berufen worden sind, nickt als Antwort. Dann sieht sie zu Kerr und schmunzelt.
»Du hast Gäste mitgebracht.« Sie umrundet ihn, bis sie vor mir steht. »Nun?«, fragt sie mich.
Ich stammele. »Ich bin Laire. Ich … bin mit meinem Laird hier.« Das klingt so falsch, wie es ist, und ich weiß nicht, wo es herkam. Fast schon erwarte ich ein Schnauben hinter mir, doch es ist nur Keldens Pferd, das vorsichtig mit den Hufen scharrt.
Das Lächeln der Frau wird wärmer. Dann sagt sie etwas, das in alle Fasern meines Körpers dringt: »Du irrst dich, Laire McLeod. Nicht du bist mit ihm hier. Er ist es mit dir.« Sie wischt meine Überraschung hinweg, indem sie sacht meinen Oberarm drückt. »Willkommen beim Widerstand. Ich bin Roya.«
»Du weißt, wer ich bin?«
»Aye. Und wir haben so lang auf dich und deine Schwester gewartet. Wo …«
Kerr schüttelt neben ihr den Kopf und mir sticht das Herz.
»Allerdings hat man uns verschwiegen, wie schön du bist«, führt Roya schnell fort und begutachtet mich ein letztes Mal mit aufrichtigem Interesse. Dann sieht sie an mir vorbei und richtet ihren Blick nach oben. »Ciamar a tha thu, Kel?«
»Tha gu math.«
Ein Klimpern, gefolgt von zwei Stiefeln, die auf dem Boden auftreffen, verrät, dass Kelden abgestiegen ist. Außerdem kann ich ihn spüren, dicht hinter mir. Zwar habe ich den Austausch der beiden nicht verstanden, weiß ihn aber wohl zu deuten: Sie kennen sich.
Was Kelden daraufhin sagt, verstehe ich jedoch sehr gut: »Übrigens habe ich sie freigegeben. Sie trifft jetzt ihre eigenen Entscheidungen.«
Dann geht er einfach an mir vorbei und führt sein Pferd an den Rand des Platzes, um es an einen Baum zu binden.
Ich kann nicht verhindern, dass mir ein Seufzen entweicht, das nicht einmal annähernd ausdrückt, was ich fühle. Obwohl ich so wütend auf ihn bin, ist die Spannung zwischen uns für mich kaum zu ertragen. Es ist nicht das, was ich eigentlich will. Nicht das, was ich mir verbiete. Und doch tadelt mich die Vernunft, dass ich es dabei belassen muss. Es geht nicht um mich, nicht um uns, nicht um ein egoistisches Gefühl, das wir geteilt haben. Das sage ich mir immer wieder.
»Wird er jetzt die ganze Zeit so sein?«, will Roya wissen.
Kerr schmunzelt. »Ich arbeite daran.« Dann gibt er ihr einen sanften Kuss auf die Wange, den sie mit gesenkten Lidern entgegennimmt, und schließt sich Kelden an.
Als mich Roya wieder ansieht, lächelt sie noch immer selig. So muss Liebe aussehen, denke ich.
»Dann komm, ich führe dich herum. Außerdem musst du mir unbedingt verraten, was du mit deinen Spitzen machst.« Sie zupft an einer meiner Locken. »So schön bekomme ich sie nie hin.«
Leider habe ich kein Geheimnis, das ich ihr anvertrauen kann. Meine Mutter hatte tolles Haar. Ihr Rot war unvergleichlich, wie Mohn in der untergehenden Abendsonne. Aber nur dann, wenn er sich im Wind wiegte und sich ein Strahl im richtigen Moment darin verfing. Sie setzte regelmäßig die Schere an und wusch ihren Kopf, sobald die Sonne das zweite Mal untergegangen war. So waren ihre Locken immer schön. Vermutlich ist mein Haar ein weiteres Erbe von ihr und nichts, das Roya helfen könnte.
Wir beginnen den Rundgang in der Ruine, die erstaunlich viel Platz im Inneren bietet und neben wildwuchernden Sträuchern und Moosflechten auch etliche Schlafgelegenheiten besitzt. Auf dem Boden liegen Felle und Decken ausgebreitet, manche Plätze sind mit Planen überspannt, um gegen den freien Himmel zu schützen. Außerdem gibt es Nischen mit Stroh. Die Widerständler, die uns beim Durchqueren begegnen, benennt Roya alle beim Namen: Caitlin, Akir, Belloch, Mahe, eine Frau namens Isla, die gerade Klingen schärft. Um sie herum lagern etliche Kampfwerkzeuge. Alle Menschen heißen mich willkommen. Niemand fragt, wer ich bin.
Bevor wir einige verwitterte Treppenstufen hinaufsteigen, entdecke ich Alec, der von Tam versorgt wird. Sie hat seinen Oberkörper freigelegt und schweigt, während sie mit geröteten Wangen seine Wunde reinigt. Vielleicht gefällt er ihr. Vielleicht hat er absichtlich etwas gesagt, um sie in Verlegenheit zu bringen. Da er wach ist, würde das zu ihm passen. Er zwinkert mir jedenfalls zu, als wir den Weg nach oben nehmen.
Roya scheint meinen Blick auf das Mädchen bemerkt zu haben. Während wir die untere Ebene hinter uns lassen, sieht sie mich im Gehen an. »Tamlin heißt für alle nur Tam. Ich glaube, die Wenigsten kennen ihren eigentlichen Namen. Dafür ist vielen ihre Geschichte bekannt, denn sie will, dass man ihr Erlebtes weiterträgt, um auf die Grausamkeit des Gesetzes und dessen Beugung aufmerksam zu machen. Tam wurde bereits verkauft.«
»Was soll das heißen? Sie wirkt zu jung, um geholt worden zu sein.«
»Aye. Tam wird bald ihren sechzehnten Winter erleben. Es gab keine Auktion. Ihre Eltern übereigneten sie einem Laird im Nordosten, weil er ihnen etliche Schilling für ihren jungen Körper bot.«
Meine Füße wollen mich nicht mehr tragen. Ich stoppe gerade noch rechtzeitig, um nicht gegen den Ast zu laufen, der durch ein zerbrochenes Fenster in den oberen Raum hineinragt.
Bevor ich etwas sagen kann, spricht Roya weiter: »Keine Sorge, ihr ist nichts geschehen. Tam wusste sich zu wehren und das hat ihren Laird seine Männlichkeit gekostet. Allerdings ist ihre Geschichte nicht die einer Einzelnen. Manche Eltern oder Verwandte, die ein Geschäft wittern, können nicht bis zur Auktion warten. Ihre Kinder verschwinden einfach und werden totgesagt. Niemand stellt Fragen oder wundert sich über den plötzlichen Reichtum der Familien. Hilfe von der Krone ist nicht zu erwarten. Es ist ein stilles Einverständnis zwischen zwei Seuchen, die wüten, wie es ihnen gefällt.«
Ich schäme mich, dass es mich aus der Fassung bringt, davon zu erfahren. Weil ich der Überzeugung war, dass meine entsetzlichste Vorstellung auch das Grausamste sei, das man den Frauen antut. Bisher hat sich mein Zorn gegen den König und das Gesetz gerichtet. Jetzt erkenne ich, dass auch die Menschen Ungeheuer sind, die es für ihre Zwecke missbrauchen und nicht einmal vor Schlimmerem zurückschrecken. Sie machen das Gesetz noch gefährlicher, weil es sie zu eigenen Regeln herausfordert.
»Ich hatte keine Ahnung.«
»Zum Glück ist sie eine der wenigen, die uns bekannt ist. Mir bereiten allerdings die Seelen Sorgen, von denen wir gar nicht erst erfahren.«
Dann erzählt sie mir alles, was sie über die anderen weiß und wie sie und der Rest des Widerstands zusammengefunden haben. Wir setzen uns dazu unter den Ast, der leise gegen den Fensterrahmen schlägt.
»Zu Beginn waren wir nur wenige. Jene, die es ganz schlimm getroffen hat, die geflohen waren oder kurz davor standen und Hilfe brauchten. Einige waren zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach verkauft oder weitergereicht worden. Jeder von uns kannte jemanden, der an den Grausamkeiten zugrunde gegangen wäre, wenn wir uns nicht alle an den Mut deiner Eltern geklammert hätten.« Ich schlucke, als Roya sie erwähnt. »Sie wurden für uns eine Art Heilige und unser Glaube, weil wir uns von unseren Göttern verlassen fühlten. Sie waren das Wort und unsere Wahrheit. Wir strebten nach ihrer Stärke, wir wollten wie sie furchtlos und unerschrocken sein. Sie waren unsere Hoffnung und wir die Vorbilder für andere, die einen Ausweg suchten. Wir wurden immer mehr, bis wir viele waren, und kurz davor, den großen Kampf zu kämpfen. Noch heute bin ich mir sicher, dass wir die Krone bekommen hätten.«
»Das war vor dem Tod meiner Eltern?«
»Aye.« Sie senkt die Lider. »Die Zeit danach war nicht einfach. Als die ersten den Glauben verloren, schlossen sich ihnen schnell weitere an. Ihnen folgten noch mehr, die sich zurück in die Gefangenschaft ihrer einstigen Lairds begaben. Sie waren nicht gemacht für das Leben im Verborgenen, die ständige Flucht, die Ungewissheit und die Angst. Sie dachten, sie wüssten, was sie erwartet, als sie wie Verräter auf den Knien um Gnade bettelten. Stattdessen haben viele von ihnen den Schritt mit dem Leben bezahlt, sind auf dem Markt gelandet oder heute gebrochene Frauen, die lieber in Freiheit gestorben wären. Andere versuchten, über die Grenzen zu fliehen, und wurden dort aufgegriffen. Flehen half ihnen dann nicht mehr. Die Menschen, die deine Eltern kannten und ihre Hoffnung verbreiteten, wurden weniger und weniger. Irgendwann waren sie nur noch Erzählungen, schließlich Überlieferungen aus vergangenen Zeiten. Bis der Widerstand selbst nicht mehr als eine vage Ahnung war.«
Ich schlucke. »Was hat sich geändert?«
»Du. Das Bevorstehen deiner Auktion verbreitete sich rasend schnell im ganzen Land. Chiefs stellten Wetten an. Lairds tranken vorab auf ihren Sieg und prahlten damit, die höchste Summe von allen bieten zu wollen. Wären sie erst einmal in deinem Besitz, würde es jeglichen Gedanken an den Widerstand für immer ausrotten. Den Männern gehöre die Macht, das Gesetz gebe ihnen recht.« Sie schnaubt. »Dem Widerstand aber gab es neue Hoffnung. Du warst die erste Frau, die seit Langem wieder gesehen wurde – und auch gefürchtet.«
»Gefürchtet?«
Die Rothaarige nickt. »Alle wussten, dass du das Machtgefüge ins Wanken bringen kannst, weil dich deine Herkunft zu etwas Besonderem macht. Du bist die Erbin. Der Teil der Legende, der weiterhin existiert. Du kannst nicht nur bezeugen, dass sie wahr ist, sondern das Blatt wenden und die Geschichte neu schreiben. Nachdem dich Kelden gekauft hatte, warst du bereits zu der Frau geworden, zu der die Unterdrückten aufblicken und in der die Unterdrücker eine Gefahr sehen. Das McLeod-Mädchen, über das man sich erzählt, dass es den Bietern erhobenen Hauptes getrotzt hatte. Keine Träne hätte sich über ihre Wange verirrt, keinem Blick sei sie ausgewichen. Einige wenige wollten die Angst in deinen Augen gesehen haben, alle anderen hingegen schworen, dass du den Widerstand in ihnen getragen hast.«
Wenn es nur so gewesen wäre …
Royas Lächeln ist unbeirrt. »Du warst es, die uns den Glauben zurückgebracht hat. An uns und an die Sache. An den freien Willen für alle. Du warst der Beginn und du wirst das Ende sein. Die Befreiung und ein Neuanfang.«
»Ich glaube, da erwartet ihr zu viel. So … bin ich nicht.« Ich will aufstehen. Ihre Worte haben eine Unruhe in mir ausgelöst, die mich nicht länger stillsitzen lässt.
Roya aber legt mir behutsam ihre Hand aufs Knie und drückt mich sanft nieder. »Nein, Laire. Ich glaube, dass du noch nicht einmal ahnst, zu was du imstande sein wirst. Dass es nicht nur dein Erbe ist, sondern es deine Stärke, dein Mut und dein Glaube waren, die dich bis hierhin geführt haben. Bei den Göttern, du hast sogar deinem Laird die Stirn geboten und den anderen mit dem Kauf deiner Schwester ins Gesicht gelacht. Ich hätte Kelden zu gern gesehen, als du deine Stimme erhoben hast. Hab mich schon immer gefragt, ob er noch mürrischer dreinblicken kann, als das hier.« Sie schiebt ihr Gesicht vor meines und macht eine so ernste Miene, dass ich nicht anders kann, als zu lachen.
»In meiner Erinnerung sah es etwas anders aus, aber aye, er war schon sehr wütend auf mich.«
In diesem Moment, nach Anice’ Auktion, als er mich zwischen sich und der Stalltür einpferchte, da wollte ich ihm zum ersten Mal nahe sein. Noch näher. Ich wollte mehr als seinen aufgebrachten Atem, mehr als seine Regentropfen auf meiner Haut, mehr von allem. Doch das sage ich ihr nicht.
Roya setzt sich zurück. Sie hat in mein Lachen eingestimmt, wird nun aber wieder ernst: »Das alles ist in dir. Das alles bist du. Ich glaube auch, dass du es bereits fühlst. Dass du eine Lücke füllst und perfekt in sie hineinpasst. Du solltest nirgendwo mehr sein als hier.«
Jedes ihrer Worte trifft auf eine Ahnung in meinem Kopf, die von meinem Herzen bejaht wird.
Aye.
Aye, sie hat recht.
Ich spüre tatsächlich, dass ich angekommen bin. Dass diese Menschen mein Zuhause sind, welches ich seit dem Tod meiner Eltern und ohne Anice schmerzlich vermisse. Meine liebe kleine Anice, die ich schnell wieder in mir vergrabe, damit ich nicht blindlings zu ihr zurücklaufe. Sie fehlt mir unglaublich.
Dennoch ist das Vertrauen der anderen nur geborgt. Sie wissen nichts von mir, sondern erschufen das Widerstandsmädchen als Zuflucht, ohne die Gewissheit zu haben, dass ich ihnen eine Sicherheit sein werde. Denn ich bin mir nicht sicher. Alles stelle ich infrage und bin ein ständiger Zweifel.
»Wie gern würde ich jetzt hinter deine hübsche Stirn schauen. Aber dann sitzen wir uns hier noch fest. Komm, ich stelle dir auch die anderen vor. Sie können es kaum erwarten, dich kennenzulernen.«
* * *
Am Ende dröhnt mein Kopf, und die ersten Namen, die mir Roya genannt hat, kann ich schon nicht mehr den gezeigten Gesichtern zuordnen. Vielleicht auch, weil er voll mit anderen Dingen ist, über die ich nachdenke, die ich nicht verstehe und sortieren kann. Außerdem habe ich das Gefühl, dass Roya Feinheiten auslässt, obwohl sie alle meine Fragen ausführlich und ohne Zögern beantwortet. Etwas daran, wie der Widerstand sich formiert hat, passt nicht so perfekt ins große Ganze wie der Rest ihrer Erzählungen. Wie konnten die vielen Menschen über eine so lange Zeit im Verborgenen leben? Wie hatten sie immer genug zu essen, zu trinken? Wie konnten sie die Kinder versorgen? Woher stammen die Waffen? Es ist nur ein kleiner Zweifel, aber ich fühle nichts Gutes dabei. Und noch etwas beschäftigt mich: Ich muss wissen, wie nahe sie und Kelden sich stehen.
»Woher kennst du Kel…« Ich verschlucke mich an seinem Namen, den ich nicht mehr nennen wollte. Ich dachte, es würde einfacher werden, aber er ist mir längst zu vertraut. Das bemerkt auch Roya, weshalb ich mich schnell verbessere: »Den Laird. Und was tut er hier?«
Roya stoppt im Gehen zwischen zwei kahlen Laubbäumen und überlegt einen Moment. Wir haben den Platz mit dem Lagerfeuer umrundet und sind nun auf einer kleinen Anhöhe angekommen, die vor mir in die Tiefen des Waldes hinabführt. Schließlich sagt sie: »Das ist eine der wenigen Fragen, die ich dir nicht beantworten kann. Weil es mir nicht zusteht. Kelden sollte das tun. Du solltest ihn fragen.«
»Das würde ich, aber er spricht nicht mit mir. Er gibt mir immer mehr Rätsel auf und sagt dann, ich wüsste bereits zu viel.«
»Ja, den Unnahbaren vorgeben, das kann er gut.« Ihr Mundwinkel hebt sich. »Er hat jedoch seine Gründe dafür und Dämonen, die ihn daran hindern, davon abzurücken.«
»Das alles hat aber mit mir zu tun. Habe ich nicht ein Recht auf Antworten, wenn sie mich in Gefahr bringen?«
»Aye.«
»Wieso vertraut er mir dann nicht?«
»Oh, das tut er. Du wärst nicht so weit gekommen, wenn er es nicht gewollt hätte.«
»Wie meinst du das?«
Royas Blick wird ernst. »Laire, du bist nicht zufällig hier. Kelden hätte nur abwarten müssen. Dann wärst du geflohen und früher oder später auf uns gestoßen. Doch du wärst nicht frei gewesen. Er wollte aber, dass du frei bist. Weil er deinen Entscheidungen vertraut. Und wir vertrauen dir auch.«
Während ich noch immer über ihre Worte nachdenke und darüber, wie viel sie zu wissen scheint, geschieht etwas um mich herum. Ich war zu abgelenkt davon, an Kelden zu denken und die unterschwellige Wut zurückzudrängen. Dabei habe ich nicht bemerkt, dass sich die Geräusche des Waldes verändert haben. Das Knacken in meinem Ohr ist keines im Unterholz, sondern durch Schritte hervorgerufen. Das geschäftige Treiben und das Gemurmel der anderen sind den alleinigen Tönen der Natur gewichen. Einer gebannten Stille. Nur Royas Stimme erhebt sich vor ihr: »Es ist an der Zeit.«
»Wofür ist es an der Zeit?«
Sie deutet an mir vorbei und ich folge ihrem Blick auf die Widerständler, die sich in meinem Rücken versammelt haben. Es sind so viele an der Zahl, dass ich keinen entdecken kann, der fehlt. Sogar Alec ist ans Fenster der Ruine getreten und wird von Tam gestützt. Kelden steht neben Kerr am Fuß des Gemäuers. Alle sehen mich erwartungsvoll an.
»Dass du unsere Anführerin wirst.«
Laire
Du musst lauter reden, Liebes. So verstehen sie dich nicht.«
Obwohl Roya nur einen Schritt hinter mir steht, muss sie sich vorlehnen, um zu mir durchzudringen. Ihre Stimme ist behutsam, aber gegen mein rasendes Herz kann sie kaum etwas ausrichten. Denn die Blicke der Widerständler bündeln sich zu einem Strick, der meine Kehle zuschnürt. Meine Gedanken rasen durcheinander, öffnen meinen Mund und schließen ihn wieder. Mehrmals setze ich an, etwas zu sagen, doch kein Ton kommt heraus. Viel zu schnell holt mich das Gefühl von Machtlosigkeit ein, welches mir bereits gut vertraut geworden ist.
Hier zu stehen, ist falsch.
Ich kann nicht ihre Hoffnung sein.
Weil sie doch meine sind.
Ich kann ihnen keinen Halt geben.
Weil ich mich an sie klammern will.
Ich fürchte mich vor ihren Erwartungen, denn um nichts in der Welt will ich für diese Menschen eine Enttäuschung sein.
Ich darf sie nicht verlieren.
Nicht, weil ich eine Enttäuschung bin und nicht das, worauf sie gewartet haben.
Mich schwindelt es. Ich weiß, dass es mein Körper ist, der mich betrügt, und sehe zu Kelden, dem Kerr soeben etwas ins Ohr flüstert.
Kelden blickt jedoch direkt zu mir.
»Atme!«, will ich ihn sagen hören. Ganz so, wie in meiner Erinnerung, als er mich in meiner Verzweiflung berührt hat. Inmitten der sterbenden Frauen. Während ich dachte, ich würde mit ihnen gehen und vom schwarzen Tod geholt werden, der ihnen in der Kehle gor und mir die Luft aus der Lunge klaubte.
Kelden konnte meine Angst durchbrechen. Wir haben diese warmen, innigen Momente geteilt, die so viel mehr waren als das reine Überleben. Er hat mir seine Geborgenheit geschenkt und ich habe ihm dafür mein Vertrauen gegeben, während wir über die Haut miteinander verbunden waren.
Ich glaube, da ist es passiert.
Da begriff ich, dass ich ihn liebe.
Wobei, nein.
Wenn ich ehrlich zu mir bin, geschah es bereits viel früher, dass sich mein Herz allmählich für ihn öffnete. Und das an einem Tag, der sich bis dahin ausschließlich von meiner Furcht genährt hatte. Der Tag meines Verkaufs. Im Gasthaus in Port Ree. Ich war geschwächt, erschüttert und verängstigt, weil mir bewusst geworden war, dass es der Beginn meines neuen Lebens sein würde. Der Aufbruch in eine ungewisse Zukunft, für die ein fremder Mann den Zuschlag erhalten hatte.
Kelden und ich wechselten kein Wort, ehe er mich in einem Nebenraum des Auktionssaals auslöste, währenddessen nicht und auch nicht danach. Was hätte er schon von mir wissen wollen, was hätte ich sagen sollen? Es gab nichts laut auszusprechen. Es war ein Geschäft und ich war die Ware. Mit ihr gab es nichts zu besprechen. Aber mein Laird schien seine eigenen Gedanken zu haben, denn als wir dabei waren, das Haus zu verlassen, trat mein altes Ich vor die Schwelle der neuen Laire – und Kelden öffnete die Tür nach draußen. Anstatt mich mit Gewalt hindurchzuschleifen, hat er mich in seine Welt gebeten.
Mittlerweile erinnere ich mich auch an seine Worte.
»Hab keine Angst«, bat er, gab damit dem großen erdrückenden Wort einen Namen. Es nahm ihm die Macht.
Als ich Kelden daraufhin ansah, wusste ich, dass er die Wahrheit sagte. Vielleicht würde er nicht die Angst sein, die ich fürchtete.
Jetzt stehe ich hier, die Weite zwischen uns und ganze Welten darin, und warte darauf, dass er mich befreit.
Zwei einfache Silben, die mich wachrütteln.
Zwei Hände, die das Zittern von mir nehmen.
Zwei Augen, in denen meine Zuversicht finden, bis die quälenden Bänder um meinen Hals durchtrennt sind und ich wieder Luft holen kann.
Ich wünsche, dass er spürt, was in meinem Herzen ist. Doch Keldens Lippen bewegen sich nicht. Er beobachtet nur, bis ich kaum mehr atmen kann, und lässt schließlich unsere Verbindung abreißen. Scheinbar gleichgültig verschwindet er ins Innere der Ruine.
Es ist wie ein kalter Schwall Wasser, der in mein Gesicht gekippt wird. Darunter tauche ich prustend, aber mit Luft in der Lunge wieder auf.
Nun weiß ich, was ich zu tun habe.
»Ich kann nicht«, sage ich und drehe mich zu Roya um. »Du hast recht mit dem, was du über Kelden gesagt hast. Ich muss mit ihm sprechen. Denn seine Dämonen sind auch meine. Ich kann uns nicht anführen, wenn ich nicht weiß, zu was wir aufbrechen oder wogegen wir kämpfen werden. Es wäre töricht und gefährlich. Keldens Gründe sind mir gleich. Er darf nicht länger schweigen.«
Ich bin auf ihre Enttäuschung gewappnet, doch nichts dergleichen ist auf dem Gesicht der Rothaarigen zu sehen. Stattdessen, ein Lächeln. »Du hast gerade uns gesagt.«
»Aye. Das habe ich wohl.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde ihm keine Wahl lassen.«
Roya lächelt noch immer und wischt damit jegliche Zweifel fort.
Ich nicke ihr dankbar zu. Schließlich sage ich so laut, dass es jeden Einzelnen um uns herum erreicht: »Ich habe lange auf diesen Moment gewartet und alles dafür getan, hier bei euch zu sein. Mit euch zu sein. Aber diese Entscheidung kann ich nicht treffen. Nicht jetzt, da der Widerstand am verletzlichsten ist, wo Königstreue unseren Weg kreuzten. Sie wissen nun von uns. Wir haben Gesichter und eine Überzeugung und werden für sie kämpfen. Aber diesmal werden sie auf uns warten und ich werde euch nicht in ihre Nähe führen, solange ich nicht weiß, was sie vorhaben. Wie sie uns finden konnten. Wieso ich euch bei meiner Rettung in Gefahr gebracht habe. Doch es gibt jemanden, der meine Fragen beantworten kann und dennoch schweigt. Dieses Schweigen will ich nicht länger hinnehmen. Ich bitte euch deshalb ein letztes Mal um euer Vertrauen und darum, mir noch einen Moment Zeit zu schenken. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ich nicht alles versucht hätte, eures Vertrauens würdig zu sein.«
Ich sehe Unsicherheit und Fragen, zögerliches Beraten und dazwischen eine erste verhaltene Reaktion, die sich unter den Aufständischen ausbreitet und bereits kurz darauf zu einem klaren Bild wird: Zustimmung.
»Ich danke euch.« Erleichterung lässt mich ein letztes Mal tief einatmen, dann laufe ich los.
Ich bin schnell, weil das Abfallen der Anhöhe mein Tempo anheizt. Außerdem fürchte ich, umzukehren, wenn ich mir erlaube, zögerlich zu sein. Das Nächste wird unvermeidbar sein und doch tut es mir weh, keine andere Wahl zu haben.
»Kelden!« Mein Ruf hallt über die Lichtung. Kein Zweifel, dass er mich gehört hat, dass nun alle seinen Namen kennen. Dass es seine Geheimnisse sind, die ich für gefährlich halte. Denn er ist der Bruder des Königs, abseits des Königreichs und dennoch durch eine Abmachung an den mächtigsten Mann des Landes gebunden. Ein Schwur, der mich in die Hände seiner Diener gebracht hat und den Widerstand unter meiner Führung zur Zielscheibe für weitere Angriffe machen kann. Und das, obwohl Kelden selbst den Aufstand unter seinen schützenden Händen zu halten scheint.
Wie passt das zusammen? Wie kann das sein? Was bedeutet es für den Widerstand, für mich, für uns?
Kelden reagiert nicht, deshalb rufe ich erneut: »Kelden McLachlan! Ich weiß, Ihr könnt mich hören. Kommt heraus und stellt Euch mir!«
Im Vorbeiziehen hält mich niemand auf, keiner der Widerständler spricht mich an. Darunter ist auch Isla, die Waffenschmiedin, die ohne die Kampfwerkzeuge im Schoß viel weicher wirkt. Alle warten ab, was geschieht. Was die Erklärung ist.
Vor der Ruine komme ich zum Stehen. »McLachlan«, sage ich zwischen meinem ausgestoßenen Atem. Mein Herz wütet.
Kerr verharrt noch immer neben dem Durchbruch ins Innere, aber auch er wagt es nicht, statt seines Freundes zu antworten. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass sie einander nahestehen. Das ist gut, denn Kerr hat mich schon einmal unterstützt und vielleicht wird er einer meiner Pfeiler sein, wenn das, was ich vorhabe, funktionieren soll.
Schließlich sind von innen Schritte zu hören. Kelden kommt mir von der oberen Ebene über die letzten Stufen entgegen und hält dabei meinen Blick. Er unterbricht ihn nicht einmal, als er an mir vorbeitritt und ich ihm ausweichen muss.
»Was tust du, Laire?«
Ein letzter tiefer Atemzug, dann ist es gesagt: »Ich fordere Euch zum Duell.«
Die Umstehenden fahren zusammen. Kerr tritt einen Schritt auf uns zu, aber Kelden hält ihn mit der Hand an der Brust zurück, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Obwohl er über mir aufragt, weiche ich nicht zurück.
»Ich frage dich noch einmal: Was tust du? Willst du, dass einer von uns …«
»Niemand hat etwas davon, wenn es im Duell um Leben und Tod geht. Ich fordere einen Kampf zu meinen Bedingungen.«
»Du kannst mich nicht herausfordern.«
»Doch, das kann ich. Dasselbe Gesetz, das uns Frauen versklavt, besagt, dass ein jeder einen anderen zum Duell zwingen kann.«
Kelden scheint nicht überrascht, dass ich den Erlass kenne, der sich eigentlich auf das Duellieren zweier Männer bezieht. Allerdings werden Frauen mit keiner Silbe ausgeschlossen. Auch ihm ist das bekannt. Er weiß noch besser, dass er es vor den Aufständischen nicht leugnen kann.
»Ich lehne ab. Ein Duell kommt nicht infrage«, sagt er nur, nimmt seine Hand von Kerr und will an mir vorbei. Selbst, als ich ihm in den Weg trete, streift er meine Schulter und geht einfach weiter.
»Bleibt stehen!«, rufe ich wütend, doch er ignoriert mich. Gleich wird er das Feuer umrundet haben, über dem die goldbraunen Hasen verbrennen werden, wenn sie niemand abnimmt. Aber meine Entschlossenheit ist schneller als Kelden. Da er nicht besonders zügig geht, habe ich ihn bald eingeholt und stoße ihm von hinten die Hände in den Rücken.
Er stolpert einen Schritt, dreht er sich zu mir um und funkelt mich an. »Hast du mich gerade gestoßen?« Sein Unglaube ist so groß, dass er die Mundwinkel kurz anhebt. Vor Fassungslosigkeit, nicht etwa, weil der Moment amüsant ist. Die Menschen um uns weichen zurück, als wären wir ein Windstoß, der sie beiseite pustet. Nur der kleine Junge mit dem hellen Schopf kichert. Er steht direkt hinter den Flammen neben seiner Mutter, die ihm daraufhin erschrocken die Hand auf den Mund presst.
»Du hast mich eben allein gelassen.« Der Vorwurf tropft einfach von meinen Lippen. Ein Flüstern, das ich am liebsten zurücknehmen würde.
»Du?«
»Aye, du.« Immer nur du, denke ich und wanke im Inneren, weil sein Blick weicher wird.