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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Ach, man sparte viel, / Seltner wäre verruckt das Ziel, / Wär' weniger Dumpfheit, / vergebenes Sehnen, / Ich könnte viel glücklicher sein – / Gäb's nur keinen Wein / Und keine Weibertränen!« (Johann Wolfgang Goethe) – Ein genussvoller, origineller Streifzug durch Goethes Gesamtwerk!

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Johann Wolfgang Goethe

Goethe zum Genießen

Herausgegeben von German Neundorfer

Anthologie

Fischer e-books

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern,

und hüte mich mit ihm zu brechen.

Es ist gar hübsch von einem großen Herrn

so menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.

Zum Geleit

Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.

Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. Dieser Umstand, welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlaß nahm, daß ein Geburtshelfer angestellt, und der Hebammen-Unterricht eingeführt oder erneuert wurde; welches denn manchem der Nachgebornen mag zu Gute gekommen sein.

»Ich könnte viel glücklicher sein«

Einige Bemerkungen zu Mann und Frau

Gefährliche Studien

Soll ich, oder soll ich nicht? Ist es gut dir etwas zu verschweigen, dem ich so viel, dem ich alles sage? Soll ich dir etwas Bedeutendes verschweigen, indessen ich dich mit so vielen Kleinigkeiten unterhalte, die gewiß niemand lesen möchte, als du, der du eine so große und wunderbare Vorliebe für mich gefaßt hast; oder soll ich etwas verschweigen, weil es dir einen falschen, einen üblen Begriff von mir geben könnte? Nein! du kennst mich besser als ich mich selbst kenne, du wirst auch das, was du mir nicht zutraust, zurecht legen wenn ichs tun konnte, du wirst mich, wenn ich tadelnswert bin, nicht verschonen, mich leiten und führen, wenn meine Sonderbarkeiten mich vom rechten Wege abführen sollten.

Meine Freude, mein Entzücken an Kunstwerken, wenn sie wahr, wenn sie unmittelbar geistreiche Aussprüche der Natur sind, macht jedem Besitzer, jedem Liebhaber die größte Freude. Diejenigen, die sich Kenner nennen, sind nicht immer meiner Meinung; nun geht mich doch ihre Kennerschaft nichts an, wenn ich glücklich bin. Drückt sich nicht die lebendige Natur lebhaft dem Sinne des Auges ein, bleiben die Bilder nicht fest vor meiner Stirn, verschönern sie sich nicht und freuen sie sich nicht, den durch Menschengeist verschönerten Bildern der Kunst zu begegnen? Ich gestehe dir, darauf beruht bisher meine Liebe zur Natur, meine Liebhaberei zur Kunst, daß ich jene so schön, so schön, so glänzend und so entzückend sah, daß mich das Nachstreben des Künstlers, das unvollkommene Nachstreben, fast wie ein vollkommenes Vorbild hinriß. Geistreiche gefühlte Kunstwerke sind es, die mich entzücken. Das kalte Wesen, das sich in einen beschränkten Zirkel einer gewissen dürftigen Manier, eines kümmerlichen Fleißes einschränkt, ist mir ganz unerträglich. Du siehst daher, daß meine Freude, meine Neigung bis jetzt nur solche Kunstwerke gelten konnte, deren natürliche Gegenstände mir bekannt waren, die ich mit meinen Erfahrungen vergleichen konnte. Ländliche Gegenden, mit dem was in ihnen lebt und webt, Blumen und Fruchtstücke, Gotische Kirchen, ein der Natur unmittelbar abgewonnenes Portrait, das konnt’ ich erkennen, fühlen und, wenn du willst, gewissermaßen beurteilen. Der wackre M*** hatte seine Freude an meinem Wesen und trieb, ohne daß ich es übel nehmen konnte, seinen Scherz mit mir. Er übersieht mich so weit in diesem Fache und ich mag lieber leiden, daß man lehrreich spottet, als daß man unfruchtbar lobt. Er hatte sich abgemerkt, was mir zunächst auffiel, und verbarg mir nach einiger Bekanntschaft nicht, daß in den Dingen, die mich entzückten, noch manches schätzenswerte sein möchte, das mir erst die Zeit entdecken würde. Ich lasse das dahin gestellt sein und muß denn doch, meine Feder mag auch noch so viele Umschweife nehmen, zur Sache kommen, die ich dir, obwohl mit einigem Widerwillen, vertraue. Ich sehe dich in deiner Stube, in deinem Hausgärtchen, wo du bei einer Pfeife Tabak den Brief erbrechen und lesen wirst. Können mir deine Gedanken in die freie und bunte Welt folgen? werden deiner Einbildungskraft die Verhältnisse und die Umstände so deutlich sein? und wirst du gegen einen abwesenden Freund so nachsichtig bleiben als ich dich in der Gegenwart oft gefunden habe.

Nachdem mein Kunstfreund mich näher kennen gelernt, nachdem er mich wert hielt stufenweis bessere Stücke zu sehen; brachte er, nicht ohne geheimnisvolle Miene, einen Kasten herbei, der eröffnet mir eine Danae in Lebensgröße zeigte, die den goldnen Regen in ihrem Schoße empfängt. Ich erstaunte über die Pracht der Glieder, über die Herrlichkeit der Lage und Stellung, über das Große der Zärtlichkeit und über das Geistreiche des sinnlichsten Gegenstandes; und doch stand ich nur in Betrachtung davor, es erregte nicht jenes Entzücken, jene Freude, jene unaussprechliche Lust in mir. Mein Freund, der mir vieles von den Verdiensten dieses Bildes vorsagte, bemerkte über sein eignes Entzücken meine Kälte nicht und war erfreut, mir an diesem trefflichen Bilde die Vorzüge der italiänischen Schule deutlich zu machen. Der Anblick dieses Bildes hatte mich nicht glücklich, er hatte mich unruhig gemacht. Wie! sagte ich zu mir selbst, in welchem besondren Falle finden wir uns, wir bürgerlich eingeschränkten Menschen? ein bemooster Fels, ein Wasserfall hält meinen Blick so lange gefesselt, ich kann ihn auswendig; seine Höhen und Tiefen, seine Lichter und Schatten, seine Farben, Halbfarben und Wiederscheine, alles stellt sich mir im Geiste dar, so oft ich nur will, alles kommt mir aus einer glücklichen Nachbildung eben so lebhaft wieder entgegen; und vom Meisterstücke der Natur, vom menschlichen Körper, von dem Zusammenhang, der Zusammenstimmung seines Gliederbaues habe ich nur einen allgemeinen Begriff, der eigentlich gar kein Begriff ist. Meine Einbildungskraft stellt mir diesen herrlichen Bau nicht lebhaft vor, und wenn mir ihn die Kunst darbietet, bin ich nicht im Stande weder etwas dabei zu fühlen, noch das Bild zu beurteilen. Nein! ich will nicht länger in dem stumpfen Zustande bleiben, ich will mir die Gestalt des Menschen eindrücken wie die Gestalt der Trauben und Pfirschen.

Ich veranlaßte Ferdinanden zu baden im See; wie herrlich ist mein junger Freund gebildet! welch ein Ebenmaß aller Teile! welch eine Fülle der Form, welch ein Glanz der Jugend, welch ein Gewinn für mich, meine Einbildungskraft mit diesem vollkommenen Muster der menschlichen Natur bereichert zu haben! Nun bevölkre ich Wälder, Wiesen und Höhen mit so schönen Gestalten; ihn seh ich als Adonis dem Eber folgen, ihn als Narciß sich in der Quelle bespiegeln!

Noch aber fehlt mir leider Venus die ihn zurückhält, Venus, die seinen Tod betrauert, die schöne Echo, die noch einen Blick auf den kalten Jüngling wirft ehe sie verschwindet. Ich nahm mir fest vor, es koste was es wolle, ein Mädchen in dem Naturzustande zu sehen wie ich meinen Freund gesehen hatte. Wir kamen nach Genf. Sollten in dieser großen Stadt, dachte ich, nicht Mädchen sein, die sich für einen gewissen Preis dem Mann überlassen? und sollte nicht eine darunter schön und willig genug sein meinen Augen ein Fest zu geben? Ich horchte an dem Lohnbedienten, der sich mir, jedoch nur langsam und auf eine kluge Weise, näherte. Natürlich sagte ich ihm nichts von meiner Absicht; er mochte von mir denken was er wollte, denn man will lieber jemanden lasterhaft als lächerlich erscheinen. Er führte mich Abends zu einem alten Weibe; sie empfing mich mit viel Vorsicht und Bedenklichkeiten: es sei, meinte sie, überall und besonders in Genf gefährlich der Jugend zu dienen. Ich erklärte mich sogleich, was ich für einen Dienst von ihr verlange. Mein Märchen glückte mir und die Lüge ging mir geläufig vom Munde. Ich war ein Maler, hatte Landschaften gezeichnet, die ich nun durch die Gestalten schöner Nymphen zu heroischen Landschaften erheben wolle. Ich sagte die wunderlichsten Dinge, die sie ihr Lebtag nicht gehört haben mochte. Sie schüttelte dagegen den Kopf und versicherte mir: es sei schwer meinen Wunsch zu befriedigen. Ein ehrbares Mädchen werde sich nicht leicht dazu entschließen, es werde mich was kosten, sie wolle sehen. Was? rief ich aus, ein ehrbares Mädchen ergibt sich für einen leidlichen Preis einem fremden Mann – Allerdings – und sie will nicht nackend vor seinen Augen erscheinen? – keinesweges; dazu gehört viel Entschließung – selbst wenn sie schön ist – auch dann. Genug ich will sehen, was ich für Sie tun kann, Sie sind ein junger artiger hübscher Mann, für den man sich schon Mühe geben muß. Sie klopfte mir auf die Schultern und auf die Wangen: ja! rief sie aus, ein Maler, das muß es wohl sein, denn Sie sind weder alt noch vornehm genug um dergleichen Szenen zu bedürfen. Sie bestellte mich auf den folgenden Tag und so schieden wir aus einander.

 

Ich kann heute nicht vermeiden mit Ferdinand in eine große Gesellschaft zu gehen und auf den Abend steht mir das Abenteuer bevor. Es wird einen schönen Gegensatz geben. Schon kenne ich diese verwünschte Gesellschaft, wo die alten Weiber verlangen, daß man mit ihnen spielen, die jungen, daß man mit ihnen liebäugeln soll, wo man dann dem Gelehrten zuhören, den Geistlichen verehren, dem Edelmann Platz machen muß, wo die vielen Lichter kaum eine leidliche Gestalt beleuchten, die noch dazu hinter einen barbarischen Putz versteckt ist. Soll ich französisch reden, eine fremde Sprache in der man immer albern erscheint, man mag sich stellen wie man will, weil man immer nur das Gemeine, nur die groben Züge und noch dazu stockend und stotternd ausdrucken kann. Denn was unterscheidet den Dummkopf vom geistreichen Menschen, als daß dieser das Zarte Gehörige der Gegenwart schnell lebhaft und eigentümlich ergreift und mit Leichtigkeit ausdrückt, als daß jene, gerade wie wir es in einer fremden Sprache tun, sich mit schon gestempelten hergebrachten Phrasen bei jeder Gelegenheit behelfen müssen. Heute will ich mit Ruhe ein paar Stunden die schlechten Späße ertragen in der Aussicht auf die sonderbare Szene, die meiner wartet.

 

Mein Abenteuer ist bestanden, vollkommen nach meinen Wünschen, über meine Wünsche, und doch weiß ich nicht ob ich mich darüber freuen oder ob ich mich tadeln soll. Sind wir denn nicht gemacht das Schöne rein zu beschauen, ohne Eigennutz das Gute hervor zu bringen? Fürchte nichts und höre mich: ich habe mir nichts vorzuwerfen, der Anblick hat mich nicht aus meiner Fassung gebracht, aber meine Einbildungskraft ist entzündet, mein Blut erhitzt. O! stünd ich nur schon den großen Eismassen gegenüber um mich wieder abzukühlen! Ich schlich mich aus der Gesellschaft und in meinen Mantel gewickelt nicht ohne Bewegung zur Alten. Wo haben Sie Ihr Portefeuille? rief sie aus – ich hab’ es diesmal nicht mitgebracht. Ich will heute nur mit den Augen studieren. – Ihre Arbeiten müssen Ihnen gut bezahlt werden, wenn Sie so teure Studien machen können. Heute werden Sie nicht wohlfeil davon kommen. Das Mädchen verlangt *** und mir können Sie auch für meine Bemühung unter ** nicht geben. (Du verzeihst mir, wenn ich dir den Preis nicht gestehe). Dafür sind Sie aber auch bedient wie Sie es wünschen können. Ich hoffe, Sie sollen meine Vorsorge loben; so einen Augenschmaus haben Sie noch nicht gehabt und … das Anfühlen haben Sie umsonst.

Sie brachte mich darauf in ein kleines artig meubliertes Zimmer: ein sauberer Teppich deckte den Fußboden, in einer Art von Nische stand ein sehr reinliches Bett, zu der Seite des Hauptes eine Toilette mit aufgestelltem Spiegel, und zu den Füßen ein Gueridon mit einem dreiarmigen Leuchter, auf dem schöne helle Kerzen brannten; auch auf der Toilette brannten zwei Lichter. Ein erloschenes Kaminfeuer hatte die Stube durchaus erwärmt. Die Alte wies mir einen Sessel an, dem Bette gegenüber, am Kamin, und entfernte sich. Es währte nicht lange, so kam zu der entgegengesetzten Türe ein großes, herrlich gebildetes, schönes Frauenzimmer heraus, ihre Kleidung unterschied sich nicht von der gewöhnlichen. Sie schien mich nicht zu bemerken, warf ihren schwarzen Mantel ab und setzte sich vor die Toilette. Sie nahm eine große Haube, die ihr Gesicht bedeckt hatte, vom Kopfe, eine schöne regelmäßige Bildung zeigte sich, braune Haare mit vielen und großen Locken rollten auf die Schultern herunter. Sie fing an sich auszukleiden; welch eine wunderliche Empfindung da ein Stück nach dem andern herabfiel, und die Natur, von der fremden Hülle entkleidet, mir als fremd erschien und beinahe, möcht’ ich sagen, mir einen schauerlichen Eindruck machte. Ach! mein Freund, ist es nicht mit unsern Meinungen, unsern Vorurteilen, Einrichtungen, Gesetzen und Grillen auch so? erschrecken wir nicht, wenn eine von diesen fremden, ungehörigen, unwahren Umgebungen uns entzogen wird, und irgend ein Teil unserer wahren Natur entblößt dastehen soll? wir schaudern, wir schämen uns, aber vor keiner wunderlichen und abgeschmackten Art, uns durch äußern Zwang zu entstellen, fühlen wir die mindeste Abneigung. Soll ich dir’s gestehen, ich konnte mich eben so wenig in den herrlichen Körper finden, da die letzte Hülle herab fiel, als vielleicht Freund L. sich in seinen Zustand finden wird, wenn ihn der Himmel zum Anführer der Mohawks machen sollte. Was sehen wir an den Weibern? was für Weiber gefallen uns und wie konfundieren wir alle Begriffe? Ein kleiner Schuh sieht gut aus, und wir rufen: welch ein schöner kleiner Fuß! ein schmaler Schnürleib hat etwas Elegantes, und wir preisen die schöne Taille.

Ich beschreibe dir meine Reflexionen, weil ich dir mit Worten die Reihe von entzückenden Bildern nicht darstellen kann, die mich das schöne Mädchen mit Anstand und Artigkeit sehen ließ. Alle Bewegungen folgten so natürlich auf einander, und doch schienen sie so studiert zu sein. Reizend war sie, indem sie sich entkleidete, schön, herrlich schön, als das letzte Gewand fiel. Sie stand, wie Minerva vor Paris mochte gestanden haben, bescheiden bestieg sie ihr Lager, unbedeckt versuchte sie in verschiedenen Stellungen sich dem Schlafe zu übergeben, endlich schien sie entschlummert. In der anmutigsten Stellung blieb sie eine Weile, ich konnte nur staunen und bewundern. Endlich schien ein leidenschaftlicher Traum sie zu beunruhigen, sie seufzte tief, veränderte heftig die Stellung, stammelte den Namen eines Geliebten und schien ihre Arme gegen ihn auszustrecken. Komm! rief sie endlich mit vernehmlicher Stimme, komm, mein Freund, in meine Arme, oder ich schlafe wirklich ein. In dem Augenblick ergriff sie die seidne durchnähte Decke, zog sie über sich her, und ein allerliebstes Gesicht sah unter ihr hervor.

Rastlose Liebe

Dem Schnee dem Regen

Dem Wind entgegen

Im Dampf der Klüfte

Durch Nebeldüfte

Immer zu! Immer zu!

Ohne Rast und Ruh!

Lieber durch Leiden

Möcht ich mich schlagen

Als soviel Freuden

Des Lebens ertragen.

Alle das Neigen

Von Herzen zu Herzen,

Ach wie so eigen

Schaffet das Schmerzen!

Wie soll ich fliehen?

Wälderwärts ziehen

Alles vergebens!

Krone des Lebens

Glück ohne Ruh

Liebe bist du!

Das Gewitter

Ein Brief aus den »Leiden des jungen Werthers«

Warum ich dir nicht schreibe? Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. Du solltest raten, daß ich mich wohl befinde, und zwar – Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weiß nicht.

Dir in der Ordnung zu erzählen, wie’s zugegangen ist, daß ich eins der liebenswürdigsten Geschöpfe habe kennen lernen, wird schwer halten, ich bin vergnügt und glücklich, und so kein guter Historienschreiber.

Einen Engel! Pfui! das sagt jeder von der seinigen! Nicht wahr? Und doch bin ich nicht im Stande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist, genug, sie hat all meinen Sinn gefangen genommen.

So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit. –

Das ist alles garstiges Gewäsche, was ich da von ihr sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdrücken. Ein andermal – Nein, nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir’s erzählen. Tu ich’s jetzt nicht, geschäh’s niemals. Denn, unter uns, seit ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon dreimal im Begriffe die Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu lassen und hinaus zu reiten, und doch schwur ich mir heut früh nicht hinaus zu reiten – und gehe doch alle Augenblicke ans Fenster zu sehen, wie hoch die Sonne noch steht.

Ich hab’s nicht überwinden können, ich mußte zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, und will mein Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben muntern Kinder ihrer acht Geschwister zu sehen! –

Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am Anfange, höre denn, ich will mich zwingen ins Detail zu gehen.

Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei, oder vielmehr seinem kleinen Königreiche zu besuchen. Ich vernachlässigte das, und wäre vielleicht nie hingekommen, hätte mir der Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.

Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, weiters unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, daß ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren, und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte. Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen, sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten schön ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren. Nehmen sie sich in Acht, versetzte die Base, daß Sie sich nicht verlieben! Wie so? sagt’ ich: Sie ist schon vergeben, antwortete jene, an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen nach seines Vaters Tod, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben. Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.

Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebürge, als wir vor dem Hoftore anfuhren, es war sehr schwüle, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen dumpfigen Wölkchen rings am Horizonte zusammen zu ziehen schien. Ich täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnden anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.

Ich war ausgestiegen. Und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Türe trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich jemals gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder, von eilf zu zwei Jahren, um ein Mädchen von schöner mittlerer Taille, die ein simples weißes Kleid mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetites ab, gabs jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rufte so ungekünstelt sein: Danke! indem es mit den kleinen Händchen lang in die Höh gereicht hatte, eh es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrode vergnügt entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davon nach dem Hoftore zuging, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darinnen ihre Lotte wegfahren sollte. Ich bitte um Vergebung, sagte sie, daß ich Sie herein bemühe, und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit, habe ich vergessen meinen Kindern ihr Vesperstück zu geben, und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir. Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, und meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief ihre Handschuh und Fächer zu nehmen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam, und sagte: Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand. Das tat der Knabe sehr freimütig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn ohngeachtet seines kleinen Rotznäschens herzlich zu küssen. Vetter? sagt’ ich, indem ich ihr die Hand reichte, glauben Sie, daß ich des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein? O! sagte sie, mit einem leichtfertigen Lächeln, unsere Vetterschaft ist sehr weitläuftig, und es wäre mir leid, wenn sie der Schlimmste drunter sein sollten. Im Gehen gab sie Sophien, der ältsten Schwester nach ihr, einem Mädchen von ohngefähr eilf Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kleinen Acht zu haben, und den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritte zurückkäme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester Sophie folgen, als wenn sie’s selber wäre, das denn auch einige ausdrücklich versprachen. Eine kleine nasweise Blondine aber, von ohngefähr sechs Jahren, sagte: du bist’s doch nicht, Lottchen! wir haben dich doch lieber. Die zwei ältsten der Knaben waren hinten auf die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald mit zu fahren, wenn sie versprächen, sich nicht zu necken, und sich recht fest zu halten.

Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt, wechselsweis über den Anzug und vorzüglich die Hütchen ihre Anmerkungen gemacht, und die Gesellschaft, die man zu finden erwartete, gehörig durchgezogen; als Lotte den Kutscher halten, und ihre Brüder herabsteigen ließ, die noch einmal ihre Hand zu küssen begehrten, das denn der ältste mit aller Zärtlichkeit, die dem Alter von funfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch einmal grüßen, und wir fuhren weiter.

Die Base fragte: ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich geschickt hätte. Nein, sagte Lotte, es gefällt mir nicht, sie könnens wieder haben. Das vorige war auch nicht besser. Ich erstaunte, als ich fragte: was es für Bücher wären und sie mir antwortete:[1] – Ich fand so viel Charakter in allem was sie sagte, ich sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnügt zu entfalten schienen, weil sie an mir fühlte, daß ich sie verstund.

 

Wie ich jünger war, sagte sie, liebte ich nichts so sehr als die Romanen. Weiß Gott wie wohl mir’s war, mich so Sonntags in ein Eckgen zu setzen, und mit ganzem Herzen an dem Glücke und Unstern einer Miß Jenny Teil zu nehmen. Ich leugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme, so müssen sie auch recht nach meinem Geschmacke sein. Und der Autor ist mir der liebste, in dem ich meine Welt wieder finde, bei dem’s zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant so herzlich wird, als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im Ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist.

Ich bemühte mich, meine Bewegungen über diese Worte zu verbergen. Das ging freilich nicht weit, denn da ich sie mit solcher Wahrheit im Vorbeigehn vom Landpriester von Wakefield vom[2] – reden hörte, kam ich eben außer mich und sagte ihr alles was ich mußte, und bemerkte erst nach einiger Zeit, da Lotte das Gespräch an die andern wendete, daß diese die Zeit über mit offnen Augen, als säßen sie nicht da, da gesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal mit einem spöttischen Näsgen an, daran mir aber nichts gelegen war.

 

Das Gespräch fiel auf das Vergnügen am Tanze. Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist, sagte Lotte, so gesteh ich ihnen gern, ich weiß nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe, und mir auf meinem verstimmten Klaviere einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut.

Wie ich mich unter dem Gespräche in den schwarzen Augen weidete, wie die lebendigen Lippen und die frischen muntern Wangen meine ganze Seele anzogen, wie ich in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht hörte, mit denen sie sich ausdruckte! Davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein Träumender, als wir vor dem Lusthause still hielten, und war so in Träumen rings in der dämmernden Welt verloren, daß ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem erleuchteten Saale herunter entgegen schallte.

Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N. wer behält all die Namen! die der Base und Lottens Tänzer waren, empfingen uns am Schlage, bemächtigten sich ihrer Frauenzimmer und ich führte die meinige hinauf.

Wir schlangen uns in Menuets um einander herum, ich forderte ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen, und ein Ende zu machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen englischen an, und wie wohl mir’s war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du fühlen. Tanzen muß man sie sehen. Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Körper, eine Harmonie, so sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles wäre, als wenn sie sonst nichts dächte, nichts empfände, und in dem Augenblicke gewiß schwindet alles andere vor ihr.

Ich bat sie um den zweiten Contretanz, sie sagte mir den dritten zu, und mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt versicherte sie mich, daß sie herzlich gern deutsch tanzte. Es ist hier so Mode, fuhr sie fort, daß jedes Paar, das zusammen gehört, beim Deutschen zusammen bleibt, und mein Chapeau walzt schlecht, und dankt mir’s, wenn ich ihm die Arbeit erlasse, ihr Frauenzimmer kann’s auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen gesehn, daß sie gut walzen, wenn sie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehn sie und bitten sich’s aus von meinem Herrn, ich will zu ihrer Dame gehn. Ich gab ihr die Hand drauf und es wurde schon arrangiert, daß ihrem Tänzer inzwischen die Unterhaltung meiner Tänzerin aufgetragen ward.

Nun ging’s, und wir ergötzten uns eine Weile an mannchfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen, und wie die Sphären um einander herumrollten, gings freilich anfangs, weil’s die wenigsten können, ein bißgen bunt durch einander. Wir waren klug und ließen sie austoben, und wie die ungeschicktesten den Plan geräumt hatten, fielen wir ein, und hielten mit noch einem Paare, mit Audran und seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist mir’s so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, daß alles rings umher verging und – Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte, als mit mir, und wenn ich drüber zu Grunde gehen müßte, du verstehst mich.