Gnadenhof - Jürgen Seibold - E-Book

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Jürgen Seibold

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Beschreibung

Das Museumsdorf in der Nähe von Memmingen bereitet sich auf einen anstrengenden Sonntag vor. Zahlreiche Vorführungen sollen vor allem Familien anlocken. Am Vorabend macht Museumspädagoge Ulrich Stadler bei seinem letzten Rundgang eine schauerliche Entdeckung: Im alten Uttenhof sitzen drei sehr lebensecht wirkende Figuren um den Esstisch. Erst fällt ihm nur auf, dass die Gestalten für das Ambiente zu modern gekleidet sind – dann sieht er das Blut am Boden.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96309-1

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagabbildung: Artwork Cornelia Niere; Mauritius Images

(Landschaft + Medaille) und Shutterstock (Stall + Katze)

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Samstag, 31. Mai

Es war schon nach halb sieben, als die letzten Besucher das Gelände verließen. Ulrich Stadler sah den Senioren nach, die schwatzend und lachend auf dem Weg zum Parkplatz waren. Morgen würde das Publikum deutlich jünger ausfallen. Dann war Familiensonntag im Bauernhofmuseum Illerbeuren, und die Aktionen, Spiele und Vorführungen würden vor allem Eltern mit kleinen Kindern anlocken.

Stadler sah in den Himmel: Auch das Wetter würde wohl mitspielen. Für Memmingen und Umgebung war ein prächtiger Frühsommertag vorhergesagt, und das blaue, nur hier und da mit weißen Wölkchen betupfte Firmament schien die Prognose zu bestätigen.

Er ließ seinen Blick über die umstehenden Gebäude schweifen, dann wandte er sich dem Gromerhof zu, in dem eines der Museumsgasthäuser eingerichtet war. Im Biergarten halfen seine Kollegen einer Kellnerin, einige Tische zu einer großen Tafel zusammenzuschieben. Stadler packte mit an, damit ihnen die Bedienung möglichst bald die gefüllten Gläser bringen konnte. Mit einem frischen Weißbier würde sich die Abschlussbesprechung schon fast wie Feierabend anfühlen.

Die Gestalt, die sich an das Fachwerk des großen Zehentstadels drückte und aufmerksam um die Ecke lugte, sah sich noch einmal um, aber im Museumsdorf schien nun niemand mehr unterwegs zu sein. Höchste Zeit, die Sache zu ihrem Ende zu bringen.

»Na ja«, sagte Tom Schaber leichthin und zuckte mit den Schultern. »Frechenrieden ist zwar nicht gerade der beste Standort für ein Elektrogeschäft, aber was soll’s? Mein Vater war halt hier Elektriker.« Lachend deutete er auf den knallbunten Prospekt des Memminger Großhändlers, der ihm eben aus der Tageszeitung gerutscht war. »Immerhin hab ich hier im Dorf keine solche Konkurrenz!«

Resi und Hansen saßen im Garten und unterhielten sich prächtig mit Tanja und Tom Schaber, Resis bester Freundin und ihrem Mann. Die Sonne überzog nur noch einen kleinen Teil des Gartens mit sattem Gelb, der Rest lag schon im Schatten, aber die Luft war noch so warm, dass sie sich das Abendessen draußen schmecken lassen konnten.

Seit fast einem Jahr leitete Eike Hansen nun schon das Kommissariat 1 der Kripo Kempten, und gleich durch den ersten Fall hatte er Resi Meyer kennengelernt, die als Rechtsmedizinerin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität arbeitete. Sie war gerade zu Besuch bei ihren Eltern in Roßhaupten gewesen, als nach dem Mord an einem Lechbrucker Pferdezüchter jemand gebraucht wurde, der sich das Opfer ansah und es später obduzierte. Diesem Umstand hatte Hansen in den vergangenen Monaten ein unverhofft schönes Privatleben zu verdanken, auch wenn Resi die eine oder andere Nacht ihren Eltern zuliebe nicht in Hansens gemietetem Bauernhaus am Füssener Stadtrand, sondern in Roßhaupten verbracht hatte. Sogar seiner in Hannover gebliebenen Frau, die noch nicht so recht in die Scheidung einwilligen wollte, war aufgefallen, dass Hansen schon in seinem ersten Sommer im Allgäu aufgeräumter und fröhlicher wirkte als die Jahre zuvor.

Er nahm ein Stück Käse, hörte den anderen zu und betrachtete versonnen seine Freundin. Resi war groß und schlank und trug wie meistens Jeans und Karohemd. Ihre kurz geschorenen Haare waren weißblond und bildeten einen starken Kontrast zu ihrer sonnengebräunten Haut, und ihre blauen Augen funkelten hinter einer randlosen Brille.

Resi war im Reinen mit sich und der Welt. Sie schminkte morgens keine Falten weg, und ihre Frisur war dann gelungen, wenn sie sich nur schnell mit feuchten Fingern durch die Stoppeln fahren musste, um das Haus hinreichend gestylt verlassen zu können. Nur eines mochte sie überhaupt nicht an sich: ihren Vornamen Therese, den deshalb allenfalls ihr Vater ungestraft aussprechen durfte, wenn er seine Tochter mal wegen einer allzu flapsigen Bemerkung tadelte.

Jetzt lachte sie gerade herzlich über eine Anekdote, die Tom zum Besten gab, und Hansen musste schmunzeln, als er sah, wie Resis ganzes Gesicht mitlachte und ihre Augenfältchen noch ein wenig tiefer wurden. Entspannt lehnte er sich in den bequemen Gartenstuhl zurück. So angenehm durfte sein Leben im Allgäu gerne bleiben.

Die Besprechung war dann doch noch anstrengend geworden, aber schließlich konnten auch die letzten Details für den anstehenden Familiensonntag geklärt werden. Die Kollegen teilten sich die Gebäude auf dem Areal des Bauernhofmuseums auf, um sich dann zu einer letzten Inspektion der Häuser zu zerstreuen und dabei auch gleich die Eingangstüren abzuschließen.

Sebastian Zang, der den Empfang leitete und zu dessen Aufgaben es normalerweise gehörte, allabendlich mit dem Zentralschlüssel eine Runde durch das Museum zu machen, freute sich, dass er heute ausnahmsweise früher Feierabend machen konnte, weil die Kollegen nach der Besprechung die Inspektion übernehmen wollten.

Auf Ulrich Stadler entfiel der Kontrollgang durch einige Gebäude am Nordrand des Alten Museumsdorfs, und während er den Gromerhof mit dem Gasthaus, den Nattererhof linker Hand und den Kleinbauernhof St.-Ulrich-Sölde hinter sich ließ – ein Ensemble, das gewissermaßen die Keimzelle des Museums bildete –, legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Als Museumspädagoge hätte er es weiß Gott schlechter treffen können als hier in Illerbeuren. Gerade jetzt, wenn die Schatten allmählich ein wenig länger wurden und das ganze Gelände zur Ruhe kam, genoss er die Stimmung sehr.

Seit etwa fünf Jahren arbeitete er nun schon für den Zweckverband Schwäbisches Bauernhofmuseum Illerbeuren, und so sperrig der Name seines Arbeitgebers auch klang, so spannend und abwechslungsreich waren seine Aufgaben. Das Team passte gut zusammen, und bis auf gelegentliche Ausreißer waren auch die Gäste angenehm.

Ulrich Stadler erreichte sein erstes Ziel, einen Pfarrstadel, der 255 Jahre lang in Erkheim-Arlesried gestanden hatte, bevor er 1967 im Museum neu aufgebaut worden war. Das Holztor schwang mit leisem Knarren auf, im düsteren Innenraum roch es irgendwie heimelig, und ein kurzer Rundblick zeigte: Alles war an seinem Platz. Auch im schmalen Woringer Häusle mit seinem rauchgeschwärzten Brettergiebel und den Blumenkästen vor den Fenstern war alles für morgen vorbereitet.

Der nächste Bau, den er inspizierte, war das Göpelhaus. Der nach Osten hin offene Innenraum lag zwar schon weitgehend im Dämmerlicht, aber Stadler konnte alles vom Vorplatz aus einsehen. Früher waren Pferde oder Ochsen in der Mitte des Gebäudes angeschirrt worden, die dann stundenlang im Kreis gingen und über die drehbaren Teile des Göpels und einen Riemen Maschinen antreiben konnten. Für morgen hatte er sich vorgenommen, willige Besucher für den Antrieb einzuspannen. Dafür hatte er an die Holzkonstruktion mehrere gepolsterte Schulterhalfter anbringen lassen, und er freute sich schon auf die Aha-Erlebnisse der Gäste, wenn sie merkten, wie schwer diese Arbeit war.

Auf dem Weg zum Uttenhof, dem letzten Gebäude auf seiner Runde, sah er einige Meter entfernt das neue Bienenhaus. Stadler musste lächeln. Dem alten Bienenhaus, das vorher dort gestanden hatte, verdankte er eine amüsante Erinnerung, denn dahinter hatte er einmal zwei junge Leute entdeckt, die sich von ihrer Schulklasse abgesetzt und es sich in ihrem Versteck gemütlich gemacht hatten. Er hatte sie in einem denkbar ungünstigen Moment erwischt, und es war den beiden reichlich unangenehm gewesen. Auch sein Chef, Museumsleiter Dr. Ernst Fessler, kannte solche Anekdoten in großer Zahl, und immer wieder lockerte er die freitags stattfindenden Dienstbesprechungen durch Erzählungen aus seinem schier unerschöpflichen Fundus auf.

Stadler ging die Stufen zum Scheuneneingang des Uttenhofs hinauf und schloss die offen stehende Tür, dann kletterte er auch die Treppe zur Tenne hinauf und sperrte oben ebenfalls ab. Bevor er das Wohnhaus inspizierte, gönnte er sich noch einmal den Anblick der dunklen, verwitterten Außenbretter des fast 270 Jahre alten Holzbaus, die im Kontrast zu den hell gestrichenen Torflügeln und Klappläden standen. Über dem Eingang hing der Widderschädel mit seinen gewundenen Hörnern, und links daneben waren eine Sense und eine Infotafel an der Wand befestigt.

Nur die Tür selbst stand nicht offen wie üblich, sondern war angelehnt. Ulrich Stadler stutzte, und einen Moment lang war es ihm, als würde er auf der Wiese hinter dem Haus gedämpfte Schritte hören, doch als er kurz den Atem anhielt und lauschte, war alles still, und er schüttelte den Kopf über sich selbst.

So umtriebig tagsüber alles wirkte, so deutlich brachten die Abende und mehr noch die Nächte die Erinnerungen hervor. Die Erinnerung an die Jahrhunderte, die diese Häuser aus Holz und Stein überdauert hatten, die Menschen, die in ihren Zimmern gestorben waren, die Schicksale, die Männer und Frauen, Kinder und Greise hier erlebt und teils ertragen hatten ...

Manchmal, bevor er nach Feierabend heimfuhr, setzte sich Stadler in eine der Stuben, sah durch die kleinen Sprossenfenster und genoss die Ruhe. Ab und zu nahm er an einem der großen Holztische auch seine Vesper ein, trank ein Bier dazu und dachte über dies und jenes nach. Das Knacken der Holzbretter, das Rascheln der Kleintiere draußen in den Büschen – Stadler fand diese Atmosphäre sehr beruhigend. Und wenn dann vor seinem geistigen Auge die längst verstorbenen Bewohner der Häuser wiedererstanden, sich zu ihm an den Tisch setzten und schwatzten, brachte ihn das auch nach besonders hektischen Tagen gründlich zur Ruhe.

Die drei Gestalten, die um den Esstisch im Uttenhof saßen, waren allerdings keine Geister. Im ersten Moment keimte Ärger in Stadler auf, weil ihm niemand von dieser neuen Attraktion berichtet hatte, wo sie doch vorhin so lange im Biergarten zusammengesessen und jede Kleinigkeit durchgehechelt hatten.

Im zweiten Moment war er irritiert, weil der Uttenhof mit viel Sorgfalt in einen Zustand gebracht worden war, der dem bäuerlichen Leben um das Jahr 1900 entsprach – und weil die drei Gestalten dafür eindeutig zu modern gekleidet waren.

Im dritten Moment sah er das Blut.

»Und? Siehst du was?«

»Bisher noch nicht.«

»Mir tut schon der Nacken weh, weil ich die ganze Zeit so blöd zu dir raufschauen muss. Meinst du, das dauert noch lang?«

»Du musst dich grad beklagen. Kannst ja selber hier heraufkraxeln und dir die Knochen auf diesem knorpeligen Scheißbaum verrenken!«

»Hier herunten zwiebeln mich die Bremsen, das ist auch nicht besser. Jetzt sag schon: Ist echt noch nichts zu sehen?«

»Nein. Aber wegen der Bäume dort drunten neben der Kirche kann ich das Museumsdorf auch nicht komplett überblicken. Aber jetzt ... halt ... wart mal!«

Der Mann im Baum lehnte sich ein wenig nach vorn, klammerte sich mit der Hand an einem Ast fest und schwenkte mit dem Fernglas am Nordrand von Illerbeuren entlang.

»Da kommen zwei Streifenwagen, jetzt geht’s los.«

»Na, dann nichts wie weg hier!«

»Ach was, du Schisser! Kannst ja zum Bus rüberlaufen und den anderen Bescheid sagen, aber dann kommst du wieder. Ich schau mir das noch ein bisschen an, bevor wir heimfahren.«

»Und wenn uns einer ...«

»Jetzt hör schon auf. Ich bin extra einen Mordsumweg gefahren, und in das Kaff dort unten« – er deutete mit dem Fernglas hinter sich – »wird erst einmal niemand kommen, wenn im Museum drei Leichen gefunden werden. Die haben in Illerbeuren genug zu tun, und den Bus sieht am Waldweg auch keiner. Jetzt geh Bescheid sagen. Ach ja, und bring mir ein Bier mit!«

»Du hast Nerven, Mann«, brummte der andere und trottete davon.

Das Handy klingelte, und Hansen machte eine entschuldigende Geste, als er das Gespräch entgegennahm. Haffmeyer war dran.

»Sorry, Chef«, brummte er, »es gibt Arbeit.«

Hansen stand auf und ging ein paar Schritte in den Garten hinein, während ihm Haffmeyer von drei Leichen berichtete, die vor etwa einer halben Stunde im Bauernhofmuseum Illerbeuren gefunden worden waren.

»Die sitzen da am Esstisch mit aufgeschlitztem Hals«, beschrieb Haffmeyer die Szene ungerührt. »Wollen Sie gleich hinfahren? Sie sind doch ganz in der Nähe.«

Hansen hatte Willy Haffmeyer und Hanna Fischer am Freitagnachmittag erzählt, wo er übers Wochenende hinfahren wollte, und die beiden hatten sich ein wenig darüber lustig gemacht, dass Resi Meyer ihn nun – nachdem er ihre Eltern schon getroffen hatte – nach und nach auch ihren Freunden vorstellte.

»Ja, mach ich. Für Illerbeuren ist die Kripo Memmingen zuständig – wollen die denn auch, dass ich komme?«

Hansens Frage war eher rhetorischer Art. Die Kriminalpolizeiinspektion Memmingen gehörte zum Polizeipräsidium Schwaben Süd/West, das von Kempten aus geleitet wurde, und wenn er als Leiter des Kemptener Kommissariats für Tötungsdelikte an den Ermittlungen teilnehmen wollte, war das den Kollegen vor Ort vermutlich ganz recht – für die zu bildende Sonderkommission hätten die Memminger ohnehin Kollegen aus Kempten angefordert, um für die Soko nicht zu viele eigene Kräfte von ihren sonstigen Aufgaben abziehen zu müssen.

»Ich ruf deswegen gleich in Memmingen an, Chef. Soll ich denen auch Bescheid geben, dass sie sich nicht mehr um jemanden von der Rechtsmedizin bemühen müssen?«

Hansen sah zu Resi hinüber, die ihn aufmerksam beobachtet hatte. Die Schabers trugen gerade die benutzten Teller ins Haus und achteten nicht weiter auf ihn. Er fuhr sich schnell mit dem Zeigefinger quer über den Hals, hielt dann drei Finger in die Höhe und sah Resi fragend an. Die zuckte nur kurz mit den Schultern und nickte.

»Ja«, sagte er dann, »ich bring Frau Meyer gleich mit. Wir fahren in ein paar Minuten los, wie lange brauchen wir denn dorthin?«

»Gute halbe Stunde«, rief Resi ihm zu und ging nach drinnen, um ihre Freunde zu informieren.

»Gute halbe Stunde«, wiederholte Hansen ins Telefon. »Kommen Sie und Frau Fischer auch?«

»Hanna hat heute Stammtisch mit ihren Eishockey-Mädels, aber ich fahr gleich los, sobald ich mit den Memmingern gesprochen und Sie und Frau Meyer angekündigt habe.«

»Aber lohnt sich das denn? Sie werden von zu Hause vermutlich fast eine Stunde brauchen, oder?«

»Ich bin im Büro in Kempten, da bin ich fast so schnell vor Ort wie Sie.«

»Im Büro?«, fragte Hansen. »Sie sind am Samstagabend im Büro?«

Keine Antwort.

»Herr Haffmeyer?«

Doch der hatte schon aufgelegt, und Hansen schaltete das Handy nachdenklich aus. Offensichtlich wollte sein Mitarbeiter ihm nicht erklären, was er zu dieser ungewöhnlichen Tageszeit an seinem Arbeitsplatz suchte.

Kurz darauf waren Hansen und Resi unterwegs nach Illerbeuren. Die Schabers hatten ihnen einen Haustürschlüssel mitgegeben, damit sie später in der Nacht wieder hineinkämen.

Die Fahrt ging zügig voran, nach kaum dreißig Minuten ließ Resi ihren Wagen auf der Straße vor dem Bauernhofmuseum ausrollen. Ein uniformierter Beamter mit Schnauzer und Kurzhaarfrisur kam heran. Er wirkte etwas genervt und machte Anstalten, die beiden Neuankömmlinge vom Museum wegzuscheuchen. Doch als Hansen seinen Ausweis vorzeigte, tippte er sich kurz an die Mütze und beschrieb ihm den Weg zum Fundort der Leichen.

Inzwischen war die Sonne untergegangen. Das Museum lag im Dämmerlicht da. Überall standen Zivil- und Streifenfahrzeuge, und auf den Straßen um das Museum herum hatten sich ein paar Schaulustige versammelt, die sich aber glücklicherweise so weit vom Museumseingang entfernt hielten, dass sie die Arbeit der Polizei nicht störten.

Resi hatte ihre Tasche mit den nötigsten Utensilien aus dem Kofferraum geholt und marschierte nun mit Hansen zwischen den Fahrzeugen hindurch in das Museumsdorf. Auch hier wuselte es nur so vor Leuten: Die Kriminaltechnik hatte ihre Arbeit schon aufgenommen, die Mitarbeiter in ihren weißen Ganzkörperanzügen steckten nummerierte Täfelchen in den Boden und fotografierten. Einer der Männer sah kurz auf, als sich die beiden näherten, dann deutete er auf einen schmalen Korridor, der mit rot-weißem Absperrband markiert war.

Hansen und Resi folgten dem trassierten Weg. Die Wiese vor einem zweistöckigen Haus aus dunkelbraunem Holz war hell erleuchtet, überall standen Scheinwerfer, einer strahlte das Dach an und inszenierte die Steine auf den Holzschindeln in dramatischer Beleuchtung. Aus dem Inneren des Gebäudes drang durch die Fenster ebenfalls grelles Licht.

Die Eingangstür war verschlossen, und als Hansen und Resi nur noch wenige Schritte entfernt waren, ging die Tür kurz auf, eine mittelgroße, etwas stämmige Frau trat heraus und zog die Tür schnell wieder hinter sich zu. Erst dann streifte sie sich die Kapuze ihres weißen Anzugs vom Kopf und winkte die beiden zu sich heran. Veronika Schliers war die Leiterin der Kemptener Kriminaltechnik und als frühere Nachbarin in Roßhaupten mit ihren einundfünfzig Jahren so etwas wie eine mütterliche Freundin von Resi.

»Na, Resi, du musst ja schnell von den drei Leichen erfahren haben«, sagte sie und grinste breit. »Und dann hast du uns Kommissar Hansen auch gleich mitgebracht – wie aufmerksam von dir!«

Sie zwinkerte Hansen zu, natürlich wusste sie, dass die beiden seit Monaten ein Paar waren.

»Wir waren grad drüben in Frechenrieden, bei einer Freundin von mir«, erzählte Resi. »Da hat Haffmeyer ihn angerufen und ihm vom neuen Fall erzählt. Also hat der Kommissar eher mich mitgebracht und nicht umgekehrt.«

Vroni Schliers klatschte Hansen eine ihre beachtlichen Pranken auf die Schulter.

»Dann gehn S’ mal rein, Kollege. Ich hoffe, Sie haben bei den Freunden in Frechenrieden nichts Fettes gegessen. Und machen S’ bitte die Tür schnell wieder zu, wir hatten einige Mühe, wenigstens einen Teil der Fliegen aus dem Haus zu wedeln.«

Damit stapfte sie auch schon davon, und ihr kehliges Lachen verhieß nichts Gutes.

Der Innenraum des Uttenhofs war niedrig. Durch den Eingang erreichte man einen Hausflur, der mit einer offenen Esse auch als Küche gedient hatte. Links führte eine steile Stiege in den ersten Stock hinauf, doch der Raum, der Hansen interessierte, befand sich rechts hinter einer offenen Tür: die gute Stube des Bauernhofs.

Die drei Leichen störten auf den ersten Blick nicht weiter: Es sah aus, als säßen Vater, Mutter und Sohn um den Tisch beisammen – eine Szene aus dem bäuerlichen Leben, verblüffend lebensecht nachgestellt.

Ein unangenehmes Aroma hing in der Luft, eine Mischung aus Stallgeruch, Schweiß und menschlichen Exkrementen dominierte den kleinen Raum, alles durchsetzt mit einer schweren, etwas süßlichen Note. Überall waren Fliegen, allzu erfolgreich waren die Bemühungen der Kriminaltechniker offenbar nicht gewesen.

Hansen und Resi näherten sich langsam der Dreiergruppe. Der Mann saß mit verrutschtem Hut mit dem Rücken zur Eingangstür, links und rechts von ihm saßen eine Frau mit Kopftuch und ein junger Mann mit Schildmütze. Die drei Toten hockten etwas zusammengesunken da, zwei auf kleinen Stühlen, der dritte auf der Bank. Hansen betrachtete die Stuhllehnen, und er war ein wenig irritiert, dass ihm trotz der drastischen Szenerie auffiel, dass der eine Stuhl einen ovalen und der andere einen herzförmigen Ausschnitt in der Rückenlehne hatte. Die beiden Toten auf den Stühlen waren mit mehreren Lagen Klebeband fixiert, die um die Oberarme und Oberkörper der Leichen sowie um die Rückenlehne der Stühle gewunden waren. Der Tote auf der Bank war auf dieselbe Weise fixiert, allerdings war das Klebeband durch einen metallenen Ring gezogen worden, der unterhalb des Fensters aus der Holzwand lugte.

Hansen ging links um den Tisch und die Stühle herum und stellte sich so hin, dass er die Leichen von vorn sehen konnte. Resi, die noch einige Details an den Armen und an den Schädeln der Toten begutachtet hatte, folgte ihm, schloss kurz die Augen, atmete tief ein und aus – und hob erst dann den Blick.

Vroni Schliers hatte recht: Das war nichts für schwache Mägen. Die Köpfe der beiden Männer waren nach vorn geneigt, die Hutkrempe und das Mützenschild legten einen gnädigen Schatten auf ihre Gesichter. Der Kopf der Frau dagegen hing nach rechts hinten, und ihre klaffende Halswunde gab den Blick ins Gewebe frei. Alle drei waren durch einen tiefen Schnitt quer über den Hals getötet worden, der neben den Blutbahnen auch die Speise- und die Luftröhre durchtrennt hatte.

Resi ging ein wenig in die Hocke, um auch die Gesichter der Männer besser sehen zu können. Sie waren im Bereich von Kinn, Mund und Wangen mit Blut verschmiert, die Hälse waren komplett von angetrocknetem Blut bedeckt, und auch die Hemden der Männer und die Bluse der Frau strotzten vor rötlich braunen Flecken und Schlieren. Weitere Blutflecken befanden sich auf den Hosen und den Holzdielen.

Das Klebeband um ihre Oberkörper war sauberer als die Kleider darunter – die Toten waren offenbar erst fixiert worden, nachdem ihnen der Hals aufgeschlitzt worden und ein Großteil des Blutes schon herausgelaufen war. Auf die Form der Blutflecken konnte sich Hansen allerdings noch keinen Reim machen: Herabfließendes Blut hinterließ andere Spuren, außerdem hätte ein Schnitt durch den Hals auch Blutspritzer auf dem Tisch erwarten lassen – doch davon war so gut wie nichts zu sehen. Nur an zwei Stellen der Tischkante gab es blutrote Verfärbungen, aber die Stellen passten nicht recht zur Position der Leichen, und es handelte sich dabei auch weniger um Spritzer als um verschmierte Tropfen.

»Na, seids ihr schon am Rätseln?« Vroni Schliers war ins Zimmer gekommen. »Zu den Blutschmierern habe ich eine Theorie, aber ich kann euch auch erst mal selbst rumtüfteln lassen, wenn ihr wollt.«

»Erzähl ruhig«, ermunterte Resi sie. »Uns wird noch genug zum Nachdenken bleiben.«

Die Kriminaltechnikerin stellte sich direkt neben die Tote und zeigte auf einige Stellen an ihrer Vorderseite.

»Seht ihr hier und hier? Diese Spuren passen nicht zum normalen Verlauf, den das Blut bei aufgeschnittener Kehle nehmen würde. Und dass der Tisch sauberer ist, als man es erwarten sollte, ist euch sicher auch schon aufgefallen.«

»Aber das hier müsste schon der Tatort sein«, merkte Resi an und deutete auf die Hose der Frau und die Stelle, an der eine Blutspur von der Hose über die Sitzfläche des Stuhls nach unten führte.

»Genau, und deshalb glaube ich, dass die drei Opfer erst betäubt wurden, bevor man sie in Säcken oder irgendwelchen Plastikfolien herbeigeschleift und sie mitsamt ihrer ... Verpackung hierhergesetzt hat. Erst dann wurden die Plastikfolien unter ihnen hervorgezogen, sie blieben aber an der Vorderseite mit der Plane bedeckt. Erst nachdem sie mit einem Schnitt durch die Kehle getötet worden waren, hat man die Plastiksäcke auch vorn weggenommen.«

»Das klingt ziemlich umständlich«, meldete sich Hansen zu Wort, dem die Beschreibung ansonsten aber einleuchtete. Vor allem die verschmierten Blutspuren und die fehlenden Spritzer auf dem Tisch waren damit gut zu erklären.

»Schon, aber schaun S’...«

Vroni Schliers zog eine kleine Plastiktüte aus der Tasche, nahm zwei gegenüberliegende Ecken zwischen die Finger und spannte die Tüte.

»Bewusstlose sind sauschwer zu tragen, das ginge mit einer solchen Plane oder mit einem Sack schon mal leichter. Dann lassen S’ Ihr betäubtes Opfer natürlich drin, solange Sie’s herumtragen müssen. Und wenn S’ das Plastik vorne noch drauf lassen während der Tat, haben Sie keine ganz so große Sauerei hier im Raum. Vielleicht hatten die Täter keinen so starken Magen, oder sie hatten Angst, dass sie in den Blutflecken ungewollt Spuren hinterlassen könnten – und außerdem müssen die ja noch irgendwie aus dem Museum rausgekommen sein. Da tut man sich leichter, wenn man nicht aussieht wie ein Metzger.«

»Und falls die Opfer schon betäubt herbeigeschafft wurden«, dachte Hansen laut, »vermutlich in einem oder mehreren Autos, würden die Plastikplanen zudem verhindern, dass an den Leichen Spuren aus den Fahrzeugen zu finden sind.«

»Genau«, pflichtete ihm Vroni Schliers bei.

Resi streifte Plastikhandschuhe über, zog einen Stift aus der Tasche und lupfte damit vorsichtig das Kopftuch der Frau. Eine gewaltige Beule wurde zwischen den Haaren sichtbar.

»Die haben offenbar nicht viel Federlesens gemacht«, brummte Resi. »Einfach drauf!« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich nehme an, unter dem Hut und der Kappe werden wir ähnliche Beulen finden.«

»Wir sind mit den dreien gleich fertig«, sagte Vroni Schliers. »Dann kannst du dir das genauer ansehen.«

»Die Plastikfolien oder Tüten haben Sie nicht gefunden, nehme ich an?«, fragte Hansen.

»Nein, bisher nicht. Vielleicht klemmt noch ein Fitzelchen unter einer der Leichen. Aber den Weg ins Museum und wieder hinaus, den die Täter genommen haben, können wir inzwischen rekonstruieren. Kommts ihr kurz mit?«

Sie signalisierte zwei ihrer Kollegen, die während des Gesprächs in den Raum gekommen waren und stumm gewartet hatten, dass sie nun mit der Arbeit an den Leichen weitermachen konnten. Dann trat sie ein paar Schritte auf die Tür zu, die auf den Flur hinausführte. Auf dem Boden neben dem rechten Türpfosten war ein kleiner Bereich abgesperrt, in dem nummerierte Täfelchen standen. Sie winkte Hansen und Resi zu sich heran.

»Hier haben wir noch ein paar Blutspuren auf dem Boden gefunden. Diese Spritzer könnten entstanden sein, als die Täter ihre Folien oder Planen zusammenknüllten.«

Sie ballte die kleine Plastiktüte, die sie noch immer in der Hand hielt, zu einer Kugel und machte eine Bewegung, als würde sie sie in einen Sack stopfen.

»Hier haben die Täter vermutlich die blutigen Planen in einen Sack gepackt, um beim Rausgehen keine Blutspuren zu hinterlassen.«

»Und? Hat das geklappt?«

»Mehr oder weniger, Herr Hansen«, sagte Vroni Schliers und gönnte sich ein zufriedenes Grinsen. »Irgendwas finden wir immer. Kommts mal mit.«

»Ich bleib hier«, erwiderte Resi. »Deine Kollegen sind sicher gleich mit den Leichen fertig, dann schau ich mir die schon mal genauer an.«

Vroni Schliers zuckte mit den Schultern und ging dann dicht gefolgt von Hansen nach draußen. Auf einem der Kieswege vor dem Uttenhof stand Willy Haffmeyer. Er nestelte an seiner Hosentasche herum, als würde er etwas möglichst tief darin verstauen wollen, dann bemerkte er die beiden Kollegen und rieb sich die Hände an der Hose ab.

»Ah, der Willy, wie schön!«

Die Kriminaltechnikerin eilte auf den hageren Kriminalmeister zu und drückte ihn herzhaft an sich, aber dann sah sie irritiert zu Haffmeyer und rümpfte die Nase.

»Was riecht denn hier so stechend?«, fragte sie und schaute sich aufmerksam um. Dann winkte sie einen Kollegen heran. »Schau dich hier mal genau um. Wär möglich, dass wir im näheren Umkreis dieser Stelle ein paar Tropfen Betäubungsmittel finden, könnte Ethylacetat sein. Vielleicht haben die Täter hier ein Fitzelchen Watte oder so etwas verloren.« Sie musterte kurz den Boden. »Wobei ... das dürfte jetzt eigentlich gar nicht mehr so stark riechen. Na, egal, schau auf jeden Fall noch einmal ganz genau hin. Einen Versuch ist es wert.«

Damit packte sie Haffmeyer, der ganz still und ernst geworden war, am Oberarm und zog ihn mit sich.

»Du kommst am besten auch gleich mit«, kommandierte sie und marschierte mit Haffmeyer im Schlepptau in Richtung Nordosten davon. »Ich zeig euch mal, wo die Täter unbeobachtet aufs Gelände konnten und wo sie vermutlich auch wieder von hier verschwunden sind.«

Bauer Hudlmeier hatte auf den Wiesen an der Iller gearbeitet und dann nach den Fischweihern am Waldrand gesehen. Nun wollte er mit seinem alten Schlepper nach Hause tuckern, um sich nach dem sonnigen Tag endlich das Weißbier zum Feierabend zu gönnen – da fiel sein Blick auf das Heck eines Autos, das ein Stück weiter am Rand des Forstwegs abgestellt war.

»Verdammte Städter!«, brummte Hudlmeier. »Die behaupten, sie wollen wandern, und dann fahren sie mit ihren Schlitten doch bis vors Loch!«

Mit Touristen und Tagesausflüglern aus Memmingen, Leutkirch oder Kempten hatte er seine liebe Not. Die parkten ihm abends und am Wochenende die Feldwege zu und ließen ihren Müll liegen. Als Kind war er auf den Wiesen und in den Wäldern um Maria Steinbach gern barfuß unterwegs gewesen, das ließ er inzwischen lieber bleiben, weil er sich keine Scherben aus den Zehen ziehen wollte.

Er lenkte den Schlepper in Richtung des Fahrzeugs. Es war ausnahmsweise keiner dieser protzigen Vans mit Aufklebern, auf denen neumodische Kindernamen standen, sondern ein alter VW-Bus. Die Karre war an einigen Stellen verbeult und wies am unteren Rand der Karosserie mehrere Roststellen auf. Das Autokennzeichen deutete aber auf Auswärtige hin.

Hudlmeier sah sich um, doch niemand schien in der Nähe zu sein. Vorsichtig lugte er durch die schmutzigen Seitenfenster: Auch im Wagen selbst war niemand. Auf den Sitzen und im Kofferraum lagen allerlei Gerätschaften, wie auch er selbst sie ständig im Wagen hatte: Seile, eine Axt, Klebeband, Müllsäcke, Spanngurte, Arbeitshandschuhe, ein paar Flaschen Bier und ein paar zerknüllte Metzger- oder Bäckertüten.

Es schienen also eher keine Städter zu sein, aber sie standen trotzdem ungefragt in seinem Forst. Hudlmeier schaute noch einmal aufmerksam nach allen Seiten, dann gönnte er sich ein böses Grinsen, stellte sich breitbeinig vor die Motorhaube des VW-Busses und nestelte seine Hose auf.

Ein paar Meter entfernt mussten sich drei Männer, verborgen hinter dichten Büschen, schwer beherrschen, um nicht aus dem Gehölz hervorzubrechen und auf den pinkelnden Bauern loszugehen.

Museumsleiter Dr. Ernst Fessler stand im Schatten eines nach Osten hin offenen Holzbaus und sah zu den Kriminaltechnikern hinüber, die sich nach wie vor rund um den Uttenhof zu schaffen machten. Vroni Schliers stellte ihm Hansen und Haffmeyer vor, dann eilte sie davon, um einige ihrer Mitarbeiter zu instruieren.

»Das ist ja eine schöne Schweinerei«, brummte der Mann, doch er wirkte dabei eher nachdenklich als ungehalten. Im Mundwinkel steckte ein Zigarillo, der aber nicht glimmte. Als Fessler Hansens irritierten Blick bemerkte, nahm er den Zigarillo heraus und hielt ihn so, dass Hansen das unberührte Ende besser sehen konnte.

»Leider geht das hier nicht mit dem Rauchen«, erklärte er. »Gerade bei so schönem Wetter brennt das meiste um uns herum wie Zunder. Herrschaftszeiten, das gäbe eine Schlagzeile!«

Fessler lachte kurz auf, dann wurde er wieder ernst und steckte den Zigarillo zurück in den Mundwinkel.

»Na ja, heute wär’s wohl auch vollends egal ...«

Schatten legten sich auf Fesslers Gesicht, und von einem Moment auf den anderen war der Mann in brütendes Schweigen versunken. Hansen staunte, wie schnell sich die Mimik dieses Mannes ändern konnte.

»Was ist denn das für ein Gebäude?«, erkundigte er sich. Vielleicht brachte er das Gespräch am besten über einen kleinen Umweg in Gang. Haffmeyer trat ein paar Schritte beiseite, als habe er Hansens Plan verstanden und wolle die beiden erst einmal unter vier Augen miteinander reden lassen.

Fessler sah den Kommissar kurz irritiert an.

»Das ist ein Göpelhaus«, referierte er nach einem Moment des Zögerns wie auf Knopfdruck. »Hier waren Pferde oder Ochsen eingeschirrt, und durch dieses Seil hier wurde die Kraft der Drehbewegung ...« Er unterbrach sich, als sei ihm gerade erst etwas aufgefallen, und betrachtete Hansen mit einem schmerzlichen Lächeln. »Das interessiert Sie nicht wirklich, richtig?«

Hansen zuckte entschuldigend mit den Schultern.

»Ach, wissen Sie, wir müssen hier keine Spielchen spielen«, versetzte Fessler in nachsichtigem Ton. »Fragen Sie mich einfach, was Sie wissen wollen – und ich antworte Ihnen, so gut ich kann. Und wenn ich nicht mehr mag, sag ich es Ihnen, ja?«

»Wer hat die Leichen entdeckt?«, fragte Hansen.

»Herr Stadler, unser Museumspädagoge. Der sitzt drüben in seinem Büro und ist völlig fertig. Ich bring Sie gerne zu ihm, aber ob er Ihnen im Moment eine große Hilfe ist, kann ich natürlich nicht sagen.«

»Haben Sie etwas gehört oder gesehen, was uns helfen könnte?«

»Ich fürchte: nein.«

»Beschreiben Sie mir doch bitte, was Sie in den letzten Stunden vor der Entdeckung der Leichen gemacht haben.«

Fessler fixierte ihn mit einem ungläubigen Blick.

»Sie wollen aber jetzt kein Alibi von mir, oder?«

Natürlich brauchte Hansen grundsätzlich von jedem ein Alibi, der irgendwie mit dem Fall zu tun hatte – auch wenn er wie der Museumsleiter nach menschlichem Ermessen nicht als Täter infrage kam. Schließlich würde sich Fessler ja wohl kaum Tote ins eigene Museum setzen und sich damit das Geschäft verderben.

»Nein, nein«, schwindelte Hansen, »ich brauche kein Alibi von Ihnen, aber vielleicht ist Ihnen doch etwas aufgefallen, was Sie nur nicht als wichtig erachten. Vielleicht kann ich Ihnen, sobald ich etwas mehr über die Vorgeschichte weiß, gezielt noch weitere Fragen stellen, wenn ich weiß, wo Sie sich wann aufgehalten haben.«

Das beschwichtigte Fessler offenbar ausreichend, und er begann in ruhigem Ton zu erzählen.

»Wir haben für morgen unseren großen Familientag geplant, Sie haben die Plakate am Eingang sicher gesehen.«

Hansen nickte, obwohl er beim Hereinkommen keinen Sinn für so etwas gehabt hatte.

»Über Wochen hinweg hat Herr Stadler das Programm für morgen erarbeitet, gerade hier im Göpelhaus ...«

Ein Lächeln huschte über Fesslers bärtiges Gesicht, das sofort wieder erlosch.

»Sagen Sie mal, Herr Hansen: Können wir unseren Familiensonntag denn trotz all dem hier ...?« Er machte eine fahrige Geste zum Uttenhof hin.

Hansen folgte der Bewegung mit dem Blick und sah dabei Haffmeyer heranschlendern. Er stopfte etwas in seine Tasche und rieb sich dann die Hände an der Hose ab, genau wie vorhin, bevor Vroni Schliers ihn so herzlich begrüßt hatte. Und tatsächlich wehte auch diesmal, als Haffmeyer neben ihn trat, ein leicht stechender Geruch zu Hansen herüber, als habe der Kollege gerade eben Lösungsmittel oder etwas Ähnliches benutzt. Er sah Haffmeyer prüfend an, aber der hagere Kriminalmeister schaute so betont unbeteiligt drein, dass sich Hansen wieder auf den Museumsleiter und seine zuletzt gestellte Frage konzentrierte.

»Wir müssen abwarten, wie weit die Kriminaltechniker in der Nacht kommen. Aber der Uttenhof selbst und ein paar Gebäude drum herum werden für die Öffentlichkeit auf jeden Fall gesperrt bleiben.«

»Schöner Mist«, brummte Fessler. »Na ja, wir werden sehen ... Wo war ich? Ach ja: Stadler hatte alles schon vorbereitet, und den genauen Ablauf haben wir schon Freitag in der Früh durchgesprochen, da haben wir nämlich unsere wöchentliche große Dienstbesprechung. Als dann vorhin die letzten Besucher draußen waren ...«

»Wie lange hatten Sie denn heute geöffnet?«

»Offiziell bis sechs, aber die Leute gehen natürlich nicht pünktlich raus. So gegen halb, dreiviertel sieben müssten die Letzten weg gewesen sein. Ich bin gegen sieben von meinem Büro herübergekommen, da hatten die anderen im Biergarten schon ein paar Tische zusammengestellt. Nach mir kam nur noch Herr Zang, unser Beschließer. Das war etwa fünf nach sieben. Er hat sich verabschiedet, und ich habe ihn gleich darauf in seinem Wagen wegfahren sehen. Sah aus, als ob er es eilig gehabt hätte.«

»Ach?«

»Ja, aber ...« Fessler grinste und beugte sich ein wenig zu Hansen vor. »Er hat eine Freundin in Woringen, da hat wohl die Vorfreude mit aufs Gaspedal gedrückt. Die sieht ihn an den Tagen, an denen wir geöffnet haben, normalerweise nicht vor acht. Herr Zang macht eigentlich am Abend die Runde durchs Museum, schaut noch einmal nach dem Rechten und schließt alle Gebäude ab.«

»Und warum heute nicht?«

»Wir wollten nach der letzten Besprechung selbst die Runde machen, um nachzuschauen, ob für morgen auch alles am richtigen Platz ist. Dafür haben wir das Museum in mehrere Bereiche aufgeteilt. Jeder aus dem Team hat einen davon übernommen und sollte auch gleich die entsprechenden Gebäude abschließen.«

»Könnten Sie mir nachher die Adresse von Herrn Zang geben? Ich würde ihm gerne auch ein paar Fragen stellen.«

»Museumstraße 8, Illerbeuren. Herr Zang wohnt im Gromerhof, das ist das Gebäude, in dem der Empfang untergebracht ist. Im ersten Stock ist die Beschließerwohnung. Die Adresse seiner Freundin habe ich nicht, aber ich habe ihn vorhin gleich auf seinem Handy angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen. Ich nehme an, dass er wieder ins Museum kommt, sobald er seine Mailbox abgehört hat.«

Fessler bemerkte Hansens erschreckten Blick.

»Keine Sorge, Herr Kommissar. Ich habe ihm nur auf Band gesprochen, dass es hier im Museum gewisse Komplikationen gibt, die seine Anwesenheit erfordern.«

»Gut. Wir wollen das hier noch möglichst lange unter dem Deckel halten. Das macht uns die Arbeit in aller Regel sehr viel einfacher.«

»Kann ich mir vorstellen. Ich habe übrigens alle Mitarbeiter zum Stillschweigen verdonnert. Wie auch immer: Herr Zang war ab etwa zehn nach sieben nicht mehr im Museum, ansonsten waren alle im Biergarten versammelt – nur der alte Hieber fehlte, der hat sich erkältet und liegt krank im Bett.«

Hansen sah kurz zu Haffmeyer, der sich schon eifrig in einem kleinen Block Notizen machte.

»Und wer sind ›alle‹?«, hakte er nach.

»Na, das ganze Team halt. Herr Stadler, meine Wenigkeit, der Werkstattleiter, unsere angestellten Handwerker, die freien Mitarbeiter und ...« Fessler klatschte sich gegen die Stirn. »Ach, das Mädchen hab ich ja ganz vergessen!«

»Welches Mädchen?«

»Saskia, Saskia Leverenz, die macht bei uns ihr FSJ. Wir sind heilfroh, dass man sein Freiwilliges Soziales Jahr auch in kulturellen Einrichtungen wie unserer absolvieren kann. Das Mädchen ist uns eine große Hilfe: immer freundlich, fleißig und nicht auf den Kopf gefallen. Der haben wir heute Vormittag gegen zehn oder elf Uhr freigegeben, damit sie nach Hause fahren konnte. Die Oma feiert heute ihren Achtzigsten, und bis Coburg hat sie gut drei Stunden zu fahren. Das wird eh knapp geworden sein, pünktlich zum Kaffee bei der Großmutter am Tisch zu sitzen.«

Fessler sah Hansen fragend an.

»Müssen Sie mit ihr auch reden? Ich meine, das Mädchen kann ja gar nichts beobachtet haben.«

»Mal sehen. Für den Notfall haben Sie sicher eine Festnetz- oder Handynummer von ihr.«

»Klar, kann ich Ihnen nachher auch gleich raussuchen. Aber falls Sie Fragen an sie haben, lassen Sie vielleicht zuerst mich mit ihr reden.«

Hansen hob die Augenbrauen.

»Na ja, das Mädchen ist etwas zartbesaitet, da würde ich sie gerne erst einmal schonend darauf vorbereiten, was hier passiert ist.«

»Die Mühe müssen Sie sich nicht machen. Ich weiß ja jetzt, dass ich bei ihr besonders behutsam vorgehen muss. Aber möglicherweise muss ich fürs Erste auch gar nicht mit ihr reden.«

Fessler nickte.

»Vor allem brauchen wir die Namen der Teammitglieder. Herr Haffmeyer wird sich alles notieren. Sind die jetzt hier auf dem Gelände?«

»Ja, die sitzen alle drüben im Biergarten. Nachdem Herr Stadler kreidebleich vom Uttenhof zurückkam, ist von denen keiner nach Hause gegangen.«

»Wie ist das alles denn genau abgelaufen?«

»Als wir mit unserer kleinen Besprechung durch waren, hat jeder seine Runde gemacht. Ich bin im Gromerhof geblieben und habe im Empfang nachgeschaut, ob da alles vorbereitet ist. Natürlich hatte Herr Zang alles picobello in Ordnung gebracht, bevor er in den Feierabend ging, da hatte ich also gar keine Arbeit. Ich bin dann kurz raus und habe mich auf dem Platz umgeschaut, wo die Feuerwehr, die Landfrauen und der Schützenverein ihre Verkaufsstände aufgebaut haben.«

Hansen waren auf dem Weg zum Museum keine Stände aufgefallen. »Haben die schon wieder abgebaut?«, wunderte er sich.

»Nein, die Stände stehen weiter hinten in der Museumstraße. Den Platz direkt am Haupteingang wollten wir freihalten, weil wir einen ziemlich großen Ansturm erwarten. Und auf der anderen Straßenseite, auf den Parkplätzen vor dem Rathaus, soll ein kleiner Flohmarkt stattfinden, auf dem die Kinder aus dem Dorf alte Spielsachen und Bücher anbieten sollen. Das wird was werden morgen!« Fessler schüttelte den Kopf und sah plötzlich wieder sehr besorgt aus.

»Könnten die Leute von der Feuerwehr und von den Vereinen etwas mitbekommen haben?«, fragte Hansen.

»Das glaube ich nicht. Die durften erst nach sechs mit dem Aufbau ihrer Stände beginnen, da haben die einen Höllenstress, wenn sie noch am Abend fertig werden wollen. Wissen Sie, wir binden die immer ein, wenn wir eine größere Veranstaltung hier im Museum haben. Zum einen haben wir gar nicht genug Leute, um selbst zu bewirten, mal abgesehen vom Gromerhof und der Torfwirtschaft. Und zum anderen sind die Vereine und die Feuerwehr auf solche Einnahmen angewiesen.«

Er zwinkerte Hansen zu. »Und wenn wir ihnen die Möglichkeit bieten, ihre Kasse durch die Zusammenarbeit mit uns ein wenig aufzubessern, verbessert das unsere Position hier im Dorf. Wissen Sie, unsere Illerbeurer müssen schon einiges aushalten. Sie glauben ja gar nicht, wie faul manche Leute sind – die marschieren klaglos durchs ganze Museumsgelände, aber der Fußweg vom zweiten Parkplatz jenseits der Hauptstraße bis zum Eingang ist ihnen zu weit.«

»Trotzdem sollten meine Kollegen mit der Feuerwehr, mit den Landfrauen und mit dem Schützenverein reden – das waren die Gruppen, von denen Sie gesprochen hatten, richtig?«

»Ja, richtig.«

Fessler diktierte Haffmeyer die Namen der Landfrauenvorsitzenden, des Schützenvereinsvorstands und des Feuerwehrkommandanten.

»Die drei werden Sie sicher noch bei ihren Ständen finden. Und von den Nachbarn könnte höchstens dort drüben jemand etwas mitbekommen haben.«

Fessler deutete auf eine weiße Mauer, die in etwa fünfzig Metern Entfernung das Museumsgelände nach Osten hin begrenzte. Davor stand eine schmucke kleine Kapelle, jenseits der Mauer waren moderne Wohnhäuser zu sehen, die dem Museum aber eine Seite ihrer Satteldächer zuwandten. Von den Gärten aus war der Uttenhof wegen der Mauer vermutlich nicht einzusehen, also müsste im entscheidenden Moment jemand durch eines der Dachfenster geschaut haben.

»Ich schick nachher gleich ein paar Kollegen los, damit sie mit allen sprechen, die ich notiert habe«, sagte Haffmeyer. »Ist Ihnen das recht, Chef?«

»Ja, danke.«

»Soll ich Sie jetzt zu den anderen im Biergarten bringen?«, fragte Fessler. »Oder wollen Sie lieber mit Herrn Stadler reden?«

»Herr Stadler wäre mir im Moment am liebsten. Wo ist sein Büro?«

»Dort hinten. Ich bringe Sie hin.«

»Kommen Sie dann nach, Herr Haffmeyer?«

»Geht klar, Chef.«

»Das war knapp«, schimpfte der Mann zu dem anderen auf dem Baum hinauf. »Der hat uns doch tatsächlich gegen den Kühler gepinkelt! Ich war drauf und dran, ihm eine zu verpassen – aber ich hab’s mir verkniffen, damit er mich nicht sieht und mich hinterher womöglich noch beschreiben kann.«

»Und das Kennzeichen?«, fragte der andere von oben herunter. »Hat er sich das aufgeschrieben?«

»Glaub nicht, kann höchstens sein, dass er es sich gemerkt hat. Aber warum sollte ihn jemand wegen der Sache im Museum fragen? Und dass er von sich aus zur Polizei geht, kann ich mir nicht vorstellen. Der hat sich ja schon an uns abreagiert ...«

»Na, egal, wenigstens hat er uns nicht gesehen. Er hat doch niemanden gesehen, oder?«

»Nein, keine Angst. Als der Typ herankam, haben wir uns schnell im Wald versteckt. Der hat uns auf keinen Fall bemerkt.«

»Ist er inzwischen wieder weg?«

»Ja, klar, vorher wäre ich doch nicht zu dir zurückgekommen! Der hat sich die Hose zugemacht, hat unserem Bus noch zweimal lachend die Karosserie getätschelt, dann ist er auf seinen Schlepper geklettert und gemütlich davongetuckert. Ich bin ihm noch ein Stück hinterhergeschlichen – der scheint in Maria Steinbach zu wohnen. Die anderen sind beim Bus geblieben, wie verabredet.«

»Hoffentlich fallen wir ihm nicht auf, wenn wir nachher durchs Dorf fahren.«

»Ich hab dir vorhin schon gesagt, dass du nicht durch dieses Kaff fahren sollst! Direkt vor dem Dorf ging links ein Feldweg ab in Richtung Wald.«

»Das war ja wieder klar! Jetzt wird gemotzt – aber vorher war euch vor allem wichtig, dass wir möglichst nahe an diesen Aussichtspunkt ranfahren! Du wolltest doch keinen Schritt zu viel laufen! Und jetzt bin ich wieder schuld! Auf deinem tollen Weg wäre ich nicht weit gekommen mit dieser Karre – so bequem mit gerade mal zweihundert Metern Fußmarsch hättest du’s da nicht gehabt!«

»Jetzt hör schon auf, ist ja gut!«

Der Mann im Baum wollte noch etwas erwidern, dann winkte er ab und wandte sich wieder seinen Beobachtungen zu. Das Bauernhofmuseum war jetzt von grellen Scheinwerfern angestrahlt.

»Dort drüben haben sie inzwischen übrigens die Festbeleuchtung angeschaltet«, berichtete er nach einer kurzen Pause. »Und es kommen immer mehr Autos – ein großer Lieferwagen, mehrere Limousinen und noch ein paar weitere Streifenwagen.«

»Dann können wir jetzt endlich abhauen, oder?«

»Würd ich gern, aber vielleicht sollten wir lieber noch etwas warten. Nicht, dass wir unserem blasenschwachen Bauern begegnen. Lass den erst mal seinen Schlepper wegstellen und die Stiefel ausziehen. Und wenn wir Glück haben und er nicht direkt an der Durchfahrtstraße wohnt, kommen wir unbemerkt an ihm vorbei.«

»An den VW-Bus wird er sich trotzdem erinnern.«

»Das macht nichts. Viele Leute haben solche Karren, und die meisten sehen rostig und zerbeult aus. Und dass er sich das komplette Kennzeichen gemerkt hat, glaube ich nicht.«

»Aber wenn ...«

»Schluss jetzt! Geh zurück zum Bus, ich komm in einer halben Stunde nach, und dann können wir immer noch fahren.«

Stadlers Büro war vom Uttenhof aus schnell erreicht. Der Weg führte durch ein Holzgatter aus dem eigentlichen Museumsgelände hinaus, dann stand rechter Hand ein schmuckes zweigeschossiges Gebäude, umgeben von einem üppig wuchernden Garten.

Auf dem schmalen Wiesenstreifen vor dem Gartenzaun streifte eine weiße Katze mit Halsband durchs hohe Gras. Sie hatte sandbraune und schwarze Flecken hinter den Ohren und an den Schläfen, und ihr Schwanz hatte Streifen in denselben Farben. Als Fessler an ihr vorüberstürmte, sah sie ihn kurz an, und ihr gestreifter Schwanz ging schlagartig nach oben, als fordere sie von einem alten Bekannten Streicheleinheiten ein, aber Fessler hatte währenddessen schon beinahe die Haustür erreicht.

Hansen blieb einen Moment lang stehen und versuchte ein leises »Miez! Miez!«, aber die Katze sah ihn nur fragend an, kümmerte sich dann nicht weiter um ihn und suchte mit ihren Augen wieder den Boden vor sich ab.

Dass Ulrich Stadler noch unter leichtem Schock stand, war ihm schon anzumerken, während er die beiden Besucher in sein Büro führte.

»Herr Stadler«, begann Fessler. »Das ist Kommissar Hansen von der Kripo Kempten. Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Stadler sah den Beamten an, und Hansen überlegte schon, ob er das Gespräch mit dem Museumspädagogen nicht doch lieber noch ein wenig aufschieben sollte. Der Mann war offensichtlich völlig mit den Nerven fertig und wirkte unnatürlich blass. Langsam und ein wenig unsicher erhob sich Stadler und streckte Hansen seine rechte Hand entgegen. Sie zitterte etwas, und der Nagel des Mittelfingers sah gezackt und eingerissen aus, als habe er darauf herumgebissen.

Hansen drückte seine Hand, dann setzte er sich auf den freien Stuhl, den ihm Stadler mit einer fahrigen Geste anbot, während er selbst sich wieder schwer auf seinen Sessel fallen ließ.

»Geht’s, Herr Stadler?«, fragte Fessler. »Soll ich hierbleiben, oder kann ich Sie mit Herrn Hansen allein lassen? Ich wollte gerne nach den Polizisten sehen, die zur Memminger Straße hin Spuren sichern.«

»Gehen Sie ruhig«, brummte Stadler.

Damit war Fessler auch schon aus dem Raum. Man hörte noch seine Schritte, dann schlug die Haustür zu, und Stadler versank wieder in sein dumpfes Brüten. Er starrte vor sich auf die Tischplatte, als wäre er sich gar nicht mehr bewusst, dass er nicht allein im Raum war.

Ende der Leseprobe