Goldene Sonne, die dich verbrennt - Linda Lael Miller - E-Book

Goldene Sonne, die dich verbrennt E-Book

Linda Lael Miller

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Beschreibung

Wie oft hatte Charlotte Quade davon geträumt, endlich einmal ein aufregendes Abenteuer zu erleben! Doch seit man sie auf jener kleinen Insel vor der afrikanischen Küste einfach entführt hatte, ist sie von ihrer Abenteuerlust gründlich kuriert! Nicht nur, dass sie von Piraten geraubt und einem rauen, wilden Kapitän zum Geschenk gemacht wurde - um seine schlechte Laune aufzubessern! -, nun ist sie auch noch in einem Harem gefangen ... Kann der schroffe und doch sehr attraktive Kapitän ihr Schicksal noch ändern?

Die leidenschaftlich-romantische Trilogie um die Familie Quade von der Bestsellerautorin Linda Lael Miller:

Band 1: Verzaubert von deinen Augen
Band 2: Goldene Sonne, die dich verbrennt
Band 3: Süße Annie, wildes Herz

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

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Über die Autorin

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Impressum

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Über dieses Buch

Wie oft hatte Charlotte Quade davon geträumt, endlich einmal ein aufregendes Abenteuer zu erleben! Doch seit man sie auf jener kleinen Insel vor der afrikanischen Küste einfach entführt hatte, ist sie von ihrer Abenteuerlust gründlich kuriert! Nicht nur, dass sie von Piraten geraubt und einem rauen, wilden Kapitän zum Geschenk gemacht wurde – um seine schlechte Laune aufzubessern! –, nun ist sie auch noch in einem Harem gefangen ... Kann der schroffe und doch sehr attraktive Kapitän ihr Schicksal noch ändern?

Linda Lael Miller

Goldene Sonne, die dich verzaubert

Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Braun

Paris, 10. Juni 1877

Meine liebe Schwester!

Ich hoffe, Du bist gesund und munter, wenn Dich dieser Brief erreicht, obwohl kein Grund besteht, daran zu zweifeln – schließlich warst Du immer kerngesund wie Papas bester Ochse! Und was die Frage nach Deinem Glücklichsein betrifft, so kommt Deine überschäumende Freude über die bevorstehende Hochzeit mit diesem jungen Pfarrer in jedem Deiner Briefe klar zum Ausdruck. Ist Dir eigentlich bewusst, Millicent Quade, dass alle Deine Briefe im vergangenen Jahr nichts als ein einziges Loblied waren – auf die Freuden der Liebe im Allgemeinen und auf Lucas Bradley im Besonderen? Nicht einmal Lydia unterlässt es je, ihn lobend zu erwähnen, aber sie macht sich wenigstens die Mühe, mir auch etwas über Papa, die Jungen und Onkel Devon und Tante Polly zu berichten.

Betrachte das bitte nicht als Vorwurf, Liebes, mag sein, dass ich einfach ein bisschen neidisch auf Deine ›Große Leidenschaft‹ bin. (Obwohl ich gestehen muss, mich schon gefragt zu haben, wie ›groß‹ die Leidenschaft eines Pfarrers überhaupt sein darf ...?) Doch diese Frage werde ich Dir nach meiner Rückkehr stellen, und Dein Erröten wird mir Antwort genug sein. Aber wie auch immer – lauf jetzt bloß nicht zu Papa, um ihm zu sagen, auch ich sei begierig, einen Ehepartner zu finden, denn das ist nicht der Fall.

Wenn Du jetzt hier bei mir wärst, Millicent, könntest Du mich seufzen hören! Ich bin nun schon dreiundzwanzig, wie Du weißt, und meine Ausbildung in Europa ist beendet. Überflüssig zu bemerken, dass ich offiziell schon eine alte Jungfer bin, zumindest den Maßstäben unserer Washingtoner Gesellschaft nach. Es ist mir bewusst, dass ich meine Heimkehr nicht länger hinauszögern kann, und ich habe mich auch damit abgefunden, Ehefrau und Mutter zu werden, worüber ich nicht einmal sehr unglücklich bin, obwohl ich den Verlust meiner Träume noch immer betrauere. Doch zum Glück bleibt mir meine Malerei, die mir in den düstersten Stunden meines Hausfrauendaseins ein gewisser Trost sein dürfte.

O Millie, versteh mich bitte nicht falsch und verzeih mir meine mangelnde Begeisterung angesichts meiner Zukunftsaussichten. Es macht mir wirklich nichts aus, zu heiraten und Kinder zu haben, aber ich hatte mir so sehr gewünscht, wenigstens ein phantastisch aufregendes Abenteuer zu erleben, bevor ich eine Familie gründe. Doch wie es aussieht, werde ich mich mit einer kurzen Reise an die südspanische Küste und einem Abstecher nach der Insel Riz begnügen müssen, mit den Richardsons, Papas und Lydias Freunden, die sich im Augenblick in Europa befinden. Wie Du bereits weißt, werde ich mit ihnen nach Seattle zurückkehren. Erinnerst Du Dich noch an ihre Tochter, Bettina? Scheu wie ein Reh, auch heute noch, und ich gehe jede Wette ein, dass sie lieber in einer Ecke sitzen und Spitzendeckchen häkeln wird, als mit mir die Gegend zu erforschen!

Ach, wärst Du doch statt ihrer hier!

Sag, Millie, ist es wirklich zu viel verlangt, mir ein einziges aufregendes Abenteuer zu ersehnen, bevor ich das langweilige Dasein einer Ehefrau antrete? Wäre es nicht besser, eine Erinnerung zu haben, von der ich später, in jenen Momenten, in denen meine Seele Hunger leiden wird, zehren könnte?

Ja, ich fürchte, es ist zu viel verlangt, und deshalb trauere ich um meine verlorenen Hoffnungen, trotz der tapferen Fassade, die ich allein zeige und auch aufrechtzuerhalten gedenke.

Bald werde ich Dich wiedersehen, Liebes, und voller Stolz zuschauen, wie Papa Dich zum Altar führt. Aber nimm Dir bitte nach Deinen Flitterwochen ein bisschen Zeit für mich, wir haben uns so viel zu erzählen!

Sag Papa und Lydia, dass ich sie liebhabe, küss unsere frechen kleinen Brüder und grüß Onkel Devon, Tante Polly und unsere Cousins von mir. Vergiss auch nicht, Dr. Joe, Etta und ihren Kleinen Grüße zu übermitteln. Und gib Deinem hübschen jungen Gottesmann einen Kuss von mir, falls es der Anstand zulässt ... Ach, pfeif auf den Anstand und tu es einfach!

Dich, meine liebe Schwester, schließe ich in die Arme und versichere Dich meiner tiefsten Zuneigung.

Bis bald. Deine Charlotte.

1

Selbst zu dieser noch recht frühen Morgenstunde flimmerte die Luft bereits vor Hitze über dem Marktplatz oder ›Souk‹. Hühner gackerten, Händler feilschten lautstark, und Affen, mit bestickten Westen und Turbanen bekleidet, kreischten um Aufmerksamkeit. Eine seltsame, fremde Musik strich ohne Unterlass statt einer Brise zwischen den Verkaufsständen hindurch: Die Gerüche von Gewürzen und ungewaschener Haut wetteiferten mit dem stechenden Rauch aus Kochfeuern, und die hellen Seidenstoffe von Charlottes geborgter Robe und dem Schleier klebten an ihrer feuchten Haut.

Charlotte war begeistert.

Ihre Begleiterin, Bettina Richardson, einige Jahre jünger als Charlotte und auf ähnliche Art verkleidet, teilte diesen Enthusiasmus nicht.

»Papa bringt uns um, wenn er herausfindet, dass wir an diesem schrecklichen Ort gewesen sind!«, flüsterte sie unter dem hauchdünnen Schleier, der ihr hübsches, aber nicht bemerkenswertes Gesicht verhüllte. »Wer weiß, ob wir nicht sogar von irgendeinem Scheich entführt in der Wüste enden!«

Charlotte seufzte. »Damit dürfte leider nicht zu rechnen sein«, erwiderte sie, um Bettina zu ärgern.

»Charlotte!«, rief ihre Freundin entsetzt.

Charlotte lächelte hinter ihrem Schleier. Die Richardsons waren zum Inselkönigreich von Riz gesegelt, das zwischen Spanien und der Küste von Marokko lag, um alte Freunde zu besuchen, reiche Händler, die sie aus Boston kannten. Bettina wäre lieber in Paris geblieben, bis der Moment kam, die Rückreise in die Vereinigten Staaten anzutreten, aber Charlotte hatte es ihr ausgeredet. Sie hatte nicht vor, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, einen so exotischen Ort wie Riz zu sehen, wo sich ihr, so hoffte sie zumindest, vielleicht doch noch eine Chance auf ein kleines Abenteuer bieten würde.

Doch Abenteuer waren genau das, was Bettina unbedingt vermeiden wollte. Es hatte Charlotte einige Mühe gekostet, ihre Freundin zu überreden, die Schleier und Roben aus dem Schrank ihrer Gastgeberin zu stibitzen, sie anzulegen und sich durch die Hintertür aus dem Haus zu stehlen, in die schmalen, schmutzigen Gassen hinaus, wo Gerüche und Geräusche ihnen den Weg in den Souk gewiesen hatten.

An einem der Verkaufsstände nahm Charlotte einen der grobgeflochtenen Körbe in die Hand und betrachtete ihn sinnend. Sie wusste jetzt schon, dass sie diesen Ausflug nie vergessen würde und er ihr irgendwann sogar noch viel schöner erscheinen würde, als er war. Vielleicht würde sie ihren Erinnerungen in Momenten der Langeweile noch einen stattlichen Scheich hinzufügen, der auf einem weißen Araberhengst den Markt aufsuchte, um Sklaven zu erstehen ... oder sogar eine Truppe plündernder Piraten, die Schwerter schwingend Hühner und Händler in alle Richtungen zerstreuten ...

Eine Bewegung am fernen Ende der Reihe kleiner Stände unterbrach Charlottes phantasievolle Überlegungen. Bettina ergriff ihren Arm und flüsterte drängend: »Lass uns zu den Vincents zurückkehren, Charlotte, bitte!«

Charlotte beachtete sie nicht, starrte nur fassungslos den großen Mann an, der durch die Menge schritt, und fühlte sich für einen kurzen Moment lang in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie war wieder dreizehn und daheim in Seattle, wo sie auf den Mast eines großen Segelschiffs, der Enchantress, geklettert war. Doch hoch in der Takelage hatte sie den Mut verloren und sich zitternd an den Tauen festgeklammert, zu verängstigt, um wieder hinabzusteigen.

Patrick Trevarren war zu ihr hinaufgeklettert, um sie zu retten.

Bettina versetzte Charlotte einen Stoß. »Charlotte! Es gefällt mir nicht, wie dieser Mann aussieht! Er könnte ein Räuber sein!«

Charlotte war unfähig, sich zu bewegen, und froh, dass sie den Schleier trug, der ihr Gesicht verbarg und das Lächeln, mit dem sie jedem, der sie sah, wie eine komplette Närrin erschienen wäre. Patrick hatte sich kaum verändert in diesen zehn Jahren, obwohl seine Brust und seine Schultern heute breiter waren und seine Gesichtszüge schärfer und ausgeprägter. Das dunkle Haar trug er noch immer etwas zu lang und mit einer schwarzen Schleife im Nacken gebunden; der Blick seiner tiefblauen Augen war wach und scharf wie früher.

Das arrogante Selbstvertrauen, das sein Gang verriet, weckte Charlottes Ärger, aber ihr Herz klopfte wie wild, und sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht auf Patrick zuzulaufen und ihn zu fragen, ob er sich an sie erinnerte.

Was natürlich ziemlich unwahrscheinlich war. Während sie in all diesen zehn Jahren von ihm geträumt und eine Phantasie nach der anderen um den jungen Seemann gewoben hatte, hatte er vermutlich nie wieder einen Gedanken an sie verschwendet ...

Er kam näher, und obwohl er lächelte, blickten seine Augen kalt. Mit der Spitze seines Dolches spießte er eine Orange von einem Obststand auf und warf dem Händler eine Münze zu.

Charlotte verhielt sich völlig still, doch irgendetwas an ihr musste Patricks Aufmerksamkeit erregt haben. Er kam näher, blieb vor ihr stehen und starrte ihr mit einem Ausdruck der Verwunderung in die Augen.

Sag etwas, befahl Charlotte sich verzweifelt, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte kein Wort über die Lippen.

Patrick betrachtete sie ausgiebig, ließ seinen Blick über ihre eng anliegende Seidenrobe gleiten, um dann seinen Weg mit einem Achselzucken fortzusetzen. Im Weitergehen schälte er die Orange und warf die Schalen den schnatternden Affen zu.

»Das genügt!«, sagte Bettina schroff. »Wir gehen jetzt, Charlotte Quade, und zwar sofort! Wenn ich je einen Piraten gesehen habe, dann war es dieser Mann!«

Charlotte sah, wie Patrick vor einer verschleierten Tänzerin auf einem schmalen Brett zwischen zwei Fässern stehen blieb, und wurde von einer solch jähen Eifersucht erfasst, dass sich die Enge in ihrer Kehle löste und ihre Lungen wieder Luft bekamen. »Und wie wir alle wissen, kennst du dich mit Piraten aus«, verhöhnte sie Bettina.

Tränen stiegen in den grünen Augen des Mädchens auf; ein scharfes Wort konnte sie verwinden wie andere einen Peitschenschlag. Bettina war ein Einzelkind, verwöhnt und behütet, und es war ihr nicht leichtgefallen, sich ohne Erlaubnis ihrer Eltern aus dem Haus zu schleichen, um einen fremden Marktplatz zu erforschen.

»Entschuldige«, sagte Charlotte und fühlte, wie etwas in ihr zerbrach, als Patrick die Tänzerin von ihrer improvisierten Bühne hob und einem turbanbekleideten Mann in der Nähe ein Geldstück zuwarf. »W-wir ... gehen jetzt.«

Entschlossen, nicht mehr zurückzuschauen, straffte Charlotte die Schultern und schlug die Richtung zur Residenz der Vincents ein. Die unerwartete Begegnung mit Patrick Trevarren hatte ihre Sinne in einen solchen Aufruhr versetzt, dass sie sich nicht einmal auszudenken wagte, was Patrick mit dieser Tänzerin vorhaben mochte.

Trotz ihrer Verwirrung spürte Charlotte Bettinas zunehmende Besorgnis und merkte selbst, wie schwierig es sein musste, den Weg zurück zum Haus ihrer Gastgeber zu finden. All diese unglaublich schmalen Gassen sahen völlig gleich aus, eine jede von ihnen hätte zu dem stillen Wohnviertel führen können, das sie eine Stunde zuvor noch so sorglos verlassen hatten.

Bettina trocknete ihre Augen mit dem Schleier. »Ich wusste ja, dass wir uns verlaufen haben!«, sagte sie schluchzend.

»Psst!«, meinte Charlotte gereizt. »Wir gehen einfach zum Marktplatz zurück und fragen nach dem Weg.«

»Wie denn? Wir sprechen doch nicht mal die Sprache«, entgegnete Bettina mit aufreizender Logik.

»Dann fangen wir eben noch mal von vorne an und probieren jede Gasse aus, bis wir die richtige gefunden haben«, antwortete Charlotte. Es klang um einiges zuversichtlicher, als sie sich fühlte.

Bettina maß sie mit einem entsetzten Blick. »Hätte ich doch nicht auf dich gehört!«, rief sie ärgerlich. »Ich wusste, dass etwas Schreckliches geschehen würde – und ich habe recht behalten!«

Charlotte lächelte mühsam. »Es wird schon nichts geschehen. Reg dich bitte nicht so auf.«

Bettina schaute sich furchtsam auf der verlassenen Straße um. Eine unheimliche Stille herrschte nach dem Lärm im Souk.

»Ich vergifte mich eher, bevor ich den Rest meines Lebens in einem Harem zubringe«, sagte sie düster.

Charlotte erwiderte nichts, denn sie begriff jetzt, dass sie sich tatsächlich in Gefahr befanden, zwei schutzlose Frauen in einer Stadt, deren Kultur auf solch tiefgreifende Weise anders war als ihre eigene. Vielleicht war es das Beste, zum Markt zurückzugehen und Mr. Trevarren um Hilfe zu bitten.

Sie nahm Bettinas Arm. »Komm. Wir kehren zum Souk zurück.«

Der Marktplatz war belebt wie schon zuvor, Charlotte musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über die mit Turbanen bedeckten Köpfe hinwegschauen zu können. Doch Mr. Trevarren war nirgendwo zu sehen.

Bettina wimmerte vor Panik, und in diesem Augenblick passierte es – eine Gruppe von Männern umringte die beiden Mädchen, und jemand presste Charlotte ein Tuch auf Mund und Nase, von dem ein scharfer Geruch nach Chemie ausging. Jemand zerrte ihre Arme grob nach hinten. Sie hörte noch Bettinas Schrei, und dann verkleinerte ihre Welt sich auf die Größe eines Stecknadelkopfes, um sich schließlich ganz aufzulösen. Eine endlose, dröhnende Leere hüllte sie ein.

Patrick Trevarren hob die Tänzerin auf ihre improvisierte Bühne und schenkte ihr ein Geldstück. In diesem Augenblick hörte er den schrillen Schrei einer Frau.

Wie überall in der arabischen Welt galten Frauen auch in Riz als Gebrauchsartikel, doch Patrick, der in Boston aufgewachsen war und in England studiert hatte, war unfähig, den Hilfeschrei einer Frau zu ignorieren. Er drängte sich durch die Menschenmenge und entdeckte eine der beiden Ausländerinnen, denen er zuvor begegnet war. Ihrem lauten Wehklagen nach zu urteilen musste sie Amerikanerin sein.

Patrick packte sie an den Schultern. »Was ist passiert?«

Die neugierigen Araber, die sie umringten, wichen zurück.

»M-meine Freundin! P-Piraten haben sie e-entführtl«

Patrick presste die Lippen zusammen und dachte an die Frau mit den goldbraunen Augen. Irgendetwas an ihr war ihm verblüffend vertraut erschienen. »Wie viele Männer waren es? Und wohin sind sie gegangen?«, fragte er knapp.

Das Mädchen rang die Hände. »Es waren mindestens ein Dutzend! Und wie soll ich wissen, wohin sie gegangen sind? Ich finde ja nicht einmal zum Haus der Vincents zurück!«

Als Patrick einen ernsten kleinen Jungen, der manchmal Besorgungen für ihn erledigte, unter den Umstehenden sah, gab er ihm einige Silbermünzen und wies ihn an, das aufgeregte junge Mädchen heimzubringen. Dann begann er die Umstehenden zu befragen.

Trotz seiner Beherrschung der Landessprache und der Tatsache, dass er in diesem Königreich kein Unbekannter war, blieb Patrick doch ein Außenseiter für diese Menschen. Die Sympathien der Männer, das war offensichtlich, galten den Entführern und nicht dem Mädchen. Für die Araber war. der Verkauf einer unschuldigen jungen Frau in die Sklaverei ein vollkommen anständiges Geschäft.

Trotz allem suchte Patrick sämtliche umliegenden Gassen ab und kämpfte gegen die Panik an, die in ihm aufstieg, als ihm die Sinnlosigkeit seines Unternehmens zu Bewusstsein kam. Das Mädchen war verloren; nichts vermochte sie vor dem Schicksal zu bewahren, das ihrer harrte.

Am späten Nachmittag, als die Sonne gnadenlos auf die staubigen Gassen der alten Stadt herniederbrannte, kehrte Patrick zum Hafen zurück, wo sein Schiff, die Enchantress, vor Anker lag.

Charlotte befand sich in einem dunklen, engen Loch, in dem es nach Ratten, Schimmel und Unrat roch. Ihr Kopf dröhnte wie nach einem Keulenschlag, und ihr war speiübel. Wunde Stellen an ihrem Körper verrieten, dass sie überall Prellungen hatte, und wo ihr das erspart geblieben war, brannte die Haut vor Abschürfungen.

Ein Würgen stieg in ihrer Kehle auf, aber ihren Mund verschloss ein Knebel. Als sie ihn entfernen wollte, merkte sie, dass auch ihre Hände gebunden waren. Tränen der Frustration und Angst brannten in ihren Augen.

Du hast dir doch ein Abenteuer gewünscht, warf sie sich wütend vor. Na bitte, jetzt hast du es!

Als Hysterie sie zu überwältigen drohte, nahm sie sich eisern zusammen. Sie durfte jetzt nicht in Panik geraten, sie brauchte einen klaren Kopf, wenn sie einen Fluchtplan fassen wollte.

Doch anstatt eine Strategie zu entwickeln, dachte sie an Bettina. Hatten die Entführer sie auch mitgenommen? Der Gedanke, wie verängstigt das Mädchen sein würde, ließ Charlotte schaudern, ihr Schuldbewusstsein war so groß, dass sie fast daran erstickte. Falls Bettina etwas zustieß, trug sie, Charlotte, ganz allein die Schuld daran und niemand sonst. Sie hatte ihre Freundin überredet, sie in den Souk zu begleiten, und das Ergebnis dieses ›Ausflugs‹ mochte sich sehr wohl als tragisch erweisen.

Erneut stieg Galle in Charlottes Kehle auf, aber tapfer schluckte sie sie herunter. Wenn sie ganz ruhig blieb, gelang es ihr vielleicht, Bettina zu finden, und dann konnten sie zusammen fliehen. Allerdings bestand natürlich auch die Möglichkeit, dass sie ihre Freundin niemals wiedersehen würde ...

Ihre Phantasie gaukelte ihr vertraute und nun doch so erschreckende Bilder vor. Wie oft hatte Charlotte sich vorgestellt, in einem Harem zu leben, mit Patrick Trevarren als ihrem Sultan. Ein harmloses, naives Spiel, das ihre Sinne gereizt und sie dann vor Frustration hatte erröten lassen. Doch die Wirklichkeit sah leider anders aus. Ein Leben in Sklaverei war alles andere als erstrebenswert. Es war klar, dass sie nicht an den Mann verkauft werden würde, von dem sie schon seit Jahren träumte – o nein. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde sie Eigentum eines Bordellbesitzers werden oder sich in die Konkubine eines schwitzenden, sabbernden Schurken verwandeln, der ihr nicht mehr Wert zumessen würde als einem Hund oder einem Pferd.

Charlotte dachte an ihr Zuhause in Quade’s Harbor, an die grünen Ufer des Puget Sound, an denen ihr Vater eines der größten Holzgeschäfte des Washingtoner Territoriums betrieb. Brigham Quade war ein Mann von festen Überzeugungen, der keinen Unsinn duldete, aber Charlotte hatte nie Anlass gehabt, an seiner Zuneigung zu ihr zu zweifeln. Sie und ihre Schwester Millie hatten immer gewusst, dass er eher sterben würde, als zuzulassen, dass ihnen etwas zustieß, und aus dieser Sicherheit heraus waren beide Schwestern zu selbstsicheren und zuversichtlichen Menschen herangewachsen.

Lydia, ihre Stiefmutter, hatte sie gelehrt, eine starke Frau zu sein, furchtlos Risiken einzugehen und ihre Intelligenz nicht zu verleugnen, und diese Eigenschaften waren Charlotte im Großen und Ganzen bisher auch sehr zugutegekommen. Bis zu diesem Morgen, als sie mit der grandiosen Idee erwacht war, sich mit Bettina als Araberinnen zu verkleiden und den verbotenen Souk aufzusuchen.

Charlotte dachte an Millie, ihre schöne, temperamentvolle Schwester, und stellte sie sich in ihrem Hochzeitskleid aus weißen Spitzen vor, mit Augen, die vor Aufregung und Liebe funkelten. Dann ließ sie das Bild jedes Einzelnen ihrer fünf kleinen Brüder vor sich erstehen und trauerte um sie, einen nach dem anderen. In ihrem Geist schwollen ihre Namen zu einem tragischen Crescendo an: Devon, Seth, Gideon, Jacob, Matthew.

Es war möglich, dass sie kein einziges Mitglied ihrer Familie je wiedersehen würde; schlimmer noch, ihr Verschwinden würde ihren Lieben furchtbares Leid zufügen. Auch das Leben von Bettinas Eltern würde für immer zerstört sein, wenn sie durch Charlottes unbedachte Handlungsweise ihr einziges Kind verloren.

Charlottes Verzweiflung hätte sie vielleicht in diesem Augenblick vollkommen überwältigt, wenn sich ihr nicht etwas Dringenderes zum Nachdenken geboten hätte.

Scharniere quietschten, ein Streifen Licht durchschnitt die Finsternis, und ein kleiner Mann betrat den Raum. Er war gekleidet wie ein Araber, aber das war auch alles, was Charlotte in dem schwachen Licht erkennen konnte.

Ihr Herz pochte vor Angst und hilflosem Zorn, als der Mann sie grob auf die Beine zog und ihr den Knebel abnahm. Dann hielt er ihr einen Becher mit lauwarmem Wasser an die Lippen.

Charlotte unterdrückte ihre wütenden Anschuldigungen und all die verzweifelten Fragen, die sie bedrängten, und trank gierig. Die Hitze in dem kleinen Raum war schier unerträglich.

»Wer sind Sie?«, fragte sie, als sie ihren Durst gelöscht hatte.

Der Mann murmelte etwas in Arabisch, und obwohl Charlotte die Worte nicht verstand, begriff sie ihren Sinn. Sie drückten weder Verachtung noch Feindseligkeit aus, nur vollkommene Gleichgültigkeit ihrem Schicksal gegenüber.

»Wo bin ich hier? Warum halten Sie mich hier fest?«, fragte sie, obwohl sie nicht mit einer Antwort rechnete.

Charlottes Besucher schrie sie an, wie seine vorherigen Worte bedurften auch diese keiner Übersetzung. Er wollte ganz einfach, dass sie den Mund hielt.

Um es ihr ganz deutlich zu machen, knebelte er sie wieder und zog den schmutzigen Lappen so fest an, dass er in Charlottes Mundwinkel schnitt. Dann stieß der Araber sie grob zu Boden.

Und da merkte sie zum ersten Mal, dass sich etwas unter ihr bewegte, ein fast unmerkliches Schaukeln, das durch den Nebel ihrer Angst und ihrer Wut drang und ihr bewies, dass sie sich auf einem Schiff befand. Die Erkenntnis vermittelte ihr einen gewissen Trost, aber auch die Einsicht, dass eine Flucht noch schwieriger sein würde, als sie geglaubt hatte.

Als ihr Wärter ging, war sie fast dankbar für den Knebel, der sie daran hinderte, dem Araber die ausdrucksvollen Flüche nachzurufen, die sie in den Holzfällerlagern ihres Vaters aufgeschnappt hatte. Obwohl der Mann kein Englisch sprach, hätte er gemerkt, dass er beleidigt wurde, und seine Geduld schien auch so schon aufs Äußerste strapaziert.

Charlotte zwang sich, durch die Nase ein- und auszuatmen. Was auch geschehen mochte, sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren und auf keinen Fall Angst zeigen.

Die Hitze in ihrem Verlies war fast unerträglich, und jetzt, wo sie wusste, dass es ein Verlies war, vermochte Charlotte auch das Rascheln der Ratten in den Balken über ihr zu deuten. Mit einem Erschauern schickte sie ein stummes Stoßgebet zum Himmel und flehte um ein Wunder.

Seufzend wandte Patrick sich von der Reling der Enchantress und dem Anblick der untergehenden Sonne ab. Er war zu gereizt und rastlos, um das beeindruckende Schauspiel zu genießen.

Sein Freund und erster Maat, Tom Cochran, erschien hinter ihm. »Setzen wir heute Abend Segel, Captain?« Cochran war von robustem Körperbau, und sein verwittertes Gesicht bedeckte ein grauweißer Stoppelbart. »Ich könnte mir vorstellen, dass Khalif uns irgendwann heute Nacht erwarten wird.«

Patrick nickte abwesend. Khalif, der Sultan von Riz, war in England mit ihm zur Schule gegangen und ein guter Freund von ihm. Aber heute vermochte die Vorstellung, zu Gast in Khalifs luxuriösem Palast zu sein, Patrick nicht zu reizen. »Ja«, antwortete er knapp. »Lass Segel setzen.«

Dann begab er sich unter Deck und in seine Kabine, einen nicht sehr großen Raum, der mit einem Bett, einem Schrank, Schreibtisch, zwei Stühlen und Bücherregalen ausgestattet war. Ohne Licht zu machen, ließ Patrick sich seufzend auf einen der Stühle sinken.

Er hörte die Rufe der Mannschaft an Deck, doch seine Gedanken kreisten um die junge Frau, die heute aus dem Souk entführt worden war. Was beunruhigte ihn nur so daran? So traurig es sein mochte, war es doch nichts Besonderes in diesem Teil der Welt, dass Mädchen und Frauen entführt wurden. Es geschah fast täglich, und die meisten dieser armen Wesen tauchten nie wieder auf.

Patricks Nacken verkrampfte sich, ein schmerzhaftes Pochen begann in seinen Schläfen. Fluchend schleuderte er ein Buch an die Kajütenwand.

Da klopfte es an der Tür.

»Herein«, rief Patrick grollend.

Es war Cochran, der Patricks Abendessen brachte.

»Mach Licht«, sagte der alte Seemann trocken. »Es ist höllisch dunkel hier.«

Wortlos zündete Patrick eine Petroleumlampe an. Seine Miene verriet seinen Ärger über die Störung.

»Ich möchte wissen, welcher Floh dich heute gebissen hat«, bemerkte Cochran. »Hast du die kleine Tänzerin, hinter der du her bist, seit wir Anker warfen, nicht im Souk gefunden?«

Ein Anfall von Scham, für den er keinen Anlass sah, erfasste Patrick. Denn schließlich war er nicht verheiratet und betrog damit auch niemanden, wenn er eine Tänzerin in ihr Zelt begleitete und ihre weiblichen Aufmerksamkeiten genoss.

»Doch, sie war da«, murmelte er mit einem mürrischen Blick auf sein Abendessen. Lammgulasch, Schwarzbrot und dünner schwarzer Tee – schon wieder.

Cochran lachte und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Tür. »Sag bloß, sie hat dich abgewiesen!«

Patrick würdigte dieser Bemerkung keine Antwort, maß Cochran nur mit einem bösen Blick und begann zu essen.

Cochran grinste. »Entschuldigung. Ich hatte wohl für einen Moment vergessen, dass es keine Frau gibt, die Patrick Trevarren je abgewiesen hätte. Aber wenn es nicht das Tanzmädchen ist, was dann? Warum bist du heute so gereizt?«

Patrick schob das Tablett beiseite. »Wir leben in einer erbarmungslosen Welt«, stellte er mit düsterer Miene fest.

Sein erster Maat gab sich überrascht. »Eine schockierende Einsicht, Patrick«, entgegnete er spöttisch. »Und dabei dachte ich, wir wären auf Rosen gebettet und lebten unter Engeln!«

Cochran war im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Mannschaft ein gebildeter Mann, und obwohl er nicht gern über seine Vergangenheit sprach, wusste Patrick, dass sein Freund Lehrer an einem Jungengymnasium in New York gewesen war, bevor er auf seinem Schiff angeheuert hatte.

Während Patrick seine verkrampften Nackenmuskeln massierte, erzählte er Cochran von der Entführung.

»Du kannst nicht alle retten, Patrick«, meinte Cochran, als der junge Kapitän seinen Bericht beendet hatte. »Viele dieser jungen Mädchen leben wie Fürstinnen. Wenn sie hübsch sind, haben sie eigene Diener, schöne Kleider und jeden erdenklichen Luxus.«

Patrick biss sich auf die Lippen, und Cochran, der es sah, legte ihm die Hand auf die Schulter. »War sie hübsch?«

»Ja«, erwiderte Patrick schroff.

»Dann wird sie keinen Mangel leiden«, meinte der alte Seemann, bevor er die Tür öffnete und hinausging.

Patrick legte die Füße auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück. Seine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer, und selbst mit geschlossenen Augen glaubte er, jene goldbraunen Augen zu sehen, die auf dem Marktplatz zu ihm aufgeschaut hatten.

Im nächsten Augenblick kehrte die Erinnerung zurück. Er und sein Onkel hatten mit der Enchantress im fernen Seattle vor Anker gelegen, 1866 oder 67, um die Waren auszuladen, die sie aus Kalifornien und aus dem Orient mitgebracht hatten. Patrick war eines Nachmittags auf das Schiff zurückgekehrt und hatte ein sehr junges Mädchen in der Takelage entdeckt. Als er sie anschrie, herunterzukommen, antwortete sie, zu viel Angst zu haben, um sich zu bewegen. Natürlich hatte er sie heruntergeholt, und ein nicht allzu freundlicher Wortwechsel hatte zwischen ihnen stattgefunden.

An ihren Namen erinnerte er sich nicht, aber ihre hellen, bernsteinfarbenen Augen schienen für immer in seinem Gedächtnis eingebrannt. Und so unvorstellbar es auch erscheinen mochte, waren die junge Frau, der er heute im Souk begegnet war, und jenes Mädchen aus Seattle ein und dieselbe Person. Und nun befand sich diese Frau in der Gewalt von Entführern ...

Nach drei Tagen verlor Charlotte jegliches Zeitgefühl. Man gab ihr sehr wenig zu essen und zu trinken und erlaubte ihr nur einmal alle vierundzwanzig Stunden, sich zu erleichtern. Ihr Schleier war längst verschwunden, die Seidenrobe, die ihren Körper verhüllte, war schmutzig und mit Rissen übersät, ihre Haut brannte vor Fieber.

Niemand hatte ihr bisher Gewalt angetan, was sie als einen gewissen Trost empfand. Hunger, Durst und alle möglichen anderen Unbequemlichkeiten glaubte Charlotte ertragen zu können, aber die Vorstellung, entehrt zu werden, entsetzte sie.

Als ihr unfreundlicher Wärter eines Abends kam, um sie abzuholen, und sie mit gewohnter Grobheit auf die Beine zog, war Charlotte überzeugt, dass das Glück sie nun endgültig verlassen hatte. Verzweifelt wehrte sie sich, obwohl sie gegen den Araber keine Chance besaß, und tatsächlich schlug er sie hart ins Gesicht, so hart, dass sie das Bewusstsein verlor.

Beim Erwachen merkte sie, dass sie sich in einem grob gewebten Sack befand. Im Licht, das durch die losen Maschen drang, erkannte Charlotte die Silhouetten mehrerer Männer.

Sie lachten und waren mit irgendeinem Kartenspiel beschäftigt, was Charlotte so in Wut versetzte, dass sie die Männer zu beschimpfen begann. Aber da merkte sie, dass sie noch immer geknebelt war, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen bei der Erkenntnis, dass sie keine Kleider trug und splitternackt war.

Das Kartenspiel nahm seinen Fortgang, Charlotte döste ein, wurde wach und schlief wieder ein. Irgendwann spürte sie, dass einer der Männer sie über seine Schulter warf wie einen Sack Kartoffeln. Sie zappelte und stieß gegen das grobe Leinen, aber das entlockte dem Mann, der sie trug, nur ein raues Lachen.

»Sie hat Temperament, die Kleine«, sagte eine Stimme in schmucklosem Englisch. »Raheem wird nicht erfreut sein, wenn er hört, dass du sie beim Pokern verloren hast. Aber vielleicht bessert sich die Stimmung unseres Captains, wenn er sie sieht. Er ist seit vier Tagen knurrig wie ein gereizter alter Hund.«

Ein Amerikaner, dachte Charlotte, und ihr wurde ganz schwach zumute vor Erleichterung. Nun konnte sie erklären, was geschehen war, und eine Passage in die Vereinigten Staaten buchen ...

Nach einer Weile hörte sie ein Klopfen und spürte wieder die Bewegungen eines Schiffes.

»Ja?«, rief jemand, nicht allzu freundlich.

»Ich habe etwas für Sie, Captain«, antwortete der Mann, der Charlotte über der Schulter trug. »Wir dachten, unser kleines Geschenk würde Sie vielleicht ein wenig aufheitern.«

Eine seltsame Mischung aus Aufregung und Angst erfasste Charlotte, als eine Tür in ihren Angeln quietschte und der Mann, der den Sack über der Schulter trug, ihn mit einem Ruck absetzte.

Jemand nestelte an seinem Verschluss, dann sank das Sackleinen an Charlottes Oberkörper herab, und sie zog es hastig hoch, um ihre Blöße zu bedecken.

Als sie endlich den Mut fand, aufzuschauen, blickte sie in die tiefblauen, verblüfften Augen von Patrick Trevarren.

2

Trotz ihrer Nacktheit und ihrer prekären Lage verspürte Charlotte so etwas wie Hoffnung, als sie in Mr. Trevarrens attraktives Gesicht blickte.

»Ich kann Ihnen alles erklären«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln.

Er schickte den Seemann fort und warf Charlotte eine weiße Decke zu, die auf dem Bett gelegen hatte. »Das möchte ich auch hoffen«, erwiderte er in nüchternem Ton.

Sie nahm die Decke, war jedoch zu schwach, um sich zu erheben. »Ich wurde entführt, als meine Freundin und ich den Souk verließen ...«

Patrick reichte Charlotte einen Holzbecher mit Wein und ließ sich dann an seinem Schreibtisch nieder.

»Es war ein ziemlich unangenehmes Erlebnis, Mr. Trevarren ...«

Stirnrunzelnd nahm er ihr den leeren Becher ab und füllte ihn aus einer Karaffe. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

Charlotte errötete und stürzte den zweiten Becher Wein hinunter, erleichtert und zugleich verletzt, dass Patrick sich nicht an ihre Begegnung vor zehn Jahren zu erinnern schien. »Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte sie leise. »Könnte ich bitte noch etwas Wein haben?«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Mr. Trevarren schroff und lehnte sich dann so gelassen in seinem Stuhl zurück, als sei es etwas Alltägliches für ihn, ein nacktes Mädchen in einem Sack geschenkt zu bekommen. »Sie sind jetzt schon beschwipst. Was Sie brauchen, ist etwas zu essen und ein heißes Bad.«

Einen derart unfreundlichen Empfang hatte Charlotte sich in all ihren Träumen über Patrick Trevarren niemals ausgemalt. »Wollen Sie nicht einmal meinen Namen wissen?«, fragte sie verwundert.

»Na schön.« Mr. Trevarren seufzte. »Wer sind Sie?«

Sein Mangel an Interesse erschütterte Charlotte, aber lieber wäre sie gestorben, als sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen. »Ich werde es Ihnen nicht verraten«, entgegnete sie spitz. »So! Wie fühlt man sich, wenn man so unhöflich behandelt wird?«

Er rieb sich den Nacken, wie Charlotte es von ihrem Vater kannte, wenn er sich über Lydia ärgerte. Dann stand Mr. Trevarren auf, packte Charlotte an den Schultern und zog sie auf die Beine. »Hören Sie mit Ihren Spielchen auf! Wir sind hier nicht im Kindergarten!«, fuhr er sie an.

Kaum lockerte er seinen Griff, gaben Charlottes Knie nach, und zu ihrer Beschämung sank sie auf den Fußboden zurück.

Patrick fluchte verhalten und hob sie auf, trug sie zum Bett und ließ sie recht unsanft auf die Matratze fallen.

Charlottes Augen wurden groß. Sie hatte sich diesen Moment unzählige Male vorgestellt, aber ihn wirklich zu erleben, war etwas völlig anderes. Ihre Kehle zog sich vor Angst zusammen.

Patricks Gesichtsausdruck wurde sanfter, er beugte sich über Charlotte und lächelte. »Ich habe nicht vor, Ihnen etwas anzutun«, versicherte er ihr leise. »Sagen Sie mir, wie Sie heißen.«

Charlotte begann jetzt die Wirkung des Weins zu spüren, und ihre Furcht zog sich hinter eine zunehmende dunklere Wand zurück. »Aphrodite«, erwiderte sie gähnend. »Tochter des Zeus.«

Als sie sich ihren Vater mit einer Toga bekleidet auf der Spitze seines ganz privaten Bergs Olympus in Puget Sound vorstellte, musste sie lachen. »Zeus’ Zorn ist furchtbar«, sagte sie kichernd. »Wenn mein Vater das erfährt, wird er außer sich sein.«

Seufzend richtete Patrick sich auf. »Es wäre sinnlos, jetzt mit Ihnen zu reden«, sagte er. »Schlafen Sie, Göttin.«

Charlotte zog die Decke bis unter die Nasenspitze. »Wagen Sie es ja nicht, mir Gewalt anzutun!«

Wieder lächelte er nachsichtig. »Keine Angst – reiche, verwöhnte Mädchen reizen mich nicht.«

»Verwöhnt?!« Charlotte wollte sich aufrichten, aber ihr fehlte die Kraft. Sie schloss die Augen, ließ sich in die Kissen zurücksinken und schlief augenblicklich ein.

Patrick schickte nach Cochran, der sofort kam und eine Schüssel warmes Wasser, saubere Tücher und eine Salbe mitbrachte. Er schaute das schlafende Mädchen lange an, bevor er mitleidig den Kopf schüttelte.

»Armes Ding. Sie scheinen sie sehr misshandelt zu haben.«

Patrick runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«, fragte er und schaute seinen Freund so wütend an, als sei Cochran persönlich für Charlottes bedauernswerten Zustand verantwortlich.

Der erste Maat lächelte. »Ich wollte damit nicht sagen, dass ihr Gewalt angetan worden ist. Die Entführer wissen genau, dass sie damit ihren Wert gemindert hätten ... Obwohl ich zugeben muss, dass es ein wahres Wunder ist, dass sie nicht doch der Versuchung erlegen sind.«

Patrick schluckte vor Erleichterung. »Sie will mir nicht sagen, wie sie heißt.«

»Wahrscheinlich misstraut sie dir.« Cochran zuckte die Schultern. »Wundert dich das, nach allem, was sie erlebt hat?«

»Nein«, gab Patrick widerwillig zu.

Charlotte drehte sich auf die Seite und wimmerte leise.

»Sie haben sie schlimm herumgestoßen«, bemerkte Cochran und deutete auf die dunklen Flecken an Charlottes Armen und Schultern. »Vielleicht sollten wir Ness kommen lassen ...«

»Ich werde ihre Wunden selbst versorgen«, fuhr Patrick auf, um dann etwas ruhiger hinzuzufügen: »Wir werden bald wissen, wer sie ist. Und dann schicken wir sie heim.«

»Hm«, erwiderte Cochran. »Dabei solltest du vielleicht bedenken, dass es Leute gibt, die in derartigen Situationen ein sehr eigentümliches Verhalten zeigen.«

»Was soll denn das schon wieder heißen?«

Cochran stand schon an der Tür. »Egal, ob die junge Dame nun entjungfert wurde oder nicht, gibt es Eltern, die sie als Ware aus zweiter Hand betrachten würden, als eine Art Familienschande. Viele würden sich sogar weigern, sie zurückzunehmen.«

Patrick schaute das schlafende Mädchen auf seinem Bett an, aber er sah nicht die Frau in ihm, sondern das Kind, das er vor so langer Zeit in Seattle aus der Takelage gerettet hatte. Es schmerzte ihn, dass ausgerechnet jene Menschen, denen sie vertraute und die sie liebte, sie nun vielleicht verstoßen würden. »Geh«, sagte er niedergeschlagen zu Cochran und hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss.

Sehr sanft schlug er dann die Bettdecke zurück und reinigte die zahlreichen Wunden der jungen Frau, bevor er sie mit Brandy abtupfte. Das Mädchen erwachte nicht, selbst dann nicht, als Patrick sie aufrichtete und in eins seiner Hemden kleidete.

Offensichtlich war sie zu Tode erschöpft. Der Gedanke erfüllte Patrick mit ungewohnter Zärtlichkeit, und er blieb eine Weile vor dem Bett stehen und betrachtete sie nachdenklich. Dann drehte er den Docht der Lampe herunter und ging an Deck.

Als er zurückkehrte, hatte sein schöner Gast im Schlaf die Decke abgestreift und ihre langen, wohlgeformten Beine entblößt, die so weiß und durchsichtig waren wie feinstes Porzellan.

Patrick setzte sich auf die Bettkante, streifte die Stiefel ab und begann seine Hose aufzuknöpfen. Dann folgte das Hemd – ein weites, am Hals offen stehendes Hemd von der Art, wie es Piraten trugen.

Vorsichtig, um die Schlafende nicht zu wecken, kroch Patrick ins Bett und rollte sich gähnend auf die Seite. Die Frau bewegte sich, streckte eine Hand aus und legte sie auf Patricks Po.

Sein ganzer Körper versteifte sich, vom Kopf bis in die Fußsohlen, und sein Glied stand plötzlich aufrecht wie der Hauptmast seines Schiffs. Mit einem verhaltenen Fluch rückte Patrick von dem schlafenden Mädchen ab, doch oben auf Deck wechselte die Wache und wurde noch einmal abgelöst, bevor er endlich Ruhe fand.

Als Charlotte erwachte, strömte heller Sonnenschein durch das geöffnete Bullauge, und sie war allein in der Kapitänskajüte. Zumindest nahm sie an, dass Mr. Trevarren der Kapitän des Schiffes war, wenn er eine solch komfortable Unterkunft sein Eigen nannte.

Während sie sich wohlig räkelte, sah sie, dass sie eins von Patricks Hemden trug. Er musste es ihr angezogen haben, als sie schlief.

Der Gedanke beschämte Charlotte, aber sie verschwendete nicht allzu viel Energie darauf. Eine andere Sorge beschäftigte sie viel mehr. Gestern, als sie Patrick erblickt hatte, war sie überzeugt gewesen, sich nun in Sicherheit zu befinden, in der Obhut eines Landsmannes. Doch nun, während sie über den sichtbaren Abdruck auf dem Kopfkissen neben ihr nachdachte, begann diese Überzeugung zu schwanken.

Eine jähe Angst erfasste Charlotte. Sie hatte Wein getrunken gestern Nacht und war danach in einen tiefen Schlaf gesunken ... war es möglich, dass Patrick die Situation ausgenutzt und sie ... entehrt hatte?

Errötend spreizte sie die Schenkel und berührte sich. Aber sie war weder wund, noch spürte sie sonst irgendetwas Ungewöhnliches – allerhöchstens ein leises Gefühl der Lust bei der skandalösen Vorstellung, Patrick könnte sie auf solch intime Weise berührt haben.

Beschämt zog Charlotte die Hand zurück.

Da klopfte es, und bevor Charlotte rufen konnte, dass sie allein sein wollte, trat Patrick ein.

Charlotte maß ihn mit einem ärgerlichen Blick. »Es schickt sich nicht, dass Sie hier drinnen sind!«

Mr. Trevarren lachte. »Irrtum. Es schickt sich nicht, dass Sie hier sind, Göttin. Denn dies ist immerhin meine Kabine.«

»Sie haben in diesem Bett geschlafen«, warf Charlotte ihm vor.

»Richtig, das tue ich sehr oft«, gab Patrick heiter zu. »Fühlen Sie sich heute Morgen etwas besser?«

Die Erinnerung an die sinnliche Erregung, die sie eben noch verspürt hatte, ließ Charlotte erröten. »Ja«, erwiderte sie knapp. »Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mich heimzuschicken ...«

»Gern.« Patrick hatte ein Tablett mitgebracht und schenkte aromatischen türkischen Kaffee ein. »Sie brauchen mir nur zu sagen, wie Sie heißen.«

»Charlotte.« Es ärgerte sie, dass er sich nicht an sie erinnerte, und aus einem Instinkt heraus verzichtete sie darauf, ihm ihren Familiennamen zu nennen. Der Name ›Quade‹ war im Staate Washington ein Symbol für Reichtum und Macht. Die Möglichkeit, dass Patrick nicht bloß der attraktive Kapitän eines schnellen Seglers war, sondern auch ein Sklavenhändler und Entführer, war nicht von der Hand zu weisen. Falls er merkte, welch hohes Lösegeld Charlotte einbringen würde, bedeutete das vielleicht erst den Beginn ihrer Leiden statt deren Ende.

Er brachte ihr eine Tasse Kaffee. »Charlotte«, wiederholte er nachdenklich. »Charlotte was?«

»Nur Charlotte.«

Patricks blaue Augen wurden schmal, und Charlotte machte sich schon auf eine Auseinandersetzung gefasst. Doch da lächelte er ganz plötzlich. »Sie machen es mir nicht leicht«, meinte er freundlich. »Vielleicht sollte ich Sie besser verkaufen, wenn wir anlegen, oder meinem Freund Khalif für seinen Harem schenken.«

Charlotte ließ vor Schreck fast ihre Tasse fallen. »Über solche Dinge scherzt man nicht! Finden Sie nicht, dass ich schon genug durchgemacht habe?«

»Sie sind eine freche Göre ...« Patrick verdrehte die Augen. »Und um einiges zu entgegenkommend nachts, wenn ein Mann nichts als seinen Schlaf will ...«

»Wie bitte?«

Patrick lachte und verschränkte die Arme. »Gut, jetzt scheinen Sie mir also endlich zuzuhören! Ja, Sie und ich haben gestern Nacht im selben Bett geschlafen, meine liebe Charlotte, und ich will verdammt sein, wenn Sie nicht die Hand ausstreckten und sie auf meinen Po legten!«

Zum ersten Mal in ihrem Leben errötete Charlotte so heftig, dass ihre Wangen schmerzten. »So etwas würde ich niemals tun!«

Patrick lächelte. »Doch. Gestern. Sie können froh sein, dass Sie es mit einem Gentleman zu tun haben.«

Charlotte war fassungslos: Mr. Trevarrens Dreistigkeit kannte keine Grenzen. O nein, das war ganz entschieden nicht der Mann, von dem sie zehn Jahre lang geträumt hatte! In einem jähen Anfall von Zorn griff sie auf ihr Holzfällerlager-Vokabular zurück.

»Wagen Sie es bloß nicht, sich in meiner Gegenwart als Gentleman zu bezeichnen, Sie ... Sie Teufelsbraten! Sie Sohn einer verlausten ...«

Patrick hob lachend die Hand und verbeugte sich vor Charlotte. »Keine Ursache, Miss Charlotte-ohne-Namen. Sie brauchen sich wirklich nicht bei mir zu bedanken.«

»Hinaus! Verschwinden Sie!«, zischte Charlotte.

»Das ist meine Kabine«, entgegnete Patrick ruhig. »Falls hier irgendjemand verschwindet, Göttin, dann höchstens Sie.«

»Gern! Sie brauchen mir nur etwas zum Anziehen zu geben, und dann bin ich so schnell weg, dass Sie glauben werden, eine Halluzination gehabt zu haben!«

Ihr Zorn schien Patrick zu amüsieren, pfeifend öffnete er eine Truhe und nahm eine schwarze Hose und einen breiten Ledergürtel heraus. Beides warf er Charlotte wortlos zu.

»Hosen?«, fragte sie verunsichert.

Patrick nickte lächelnd. »Ich fürchte, das ist alles, was ich habe, liebste Charlotte. Da ich selbst keine Kleider trage, sehe ich auch keinen Grund, welche in meiner Truhe mitzuführen.«

Charlotte schloss die Augen. »Wenn Sie mich bitte allein lassen würden«, sagte sie mit mühsam erzwungener Beherrschung.

»Selbstverständlich«, erwiderte er höflich, ging jedoch nicht hinaus, sondern drehte ihr nur seinen breiten Rücken zu.

Indem sie die Decken als eine Art Zelt benutzte, zog Charlotte rasch die Hosen an, die ihr viel zu weit um die Taille und um den Po herum zu eng waren, stopfte das Hemd in den Hosenbund und befestigte den Gürtel. Sie verspürte ein dringendes Bedürfnis, den Nachttopf zu benutzten, aber das war natürlich ausgeschlossen, solange Mr. Trevarren in diesem Raum war.

»Wo sind wir?«, fragte sie, um sich abzulenken, und trat an das Bullauge. Weit und breit nichts als türkisfarbenes Meer und weiße Sandstrände, hinter denen die endlose Wüste begann. »Gibt es hier eine amerikanische Botschaft?«

»Ich fürchte, nein, Göttin«, erwiderte Patrick belustigt. »Wir befinden uns allerdings ganz in der Nähe der Residenz des Sultans von Riz. Aber ich würde Ihnen nicht raten, an Land zu schwimmen, denn das Schiff ist von mindestens hundert Haien umringt, die auf die Küchenabfälle warten.«

Bevor Charlotte etwas erwidern konnte, knurrte ihr Magen, der an ein herzhaftes Frühstück gewöhnt war. »Ich will nach Hause«, murmelte sie kläglich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Zu Charlottes Überraschung verhielt Patrick sich jetzt doch wie sein Ebenbild aus ihren Träumen. Sanft strich er mit den Fingerspitzen über ihre Wange. »Bald«, sagte er rau. »Ich verspreche es, Charlotte. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun.«

Sie hätte ihm so gern geglaubt – so verzweifelt gern –, aber sie war nicht dumm und wusste daher, dass die Regeln in ihrem Leben seit ihrer Entführung eine bedeutende Veränderung erfahren hatten.

»Ihre Familie ... Würden Ihre Eltern Sie zurücknehmen?«, fragte Patrick nachdenklich.

»Warum sollten sie das nicht tun?«, erwiderte Charlotte empört.

Patrick musterte sie forschend. »Selbst angesichts der Tatsache, dass Sie selbst keine Schuld an der Entführung trugen – abgesehen von der idiotischen Idee, ohne männlichen Schutz im Souk herumzulaufen –, ist Ihr Ruf jetzt nicht mehr das, was er einmal war, Charlotte. Es gibt Leute, die Sie nicht mehr in ihren Salons empfangen und Sie auch nicht mehr auf der Straße grüßen würden.«

Patricks Feststellung war nicht nur unfair, sondern auch allzu wahr, und Charlottes Zorn entsprang zum Teil ihrer Verzweiflung. »Die Leute, die mir wichtig sind – mein Vater, meine Stiefmutter, meine Geschwister, meine Tante und mein Onkel, meine Cousins und meine Freunde –, würden mich nicht nur zurücknehmen, sondern freudig willkommen heißen!«, entgegnete sie aufgebracht.

Patrick zog sie in die Arme. »Natürlich werden sie das. Ganz bestimmt. Aber lassen Sie mich Ihnen jetzt etwas zu essen holen.«

Patrick war kaum hinausgegangen, da schob Charlotte hastig einen Stuhl unter die Türklinke und benutzte den Nachttopf.

Sie hatte ihn gerade wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückgestellt, als Patrick zurückkehrte und ihr ein Tablett mit Porridge, Brot, Butter, Marmelade und Kaffee brachte.

»Ich würde mich gern einmal auf Deck umsehen«, sagte Charlotte, als sie ihren ärgsten Hunger gestillt hatte.

Patrick blätterte in einem Logbuch. »Ein andermal«, erwiderte er gleichgültig. »Wir werden im Palast erwartet, Göttin. Mein Freund, der Sultan, hasst Enttäuschungen.«

Enttäuschungen? Also wollte Patrick sie anscheinend doch verkaufen ... oder verschenken. Charlottes Appetit war ihr vergangen, aber sein Blick auf ihre schlecht sitzende Kleidung brachte sie auf eine verzweifelte Idee. »Ich kann doch nicht in diesem Aufzug zu einem Besuch zu einem Sultan gehen!«

Patrick klappte das Buch zu. »Kein Problem«, erwiderte er geistesabwesend. »Es gibt genug Frauen im Palast. Sie können Ihnen etwas Passendes geben.«

Damit wandte er sich zur Tür.

»Warten Sie!«, rief Charlotte.

»Ja?«

»Ich will nicht in irgendeinen Harem verschleppt werden!«

Jetzt schien Patrick zu begreifen, ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Dachten Sie, ich würde Sie an Khalif verkaufen? Das war bloß ein Scherz, Göttin. Es handelt sich nur um einen Besuch beim Sultan, und es wäre schade, wenn Sie die exotischen Speisen, die Musik und den Tanz verpassen würden.«

Etwas in Charlottes Abenteurerseele regte sich, doch ihr Misstrauen war noch nicht ganz erloschen. Immerhin war ihre Lage sehr prekär. »Woher soll ich wissen, dass Sie die Wahrheit sagen?«

Patrick zuckte die Schultern. »Vertrauen Sie mir einfach«, sagte er und ging hinaus. Charlotte hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss herumdrehte.

Eine Stunde später erschien ein Seemann, um sie abzuholen und an Deck der Enchantress zu begleiten. Charlotte hatte so oft von dem Schiff geträumt und es so oft gezeichnet, dass sie sich auf dem Klipper schon fast zu Hause fühlte.

Patrick wartete an der Reling neben einer Strickleiter. »Soll ich Sie tragen?«, erkundigte er sich mit einer Zuvorkommenheit, die nur als Spott gewertet werden konnte.

Charlotte hatte als Kind mit ihrer Schwester Millie unzählige Bäume bestiegen und würdigte ihn daher keiner Antwort. Nach einem hochnäsigen Blick auf ihn schwang sie ein Bein über die Reling und stellte ihren nackten Fuß auf die erste Sprosse der Strickleiter.

Aber der Abstieg war schwieriger, als sie erwartet hatte, hauptsächlich wegen der dunklen Schatten, die sich unter der Wasseroberfläche tummelten. Charlotte bemühte sich, nicht zu den Haien herabzuschauen. Als starke Arme sie umfingen und ins Beiboot hoben, atmete sie erleichtert auf.

Zwei Männer in Burnussen und Turbanen warteten am Strand. Bei ihrem Anblick drängte sich Charlotte näher an Patrick und hoffte, dass er sein Wort halten und sie wieder mitnehmen würde, wenn er den Palast verließ.

Doch dann forderte er sie zu ihrem Schrecken auf, den beiden Arabern zu folgen. »Und was auch geschehen mag«, fügte er warnend hinzu. »Sie dürfen ihnen niemals widersprechen! Wenn die Zeit zum Aufbruch kommt, lasse ich Sie holen.«

Als der größere der beiden Männer Charlottes lange Hosen und das weite Hemd sah, verzog er missbilligend das Gesicht, klatschte in die Hände und schrie etwas. Zwei Frauen in seidenen Gewändern, aus denen nur Hände und Augen hervorschauten, erschienen und nahmen Charlotte in ihre Mitte.

Über einen gepflasterten, von hohen Wänden umgebenen Hof führten sie sie in das Innere des Palastes. Ihre dunklen Augen verrieten Verwunderung und Betroffenheit, während sie Charlotte über einen Gang scheuchten, der in einem prächtigen Raum mit Kissen, Sofas, Teppichen und Springbrunnen endete.

Eine der Frauen klatschte in die Hände, so herrisch wie der Mann am Strand, und überall erhoben sich Frauen von Sofas und Sitzkissen und begannen Charlotte zu umringen. Kichernd deuteten sie auf ihre Männerhosen und ihre nackten Füße und berührten zaghaft, als fürchteten sie sich vor Läusen oder Flöhen, ihr schmutziges Haar.

Charlotte konnte sich nicht entsinnen, sich jemals in ihrem Leben so erniedrigt gefühlt zu haben. Doch neben ihrer Angst empfand sie auch eine gewisse Neugierde. Immerhin war sie die erste junge Frau in ihrem Freundeskreis, die einen Sultanspalast betreten hatte. »Spricht hier jemand Englisch?«, fragte sie höflich.

Ein Schwall von Gelächter und Getuschel war die Antwort: Charlotte wurde an der Hand genommen und zu einem großen Wasserbecken geführt. Dann zogen die Frauen ihr die geborgten Kleider aus, und obwohl Charlottes erster Impuls war, sich zu wehren, wusste sie, dass es sinnlos wäre. Ein Dutzend Frauen, die alle recht kräftig wirkten, umringten sie.

3

Das Wasser in dem gekachelten Becken war angenehm warm, und in den Wasserdampf mischte sich das Aroma von Moschus, Zimt, Rosen und Gardenien. Angesichts Patricks Versicherung, dass sie im Sultanspalast nichts zu befürchten habe, überließ sich Charlotte den zwar auferzwungenen, aber keineswegs unangenehmen Zuwendungen der Haremsdamen.

Jeder Zentimeter ihrer Haut, mit Ausnahme ihres Gesichts, wurde mit Bimsstein abgerieben, ihr Haar mit Eigelb gewaschen, ausgespült und noch einmal gewaschen. Als die Prozedur beendet war, befand sich Charlotte in einem Zustand solch gründlicher Entspannung, dass die Frauen sie halb führten, halb aus dem Becken trugen.

Nachdem sie mit weichen Tüchern abgetrocknet worden war, legte man sie mit dem Gesicht nach unten auf eine mit rotem Samt bezogene Couch. Eine Frau kämmte behutsam ihr Haar, während eine andere duftendes Öl in ihre Haut massierte. Charlotte seufzte zufrieden, als sie spürte, wie auch die letzte Spannung aus ihren Muskeln wich.

Eine wohlige Trägheit, wie nach dem Genuss von süßem Wein, breitete sich in ihren Gliedern aus, als jemand sie zudeckte und die Frauen sich entfernten, um sie ruhen zu lassen. Wie aus weiter Ferne nahm Charlotte das leise Klingen fremder Instrumente wahr, das Plaudern heller Frauenstimmen und das Plätschern von Wasser.

Sie träumte, an Bord der Enchantress zu sein und nackt und parfümiert auf Patricks Bett zu liegen. Und er berührte sie ...

»Wie schön sie ist«, sagte eine sanfte Stimme, und jemand strich Charlotte das feuchte Haar aus der Stirn. »So schön, und so weit entfernt von ihrer Heimat.«

Die Tatsache, dass es englische Worte waren, drang irgendwann zu Charlottes Bewusstsein vor, und langsam hob sie die Lider. Eine blauäugige, blonde Frau Anfang Dreißig stand vor ihrer Liege und schaute lächelnd auf sie herab.

Ihre Hände waren mit Hennapulver gefärbt, eine Sitte, von der Charlotte schon gelesen hatte. Das seidene Gewand, das die Frau trug, war an den Ärmeln und am Ausschnitt mit winzigen silbernen Vögeln bestickt. Ihr blondes Haar fiel ihr in weichen Wellen auf die Schultern.

»Ich bin Alev«, sagte sie, »eine der Favoritinnen des Sultans. Und bald schon werde ich eine Kadin sein.«

Charlottes Augen weiteten sich vor Überraschung. Da sie und ihre Freundinnen während der Schulzeit in Paris unzählige Romane über den Orient und über Haremsdamen gelesen hatten, erkannte sie, dass Alev die Stellung einer Ehefrau anstrebte.

»Sie werden bestimmt auch bald zu seinen Favoritinnen gehören«, fuhr Alev mit einer gewissen Trauer fort. »Vielleicht tanzen Sie sogar schon heute Nacht für Khalif, und falls Sie seine Gunst erringen, werden Sie sein Lager teilen.«

Charlotte richtete sich so ruckartig auf, dass die andere Frau zurückwich, und erst da sah Charlotte, dass sie hochschwanger war.

»Ich werde mit niemandem ein Lager teilen«, erklärte Charlotte schroff. »Ich bin eine Freundin von Captain Trevarren und werde mit ihm weiterreisen, sobald er den Palast verlässt.«

Alev betrachtete Charlotte mitleidig. »Sie sind noch sehr naiv. Aber bald werden Sie mehr über Männer und Harems erfahren.«

Charlotte blinzelte verwirrt. »Sie irren sich! Ich bleibe nicht!«, beharrte sie nervös.

Alev strich ihr über das Haar. »Wie Sie meinen«, stimmte sie seufzend zu. »Aber es ist schön hier. Wir haben jeden erdenklichen Luxus, und Khalif ist kein schlechter Herr.«

»Wer sind Sie?«, fragte Charlotte stirnrunzelnd, mit einem vielsagenden Blick auf Alevs blondes Haar. »Sie können unmöglich hier in Riz geboren sein.«

Alev seufzte und ließ sich auf einer Couch nieder. »Früher hieß ich ›Olive‹. Piraten kaperten unser Schiff, als ich auf der Überfahrt von England nach Frankreich war, wo ich ein Internat besuchen sollte.«

Charlottes Kehle wurde eng vor Mitgefühl. »Wie alt waren Sie?«

»Sechzehn«, antwortete Alev so gleichmütig, als geschähen solche Dinge täglich. Und vielleicht ist es in diesem Teil der Welt auch so, dachte Charlotte betroffen.

»Sie müssen entsetzliche Angst gehabt haben!«, sagte sie und ergriff Alevs Hand. »Warum hat die Regierung nichts unternommen?«

Alev lächelte. »Die Regierungen sind längst nicht so begierig, einem einzelnen Bürger zu Hilfe zu eilen, wie wir glauben. Natürlich hatte ich anfangs große Angst – bis ich den Luxus, der uns hier umgibt, zu schätzen lernte. Ich werde sehr verwöhnt, habe einen Sklaven ganz allein für mich und einen eigenen Pavillon. Khalif gibt mir alles, was ich haben will, und ist ...« Sie brach ab und wandte errötend den Blick ab. »Er ist sehr attraktiv«, fuhr sie verlegen fort. »Er weiß, wie man eine Frau glücklich macht.«

Auch Charlotte errötete. Sie wusste natürlich Bescheid über die intimen Beziehungen zwischen Mann und Frau, weil sie im amerikanischen Westen aufgewachsen und in Paris zur Schule gegangen war. Doch da sie und ihre Freundinnen noch keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt hatten, haftete dieser Sache für sie noch immer etwas Geheimnisvolles an. »Glücklich?«, wiederholte sie verschämt, obwohl sie wusste, wie indiskret die Frage war.

»Warten Sie ab«, entgegnete Alev mit einem verschmitzten Lächeln. »Wenn Sie Khalifs Lager teilen, wird er Ihnen zeigen, wie wundervoll es ist, eine Frau zu sein.«

Ihre Worte waren kein nennenswerter Trost für Charlotte; wie attraktiv Khalif auch sein mochte, sie hatte nicht die Absicht, ›sein Lager zu teilen‹, wie Alev es nannte. Es gab überhaupt keinen Mann, bei dem sie sich dergleichen je vorgestellt hätte, mit Ausnahme von Patrick vielleicht. In einem Anfall von Panik ballte sie die Fäuste. Hatte der Kapitän gelogen, als er versprach, sie mitzunehmen, wenn er Riz verließ?

»Sie haben sicher Hunger«, bemerkte Alev ganz richtig. »Mit einem vollen Magen sieht die Welt nicht mehr ganz so düster aus.« Auf ihr Händeklatschen hin eilte ein junges Mädchen herbei.

Alev sprach in fließendem Arabisch mit der Kindfrau, die davoneilte, um ihren Befehl auszuführen. »Pakize wird Ihnen etwas bringen«, sagte die zukünftige Kadin. »Und nun erzählen Sie mir, wie Sie in Gefangenschaft geraten sind.«

Charlotte unterdrückte ihren Protest hinsichtlich Alevs Wortwahl; schließlich war sie tatsächlich eine Art Gefangene seit jenem unglücklichen Tag, an dem sie auf die Idee gekommen war, den verbotenen Souk aufzusuchen. Mit heftigen Gewissensbissen dachte sie an Bettina und fragte sich, welch schreckliches Schicksal ihre arme Freundin ereilt haben mochte, bevor sie Alev zögernd und immer wieder stockend die Geschichte ihrer Entführung erzählte.

Alev zeigte keine Überraschung, anscheinend war sie an derlei Berichte gewöhnt. »Sie waren also Amerikanerin«, sagte sie. »Das dachte ich mir schon, durch den Akzent.«

»Ich bin Amerikanerin«, berichtigte Charlotte sie. »Und sobald ich zu Hause bin, werde ich den Boden küssen und mich nie wieder beklagen, wie langweilig und provinziell Quade’s Harbor ist!«

Alev drückte wortlos Charlottes Hand, um ihr zu verstehen zu geben, dass es eine hübsche Vorstellung war, die bald der Realität zu weichen hatte.