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Ein rätselhafter Brief und zwei Morde - Hauptkommissar Berghaus ermittelt in einem mysteriösen Fall im idyllischen Erzgebirge. »Ich weiß, was damals wirklich passiert ist!« – Ein geheimnisvoller Brief und zwei Mordfälle kurz hintereinander erschüttern den kleinen Ort Crottendorf im Erzgebirge. Alles wird noch mysteriöser, als sich herausstellt, dass die Opfer Geschwister waren. Gemeinsam mit einer eigensinnigen Kollegin und seinem übereifrigen Praktikanten versucht Hauptkommissar Alexander Berghaus, der rasant wachsenden Flut an widersprüchlichen Beweisen Herr zu werden und hinter die Fassade des Crottendorfer Idylls zu schauen. "Glutrotes Erzgebirge" von Danielle Zinn ist ein fesselnder Krimi voller Hochspannung, Mystik und Mord. Tauchen Sie ein in die düstere Atmosphäre des Erzgebirges und begleiten Sie die Ermittler bei der Aufklärung einer tragischen Familiengeschichte, geprägt von Rache, Hass, Eifersucht und Neid. Ein Muss für Fans von atmosphärischen Regionalkrimis.
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Seitenzahl: 506
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Danielle Zinn, 1986 in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge geboren, besitzt eine ausgeprägte Leidenschaft für englische Literatur. Deshalb sind ihre beiden Kriminalromane aus dem Erzgebirge »Snow Light« und »Sophomania« auch zuerst in englischer Sprache erschienen und haben international ein treues Publikum gefunden. Sie hat einen Hochschulabschluss in Wirtschaft und Management des New College Durham/UK. Nachdem sie Berufserfahrung in Großbritannien, den USA und Frankfurt/Main gesammelt hat, arbeitet sie heute in Leipzig als Managerin in einer IT-Beratung. Zu ihren Hobbys zählen neben der Literatur auch das Reisen sowie Wintersport.
Nähere Informationen zur Buchreihe, zum Buch und zu den Handlungsorten: www.erzgebirgekrimi.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Personenverzeichnis.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Shutterstock/Jaroslav Gavlas
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Karte: René Seidenglanz
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-247-5
Überarbeitete Neuausgabe
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Sophomania« bei Amazon KDP.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Für das Erzgebirge und alle, die es lieben
Glutheiß und erbarmungslos brannte die Sonne von einem makellosen Nachmittagshimmel. Er war ihr schutzlos ausgeliefert. Der Schatten unerreichbar. Sein Kopf glühte. Alles in ihm brannte nur noch. Seine schwache Stimme versagte. »Hilfe!« Jemand musste kommen und ihn in den Schatten schieben. Er selbst war zu schwach, der Rollstuhl für ihn zu schwer.
»An die frische Luft«, hatte der kräftige Pfleger mit aufgesetztem Grinsen gesagt, hatte ihn nach draußen gerollt, ihn im Gras neben einer Linde abgestellt und war verschwunden. Die glühende Sonne kam unbarmherzig aus der Baumkrone herausgekrochen. Jetzt spürte er ihre ganze Kraft.
Doch noch viel stärker als die Sonne auf seiner Haut brannte die Schuld in seiner Seele.
Er musste diesen einen Gedanken aufschreiben. Schnell, bevor die Sonne ihn für immer aus seinem Kopf löschen würde. Er musste ein Geständnis ablegen. Jetzt, bevor die Sonne alles auslöschte – seine Gedanken und ihn selbst.
Er zerrte die schwere Hand zitternd über das blütenweiße Papier. »Ich weiß –« Damit begann sein Brief. Wut stieg in ihm auf. Über sich selbst. Über die unnachgiebige Sonne. Über den Rollstuhl, in dem er sitzen musste. Wieso war es so schwer, einen Brief zu schreiben?
»Ich weiß, was …«
Hunderte Male hatte er in schlaflosen Nächten die Worte hin und her gewälzt, hatte überlegt, was er schreiben wollte. Doch nie hatte er zu einem Stift gegriffen. Jeden Morgen war er fest entschlossen gewesen, sein Geständnis zu Papier zu bringen, und jeden Morgen hatte er sich dann doch nicht getraut.
Erst die gleißende Sonne über dem Erzgebirge zwang ihn zu seinem Bekenntnis. Ihm lief die Zeit davon. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne die letzte Lebenskraft aus ihm gesaugt hatte. Es war grausam. Er schwitzte nicht einmal mehr, obwohl die Sonne erbarmungslos auf ihn niederbrannte. Seine Haut war glühend heiß, aber trocken. Er fühlte sich wie im Fieberwahn. Flammen tanzten hinter seinen Augen. Sein Puls raste.
»Konzentrier dich!«, mahnte er sich. Doch er konnte kaum noch klar denken.
»Du bist es ihm schuldig!«, flüsterte er. »Du bist es ihm schuldig!«
Er hätte auch das Gespräch suchen können. Ein Griff zum Telefon hätte genügt. Er kannte die Nummer. Doch gewählt hatte er sie nie. Und über solche Gedanken gesprochen hatte er auch nie.
Er rutschte verzweifelt in seinem Rollstuhl hin und her und verfluchte das hohe Gras, den Kies und das unbeschwerte Zwitschern der Vögel. Angst hatte er keine. Er hatte schon viel schlimmere Dinge in seinem Leben getan und gesehen.
»Ich weiß, was …« Der Stift krakelte Wort für Wort mit zittriger Schrift, mit allerletzter Kraft.
Pochende Kopfschmerzen überkamen ihn. Das Feuer hinter seinen Augen wurde unerträglich. Alles um ihn herum löste sich in Flammen auf. Der Baum verschwand, der Kiesweg und das hohe Gras. Die Vögel verstummten. Ihr Gezwitscher verwandelte sich in ein grausames Knistern. Er tastete nach dem Umschlag, fasste daneben. Die Welt vor ihm begann zu verschwimmen. Endlich hatte er den Brief in das Kuvert gestopft. Sein Hals war so rau und trocken, dass er kaum noch schlucken konnte. Er hatte gehofft, sich nach dem Geständnis besser zu fühlen, doch die erhoffte Erleichterung blieb aus.
Sein Körper verkrampfte. Er spürte nur noch die Hitze um sich herum und in ihm.
Dann fielen seine Arme zur Seite, sein Körper sackte in sich zusammen, und seine Augen rollten nach oben. Die gnadenlose, glutheiße Sonne hatte den unfairen Kampf gewonnen. Der Brief fiel zu Boden und verhakte sich unter dem Rad des Rollstuhls.
Eine Sirene heulte in der Ferne und hallte von den niedrigen Bergen wider.
Alexander Berghaus hockte auf dem kalten Linoleumboden seines winzigen Dachgeschosszimmers mit dem winzigen Fenster, die Knie fest an die Brust gezogen.
Sein Vater blickte auf ihn herab, die Hände in die Hüften gestemmt, und Alexander war sich nicht sicher, was er dieses Mal getan oder nicht getan hatte. Es spielte auch keine Rolle. Während sich ein Fluss aus Beleidigungen und Beschimpfungen über den jungen Berghaus ergoss, spürte er plötzlich, dass es schon wieder losging.
Er wollte alles tun, um zu verhindern, dass sein Vater es bemerkte. Doch schon im nächsten Moment durchtränkte warme Nässe den Stoff seiner Hose und breitete sich rasch aus.
Die Sirene heulte erneut.
Alexander zog seine Beine noch enger an die Brust und versuchte, mit den Füßen den deutlich sichtbaren Fleck zu verbergen, doch der angewiderte Gesichtsausdruck seines Vaters sprach Bände.
Das unerbittliche Klagelied der Sirene wurde immer lauter.
Alexander lockerte beschämt den Griff seiner Hände um die Knie. Die Nässe in seinem Schritt war eiskalt geworden. Sein Vater blickte mit hochrotem Kopf auf ihn herab und lachte. Ein tiefes, brüllendes Gelächter, das in die Unendlichkeit hallte.
Ein plötzliches hohes Klirren zerriss die Szene.
Kriminalhauptkommissar Alexander Berghaus riss die Augen auf. Seine Brust hob und senkte sich hektisch, und er blinzelte mehrmals, bevor er langsam seine Umgebung wahrnahm. Insekten schwirrten träge durch die warme Sommerluft, und die Fülle der Düfte und Farben von Blumen, Sträuchern und Bäumen war geradezu erdrückend.
Er war verwirrt. Er hatte doch nur kurz geträumt, oder? Wieso heulte die Sirene weiter? Und wieso war sein Schritt wirklich nass? Berghaus holte tief Luft, schaute an sich herunter und lächelte. Während seines Tagtraums hatte er sein kühles Gin-Tonic-Glas losgelassen, das zerbrochen auf dem harten Terrassenboden lag. Eiswürfel sammelten sich zwischen seinen Beinen. Gierig hatte die heiße Julisonne bereits den größten Teil des verschütteten Getränks aufgesogen.
Er stand auf, schüttelte die restlichen Eiswürfel in sein Sonnenblumenbeet und lehnte sich gegen die Palisade, die seine Terrasse vor neugierigen Nachbarn abschirmte. Er fühlte sich zittrig und verfolgt von seinem Vater, doch er hatte sich geschworen, keinen Gedanken mehr an diesen Mann zu verschwenden. So bündelte er die Bilder auf ein imaginäres Boot in seinem Kopf und ließ sie auf einem imaginären Fluss davonschwimmen.
Seine Blicke schweiften über seinen geliebten Garten, in den er im Frühjahr viel Mühe und Geld investiert hatte. Doch das Ergebnis war ernüchternd. Der Sommerflieder sah aus wie ein vernachlässigter Hanfstrauch, und die verschiedenen Beetpflanzen ähnelten nicht im Entferntesten ihren Vorbildern aus der Hochglanzbroschüre. Nicht einmal seine Stechpalme hatte eine einzige Blüte hervorgebracht. Angeblich konnten sie dreihundert Jahre alt werden; er bezweifelte, dass seine die nächsten drei Monate überstand. Er gab dem Lehmboden die Schuld.
Das Postauto bog in seine kleine Gasse ein, aber mit dem verräterischen klebrigen Fleck im Schritt traute sich Berghaus nicht hinter seiner Palisade hervor. Also wartete er, bis der Wagen weitergefahren war.
Ein blütenweißer, seltsam geformter Umschlag lag im Briefkasten vor ihm. Er erinnerte Berghaus an Briefe von Wohltätigkeitsorganisationen, die um Spenden baten und einem Werbekulis schenkten.
Doch dieser Umschlag trug weder ein Logo noch irgendeinen Hinweis auf seinen Absender. Berghaus’ Name und Adresse standen in schwarzer Schreibmaschinenschrift gedruckt, wobei das L durchgestrichen war wie das polnische Ł. Die Briefmarke zeigte eine leuchtend rote Mohnblume.
Neugierig riss er den Umschlag auf und spähte hinein. Ein schmales, längliches aschfarbenes Objekt deutete direkt auf sein Gesicht, als wollte es sagen: »Du! Genau dich habe ich gesucht und endlich gefunden!« Berghaus schreckte zurück und ließ das Kuvert fallen.
Der mumifizierte Finger landete direkt vor seinen Füßen.
Eine hauchdünne, pergamentartige Haut überzog die gesamte Länge des leicht gekrümmten Knochenstücks, das nun auf einem Teller an Berghaus’ Küchentisch Platz genommen hatte. Es fühlte sich gummiartig an und war von mehreren kleinen Lehmklumpen überzogen. Angewidert und mit einigem Abstand betrachtete Berghaus seine Sendung. Wenigstens war es geruchsneutral.
Zu wem gehörst du? Wo ist der Rest deines Körpers? Ist dein Besitzer lebendig oder tot? Warum muss das immer mir passieren? Ist das ein Scherz? Ein Dutzend ähnlicher Fragen wirbelten in seinem Kopf herum. Berghaus fühlte sich plötzlich schwindlig vor Ekel und Aufregung. Der Mangel an Ermittlungen und die Sommerhitze hatten ihn träge gemacht. Dennoch war er sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Der Finger bestand aus drei Gliedern, und obwohl er echt und menschlich aussah, war der Knochen dennoch etwas kürzer und dünner als sein kleiner Finger. Womöglich hatte Feuchtigkeitsentzug ihn schrumpfen lassen. Oder aber …
Plötzlich fiel ihm noch etwas anderes im Umschlag auf. Er fischte ein Stück Papier heraus und strich es auf seinem Knie glatt. Die Nachricht ließ ihn die Stirn runzeln. Das Ganze wurde seltsamer und seltsamer.
Berghaus legte den Brief auf den Couchtisch, lehnte sich zurück und rieb unwillkürlich über die markante vier Zentimeter lange Narbe an seiner Schläfe – ein Andenken an einen dornigen Strauch, in den er anderthalb Jahre zuvor gefallen war, als er versucht hatte, den Mord an einer jungen Frau zu verhindern – vergeblich. Sein Scheitern war der Grund, warum er die Mordkommission in Dresden verlassen hatte und in das kleine, malerische Dörfchen Crottendorf am Fuße des Fichtelbergs mitten im Erzgebirge gezogen war.
Das Örtchen war überregional bekannt als das »Dorf der Räucherkerzen«, die seit über hundert Jahren hier produziert wurden. Berghaus hatte sich ein einladendes Häuschen gekauft, das einst einer Uhrmacherfamilie gehörte. Heute hielten die uralten Steinmauern zuverlässig die brütende Sommerhitze ab. Er atmete mehrere Male tief die kühle, beruhigende Luft ein und ging durch einen großen, offenen Wohnbereich in sein Büro. Er hatte einige Innenwände entfernen lassen und genoss es nun, mit seinen fast zwei Metern Körpergröße in seinem Haus herumzulaufen, ohne sich durch zu niedrige Türrahmen ducken zu müssen.
Obwohl Berghaus für die Polizei in Annaberg arbeitete, war er noch immer Kriminaldirektor Gerold Siebert, Chef der Mordkommission im über hundert Kilometer entfernten Dresden, unterstellt. Das jahrzehntelange Rauchen ungefilterter Zigaretten hatte stimmlich längst seinen Tribut gefordert, und als Berghaus das Freizeichen am Handy nicht mehr hörte, begann er einfach zu sprechen.
»Hauptkommissar Berghaus hier, wie geht –« Er wurde von einem so heftigen Husten unterbrochen, dass er den Hörer vom Ohr riss. Nach einigen Augenblicken ertönte schließlich Sieberts raspelige Stimme. »Was kann ich gegen Sie tun?«
Beide Männer teilten einen tiefen gegenseitigen Respekt, der jedoch für Außenstehende nicht immer sichtbar war.
»Ich habe einen anonymen Umschlag erhalten. Mit einem mumifizierten Fingerknochen. Menschlich, schätze ich. Und einen Brief, in dem stand: ›Ich weiß, was damals wirklich passiert ist. Gehen Sie zu 4Z5.‹«
»Und?«, röchelte Siebert.
»Ich möchte es untersuchen. Könnte ich Kommissarin Anne Keller für ein paar Tage zu Recherchezwecken ausleihen?«
»Hören Sie, Berghaus, Sie sind Hauptkommissar bei der Mordkommission und kein gewöhnlicher Polizist. Sie sollten in der Lage sein, dieses dumme Rätsel selbst zu lösen, ohne dass Ihnen jemand die Hand hält.« Eine Husten-Spuck-Tirade folgte, die Berghaus zum Glück nicht mit ansehen musste. Was auch immer sich in der Lunge dieses Mannes befand, es klang wie eine sehr dicke Nudelsuppe.
»Ja.« Berghaus wusste, dass er diesen Fall leicht allein bearbeiten konnte, aber er mochte Anne Keller und wollte sie wiedersehen. Er schaute durch sein Bürofenster auf die leere Hollywoodschaukel im Garten.
»Aber Sie haben Glück. Keller braucht tatsächlich eine Luftveränderung. Sie ist bei einer Anhörung … wieder mal.«
Die Leitung verstummte.
Berghaus starrte auf sein Telefon. »Danke.«
Ein freches Grinsen huschte über sein Gesicht; er wollte unbedingt wissen, was Keller dieses Mal angestellt hatte. Wenn es Preise für die Anzahl von Anhörungen gäbe, die man in seiner Karriere über sich ergehen lassen musste, hätte Kommissarin Anne Keller einen ganzen Schrank voller Trophäen. Dank ihrer bissigen Art und ihres schieren Mangels an Taktgefühl flog sie regelmäßig aus Arbeitsgruppen. Dennoch war sie eine der brillantesten Ermittlerinnen in der gesamten Abteilung und bearbeitete die Computerdatenbanken wie keine andere.
Wegen einer drogensüchtigen Mutter und eines alkoholkranken Vaters hatte Keller den größten Teil ihrer Kindheit in verschiedenen Pflegefamilien, später in leer stehenden Häusern und auf der Straße verbracht und sich die Zeit mit Kleinkriminalität und Dealen vertrieben, bis Gerold Siebert sie unter seine Fittiche genommen, sie auf die Polizeiakademie geschickt und ihr einen Job im Morddezernat Dresden gegeben hatte. In ihrem letzten gemeinsamen Fall hatte Berghaus ihr starkes Arbeitsethos und ihre Entschlossenheit bewundert, durch die sich Keller von ihren Kollegen abhob. Außerdem war sie eine sehr attraktive Frau.
Er seufzte, bis das Vibrieren seines Handys ihn in die Realität zurückholte. Das grinsende Gesicht seines besten Freundes David Jäger blickte zu ihm auf. Er war derjenige, der Berghaus davon überzeugt hatte, ein Haus in der Gegend zu kaufen, und nun verbrachten sie unzählige Abende zusammen beim Joggen, Grillen oder einfach nur mit Reden. David arbeitete als selbstständiger Grafikdesigner und musste dienstlich mehrmals im Jahr um die halbe Welt reisen.
»Hey, was ist –«
»Alex, du musst kommen! Schnell!«, brüllte David panisch ins Telefon.
Im Hintergrund war eine Kakofonie von so vielen verschiedenen Geräuschen zu hören, dass es Berghaus einen Schauer über den Rücken jagte.
»Was ist passiert? Wo bist du?«
»Zu Hause.«
Die Leitung verstummte abermals.
Sobald Berghaus in Davids Straße einbog, merkte er, dass es ein Fehler gewesen war, das Auto zu nehmen. Fahrzeuge parkten schief und wahllos; Türen und Kofferräume standen offen. In einem Rettungswagen kümmerten sich Sanitäter hektisch um eine verletzte Person.
Jetzt wusste er, woher das Sirenengeheul in seinem Tagtraum gekommen war.
Eine Traube Nachbarn und Schaulustiger hatte sich am Tor zu Davids Garten versammelt, in dem ein einziges Chaos herrschte. Blutspritzer und tiefe Kratzer hatten die frisch weiß gestrichene Hauswand ruiniert. Dachschiefer, Seile, Holzbretter und Dutzende Werkzeuge lagen überall auf dem sonnenverbrannten Rasen verstreut. Das Haus war ehemals ein altes Bauerngut gewesen, das David liebevoll renoviert und mit den neusten technischen Spielereien und einer privaten Bibliothek ausgestattet hatte.
Berghaus drängte sich durch die Menge – in solchen Momenten war seine Körpergröße schon immer von Vorteil gewesen – und suchte nach dem Hausbesitzer. Er fand ihn in einem aufgeregten Gespräch mit dem Notarzt.
David hatte dunkle Augen, eine Stupsnase und trug einen gepflegten Dreitagebart. Sein weißes Leinenhemd mit hochgerollten Ärmeln hing locker über beigen Chino-Shorts und bildete einen starken Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut. Nur wenn man genau hinsah, konnte man die ersten grauen Ansätze in seinem lässig zur Seite gestylten, fast schwarzen Haar erkennen, die sein jugendliches und attraktives Aussehen im Alter von einundvierzig Jahren betrogen.
»Alex!«, keuchte David. »Danke, dass du so schnell gekommen bist.«
»Was ist denn passiert?« Berghaus betrachtete den Trubel um sie herum mit ebenso neugierigem wie ernstem Blick.
David führte ihn zur Seite des Hauses, wo Seile in Himbeersträuchern baumelten, Holzbretter sich mit aller Wucht in die Erde gebohrt hatten und zerbrochener Schiefer den Boden bedeckte wie erstarrte Lava nach einem Vulkanausbruch. »Malia hat es gesehen. Ich lasse doch mein Dach mit Schiefer neu decken. Nach dem Mittagessen war ich in meinem Büro, als plötzlich …« David fuhr sich mit den Händen aufgebracht durch die Haare. »Dieser dumpfe Aufprall. Es war schrecklich. Eines der Seile war gerissen, und sie ist in die Tiefe gestürzt, halb begraben von Werkzeug, Schiefer und Holzbrettern. Alex, sie sah so furchtbar aus!« David blickte verzweifelt gen Himmel.
»Sie? Wer?«
»Die Dachdeckerin. Lilian Liebeskind.«
»Poetischer Name. Ist sie diejenige, die die Sanitäter versorgen?«
David nickte und gestikulierte wild mit den Händen. »Ich konnte ihr Gesicht kaum erkennen. Es war verklebt mit Blut und Haaren. Der Arzt meinte, sie wäre bewusstlos und hätte höchstwahrscheinlich einen Schädelbruch und mehrere Knochenbrüche und innere Verletzungen. Er –« David brach ab. »Er ist sich nicht sicher, ob sie es schaffen wird.«
Berghaus umarmte seinen Freund. »Beruhige dich. Das ist nicht deine Schuld, okay? Wo sind Anica und Malia?«
»Anica ist oben am Waldrand und spielt mit ihren Freunden. Zum Glück war sie nicht hier.«
David führte ihn ins Haus, wo Malia mit verschränkten Beinen auf der Couch saß und auf ihr Handy einhackte.
»Hi, Malia«, sagte Berghaus, als sie nicht aufblickte.
»Oh, hallo.«
»Wie geht es dir?«
Sie musterte ihn mit kleinen, geheimnisvollen haselnussbraunen Augen. Ihre markanten Wangenknochen, die spitze Nase und der Mund wurden von schwarzem, glattem, leblosem Haar umrahmt, das hinter leicht abstehenden Ohren steckte. Ihr ganzer Körper war so skelettartig dünn, dass Berghaus meinte, man könnte sich an ihren scharfen Zügen schneiden. Ein Grund für ihre Schlankheit war, dass sie, sehr zum Missfallen von Anica, Davids zwölfjähriger Tochter, zu ihrer Ernährung nur bestimmte Nahrungsmittelgruppen zuließ. Malia hatte in Freiberg Wirtschaft studiert und arbeitete nun im Textilunternehmen ihres Vaters, wo sie David vor einem halben Jahr kennengelernt hatte, als er ein neues Logo für die Firma entwarf.
»Mir geht’s gut. Es war nur so … laut.« Malia deutete mit dem Daumen in Richtung Garten, in dem nach wie vor hörbarer Trubel herrschte.
Was für eine scharfsinnige Beobachtung, dachte Berghaus und schüttelte den Kopf. Natürlich war es laut, wenn kiloweise Schiefer und Werkzeug herabstürzten – was hatte sie denn erwartet?
Ein Klopfen am Fenster brachte alle dazu, sich umzudrehen. Der Inhaber der Dachdeckerfirma forderte David mit wilden Gesten auf, in den Garten zu kommen.
»Den interessiert mehr der Schaden an seinem scheiß Werkzeug als seine verletzte Kollegin«, fauchte David und ging hinaus. Malia malträtierte weiter unermüdlich ihr Handy, scheinbar ohne die Welt um sich herum wahrzunehmen.
Berghaus folgte seinem überforderten Freund hinaus und gab ihm das universelle »Ich ruf dich an«-Zeichen. Dann stieg er ins Auto, verbrannte sich fast die Hand am glühend heißen Sicherheitsgurt und fuhr nach Hause.
Ein anderes Körperteil benötigte heute noch seine Aufmerksamkeit.
Berghaus hatte den mumifizierten Finger zusammen mit dem Brief bei Laura Licht, der Rechtsmedizinerin in Annaberg, abgegeben. Sie wollte versuchen, einen Fingerabdruck oder ein DNA-Extrakt zu generieren, und hatte die Aufgabe mit leuchtenden Augen angenommen.
Es war halb sieben, als er wieder zu Hause ankam, und Anne Keller war weit und breit nicht in Sicht. Berghaus zog sich mit seinem Laptop in seine sonnendurchflutete Küche zurück und begann, in verschiedenen Datenbanken nach »4Z5« zu suchen, während er das Abendessen zubereitete – gedünstetes Gemüse, Babykartoffeln und in dünne Speckscheiben gewickelten Lachs.
Zuerst poppte eine Luftfahrtkarte auf, der zufolge »4Z5« die Ortsangabe für den Flughafen Horsfeld war, etwa vierhundert Meilen östlich von Anchorage, Alaska.
Berghaus schaute auf ein vergrößertes Foto des Fingers, das Laura für ihn ausgedruckt hatte. »Ich bezweifle, dass du von dort kommst«, murmelte er.
Das zweite Ergebnis führte ihn zu einer Protein-Datenbank, wo sich eine bunte, makromolekulare 3D-Struktur auf dem Bildschirm drehte und wendete wie ein Regenbogenwurm. Der vollständige Name von »4Z5« war über drei Zeilen lang, und es handelte sich um ein Nicht-Polymer. Berghaus schloss schnell das Suchfenster, bevor sich seine Augen im Takt mitdrehten.
Er zog eine Kopie des Briefes zu sich heran. »Ich weiß, was damals wirklich passiert ist. Gehen Sie zu 4Z5.« Er beschloss, dass das, was wirklich passiert war, nichts mit einer chemischen Komponente zu tun hatte. Oder hatte die Person auf diese Weise den Finger verloren?
»4Z5« war auch Teil verschiedener Postleitzahlen im Vereinigten Königreich, den USA und Kanada, aber Berghaus bezweifelte, dass der Finger so weit gereist war. Nein, dieser Finger hatte das Erzgebirge nie verlassen.
Entmutigt verließ er die Küche und gönnte sich ein Glas Bushmills, sein neuer irischer Lieblingswhiskey, der mit dem Slogan »Dunkler Charakter mit Tiefe« warb – irgendwie passend für seinen neuen Fall. Mit Zeichenblock und Bleistift bewaffnet, ließ er sich auf seiner Couch nieder. Berghaus leerte das Glas in einem Zug, schloss die Augen und genoss die sich von der Magengrube in seinem ganzen Körper ausbreitende Wärme. Ein vertrauter süßer und gleichzeitig rauchiger Geschmack setzte sich in seinem Mund fest und ließ seine Geschmacksknospen tanzen. Er holte tief Luft und begann zu zeichnen.
Seine Gedanken schweiften abermals zu seiner Kindheit ab. Die ständigen Schikanen seines Vaters. Die hasserfüllten Blicke seines Halbbruders Jan. Die Teilnahmslosigkeit seiner Mutter. Sein Vater war Kriminalbeamter in Dresden gewesen, und Berghaus hatte sich geschworen, niemals so zu werden wie er.
Niemals Polizeibeamter zu werden.
Niemals eine Waffe zu besitzen.
Niemals eine Marke zu tragen.
Draußen kam ein roter Mini Cooper zum Stehen. Musik plärrte aus den Boxen. Berghaus schaute auf das, was seine Hand gezeichnet hatte. Das sanfte schwarz-weiße Gesicht eines gut aussehenden Mannes mittleren Alters blickte zu ihm auf. Er hatte einen zurückweichenden Haaransatz oberhalb der Schläfen und ein Glitzern in den Augen, das es unmöglich machte, seine Gedanken zu lesen. Der Mund stand halb offen, als sei er mitten in einem Satz gefangen.
Wut überkam Berghaus. Er riss das Papier vom Block, knüllte es zusammen und stopfte es in seine Hosentasche.
Erstickende Wärme schlug ihm entgegen, als er die Haustür öffnete, um Anne Keller zu begrüßen. Die langsam untergehende Sonne hatte nicht an Kraft eingebüßt – die Luft, die nach süßen Sommerdüften und Gegrilltem roch, war nicht einen Hauch kühler. Ein magisches, intensives Licht lag golden über Baumkronen und Hausdächern. Anne Keller kletterte aus ihrem Auto, nahm einen Rucksack vom Beifahrersitz und schritt selbstbewusst auf Berghaus zu. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Berghaus öffnete zögerlich die Arme und bot Keller eine Umarmung an, machte aber gleichzeitig einen Schritt zurück. Bei Keller wusste er nie, was er zu erwarten hatte. Sie war für ihn unlesbar.
Seit dem letzten gemeinsamen Fall hatten sie sich mehrmals außerhalb der Arbeit getroffen und einander besser kennengelernt. Sie hatten sich geküsst und waren in den Armen des anderen eingeschlafen, aber Berghaus hatte schnell gelernt, dass dies bei Keller nicht jedes Mal selbstverständlich war. Es gab Tage, an denen wollte sie überhaupt nicht berührt werden. Auf die Frage nach dem Warum wollte oder konnte sie keine Antwort geben, und Berghaus vermutete, dass sie den Grund meistens selbst nicht kannte. Er hatte versprochen, ihr alle Zeit der Welt zu geben.
Keller trug noch ihre Uniform; offenbar war sie von der Anhörung direkt nach Crottendorf gekommen. Tief ausatmend fiel sie in seine Arme und vergrub ihr Gesicht in seiner Brust. Berghaus küsste ihren Kopf und sog lächelnd den fruchtigen Duft ihres Markenparfüms ein: Delicious Apple. Erst als sie aufsah, wurde ihm bewusst, wie sehr er in den letzten Wochen jeden einzelnen Teil von ihr vermisst hatte: ihre katzengrünen Augen, ihre makellose Haut, ihre ebenmäßigen Wangenknochen. Und ihren Mund. Einen Mund, der für viele Jahre keinen Grund zum Lächeln gehabt hatte.
»Wie siehst du denn aus?« Keller zog die Stirn in Falten und blickte missbilligend zu ihm auf.
»Freut mich auch, dich wiederzusehen. Das«, antwortete Berghaus und deutete auf sein linkes Auge, »ist ein hartnäckiges Gerstenkorn, das ich einfach nicht loswerde.«
Keller musterte prüfend die rote Schwellung an seinem oberen Augenlid. »Hast du versucht, das aufzudrücken?«
»Hm.«
»Wie eklig.« Angewidert trat sie einen Schritt zurück. »Du solltest zum Arzt gehen. Das sieht nicht gut aus.«
»Hm.«
»Sag bloß, du hast Angst vorm Augenarzt?« Sie grinste.
»Wie war die Anhörung?«, gab er grinsend zurück.
»Ich will nicht darüber reden.« Bockig ließ sie ihren Rucksack neben der Eingangstür fallen.
»Hunger?«
»Die erste anständige Frage des Tages. Ja. Es riecht fischig.« Sie plumpste auf die Couch, während Berghaus zwei Bier aus dem Kühlschrank holte.
»Du zeichnest wieder?«, fragte Keller und nickte in Richtung des Blocks.
»Du weißt doch, dass ich gern zeichne.«
»Vor allem, wenn ein leeres Whiskeyglas auf dem Zeichenblock steht. Welche harte Wahrheit bevorzugst du dieses Mal lieber zu ignorieren?«, stichelte sie weiter.
»Essen ist fertig«, antwortete Berghaus und balancierte zwei Teller mit dampfendem Lachs in Richtung Garten. Keller stand auf und hielt fragend ein zerknittertes Stück Papier hoch.
Berghaus rollte die Augen. »Was?« Die Zeichnung musste ihm aus der Hosentasche gefallen sein.
»Wer ist das?«, fragte Keller.
»Ich … arbeite an meinen Gesichtstechniken.«
»Er lächelt, sieht glücklich aus«, antwortete sie und drehte das Papier um, um es zu betrachten.
»Wirf es bitte in den Mülleimer.« Berghaus ging ohne einen weiteren Blick an ihr vorbei.
Sie aßen schweigend, aber nicht in Stille. Mit der untergehenden Sonne hatte sich das Summen und Brummen von unzähligen Mücken, Fliegen, Marienkäfern und anderen geflügelten Kreaturen zu einem fast kopfschmerzauslösenden Crescendo gesteigert, als würden unendlich viele winzige Motoren gleichzeitig surren. Vögel zischten über ihre Köpfe hinweg, um ihre Jungen zu füttern, während die Nachbarskatze faul unter Berghaus’ fruchtlosem Pflaumenbaum döste. Aus den Gärten ringsum wehten Kinderlachen und leise Musik herüber.
»Warum bin ich hier?«, fragte Keller neugierig, legte Messer und Gabel auf ihren leeren Teller und lehnte sich zurück.
»Das hatte ich heute in der Post. Was hältst du davon?« Berghaus gab ihr den Brief und das Foto des Fingers.
Sie zog kurz die Augenbrauen zusammen. »Geschichte war noch nie mein Lieblingsthema.« Doch ihr Gesicht wurde ernst, als sie die Details betrachtete.
»Der Absender muss wissen, dass du bei der Polizei arbeitest. Vielleicht ist es sogar jemand, den du kennst. Jemand, der Angst hat oder sich schämt, persönlich mit dir zu sprechen. Hat dir in letzter Zeit jemand heimlich etwas sagen wollen?«
Berghaus zuckte mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«
»Feingefühl ist nicht gerade deine Stärke.« Sie schüttelte den Kopf und boxte ihn spielerisch in die Seite. »Aber warum jetzt? Ich meine, der Finger ist doch nicht erst gestern abgefallen.«
»Irgendein kürzliches Ereignis muss ein schlechtes Gewissen geweckt und den Absender veranlasst haben, sich zu melden.«
»›Ich weiß, was damals wirklich passiert ist‹«, las Keller laut vor. »Das Wort ›wirklich‹ ist das, was es interessant macht. Es ist etwas passiert, das jeder bis heute für die Wahrheit hält, aber derjenige, der diesen Brief geschrieben hat, kennt eine andere Version der Geschichte.«
»Leider habe ich nicht die geringste Ahnung, wonach ich suchen soll. Unfall? Überfall? Vermisstenfall?«
Keller hob die Hände. »Ich bin erst vor einer Stunde angekommen. Du hattest doch den halben Tag Zeit zur Recherche. Also, Herr Hauptkommissar, lassen Sie mal hören.« Sie lehnte sich nach vorn, stützte die Arme auf den Tisch und nuckelte mit großen Augen an ihrer Bierflasche.
Berghaus schmunzelte und erklärte, was er bisher über »4Z5« herausgefunden hatte. »Es ist offensichtlich kein Flughafen in Alaska!«
Keller sah ihn an, als wäre er dumm. »Du hättest dich auf dieses Gebiet konzentrieren sollen.«
»Das habe ich. Es sind keine Koordinaten. Allerdings haben viele Hausnummern in Crottendorf einen Buchstaben am Ende, und diese Buchstaben reichen von A bis Z.«
Keller seufzte theatralisch. »Dieser Ort ist so seltsam wie manche seiner Einwohner. Hast du in unseren Datenbanken nachgesehen?«
Berghaus nickte langsam; im Vergleich zu Keller waren seine IT-Kenntnisse so gut wie nicht existent. »Die, auf die ich Zugriff habe, habe ich überprüft, ja.« Er malte mit dem Finger den Kreis aus Kondenswasser aus, den seine Bierflasche auf dem Tisch hinterlassen hatte.
»Okay, den restlichen fünfundneunzig Prozent widme ich mich morgen früh. Die Frage ist doch: War es ein Unfall oder eine absichtliche Verletzung?« Nachdenklich tippte sie auf das Foto des vergrößerten Fingers. Man konnte sogar die Rillen des Nagels erkennen.
»Ich frage mich eher, ob der Besitzer noch lebt oder schon tot ist«, sagte Berghaus. »Wir haben bisher nur einen Finger. Gut möglich, dass diese Person noch lebt.«
»Wir werden bei ›4Z5‹ noch mehr Knochen finden, die vergraben sind.« Sie starrte geistesabwesend ins Leere. »Zu welchem Vorfall dieser Körperteil auch immer gehört, es muss damals eine Menge Fingerzeige und Hinweise gegeben haben. Ihn dir zu schicken, ist ein Symbol, kein Zufall.«
Berghaus nahm die Bilder und stand auf. »Wein?«
»Zwei Flaschen, bitte. Und hör auf, dich am Auge zu reiben!«, tadelte Keller ihn und streckte die Arme vor der Brust aus.
In der Ferne schlug die Kirchturmuhr zehnmal und hallte in den metallisch blauen Abendhimmel, an dem allmählich die ersten Sterne sichtbar wurden.
Als er mit einer Flasche neuseeländischen Sauvignons zurückkam, hatte Keller es sich auf der Hollywoodschaukel, die inmitten eines verbrannten Rasenstücks stand, gemütlich gemacht. Berghaus nahm eine alte Öllampe, die er in einem seiner windschiefen Schuppen gefunden hatte, und zündete sie an. Ein flackernder oranger Schein verlieh Kellers Gesicht etwas Dämonenhaftes. Er setzte sich vorsichtig zu ihr, nervös, wie sie heute darauf reagieren würde. Doch sie legte ihren Kopf auf seine Brust, und Berghaus spürte, wie sich seine Muskeln entspannten. Er schloss die Augen, um ihre Wärme, ihren Herzschlag und den fruchtigen Duft ihres Parfüms aufzusaugen.
Lange Zeit nippten sie schweigend an ihrem Wein. Der Lärm des Tages war verstummt, auch die Vögel hatten endlich den Weg in ihre Nester gefunden.
Keller nahm seinen Arm, legte ihn um ihre Schultern und verschränkte ihre schlanken Finger mit seinen. »Ich habe dich in letzter Zeit vermisst … ein bisschen.«
Berghaus gab ihr einen sanften Kuss auf die Seite des Halses. »Ich habe dich auch vermisst. Vielleicht nicht nur in letzter Zeit und vielleicht nicht nur ein bisschen.«
Als Keller ihm ihren Kopf zuwandte, spielten flackernde Schatten auf ihrem Gesicht. Das nahm ihm endgültig die Scheu, und sie küssten sich leidenschaftlich und lang.
»Wie läuft es in Dresden?«, fragte Berghaus, als ihr Kopf wieder auf seine Brust zurückfiel.
»Du hast ein ziemliches Talent, einen guten Moment zu zerstören.« Sie schaute ihn mit großen, kindlichen Augen an.
»Tut mir leid, aber ich würde dir gern helfen, wenn ich kann. Warum willst du mir nicht sagen, worum es bei der Anhörung ging?«
»Warum willst du mir nicht sagen, worum es in der Zeichnung ging?«
»Touché.« Berghaus hob überrumpelt die Hände und schmunzelte. Er wollte unbedingt wissen, was passiert war. Er könnte ein bisschen herumtelefonieren. Ihre Anhörung war sicher Klatschthema Nummer eins. Allerdings würde er sich damit jegliches Vertrauen verspielen, das er sich so hart erarbeitet hatte. Er beschloss, sie nicht zu drängen. Er wollte schließlich auch nicht über seinen Vater sprechen.
»Was hat der Absender des Briefes davon, jetzt schlafende Hunde zu wecken? Ist er damals beschuldigt worden?«
»Ich hoffe, Laura kann den Finger datieren, und wir finden es heraus. Ich bin neugierig, wie lange dieser Vorfall her ist. Ob das Opfer überhaupt bekannt ist. Oder ob es schon vergessen wurde.«
»Es wurde offensichtlich nicht von allen vergessen. Was glaubst du, wie lange man sich nach deinem Tod noch an dich erinnern wird?« Keller sah ihn intensiv an.
»Hoffentlich lange genug, um von einem netten Menschen noch mal gewaschen und frisiert zu werden.«
Sie brachen in schallendes Gelächter aus, und Keller kuschelte sich noch fester an Berghaus. Seine breiten Schultern und starken Arme konnten sie fast verschwinden lassen. Er spürte, wie glücklich er war.
»Bettzeit?«
Keller nickte.
Die Öllampe war schon vor einiger Zeit ausgebrannt, was den Garten in pechschwarze, wenn auch nicht geräuschlose Dunkelheit getaucht hatte. Während ein Igel vorbeischnaufte, erinnerte ein sternenübersäter Himmel sie an die Belanglosigkeit ihrer Probleme.
Sie entwirrten ihre Gliedmaßen und gingen ins Haus, wo sie vom grellen Licht geblendet wurden. Keller erklomm die Stufen nach oben, während Berghaus blinzelnd stehen blieb. Er schaute hoch und sah sie am oberen Treppenabsatz lehnen, der wie ein überdachter Balkon mit Blick auf Wohnzimmer, Essbereich und die offene Küche gebaut war. Sie schaute mit leuchtenden Augen zu ihm herab, und Berghaus war neugierig, welches Schlafzimmer sie für die Nacht wählen würde. Sie hatte in der Vergangenheit sowohl in seinem als auch im Gästezimmer geschlafen, je nach Laune.
Nachdem er das Geschirr weggeräumt hatte, stieg auch er leise die Treppe nach oben. Vorsichtig öffnete er die Tür zu seinem Schlafzimmer und sah eine Wölbung unter der dünnen Bettdecke. Keller versuchte sich aufzurichten, doch er stupste sie sanft zurück in die Kissen und schlüpfte neben sie ins Bett.
Sie war vollkommen nackt.
Berghaus spürte, wie er in seinen Boxershorts groß und hart wurde, und drückte seinen Unterkörper behutsam gegen sie. Benommen massierte er sanft ihre samtenen Brüste. Bei jedem Atemzug bewegte sich der Anhänger ihrer Silberkette gleichmäßig auf und ab.
Mit einer schnellen, athletischen Bewegung rollte sich Keller auf ihn und verlagerte ihr Gewicht auf ihre Hände, die auf beiden Seiten von Berghaus’ Kopf lagen.
Ihre Fingerspitze strich zärtlich über seine Wange, seinen Hals und hinunter zu seinen Brustwarzen, während Berghaus seine Hand zwischen ihre Beine gleiten ließ, um ihre Wärme und Feuchtigkeit zu spüren. Ihre Finger glitten weiter, immer weiter nach unten und machten sich mit dem Rest von ihm bekannt. Sobald er tief in ihr war, lehnte sie sich zurück und begann, ihre Hüften langsam auf und ab zu bewegen. Berghaus ließ sie das Tempo vorgeben, bevor er ihren Kopf zu sich herunterzog und ihre Körper regelrecht ineinanderfielen. Ihre Atemzüge wurden kürzer und heftiger, und ihre Gliedmaßen versteiften sich.
Berghaus spürte, wie seine Muskeln rhythmisch zuckten; ein pulsierendes, wellenartiges Beben gefolgt von einem überwältigenden, sich ausbreitenden Kitzel und ekstatischen Glücksgefühl.
Als die Spannung ihre Körper verließ, zerfielen sie wie Sand zu einem heißen, verschwitzten Bündel.
»Das sollten wir öfter tun«, flüsterte Berghaus und streichelte sanft ihre Haut, bevor sie sich erneut innig und leidenschaftlich küssten und den Geruch des anderen in sich aufnahmen.
Nach einer Weile erhob er sich so leise wie möglich und ging ins Bad, um sich kaltes Wasser in das glühende Gesicht zu spritzen. Als er zurückkam, hatte sich Keller nicht bewegt; sie lag da, wo sie hingefallen war.
Berghaus zuckte erschrocken zusammen und versuchte, die Quelle des donnernden Geräusches zu lokalisieren.
»Achtung! Pass auf!« Die Stimme hallte wider und entschwand in ein gleisend grelles Licht. Das Dröhnen in seinen Ohren verstärkte sich. Etwas Schwarzes, Hartes traf seinen Fuß. Und dann seinen Arm. Plötzlich begrub eine Lawine aus Schiefer ihn unter sich.
Er öffnete die Augen und keuchte. Die verzerrte Gestalt seines Vaters grinste ihn von oben herab an und piekste ihn mit einem krummen, wächsernen grauschwarzen Finger in die Wange. »Zu schwach und zu dumm, um einfach beiseitezutreten«, kicherte er.
Berghaus wollte protestieren, doch Anne Keller hockte sich neben ihn. Er entspannte sich augenblicklich und lächelte, bis er ihr stirnrunzelndes Gesicht bemerkte. »Dieser Brief enthält die Uhrzeit und das Datum deines Todes. Öffne ihn«, forderte sie trocken.
Berghaus’ Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er versuchte, sie wegzuschieben, aber die Dachschindeln auf seinem Körper pressten ihn langsam immer tiefer in die Erde.
»Öffne ihn!«, schrie Keller. »Nur du kannst ihn lesen.«
Mit zitternden Händen griff Berghaus nach dem Umschlag. Es gab keinen Absender. Die Briefmarke zeigte eine leuchtend rote Mohnblume. Er riss den Umschlag auf und drückte die Augen zu.
»Lies ihn laut vor!«, zischte Keller ihm ins Ohr.
Er blinzelte einmal und spürte, wie sein Kopf an den Haaren nach oben gezogen wurde. Keller stemmte seine Augen mit einem Brecheisen auf. Alles um ihn herum sah klar und lebendig aus. Dann wurden die Farben flüssig und gingen ineinander über, wie ein Aquarell im Regen.
Berghaus erwachte mit einem Aufschrei in einem überhitzten und luftleeren Schlafzimmer. Eine Hand griff nach seinem Gesicht, er schlug sie weg. Sein Körper war schweißgebadet, und sein Herz hämmerte unkontrolliert. Er stolperte aus dem Bett, tastete nach dem Fenstergriff und riss ihn herum. Gierig sog er große Schlucke kühler Luft ein. Der wohltuende würzig-frische Geruch der Nadelbäume beruhigte ihn allmählich.
Schließlich legte sich eine Hand zärtlich auf seine Schulter. »Alles gut«, hauchte ihm Keller ins Ohr. »Du hast nur geträumt. Und wie wild geschrien.«
Berghaus nickte. Sein Körper zitterte noch immer, während er versuchte, das Bild seines Vaters zu verdrängen. Keller kuschelte sich an seine Brust. »Entspann dich.« Sie küsste ihn auf die Wange.
»Du hast nicht etwa … einen Umschlag mitgebracht, oder?«, fragte er vorsichtig.
Keller lachte. »Träum weiter, ich schreibe dir keine Liebesbriefe.«
»Du hast mir einen Umschlag gegeben, der Datum und Uhrzeit meines Todes enthielt, und mich gezwungen, ihn zu öffnen.«
Kellers Mund war ganz nah an seinem Ohr. »Wenn ich deinen Tod wollte, könnte ich dich jederzeit umbringen«, flüsterte sie.
»Das ist beruhigend. Jetzt kann ich entspannt weiterschlafen.«
»Wenn du einen solchen Brief bekämst, würdest du ihn öffnen?«, fragte sie.
»Nein. Ich glaube, ich würde das nicht wissen wollen. Außerdem könnte ich mein Leben jederzeit selbst beenden. Und du?«
»Ich würde ihn öffnen. Ich bin neugierig.« Damit fiel sie zurück ins Bett und rollte sich auf die Seite.
Es war fast drei Uhr nachts. Berghaus trank etwas Wasser aus dem Hahn, rückte seine Kissen zurecht und zögerte. Sein Auge mit dem Gerstenkorn drückte und schmerzte. Es war schon halb zugeschwollen und … irgendwie hatte er zu viel Angst, wieder einzuschlafen … falls der Alptraum zurückkam. Wie ein kleines Kind. Vielleicht hatte sein Vater ein Leben lang recht gehabt, und er war ein Weichei. Eine Milchsemmel.
Behutsam tapste er hinunter in sein Büro. Die schwere schwarze Tür des Tresors öffnete sich sanft, und selbst in der Dunkelheit wusste er genau, wo der Brief seines Vaters lag. Er strahlte Wärme und Verzweiflung und Panik in den gesamten Raum aus. Dieser Brief war die einzige persönliche Handschrift, die Berghaus je von ihm erhalten hatte. Keine Geburtstagskarte, keine Weihnachtskarte und keine Postkarte hatten jemals seinen Briefkasten erreicht.
Er war vor zwei Wochen gekommen. Einen Tag nach dem Tod seines Vaters. Zwei Seiten blütenweißes Papier. Die eine war auf der Vorder- und Rückseite beschrieben, die andere hatte mit einer starken, ruhigen Hand begonnen, die aber sichtlich mehr erlahmte. Der Brief endete in Kritzeleien und Hilferufen. Schließlich sah Berghaus die letzte Zeile im Leben seines Vaters.
Er hatte sie bisher nur einmal gelesen.
Mit zittrigen Fingern wendete er den Umschlag des Pflegeheims in seinen großen Händen. Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen; er wischte sie weg und zuckte zusammen, als sein Ärmel das fast zugeschwollene Augenlid berührte. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er rang nach Luft, drohte zu ersticken. Die Wände um ihn herum begannen sich zu drehen. Berghaus zog die Knie fest an die Brust. Zusammengekauert saß er auf dem Boden wie damals als kleiner Junge.
Er fragte sich, was sein Vater wohl sagen würde, wenn er ihn hier mitten in der Nacht so sitzen sähe. Ein heulendes Bündel Elend, einem emotionalen Zusammenbruch nahe – und das wegen eines einfachen Stücks Papier.
Alles, was sein Vater gewollt hatte, war ein starker, waghalsiger, frecher Junge mit aufgeschürften Knien, die von seinen Abenteuern erzählten; stattdessen hatte er einen dünnen, schüchternen und kränklichen Jungen bekommen, der lieber über Abenteuer in Büchern las, als selbst seine Grenzen auszutesten.
Hinter sich hörte Berghaus die Tür leise über den Boden schleifen. Er wirbelte herum und ließ den Brief fallen.
Keller betrachtete ihn mit besorgtem Gesicht; ein Ausdruck, den er von ihr nicht kannte. Sie ging zu der Stelle, wo das Papier unter einem Bücherregal hängen geblieben war, und hob es auf.
»Lass das!«, fauchte Berghaus.
»Ich will ihn nicht lesen.«
Berghaus sah die Aufrichtigkeit in ihren Augen.
Sie gab ihm den Brief zurück, hielt seine Hand jedoch fest. »Komm, lass uns frische Luft schnappen.«
Durch die große Terrassentür führte sie ihn hinaus in den Garten, nahm eine Decke und warf sie in das dunkle Gras. Die Luft war unglaublich mild und aromatisch und sauber. Der Boden fühlte sich hart an, und sprödes Gras kitzelte seine nackten Fußsohlen. Doch Berghaus spürte kaum etwas.
»Ich werde dich nicht fragen, was passiert ist, und ich bin kein guter Zuhörer, und meine Ratschläge sind in der Regel unbarmherzig, aber wenn du darüber reden möchtest, bin ich bereit.«
Berghaus lächelte, als Keller ihren Kopf an seine Schulter legte, und gab ihr einen Kuss. »Du bist etwas Besonderes.« Der Schmerz, den er innerlich spürte, war unerträglich, und was Keller auch sagen mochte, nichts konnte ihn noch unerträglicher machen.
»Meine Eltern ließen sich vor etwa zwanzig Jahren scheiden. Meine Mutter konnte die Demütigungen meines Vaters nicht mehr ertragen und war kurz davor gewesen, sich das Leben zu nehmen. Er war ein Ekel. Ein Tyrann. Er hat meinen Halbbruder Jan ignoriert und mich schikaniert. Bei jeder Gelegenheit. Vor zwei Jahren hatte er einen Unfall, war seither von der Hüfte abwärts gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Weil es niemanden gab, der sich um ihn hätte kümmern können oder, besser gesagt, wollen, kam er in ein Pflegeheim.«
»Und vor zwei Wochen ist er gestorben.«
»Woher …«
»Deine Zeichnung. Der Mann sah dir ähnlich.«
»Das hast du anhand einer Zeichnung kombiniert, die du nur kurz gesehen hast?«, fragte Berghaus verblüfft.
Stille.
»Okay, Siebert hat es mir erzählt.«
»Alte Tratschtante.«
»Dein Vater war sehr beliebt im Dezernat. Ein hervorragender Kripobeamter. Viele konnten nicht glauben, dass er privat so furchtbar war. Wie ist er gestorben?«
»Am Tag seines Todes bat er darum, an einen ruhigen, schönen Ort im Park des Pflegeheims geschoben zu werden. Es war einer dieser brütend heißen Tage, also setzten sie ihn in den Schatten. Er wollte zum Mittagessen wieder geholt werden. Dann begann er, diesen Brief zu schreiben …« Berghaus’ Stimme brach.
»Was ist passiert?«
Berghaus riss sich zusammen. »Die Schicht hat gewechselt, und sie haben ihn vergessen.«
»Was? Sie haben ihn bei der Hitze vergessen?«
»Ja. Sie haben sein Fehlen erst bemerkt, als er nicht zum Abendessen auftauchte. Die Sonne zog weiter, und nach etwa einer Stunde saß er in der prallen Glut … für den Rest des Tages. Sein Rollstuhl hatte sich im Gras verfangen; er saß fest. Er dokumentierte methodisch die Geschehnisse und seine Gedanken. Er schrieb, wie ihm langsam dämmerte, dass sie ihn vergessen hatten, dass er um Hilfe schrie … vergeblich … bis seine Kehle zu trocken war zum Schreien. Ihm wurde zunehmend schwindelig. Panik machte sich breit, aber er drückte den Stift noch immer auf das Papier und kritzelte weiter. Schließlich starb er an einem Hitzschlag. Seine Haut war knallrot und blasig.«
»Das tut mir furchtbar leid.« Sie drückte seine Hand. »Hey, es ist okay, traurig zu sein und zu weinen.«
Berghaus legte seinen Arm um sie, und Keller lehnte sich an ihn. Sie konnte nicht wissen, dass dieser Brief auch ohne das Unglück an Berghaus junior adressiert gewesen wäre. Und dass sein Vater damit das erste Mal den Kontakt zu seinem Sohn gesucht hatte. Und dass seine heißen Tränen nicht dem Tod des Vaters galten, sondern dem Inhalt des Briefes. Er enthielt ein Geständnis und begann mit den Worten: »Ich weiß, was du von mir hältst, Alexander. Ich war gewiss kein guter Vater. Aber bitte lass es mich erklären.«
Berghaus sah sich nicht imstande, Keller vom Inhalt der ersten beiden Seiten des Briefes zu erzählen. Als sein Vater noch bei klarem Verstand gewesen war.
Noch nicht.
Vielleicht niemals.
Über ihnen tröstete ein Reich der Sterne, nachsichtig und unvoreingenommen, sein aufgewühltes Gemüt.
Berghaus schlief unruhig, und als er aufwachte, war Keller verschwunden. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, welche Teile der letzten Nacht Traum und welche Wirklichkeit gewesen waren.
»Guten Morgen, Quasimodo«, feixte sie, als er in die Küche kam.
Das Gerstenkorn an seinem Lid drückte äußerst schmerzhaft, auch die Schwellung war seit letzter Nacht schlimmer geworden.
»Oder willst du bei diesem Fall der Einäugige unter den Blinden sein?«, frotzelte sie weiter.
»Danke für dein Mitgefühl.« Berghaus machte einen Buckel und schlurfte zur Kaffeemaschine.
»Im Ernst. Du musst zum Augenarzt gehen. Und du solltest jetzt gehen, denn wenn ich erst einmal die Recherchemaschine angeworfen und herausgefunden habe, wo und wer der Besitzer dieses Fingers ist, könnte die Hölle losbrechen.«
Er sah sie fragend an.
»Serienmörder. Massenbegräbnisstätte. Mumifizierter Körper eines Steinzeitmenschen. Du darfst wählen.«
»Ich wähle den Augenarzt.«
Berghaus rief in der Praxis an und erfuhr, dass er noch am selben Tag vorbeikommen könne – frühestmöglicher Termin vierzehn Uhr. »Gute Neuigkeiten: Ich kann dir bei der Recherche zu ›4Z5‹ helfen.« Er strahlte Keller an, die es sich mit einer Tasse Kaffee in seinem Büro bequem gemacht hatte.
»Ich will nicht undankbar wirken, aber … ich mach das lieber allein.« Ihr Gesicht war ernst, zudem wusste Berghaus aus Erfahrung, dass Keller ihren eigenen Stil verfolgte, wenn es um die Arbeit ging.
»Gut. Dann gehe ich eine Runde joggen, bevor es zu heiß wird.«
»Vorsicht, Laternenpfahl.« Rief sie ihm grinsend nach.
Berghaus trat hinaus in einen weiteren Sommertag. Und stutzte. Die Luft roch nach Weihrauch und Tanne und Weihnachten. Er schmunzelte. Anscheinend wurden die Produktionshallen der Crottendorfer Räucherkerzen gerade gut durchgelüftet, weshalb der Duft einmal quer durch den Ort zog. Weihnachtsdüfte wurden nämlich im Sommer hergestellt.
Er folgte einer schmalen, hügeligen Straße vorbei am örtlichen Wertstoffhof in Richtung Heide. Unterwegs traf er seinen ehemaligen Nachbarn, der stolz seine geliebte Hündin Amy spazieren führte. Ihr goldenes Fell leuchtete mit den Getreidefeldern zu beiden Seiten um die Wette.
Die Sonne brannte unnachgiebig auf Berghaus herab, und mit jedem Schritt staubte der ausgezehrte Boden auf. Alles um ihn war grell und blendend, und so unklar, wie er sehen konnte, waren auch seine Gedanken. Am Waldrand angekommen, ließ er sich auf einen kühlen, flachen Felsen fallen.
Ohne »4Z5« zu finden, konnten sie nicht feststellen, wem der Finger gehörte. Und ohne zu wissen, wem der Finger gehörte, konnten sie nicht feststellen, was wirklich passiert war.
Berghaus ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. Die Baumreihe zu seiner Linken, die Felder zu seiner Rechten – alles schien schnurgerade angeordnet zu sein. Nur der kleine Bach, der sich unschuldig durchs Dorf schlängelte, hielt sich nicht an die Regeln der Geometrie.
In Berghaus’ Kopf wuchs ein Gedanke und setzte sich fest. Er überprüfte seine These mit einem kritischen Blick in die Landschaft. Und endlich, zum ersten Mal seit dem Erhalt des Briefes, hatte er eine Idee, wo er mit der Suche nach »4Z5« starten konnte!
Als Berghaus den winzigen Vorraum des Grundbuchamtes im Rathaus von Crottendorf betrat, merkte er, wie nervös er war. Während er die Gliederung von Feldern und Waldstücken betrachtet hatte, war ihm aufgefallen, dass sie nicht natürlich sein konnte. Es war eine von Menschenhand geschaffene unsichtbare Eigentumsgrenze. Das wiederum warf die Frage auf: Welches System lag der Grundbucheintragung zugrunde? Und, was noch wichtiger war, wie sah eine Katasternummer aus?
Er öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Ein hoher Tresen, der sich über die gesamte Länge des Zimmers erstreckte, hinderte ihn daran, mehr als zwei Schritte in das Büro zu machen. Schwere Vorhänge und staubige künstliche Topfpflanzen verliehen dem Raum eine luftlose Atmosphäre.
»Wir haben geschlossen«, begrüßte ihn eine mollige Frau Anfang zwanzig.
»Nein, haben Sie nicht.« Berghaus zeigte ihr seinen Ausweis. »Ich habe Fragen zu einer polizeilichen Ermittlung.«
Als ihre Augen aufblitzten, wusste er, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte. In Crottendorf passierte viel zu wenig, als dass die Dame sich die Gelegenheit entgehen lassen würde, etwas möglicherweise Geheimnisvolles und Spannendes aus erster Hand zu erfahren.
»Jedes Grundstück in diesem Ort ist mit einer Nummer registriert, richtig?«
Sie nickte.
»Woraus besteht diese Flurnummer?«
»Fünf Zahlen.«
Berghaus’ Laune verfinsterte sich. Er war sich so sicher gewesen, dass sein Geistesblitz sie zu »4Z5« führen würde, wo sie mit der Suche nach den restlichen Körperteilen beginnen konnten.
»Gibt es auch dreistellige Nummern? Welche, die aus Buchstaben und Zahlen bestehen?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf und verlor sowohl Interesse als auch Geduld.
»Nennen Sie mir bitte ein Beispiel«, verlangte er.
»Natürlich. Wie lautet Ihre Adresse?«
Berghaus gab ihr Straßennamen und Hausnummer.
»Ihre Grundstücksnummer ist die 29200.«
»Gut zu wissen«, brummte er.
Sie drehte den Bildschirm, und Berghaus blickte auf eine grobe Karte, auf der ein schwarzes Rechteck, angeblich sein Haus, in einem weißen Fleck saß, angeblich sein Garten. Ungleichmäßige Linien, angeblich die Grenzen seines Grundstücks, umgaben den gesamten Klumpen. Ihm fiel auf, dass die Linie, die seinen Garten von dem des Nachbarn trennte, auf dem Bildschirm schräg verlief, aber er war sich sicher, im Frühjahr einen geradlinigen Zaun gebaut zu haben, und fragte sich, ob die Karte überhaupt korrekt war.
»Was ist mit den anderen Orten in der Gegend?« Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Besitzer des Fingers nicht allzu weit weggebracht worden war.
»Was soll mit ihnen sein?«, fragte die Frau und schaute ihn mit offenem Mund an.
»Was für ein Registrierungssystem verwenden sie? Eines, das Buchstaben enthält?«
»Nein. Wir verwenden alle dasselbe System. Fünfstellige Zahlen. Kann ich sonst noch etwas tun? Ansonsten …« Sie begann, ihre Tasche zu packen.
»Wurde dieses System in der Vergangenheit einmal geändert? Seit wann verwenden Sie die fünfstelligen Zahlen?«
»Seit dem Zweiten Weltkrieg.«
War ihr Fall vielleicht tatsächlich viel älter, als er dachte? Was hatte Keller gesagt? Ein mumifizierter Körper eines Steinzeitmenschen?
Berghaus schüttelte den Kopf, bedankte sich und verließ das Grundbuchamt.
Als die Kirchenglocken zwei Uhr läuteten, bog er auf den Parkplatz des örtlichen Augenarztes Dr. Phoenix Landau ein.
Ein üppiger Garten umgab die kürzlich renovierte zweistöckige Villa, die eher wie ein privates Einfamilienhaus wirkte als wie ein gewerblich genutztes Gebäude. Kaum hatte er die Eingangstür geöffnet, begrüßte ihn der typische Duftmix aus Putz- und Desinfektionsmittel. Zu seiner Linken führte eine steile, dunkle Holztreppe ins Obergeschoss; die Wand zu seiner Rechten war mit Ahnenporträts übersät. Offenbar hatten schon einige Generationen vor Phoenix Landau ihren Patienten tief in die Augen geschaut. Eine Arzthelferin mit ihrem weißen, zu einem strengen Dutt hochgesteckten Haar wirkte in dem modernen lindgrünen Wartezimmer etwas deplatziert.
»Bitte setzen Sie sich. Dr. Landau kommt gleich.« Sie deutete auf einen leeren Stuhl.
Berghaus nickte und erinnerte sich an die Einladung zum Grillen für diesen Abend von seinen neuen Nachbarn – einem Ehepaar mittleren Alters, das, obwohl es schon vor einiger Zeit eingezogen war, nur selten zu Hause zu sein schien. Berghaus hoffte, Dr. Landau könne seinen ersten Eindruck bei den neuen Nachbarn mit einer guten Augensalbe schnell retten. Ansonsten würde er ihnen wohl für immer als Quasimodo mit Gerstenkorn in Erinnerung bleiben.
Er fragte sich auch, was Kellers Recherche bisher ergeben hatte, als ein spitzer, hoher Schrei ihn aufschrecken ließ. Schritte donnerten die Treppe herunter, und eine junge, attraktive Arzthelferin stürzte herein. Mit zitternden Händen deutete sie zur Decke. »Blut … da ist … Blut!«
Berghaus sprang auf und führte sie vorsichtig zu seinem Stuhl.
»Bitte beruhigen Sie sich. Ich bin Hauptkommissar Alexander Berghaus. Wo haben Sie Blut gesehen?«
»Oben. Es … es ist durch die Badezimmertür gesickert.«
»Ist das die Wohnung von Dr. Landau?«
Sie starrte auf sein geschwollenes Auge und nickte. »Er ist nach der Mittagspause nicht heruntergekommen, also bin ich nach oben gegangen, um nachzusehen.«
»Rufen Sie einen Rettungswagen und die Polizei. Ich werde mir das ansehen.« Mit meinem einen Auge, dachte er.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die steile Treppe hinauf. Eine braune Holztür stand halb offen, dahinter lag ein langer, trister Flur mit einer scheinbar endlosen Anzahl von Türen. Sie waren alle geschlossen.
Berghaus konnte auf Anhieb kein Blut durch irgendeine der Türen sickern sehen. Er stürmte zur ersten und riss sie auf. Ein Abstellraum mit Wäschekorb. Danach ein Gästezimmer mit Klappmatratze. Eine braune Küche mit säuerlichem Müllgeruch. Ein karges Wohnzimmer. Noch drei Türen. Eine Vorratskammer gefüllt mit Fertiggerichten. Ein muffiges Schlafzimmer. Berghaus rannte zur letzten Tür, stolperte und stürzte fast gegen den Türrahmen. Eine lange grüne Stoffschlange mit blauer Zunge schielte zu ihm herauf. Was zum Henker …? Er trat sie zur Seite und bückte sich. Hier war kein Blut.
»Dr. Landau?«, rief er und klopfte.
Vorsichtig drückte er die Klinke nach unten. Computermonitore und allerlei andere technische Geräte starrten ihn stumm an.
Berghaus zog sich in den Flur zurück – alle Türen standen jetzt offen. Kein Badezimmer.
Dr. Landau benutzte doch nicht etwa ein Plumpsklo im Garten, oder? Verärgert eilte er zurück in die Praxis.
»Wo soll dieses Badezimmer denn sein?«
Alle Köpfe drehten sich zu ihm um.
»Das Schlafzimmer hat ein En-Suite-Bad«, antwortete die junge Arzthelferin prompt.
Sag das doch gleich, dachte Berghaus, als er die Treppe erneut in Angriff nahm.
Er rannte quer durch das Schlafzimmer, als er ein zweites Mal stolperte. Mit fuchtelnden Armen fiel er in ein ungemachtes Bett, das nach dem Schlaf anderer Menschen roch und von einem riesigen dunkelbraunen Kleiderschrank überragt wurde wie von einem Monster. »Was zum Kuckuck ist hier los?«, zischte er wütend und packte ein schwarzes Plüschschaf mit monumental verlängertem Körper und einer Frisur, die an eine weiße Richterperücke erinnerte. Zornig funkelte er es an und feuerte es zurück auf den Boden.
In einer Nische zwischen Fenster und Kleiderschrank war eine Tür eingebaut. Und in der Tat: Blut war durch den Spalt gesickert und hatte bereits begonnen zu gerinnen.
Berghaus klopfte und drückte gleichzeitig die Klinke herunter. »Dr. Landau?«
Die Tür rührte sich keinen Millimeter.
Er versuchte es noch einmal, diesmal mit mehr Kraft. Die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt, und er sah kurz weiße Fliesen aufblitzen. Er gab ihr einen weiteren Stoß. Diesmal flammte etwas Blaues auf, aber die Tür fiel erneut zurück ins Schloss. Ein schwerer Gegenstand schien sie von innen zu blockieren.
Berghaus trat einen Schritt zurück, zog die Schultern an und warf sein gesamtes Körpergewicht gegen die schokoladenbraune Tür. Sie öffnete sich leichter als erwartet. Durch den Schwung verlor er das Gleichgewicht. Verzweifelt versuchte er, sich am Türrahmen festzukrallen.
In diesem Moment packte ihn eine kräftige Hand an der Schulter, und er spürte, wie sich die Nähte seines Hemdes aufs Äußerste dehnten.
Berghaus war sich der Blutlache auf dem Badezimmerboden durchaus bewusst. Er beobachtete, wie sein Fuß in Zeitlupe darübertanzte und verzweifelt einen Platz zum Auftreten suchte. Es nützte nichts. Mit einem schmatzenden Geräusch setzte sein weißer Turnschuh auf dem blutüberströmten Fliesenboden auf und rutschte nach vorn. Der Griff an seiner Schulter lockerte sich. Berghaus erwischte nicht den blauen Bademantel, der am Haken neben der Tür hing, und krachte schließlich mit beiden Knien in die gegenüberliegende Kloschüssel. Blut spritzte an seinen Hosenbeinen empor. Adrenalin schoss durch seinen Körper, und sein Herz hämmerte in der Brust. Zitternd drehte er sich um und nahm das Ausmaß der Katastrophe wahr.
Berghaus hatte nicht bemerkt, dass der Sanitäter bereits hinter ihm stand und ihn mit großen Augen ansah. »Und Sie sind …?«
Berghaus waren sein Aussehen und Auftreten fast peinlich. »Kriminalhauptkommissar Berghaus«, nuschelte er.
Dr. Phoenix Landau lag steif und unbeholfen, wie aus dem Sitzen umgekippt, in einer gekrümmten Position auf dem Badezimmerboden. Seine weiße Hose war von den Hüften abwärts mit Blut bedeckt. Der Sanitäter tastete nach einem Puls und anderen Lebenszeichen, schüttelte jedoch schnell den Kopf.
Der Blutverlust hatte die Haut des Augenarztes blass werden lassen, seine Lippen waren blau und die Hornhaut seiner offenen Augen trüb. Unter einem blutgetränkten Handtuch bemerkte Berghaus etwas silbern Schimmerndes – ein Skalpell.
Phoenix Landau hatte sich beide Arterien der Länge nach durchtrennt.
Berghaus setzte sich auf den schmalen Rand der Badewanne, atmete tief aus und betrachtete seine Umgebung. Das Badezimmer war schmal und rechteckig, mit einem geschlossenen Fenster am anderen Ende, das gerade genug Licht hereinließ, um den Raum zu beleuchten. In einer Ecke stand eine schimmelige, mit Wasserflecken übersäte Dusche, gegenüber eine staubige Waschmaschine.
Der junge Arzt lag eingekeilt zwischen der Tür und einem Waschschränkchen. Er konnte nicht älter als Anfang dreißig sein und hatte eine schlanke, unscheinbare Figur. Das rötliche, zerzauste Haar klebte blutverschmiert am Kopf.
Berghaus spürte eine tiefe Traurigkeit in seiner Brust aufsteigen. Wie verzweifelt musste dieser Mann in den letzten Wochen, Monaten oder gar Jahren gewesen sein? Wie herzzerreißend musste es sein, die Entscheidung für einen Suizid durchzuziehen, während eine Etage tiefer alles seinen gewohnten Gang ging? Und wie einsam musste er sich gefühlt haben, als er annahm, dass diese Tat sein einziger Ausweg war?
Der Sanitäter hob das linke Handgelenk von Landau an. »Er war definitiv Arzt. Diese Schnitte sind sehr professionell. Sie glauben gar nicht, wie viele Leute versuchen, sich die Arterien quer aufzuschneiden. Oder mit zu wenig Druck. Nein, er hatte die Absicht zu sterben.« Er drehte den Augenarzt auf die Seite, schob das Hemd nach oben und deutete auf den unteren Rücken und das Gesäß. »Sehen Sie die postmortale Färbung? Die Druckspuren? Das ist eingedicktes Blut. Es bildet sich, wo Druck ausgeübt wird – in seinem Fall durch die aufrechte Sitzposition und das Anlehnen an die Tür. Auch an seinen Beinen, die ausgestreckt vor ihm lagen, werden wir diese Verfärbungen sehen.«
»Er hat sich also auf den Boden gesetzt und mit dem Rücken an die Tür gelehnt?«
Der Sanitäter nickte.
»Wie lange ist er schon tot?«
»Die Leichenflecken beginnen sich zu bilden, und die Leichenstarre hat gerade erst eingesetzt.« Er wies auf die Augenlider und das Kiefergelenk.
Berghaus sah ihn an. »Und in einer Zeiteinheit ausgedrückt?«
Der Mann grinste unbeholfen. »Wir haben hier eine normale Raumtemperatur. Der Tod trat vor circa einer Stunde ein.«
Berghaus nickte. Im Flur traf er zwei Polizisten und bat sie, nach einem Abschiedsbrief zu suchen und die Angehörigen zu informieren.
Die ältere Arzthelferin wartete mit einer Salbentube am Treppenende auf ihn. »Das sollte gegen Ihr Gerstenkorn helfen«, sagte sie. Sie probierte wohl, ihm zuzulächeln, schaffte es aber nicht.
Er bedankte sich und erfuhr von ihr, dass Dr. Landau in den letzten Jahren immer wieder an Depressionen gelitten und als Student bereits einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Jüngste Probleme in seinem Privatleben hatten ihn wohl endgültig aus der Bahn geworfen. Er hatte eine Freundin, aber keine Kinder.
Berghaus tapste barfuß zum Auto und verbrannte sich die Füße auf dem glühend heißen Asphalt. Die Hitze nahm ihm fast die Luft zum Atmen und tat weh auf der Haut. Sein dunkles Haar fühlte sich in kürzester Zeit an wie in Flammen. Der Wetterbericht sagte für die kommenden Tage einen neuen Hitzerekord für das Erzgebirge vorher – ein Grund mehr, es sich in seinem kühlen Büro mit Anne Keller und der Suche nach »4Z5« gemütlich zu machen.
»Wo warst du so lange? Ich darf hier wieder alles allein machen«, bellte Keller, doch ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, als sie sah, wie Berghaus barfuß, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und blutverschmierten Schuhen, in der Tür stand. »Was ist passiert?«
»Dr. Landau hat während seiner Mittagspause Selbstmord begangen.« Noch immer zittrig, erzählte er ihr von seinem schrecklichen Besuch beim Augenarzt und dem erfolglosen Besuch beim Grundbuchamt. Kellers Recherchen waren ebenso vergeblich gewesen – ohne einen einzigen Hinweis auf »4Z5«.
Sie seufzten missmutig, und Berghaus ging nach oben, um eine lange, entspannende Dusche zu nehmen, bevor sie zum Grillfest der Nachbarn aufbrachen.
Als er fertig war, fand er Keller und Anica, Davids zwölfjährige Tochter, im Wohnzimmer, wo sie sich angeregt unterhielten. Berghaus kannte Anica von Geburt an, und immer wenn ihr Vater auf Geschäftsreise war, blieb sie bei ihm. Gemeinsam hatten sie ein Zimmer im Obergeschoss nach ihren Wünschen eingerichtet und dekoriert. Das Mädchen pendelte nach Belieben zwischen den beiden Häusern hin und her, je nachdem, wo gerade etwas Spannendes und Interessantes stattfand. Oder wo sie sich am wenigsten im Haushalt beteiligen musste.
Mit den dunklen Augen und der Stupsnase war Anica das Ebenbild ihres Vaters David, nur der Dreitagebart fehlte. Sie trug ein weißes T-Shirt zu dunkelgrünen Shorts. Berghaus hatte sie zu ihrer Taufe das letzte Mal in einem Kleid gesehen. Anne Keller hatte sich für eine kurzärmlige bronzefarbene Leinenbluse und schwarze Shorts entschieden. Er fragte sich oft, warum die introvertierte Anne Keller mit all ihren Eigenheiten sich ausgerechnet mit einem zwölfjährigen, temperamentvollen Frechdachs wie Anica angefreundet hatte. Arko, ihr eigenwilliger und verfressener goldener Cockerspaniel, wich den beiden nicht von der Seite.
Anica begrüßte Berghaus mit einer Umarmung, und er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Alles klar?«
»Hm. Alex, kann ich heute bei dir übernachten? Bitte?«
Er blickte nachdenklich auf sie hinunter. »Warum? Dein Vater ist zu Hause.« Sie hatten die Abmachung, dass Anica in ihrem Elternhaus übernachtete, wenn ihr Vater nicht auf Geschäftsreise war.
»Das ist keine Antwort.«
»Wir unterhalten uns nach dem Essen noch mal, okay?«
Sie nickte.
Bevor Berghaus das Trio zu den Nachbarn entließ, reihte er sie im Wohnzimmer auf der Couch auf.
»Was tut er jetzt?«, flüsterte Keller in Anicas Richtung.
»Die Regeln des Abends verlesen«, flüsterte sie zurück.
»Okay, ich bitte euch drei inständig«, sein flehender Blick wanderte von Keller zu Anica und schließlich zu Arko, der geifernd zur Tür stierte, »euch heute Abend von eurer besten Seite zu zeigen.«
Er schaute zu Keller. »Was ich meine, ist, Interesse zu zeigen, auch wenn das Gesprächsthema nicht unser Lieblingsthema ist.« An Anica gewandt: »Das Besteck zu benutzen und auf das zu hören, was ich sage.« Er kniete sich neben Arko, der ihm Hundefuttergestank ins Gesicht hechelte. »Und keine Löcher zu graben oder allgemeines Chaos anzurichten.« Berghaus sah sie streng an.
