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Im vierten Band der regionalen Jugendkrimireihe um Tim und seine Freunde geht es um einen historischen Kriminalfall. Ausgerechnet in den Herbstferien stürmt es so sehr, dass ein Baum auf das Dach der Johanns stürzt! Tim muss seine geliebte Dachkammer räumen und wird vorübergehend bei Tante Mathilda in Vohwinkel einquartiert. Sie wohnt am Waldrand neben einem Schloss. Lebten dort tatsächlich Ritter und in dem Wald ein Robin Hood von Lüntenbeck? Kurz darauf machen Frederick und er eine unheimliche Entdeckung. Sie fragen sich, was suchen die Archäologen, die ihr Camp im Wald aufgeschlagen haben, wirklich? Für Tim und seine Freunde steht fest, dass sie sich mit allen Kräften auf die Suche nach der Lösung dieses verzwickten Falls begeben müssen, in den auch Oberkommissar Hansen verwickelt zu sein scheint. Dabei ahnt Tim noch nicht, welche besondere Herausforderung auf ihn wartet. Alle Bände der Reihe spielen in Wuppertal in unterschiedlichen Stadtteilen. Bisher erschienen sind "Stille Wasser oder der Beyenburger Fall", "Langer Atmen oder der Ölberger Fall" und "Dickes Fell oder der Cronenberger Fall".
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Teil 1
01 Alle unter einem Dach?
02 Dann aber gute Nacht!
03 Ritter und andere Räuber
04 Heute Hü und morgen?
05 Jemand bekommt kalte Füße
06 Weder Stamm noch Baum
Teil 2
07 Hier steppt der Bär
08 Wer versteht nur Bahnhof?
09 Die Gespenster der Vorfahren
10 Licht im dunklen Verlies?
11 Tim auf dem Holzweg?
12 Das Glück der Geburt
Anhang
Tims Steckbrief
Weitere Personen
Historische Personen
Kleine Wörterkunde
Sonntag, 4. Oktober
Erst heute kann ich über den Vorfall schreiben. Ich komme mir vor, als ob ich aus einer Schockstarre erwache. Es ist seltsam, dass einem seine eigene Geschichte so tieftraurig erscheint. Letzte Woche hat ein Sturm unseren alten Apfelbaum, der sich schon immer leicht geneigt hat, auf das Dach unseres Häuschens gekippt. Der Baum ist einfach umgefallen, als sei er aus Pappe, und hat trotzdem mit aller Wucht das Dach zum Teil einkrachen lassen. Durch das kaputte Fenster und das Loch, das da jetzt noch unter dem Fenster klafft, hat es kräftig reingeregnet. Papa, Mama, Oma Helga, meine Schwester Klara und ich sind noch immer alle total geschockt. Nachdem es passiert ist, haben wir natürlich sofort versucht, das Loch mit allerlei Material abzudichten. Das ist nur teilweise gelungen.
Mein Vater hat ins Handy gebrüllt, weil der Wind so laut geheult hat, und alle befreundeten Nachbarn mobilisiert. Mit vereinten Kräften und mithilfe eines kleinen Krans, den einer der Nachbarn organisieren konnte, haben sie den Baum vom Dach zurück in den Garten geworfen. Dann haben wir doch noch alles einigermaßen dicht gekriegt. Aber oben ist alles nass gewesen. Ich kann mal wieder meine Sachen packen und für unbestimmte Zeit meine Dachkammer räumen.
Ich fühle mich wie ein Nomade, der keinen festen Wohnsitz hat, geschweige sein eigenes Zimmer. Bei Onkel Paul kann ich nicht unterkommen. Es sei gerade ungünstig, hat er am Telefon herumgedruckst. Er werde schließlich in seinem Alter ganz sicher nur einmal Vater. Da gäbe es jetzt viel zu organisieren und zu regeln und er könne im Moment nicht noch mehr Aufregung vertragen.
Ich bin sprachlos über so wenig Mitgefühl und kann mich nicht wirklich für ihn freuen. Auch, wenn ich seine Tordis mittlerweile wie verrückt mag. Onkel Paul hat mir schon einmal seine Gästecouch angeboten. Das war, als Oma wegen Mamas operierter Hüfte zu uns gezogen ist und wir das Haus umbauen mussten. Immerhin, das rechne ich ihm hoch an! Mama geht es zum Glück wieder viel besser. Sie läuft mit einem Gehstock herum. Und wo Onkel Paul wohnt, nämlich im Stadtteil Elberfeld, ist es im Nachhinein nicht so schlecht gewesen.
Tante Annette und Onkel Oskar sind wie so viele verreist. Nach langem Hin und Her hat sich dann Tante Mathilda erbarmt und mir eine Kammer in Aussicht gestellt, als sie durch Papa von meiner Notlage erfahren hat. Mama hat gemeint, ihre Schwägerin hätte doch ein goldenes Herz. Meine Tante hat ihr Haus gegenüber vor kurzem verkauft und ist nach Vohwinkel gezogen, ans andere Ende von Wuppertal. Sie hat unserem Stadtteil Beyenburg für immer den Rücken gekehrt und ist mit ihrem neuen Mann zusammengezogen. Für ihn ist es von dort näher nach Düsseldorf, wohin er jeden Morgen zu seiner Arbeit fährt. Es wird keinen Spaß machen, bei ihnen zwischen unausgeräumten Kartons zu hausen, wo es vermutlich noch nach Farbe stinken wird. Ich werde mich in den Herbstferien zu Tode langweilen.
Ich schaue auf mein wirres Gedankengekritzel. Aber es hilft nichts, hier kann ich nicht bleiben. Das Haus ist ohne meine Dachkammer für uns alle viel zu klein. Mir reichen die paar Tage, die ich bei Klara im Zimmer zugebracht habe. Sie ist wie ich nicht begeistert darüber, dass ich kurzfristig bei ihr eingezogen bin. Auch, wenn wir uns äußerlich ähneln – wir haben beide die Johannschen rotblonden Haare geerbt – sind wir eben doch oft wie Feuer und Wasser.
„Es ist doch nur eine Übergangslösung“, hat Papa gebrummt, mit den Schultern gezuckt und sich am Bart gekratzt.
Oma Helga hat versucht, mir aufmunternd zuzuzwinkern.
„Volker, was das alles kosten wird!“
„So schlimm wird es doch bestimmt nicht, Irene!“ Oma hat das tröstend in Richtung Mama gesagt und dann ihre Hände in die Hüften gestemmt.
„Einen Schweden und erst recht einen Johann kann doch so leicht nichts erschüttern!“ Womit sie ihre Familie im Allgemeinen und ihren Sohn, also meinen Vater, im Besonderen meint. Mein Vater heißt mit vollem Namen Volker Magnus Johann und ist in Schweden geboren. Den Nachnamen haben wir alle, die Dickköpfigkeit nur ich geerbt. Das behauptet zumindest Oma.
„Ich lasse mir einen Kostenvoranschlag geben, dann wissen wir mehr“, hat Papa daraufhin seufzend festgestellt. Nur die Ferien machten ihm Sorgen, er bekomme nie im Leben so schnell einen Dachdecker. Ohnehin würde keiner bei so stürmischem Wetter freiwillig aufs Dach steigen.
Montag, 5. Oktober
Meine Gedanken schweifen ab. In meinem Kopf wiederholt sich das Geräusch der zerberstenden Äste, das mich an splitternde Knochen erinnert. Es lässt mich frösteln. Holz kann erstaunlich leicht brechen, wenn es ausgehöhlt ist oder morsch. Das bringt mich zurück zu meinem Referatsthema „Die Ritter im Mittelalter“, über dem ich gerade brüte! Ich bin zwar kein Streber, aber so lenke ich mich wenigstens von meinem eigenen Unglück ab.
Ich lese etwas über die ersten Burgen. Sie sind tatsächlich nicht aus Stein, sondern aus Holz gebaut. Eigentlich bestanden sie nur aus einem Turm und einem Wall drumherum. Besonders stabil waren diese Burgen nicht. Aber auch Steinhäuser können etwas abbekommen, wie man an unserem Haus sieht. Papa spricht von kleinen Rissen in den Wänden.
Nichtsdestotrotz haben die Leute in den Holzburgen früher Schutz gesucht und gefunden. Es ist mir klar, dass Ritter auch ohne Baumabsturz in zugigen Burgen gehaust haben. Weil es noch keine Fenster gegeben hat, dürfte das Zugige die daran gewöhnten Ritter kaum gestört haben. Oder doch?
Ich sitze in dem winzigen Arbeitsraum meiner Eltern am Schreibtisch, neben mir die gluckernde Heizung, während mein Vater oben fluchend den Dachboden auf Schäden untersucht. Er fotografiert sie für die Versicherung. Ich entdecke, dass sich ein kleiner Wasserfleck an der Decke gebildet hat. Über mir sein Stampfen, das ich versuche, auszublenden.
Statt mich auf meine düsteren Gedanken zu konzentrieren, lese ich im Netz über den Alltag der Ritter. Sie hatten keine Telefone, Computer oder Autos. Es gab in der Ritterzeit stattdessen Boten auf Pferden und zu den weit entfernten Märkten wird mit einem Ochsenkarren gefahren, um Waren zu kaufen, zu verkaufen und Neuigkeiten auszutauschen. Ohne Strom, Toilettenspülung oder Banken mussten sie auskommen. Sie haben im Kerzenschein gesessen, ihren verrottbaren Müll in den Hof gekippt und das Geld in Truhen weggeschlossen. Ihr Wasser haben sie aus Brunnen geholt und wenn sie mal mussten, haben sie sich auf ein Brett über einen Schacht in einer Nische gesetzt. Solche „Geschäfte“ sind im Graben gelandet.
Unbequeme Zustände waren das. Das ist es bei mir jetzt auch, wenn auch anders unbequem. Ich übernachte im Schlafsack auf einer Isomatte auf dem Fußboden und spüre alle meine Knochen. Vor Wut beiße ich mir auf die Lippen, bis es weh tut, damit mir nicht die Tränen kommen, dass es mich wieder trifft. Wieso werde gerade ich vom Pech verfolgt? Draußen höre ich den Regen an das Fenster klatschen und den Wind ums Haus heulen. Ausgerechnet jetzt sind meine besten Freunde Frederick, Sonny und Narek nur schwer erreichbar.
Narek ist gerade schreibfaul, was Nachrichten angeht. In den wenigen Nachrichten hat er auch begründet warum. Er paukt mit seinem Vater fast ohne Pause Straßennamen, hat er mir geschrieben. Sein Papa, Arthur Amadouni, ist vor kurzem als Taxifahrer eingestellt worden. Er muss dafür in der ersten Ferienwoche eine Prüfung ablegen. Denn falls das Navi mal ausfällt, hilft es zu wissen, wo man ist. Nareks Vater ist ein guter Fahrer. Er kann aber in Stresssituationen, wie vor einer Prüfung, ein ziemliches Nervenbündel sein, was wohl mit seiner Flucht aus Syrien zusammenhängt. Deshalb will er sich auf die Prüfung gut vorbereiten, damit er nicht die Nerven und womöglich den neuen Job sofort wieder verliert.
Sonny ist am weitesten weg, nämlich auf echter Safari. Sie hat kaum Netz. Sie besucht ohne ihre Mutter und ihre Schwester ihren kenianischen Vater Hasani Dawamu, der aus Heimweh ganz in seinen Heimatort zurückgekehrt ist. Früher ist er sehr viel hin und her geflogen, um seine Töchter zu besuchen. Aber seine Rosenfarm lässt ihm immer weniger Zeit. Deshalb ist Sonny ganz aus dem Häuschen, dass sie einen Teil ihrer Ferien bei ihm verbringen kann. Ihre Mutter Marisa Grisanti muss arbeiten und hat sie zum ersten Mal alleine in die Ferien geschickt. Greta, ihre Schwester, ist echt neidisch gewesen. Ihre Ferienkinderbetreuung kann nicht mit Sonnys Reise mithalten, das sehe ich ein. Sonny und ihr Vater schauen sich tatsächlich Sonnys Lieblingstiere – echte Giraffen! – an. Sie schickt mir in unregelmäßigen Abständen ein paar Bilder von sich, den Tieren, ihrem Vater und der Farm. Sonny strahlt mit ihren grünen Augen, dem rötlich schimmernden dunkelbraunen Haar und samtiger brauner Haut auf jedem Foto mit dem dortigen schönen Wetter um die Wette.
Sie würde am liebsten noch länger bleiben als bloß die nächste Woche, schreibt sie, was mir einen Stich versetzt. Ich hoffe inständig, dass da ihre Mutter, die seit der Trennung ihre beiden Töchter alleine großzieht, auch noch ein Wörtchen mitzureden hat. Ich muss mir eingestehen, ich vermisse Sonny jetzt schon mehr als mir lieb ist.
Zum Glück kommt Frederick übermorgen von dem verlängerten Wochenendtrip zurück. Sein Vater Ewald ist bei der Polizei. Als Ermittler in unserem Stadtteil Wuppertal-Beyenburg war er nicht gerade glücklich darüber, dass wir seine letzten Fälle fast im Alleingang geknackt haben. Na ja, nur fast im Alleingang. Weil er danach zum Oberkommissar befördert wurde, ist er seitdem in der Stadt Ansprechpartner bei schwierigen Fällen.
Ewald Hansen ist sicher auch ein klitzekleines bisschen stolz auf uns, nur kann er das natürlich nicht zugeben, das liegt ja auf der Hand. Ich vermute, dass er die Reise organisiert hat, damit Frederick nicht schon zu Beginn der Ferien zu viel mit mir zusammen ist und auf dumme Gedanken kommt oder wir womöglich auf neue Fälle stoßen können. Familie Hansen besucht also Oma Doris, die Mutter von Eva Hansen, in Berlin-Weißensee. Da ich Sonny und Narek kein schlechtes Gewissen machen will, dass sie nicht hier sein können, um mir Beistand zu leisten, schicke ich nur Frederick eine Nachricht, dass ich umziehen muss. Er wird im Gegensatz zu den anderen bald wieder Zeit haben.
Dienstag, 6. Oktober
Am nächsten Morgen sitze ich, nachdem mich Papa auf dem Weg zur Arbeit zum Bahnhof gebracht hat, in der S-Bahn und fahre meinem vorübergehenden Unterschlupf entgegen. Es ist noch früh. Ich sitze in einer Bahn, deren Sitzpolster noch neu riechen und deren Türen zischen, wenn sie sich öffnen.
Währenddessen überlege ich, dass man sich bei jedem Ärger fragen kann, ob er in einem Jahr noch eine Bedeutung für einen hat. Ich bin sicher, dass mit dem Trick mir noch schneller klar werden wird, dass der Ärger vielleicht doch nicht so überwältigend groß ist und er im Nullkommanichts wieder verfliegen kann. Das klappt bei mir aber nicht. Der Ärger ist noch da. Er sitzt tief in meinem Bauch und grummelt vor sich hin. Das monotone Geräusch des fahrenden Zuges macht mich schläfrig, bis ich auf einmal aufgeschreckt bin.
„Nächster Halt Vohwinkel, Ausstieg in Fahrrichtung rechts“, tönt eine piepsige Stimme aus den Lautsprechern.
Ich bin zu weit gefahren, fährt es mir durch den Kopf. Ich hätte, um zu meiner Tante zu kommen, vorher in Sonnborn aussteigen müssen. Sie wohnt im Viertel Lüntenbeck. Ich war gestern zu lange wach und habe im Bett über meine finster erscheinende Zukunft gegrübelt. Hektisch springe ich auf und fische meine Sporttasche, die ich notdürftig gepackt habe, aus dem Gepäckfach. Dabei packe ich den Griff fester und werfe sie mir über die Schulter. Sieht einfach lässiger aus, sie so zu tragen.
Ich steige aus, Nieselregen weht mir entgegen. Ich schließe meinen Jackenkragen. Der Bahnsteig wirkt verlassen. So verlassen, wie ich mich fühle. Niemand will hier ein- oder aussteigen. Nur ich bin in diesem gottverlassenen Vohwinkel!
Das stimmt nicht so ganz. Als ich durch die Unterführung laufe und dann in die Bahnhofshalle trete, sind da viele Fahrgäste auf dem Weg zu einem der Gleise. Eine Gruppe Rentner, die Plakate ausgedruckt hat, ist noch nach mir ausgestiegen. Sie wollen offensichtlich zu einer Demonstration und drängen lautstark an mir vorbei. Auf den Schildern aus Pappe ist zu lesen: „Osterholz bleibt!“, „Bäume schützen!“ und „Klimaschutz bleibt Handarbeit!“ Ich verstehe nicht, was damit gemeint sein soll. Wieso hat Klimaschutz etwas mit Handarbeit zu tun? Ist das falsch formuliert? Oder ist damit der Gegensatz zu den Maschinen gemeint, die Kohle, Kalk, Sand oder Kies wegbaggern und damit auch die Bäume? Tante Mathilda hat davon gesprochen. In Vohwinkel gibt es ein Stück Wald, das wegen einer Firma, die Kalk abbaut, abgeholzt werden soll.
Das Navi meines Handys zeigt mir an, dass ich das zu weit gefahrene Stück mit dem Bus zurückfahren muss. Mit dem Bus ist die Verbindung zu Tante Mathilda schneller als mit der Bahn, obwohl ich noch umsteigen muss. Nach einer Viertelstunde bin ich an meinem Ziel angekommen. Tante Mathilda wartet schon, sie steht in der Tür und winkt. Ich winke zurück. Wahrscheinlich hat sie schon hinterm Fenster gelauert und auf mich gewartet.
Das Haus im Lüntenbecker Weg ist größer, als ich gedacht habe. Das Haus selbst nicht, aber es hat einen Anbau. Ich öffne ein kleines Gartentor zwischen zwei niedrigen Hecken und gehe über den kurzen Rasen auf meine Tante zu.
„Da bist du ja, ich freue mich, dass du da bist!“, sagt sie, drückt mich kurz und nimmt mir die Tasche ab.
„Die Schuhe musst du ausziehen. Der Teppich und der Holzboden sind ja noch ganz neu.“ Ich mache das, worum sie mich bittet, und laufe auf weichem Teppich hinter ihr her ins Wohnzimmer. Entgegen meiner Befürchtungen riecht es nicht mehr nach Farbe. Alles ist in Schränke eingeräumt. Es sieht nicht nach Umzug aus. Ich sehe bunte Glasobjekte, Schallplatten und Bücher in den Fächern der Regale. Neben einer großzügigen Sofagruppe steht ein Esstisch mit Stühlen, über dem filigrane Glaslampenschirme hängen. Der Raum ist hell. Er ist weiter hinten durch eine halb geöffnete Schiebetür von der Küche abgeteilt. Die eine ganze Wand einnehmende Fensterfront zeigt eine Holzterrasse und einen Garten, in dem Haselnuss-Sträucher und ein Apfelbaum stehen. Unter dem Baum liegen heruntergefallene Äpfel, daneben entdecke ich einen kleinen Teich. Mir krampft sich der Magen zusammen. Ich denke an unseren umgefallenen Apfelbaum und an Papa, wie er bestimmt während seiner Arbeit in seinem Zahnlabor mit der Versicherung und Handwerkern telefoniert. Kann ich nicht einmal in Ruhe zu Hause meine Ferien verbringen?
In dem Notizbuch, in das ich gerade geschrieben habe, schaue ich mir meine letzten Einträge an. Ich liege inzwischen auf dem Gästesofa meiner Tante. Es ist schon verrückt, was ich alles erlebt habe und, dass wir erst vor zwei Monaten einen Fall aufklären konnten. Mittlerweile sind es drei Fälle! Nicht zu glauben! Sonny, Frederick, Narek und ich sind ein gutes Team.
Klara ist auch eine tolle Unterstützung gewesen, das muss ich gerechterweise zugeben. Meine Schwester und ich sind zwar nicht immer einer Meinung, aber sie ist okay und hat sich sofort bereit erklärt, als wir ihre Hilfe brauchten. Allerdings kann ich ehrlicherweise darauf verzichten, in ihrem Zimmer zu wohnen. Jede freie Minute ist sie bei ihrem Pflegepferd Filomena. Ich kann das schwärmerische Wort „Filli“ nicht mehr hören! Weil sie fast jede Minute im Stall herumlungert oder auf dem Pferderücken sitzt, liegt ihr Reitzeug, das meiner Meinung nach viel zu sehr nach Pferd müffelt, auch überall im Zimmer herum. So gesehen, nach all den Abenteuern und bei der beengten Lage zu Hause, kann ich mich wohl nicht beschweren, dass ich heute hier bin. Trotzdem fühle ich mich wie ein hilfloser Wal in einer einsamen Bucht und kann vorerst nichts daran ändern, dass ich hier in Vohwinkel gestrandet bin.
Die Kammer, in der das weiße Sofa steht, ist kleiner als mein Dachzimmer zu Hause. Die Wände sind hellgrau gestrichen. Ein dunkler Holzschrank und das Sofa stehen in der Kammer, sonst nichts. Die Sonne hat mittlerweile die Wolken durchbrochen, es hat aufgehört zu regnen. Die Sonnenstrahlen scheinen durch die Dachluke ins Zimmer. Anders kann man die winzige Öffnung nicht bezeichnen. Ich seufze und beschließe, einen Teil des Inhalts meiner Sporttasche in den Schrank zu räumen.
Außer meiner Kleidung für die nächste Woche habe ich noch meinen Kulturbeutel, ein zweites Paar Schuhe, mein Notizbuch, Stifte, zwei Bücher sowie einen Vorrat an glutenfreiem Brot fürs Frühstück mitgebracht, das ich noch zu Hause hatte. Eins der Bücher handelt von Rittern und eins ist ein Pflanzen-Bestimmungsbuch. Mein Fahrrad und meine Gitarre habe ich zu Hause gelassen. Papa hat gemeint, dass mein Aufenthalt hier nicht so lang dauern wird und ich nicht gleich den Auszug aus Ägypten proben muss. Er meint damit, dass ich nicht gleich mit Sack und Pack umziehen soll und für die Zeit hier gut auf den meisten Kram verzichten kann. Nur auf glutenfreie Lebensmittel wie Brot kann ich es nicht. Da ich Zöliakie habe, vertrage ich kein Gluten und während des vorletzten Falls ist die Unverträglichkeit des Getreideeiweißes für mich so gefährlich geworden, dass ich das Bewusstsein verloren habe. Das ist wirklich grenzwertig gewesen. Tante Mathilda hat hoch und heilig versprochen, aufzupassen, dass ich bei ihr nur das zu essen bekomme, was ich auch vertragen kann. So weit, so gut.
Allerdings gibt es hier vorerst so gut wie nichts für mich zu tun. Das hat jetzt nichts mit meinem nicht mitgenommenen Zeug zu tun. Hier gibt es kein alternatives Schwimmtraining, so viel ich weiß. Da kann ich mir von meinem Trainer Wolf Kasemann sicher nach den Ferien einiges anhören, dass ich mich nicht gegen meinen Vater durchgesetzt habe und in den nächsten zwei Wochen alles bei ihm ausfallen lasse. Ich sehe seine kritische Stirnfalte vor mir. Aber den wirft so schnell nichts um! Er ist auf jeden Fall mein Vorbild: klein, aber muskulös und vor allem zäh. Ein richtiges Kraftpaket!
Tante Mathilda hat erzählt, dass es hier immerhin einen Wald gibt. Da kann ich wenigstens ein paar Pflanzen bestimmen oder Bäume. Jeder Baum hat eine andere Rinde. Allerdings ist es bestimmt öde, alleine durch den Wald zu wandern. Ob Frederick sich bereit erklärt, mit mir die Gegend zu erkunden? Ich kenne hier doch niemanden!
Mittwoch, 7. Oktober
Ich habe mich getäuscht. Das Kennenlernen geht hier in der Nachbarschaft schnell. Die Nachbarin von nebenan heißt Frau Kuckelkorn, hat meine Tante mich aufgeklärt. Sie hat einen Langhaardackel, den sie an einer langen Leine spazieren führt. Dabei trägt sie eine durchsichtige Regenhaube über ihren sorgfältig frisierten Locken. Ich finde, sie hat ein Vogelgesicht, mit der langen, geraden Nase. Ihr Kleidungsstil ist ziemlich auffällig. Unter dem Trenchcoat trägt sie eine Rüschenbluse und einen langen karierten Rock. Dazu kombiniert sie grob gestrickte knallrote Socken und Wanderschuhe. Obwohl es regnet, hat sie ihren Stockschirm nicht aufgespannt und grüßt uns damit, als sie am Fenster vorbeiläuft. Sie benutzt ihn wie einen Spazierstock.
Die Nachbarin von der anderen Seite, Frau Lehto, kenne ich auch schon. Milla ist anders als alle Mädchen, mit denen ich zu tun gehabt habe. Ich habe sie gestern kurz kennengelernt, als die Nachbarin sich Milch bei Tante Mathilda ausgeliehen hat. Sie hatte sie im Schlepptau. Die beiden sind wie meine Tante frisch eingezogen. Milla ist genauso groß wie ich und hat im Gegensatz zu den dicken raspelkurzen weißblonden Haaren der Nachbarin dünne schwarze Haare bis zum Kinn. Sie kommt demnach nicht nach ihrer Mutter, habe ich sofort gedacht. Sie hat eine Narbe über der rechten Augenbraue, die aussieht wie ein kleiner schmutziger Kratzer, und wirkt durch ihren Gesichtsausdruck gestresst und ungehalten.
Ihre Augen erinnern mich an einen nervösen Schlittenhund, kurz bevor es losgeht zu einer großen Fahrt. Huskys haben nämlich oft zwei verschiedene Augenfarben. Ein Phänomen, das auch bei der Hunderasse Australian Shepherds vorkommt, bei bestimmten Katzenrassen und beim Menschen. Das habe ich im Netz nachgelesen. Es liegt an unterschiedlichen Farbpigmenten, die vererbt werden.
Das muss bei Milla auch so sein. Sie sieht einen damit prüfend an, die Augen zu einem Schlitz verengt, fast misstrauisch und auf jeden Fall durchdringend. Dadurch habe ich das Gefühl, sie will einen gleich anknurren oder beißen. Das tut sie natürlich nicht. Sie hat also ein braunes und ein blaues Auge und eine etwas zu tiefe Stimme für ein Mädchen. Obwohl ich sie so merkwürdig finde, ist sie auf eine bestimmte Art geheimnisvoll und sehr schön. Nicht so wie Sonny, dennoch hat sie Eindruck auf mich gemacht. Während ich sie nicht aus den Augen lasse, erzählt die Nachbarin meiner Tante etwas über Millas Hochbegabung und, dass sie damit wohl sehr intelligent ist. Außerdem spielt sie in einer Fußballmannschaft. Sie trägt aber weder, wie fast alle Leseratten in der Klasse, eine Brille noch hat sie dicke Waden.
Wenn sie im Garten mit jemandem spricht, kann ich hören, was sie sagt. Ich beobachte sie später von der Dachluke aus, wie sie ihr Fahrrad putzt. Sie summt vor sich hin. Tante Mathilda hat mich gebeten, nett zu ihr zu sein, mich um sie zu kümmern. Sie habe es nicht leicht, wie sie gehört habe, sei Frau Lehto ihre Tante. Milla hat ihre Mutter bei einem Autounfall verloren, was mir natürlich leid tut. Aber mich deshalb um sie kümmern? Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Wenn ich ehrlich bin, sieht sie nicht aus, als ob sie Hilfe bräuchte.
Das Handy piept. Meine Mutter und meine Oma wollen den Dachboden auf Vordermann bringen, ihn mit ausgeliehenen Lüftern trocken bekommen, wie mir Mama schreibt.
Gleich gehe ich mit Tordis spazieren. Ich habe ihr geschrieben und sie hat zu meiner Freude prompt geantwortet. Sie wird gleich hier sein. Ich muss mich noch umziehen, wärmere Sachen können nicht schaden, wenn wir uns den Wald hier angucken. Es ist schon recht kühl. Ich freue mich auf die Freundin von Onkel Paul! Tordis hat als Lehrerin auch Ferien. Ich habe schon gedacht, ich sei bei ihr abgemeldet, wo sie jetzt ein Baby bekommt. Wo habe ich denn bloß wieder das neue Bestimmungsbuch hingelegt?
Ich bin wieder bei meiner Tante eingetrudelt! Tordis hat mir von einem Schloss hier in der Gegend, wo Ritter gewohnt haben, erzählt. Das ist doch mal etwas! Das mit dem Schloss schreibe ich noch in das Notizbuch. Ich will es mir ansehen!
Mich haben die neuen Schuhe gedrückt. Meine Füße sind fast ausschließlich Turnschuhe gewöhnt. Am kleinen Zeh hat sich eine Blase gebildet. Eine blöde Idee, sie mitzunehmen. Morgen ziehe ich statt der noch nicht eingelaufenen Outdoorschuhe wieder meine Turnschuhe an!
Und dann mal sehen, was hier die Zeit für mich bereithält. Unerklärlicherweise mischt sich zu Zweifeln eine gespannte Vorfreude auf die Zeit in diesem fremden Stadtteil.
Ich öffne die Luke. Unter mir sehe ich die Nachbargärten und weiter hinten den Wald. Die Baumkronen haben noch teilweise dichtes Blätterwerk. Sie wiegen sich sanft im Wind. Ich sauge die harzige Luft ein, die herüberweht. Sie riecht gut.
Es dauerte nicht lange, bis Tim wusste, was die Zeit für ihn auf jeden Fall bereithielt: schlaflose Nächte! Er lag im Dunkeln im Bett und horchte. Es raschelte. Lebten da Mäuse auf dem Dach? Das konnte ja heiter werden, dachte er.
Tim wälzte sich hin und her. Es dauerte lange, bis er einschlief. Ob es an der knarrenden Kammer lag oder an dem Geraschel, konnte er am nächsten Tag nicht mehr sagen. Nachdem er doch noch eingeschlafen war, wachte er nach einem unruhigen Traum, der ihn an ein Märchen erinnert hatte und in dem eine zugige Burg ohne Dach vorgekommen war, mitten in der Nacht auf. Dann konnte er gar nicht mehr schlafen. Er lauschte dem Wind, der an dem Dach rüttelte, und starrte ins Halbdunkel. Stundenlang, so kam es ihm vor. Ausgerechnet heute leuchtete der Mond das Zimmer aus, wenn eine Wolke ihn freigab.
Plötzlich hörte er die Dachbalken. Sie knarrten! Er schaute aus der Luke, doch es war nichts Ungewöhnliches zu sehen, außer dass im Nebenhaus Licht brannte. Frau Lehto hatte Besuch. Tim konnte Schatten hinter den Gardinen erkennen. Als er die Luke ein Stück öffnete, hörte er, wie sie sich in einer fremden Sprache lautstark stritt. Auch sie hatte das Fenster geöffnet. Dann wechselte sie in die deutsche Sprache.
„Warum musst du ihr denn schon wieder Geld auslegen?“ Mit einem Knirschen schloss Tim die Luke und öffnete stattdessen die Tür der Kammer. Er linste um die Ecke, denn im Flur hatte er jetzt auch etwas gehört.
Da sah er etwas Pelziges. Für eine Maus oder Ratte war es zu groß. Vielleicht eine entlaufene Katze, die irgendwie ins Haus gekommen war? Tante Mathilda hatte keine, da war sich Tim sicher. Fasziniert beobachtete er, wie das Tier sich im schummrigen Treppenhaus trittsicher nach unten bewegte. Bewegte sich so eine Katze? Sollte er nachschauen, wo sie hinging und so feststellen, wie sie ins Haus gekommen war?
Tim ging stattdessen zurück in sein Bett, er war viel zu müde für weitere Beobachtungen! Schließlich fiel er doch noch in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder aufschreckte, weil er etwas hörte. Mal waren es laute scheppernde Geräusche von unten, dann wieder tippelnde Geräusche auf dem Dach. Das Ganze dauerte noch eine Weile. Etwas lief dort hin und her. Etwa die Katze? Ob es einen Zugang von draußen ins Haus gab? Vielleicht waren die Vorbesitzer des Hauses Katzenfreunde und Tante Mathilda hatte die Klappe, durch die das Tier aus der Nachbarschaft ins Haus gekommen war, noch nicht entdeckt? Aber wenn es eine Katze war, warum hatte dann der Hund von nebenan nicht gebellt? Hunde mochten keine Katzen. Oder war der Dackel von Frau Kuckelkorn ein Schoßhündchen, der bei Katzen lieber den Rückzug antrat?
Während Tim am Morgen ins Bad ging, um sich die Zähne zu putzen, grübelte er weiter über seine nächtliche Beobachtung. Nach einem Vorrätecheck kam er mit einer Brottüte in die Küche. Aus dem Kühlschrank holte er das, was er brauchte, und setzte sich an den Esstisch. Tim trank ein Glas Wasser und bestrich sich eine glutenfreie Scheibe dick mit Butter und Erdbeermarmelade. Das brauchte er jetzt, eine ordentliche Zuckerzufuhr als Nervennahrung. Er war gerädert!
Seine Tante schob die Fenstertür auf und betrat das Zimmer.
„Na, gut geschlafen?“, fragte sie. Tim schüttelte den Kopf. Stumm blieb er am Tisch sitzen und zuckte mit den Schultern, dann kaute er wie in Trance weiter. Heute Morgen brachte er kaum ein Wort heraus, er war noch nicht ansprechbar. Sie hatte Schatten unter den Augen und wirkte wie er unausgeschlafen.
„Wieso warst du draußen im Garten?“, fragte Tim dann doch zwischen zwei Bissen.
„Die Mülltonnen sind ausgeschüttet und der Müll durchwühlt worden. Jetzt liegt alles vor der Garage“, stieß sie hervor. Er sah, dass sie das aufgeregte. Ihre Fältchen um den Mund verstärkten sich, wenn sie so verkniffen guckte. Sie trug eine glänzende Bluse zu einer Flanellhose und wirkte auf ihn, als wollte sie sofort los.
„Erich und ich sind ja heute bei einer Auktion, deshalb haben wir schon gefrühstückt und dich schlafen lassen. Auch, wenn wir uns jetzt aufmachen, die nächsten Tage machen wir ein paar Ausflüge. Versprochen! Wie ich dich kenne, hast du sicher heute schon etwas vor“, sagte sie. Es lenkte sie aber nur einen Moment von dem Thema ab, das sie so aus der Fassung brachte, denn sie starrte in den Garten. Als ob dort immer noch die Katze herumschleichen würde und sie diese mit ihren Augen einfangen könnte. Aber draußen blieb heute früh alles still.
„Ich weiß. Haben wir so besprochen. Ich treffe mich mit Frederick.“ Sie hatte ihm gesagt, dass sie Erich zu einer Antiquitäten-Versteigerung begleiten wollte. Erich arbeitete für ein Museum und kaufte vor allem Glasobjekte an.