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Malik, vierzehn, flieht vor einer drohenden Abschiebung gemeinsam mit Simon im Nachtzug von München nach Hamburg. Dort leben angeblich Maliks Tante und Cousine. Behauptet Malik. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft werden die beiden Jungen in ein Abenteuer verwickelt, das im Zusammenhang mit dem Aussteigermädchen Zoey, einem Szeneklub am Hafen, der Entführung von Zwergschnauzern und einer ominösen Sekte steht. Gemeinsam mit dem Straßenjungen Cosmo streifen die Kinder durch die Stadt und deren Milieus, stets auf der Hut davor, entdeckt zu werden. Als sich Simon der Lösung des Falles schon sicher glaubt, scheint plötzlich die Realität zu entgleiten – und dann brennt auch noch der Klub der Goldschnauzer… Coverillustration: Annette Granados Hughes Nominiert (Longlist) für den Buchpreis HamburgLesen 2024 (Buchpreis der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg)
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2024
Jan F. Korner
Goldschnauzer
Das Buch
Malik, vierzehn, flieht vor einer drohenden Abschiebung gemeinsam mit Simon im Nachtzug von München nach Hamburg, wo Maliks Tante und Cousine leben.
Schon kurz nach ihrer Ankunft werden die beiden Jungen in ein Abenteuer verwickelt, das im Zusammenhang mit dem Aussteigermädchen Zoey, einem Szeneklub am Hafen, der Entführung von Zwergschnauzern und einer ominösen Sekte steht.
Gemeinsam mit dem Straßenjungen Cosmo streifen die Kinder durch die Stadt und deren Milieus, stets auf der Hut davor, entdeckt zu werden. Als sich Simon der Lösung des Falles schon sicher glaubt, scheint plötzlich die Realität zu entgleiten – und dann brennt auch noch der Klub der Goldschnauzer …
Jan F. Korner lebt in München.
Jan F. Korner
Goldschnauzer
Alle in diesem Buch beschriebenen Begebenheiten sind frei erfunden. Das gilt auch für alle Personen. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist unbeabsichtigt. Gelegentlich erwähnte Personen des öffentlichen Lebens haben ihre eigene Geschichte und mit der vorliegenden nichts zu tun. Insbesondere besitzt Udo Lindenberg keinen Zwergschnauzer namens Candy.
© 2024 Jan F. Korner
Umschlag: Annette Granados Hughes, www.studiogranada.com
Satz & Layout: Textbüro Vorderobermeier, München
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Gibst du mir Steine, geb ich dir Sand
Gibst du mir Wasser, rühr ich den Kalk
(Palais Schaumburg, Wir bauen eine neue Stadt, nach Paul Hindemith und Robert Seitz)
«If there’s no meaning in it,» said the king, «that saves a world of trouble, you know, as we needn’t try to find any.»
(Lewis Carroll, Alice’s Adventures in Wonderland)
Teil 1: Ein ferner Planet
Teil 2: Staubgold
Teil 3: Kiez-Palais
Teil 4: Quallen im Kopf
Teil 5: Schall und Rauch
Es war ein grauer, verregneter und überhaupt ziemlich trostloser Sonntagnachmittag. Die Herbstferien hatten begonnen, im Wohnzimmer lief der Fernseher, und ich hatte mir wegen einer kleinen, dummen Sache mal wieder das komplette Verbots-Paket eingehandelt. Nicht nur das Handy, auch die Spielkonsole hatten sie am Ende eingesackt; quasi Höchststrafe.
Ich lag auf meinem Bett und sah aus dem Fenster hinaus auf die alte Kastanie mit ihren verknorpelten Ästen, an denen nur noch ein paar gelbe Blätter hingen, während der Regen gegen die Fensterscheibe prasselte und die Regentropfen an der Scheibe herunter liefen; falls Regentropfen überhaupt laufen können, was sie ehrlich gesagt nicht können, wenn man es mal ganz genau nimmt, sie haben ja keine Beine oder so. Sie stottern sich irgendwie vorwärts, halten kurz inne, sammeln sich, verbünden sich mit anderen kleinen Tropfen, bis sie gemeinsam groß und stark genug sind, um weiter zu – ja, was eigentlich? Fließen passt auch nicht, das machen nur Flüsse, wie der Name schon sagt. Vielleicht schlurzen sie ja oder sowas in der Richtung. Wer weiß.
An der Wand gegenüber versuchte sich Michael Jordan seit Monaten vergeblich an einem Slam Dunk – wie erstarrt hing er in der Luft, Arme und Beine nach allen Seiten von sich gestreckt, als hätte ihn ein Fluch mitten im Sprung zu einer Salzsäule werden lassen. In Gedanken vollendete ich den Dunk dann immer selbst.
Einmal griff ich sogar nach einem Buch, blätterte ein bisschen herum, verstand aber kein Wort und klappte das Ding bald wieder zu. Aus dem Wohnzimmer nebenan dröhnte inzwischen ein Formel-1-Rennen – tief röhrende Motorengeräusche, die näher kamen, kurz aufheulten und wieder verschwanden …
Irgendwann fing ich an, mir seltsame Sachen auszudenken. Ziemlich seltsame Sachen. Zum Beispiel, dass mein Zimmer eine Raumkapsel wäre, die mit Lichtgeschwindigkeit durch den Kosmos fliegt und auf einem fernen Planeten landet, der von einer Amöbe beherrscht wird; einer riesigen Schleimpilzamöbe, die mit ihrem Geschleime alle tyrannisiert. Durch die Landung meiner Raumkapsel erschlage ich zufällig diesen Amöbentyrannen und die befreiten Bewohner feiern mich hart und wollen mich zu ihrem nächsten Herrscher bestimmen, obwohl sie mich gar nicht kennen. Ich aber will einfach nur zurück nach Hause, wozu ich angeblich der Hilfe eines Zauberers bedarf, der auf einem benachbarten Planeten lebt und vor dem im ganzen Kosmos alle wahnsinnig Angst haben, obwohl ihn noch nie jemand gesehen hat.
Ich fliege also zu ihm hin, erlebe auf dem Weg ein paar Abenteuer, und am Ende stellt sich heraus, dass dieser Zauberer nur ein gebrechlicher alter Mann ist, der keiner Fliege was zuleide tun kann und seine Zauberkünste die ganze Zeit nur vorgetäuscht hat, einfach um seine Ruhe zu haben oder vielleicht auch nur aus Spaß, wer weiß, und er mir deshalb logischerweise auch nicht helfen kann, auf die Erde zurück zu fliegen.
Irgendwie schaffe ich es dann aber doch zurück, aber natürlich glaubt mir hier niemand, was ich dort erlebt habe.
Oder Silke. Sie war damals in Jason-Mirko, genannt Jamie die Qualle, verknallt. Keine Ahnung, wieso. Und auch keine Ahnung, wieso Qualle Qualle genannt wurde. Wahrscheinlich, weil er nichts in der Birne hatte. Qualle behauptete jedenfalls, er sei schon mal Lamborghini gefahren – am Steuer. Soviel zu Qualle. Ich stellte mir also vor, wie Silke in der Pause wieder bei ihm rumsteht und sich seine extrem lahmen Angebergeschichten anhört und ich ihr dann so von weitem extrem coole Dance-Moves vorführe und sie daraufhin zu mir rüber grinst und mit der Hand so Blabla-Zeichen in Richtung Qualle macht, ohne dass der es merkt. Er hieß ja nicht umsonst Qualle. Und am nächsten Tag würde ich ihr die Geschichte von diesem anderen Planeten erzählen, und sie wäre die einzige, die mir glaubt.
Während mir diese Sachen durch den Kopf gingen, klingelte es an unserer Wohnungstür. Meine Mutter rief aus dem Bad, ob von uns jemand nachsehen könne, sie hätte noch ihre Maske im Gesicht (sie meinte ihre Quark-Maske, die mit den Gurkenscheiben). Da ich gedanklich ziemlich beschäftigt war und außerdem niemanden erwartete, erhob sich irgendwann mein Vater stöhnend vom Sofa, auf dem er wie jeden Sonntag vor sich hin gedöst hatte, während irgendwelche Rennwagen mit dreihundert Sachen an ihm vorbei bretterten. Bekanntlich gibt es für Eltern ja kein Fernsehverbot; die können sich, das nur am Rande, noch so daneben benehmen – ich habe noch nie, wirklich noch nie gehört, dass sich Eltern selbst als Strafe ein Fernseh- oder Internet- oder was weiß ich was für ein Verbot erteilt hätten. Wirklich, noch nie.
Mein Dad schlurfte also zur Tür, um nachzusehen, wer an diesem verschlurzten Sonntagnachmittag seine heilige Fernsehruhe zu stören wagte – wobei man von Ruhe ehrlich gesagt nicht sprechen konnte, aber egal. Kurz darauf, er klang ziemlich erleichtert, rief er: «Ist für dich, Simon!»
Ich saß auf der Stelle senkrecht im Bett – für mich! Ich sprang aus dem Zimmer und lief zur Gegensprechanlage. Die Wohnung liegt im vierten Stock, man muss also erst mal unten am Haupteingang läuten, bevor man ins Haus rein kommt. Vor kurzem bin ich übrigens ausgezogen, falls das jemanden interessiert. Es ist nämlich schon ein paar Jahre her, dass das alles passiert ist, was ich gerade erzähle. Ungefähr sieben, um genau zu sein.
«Ich bin’s … Malik», rauschte es aus dem Lautsprecher. «Es ist dringend, bitte. Kannst du mich reinlassen?»
Dazu muss man wissen, dass ich Malik damals gar nicht richtig kannte. Er ging in die Nachbarklasse und wir hatten nur ab und zu mal zusammen in der Pause Fußball gespielt. Mehr nicht. Ich weiß nicht (und habe ihn seitdem auch nie gefragt), woher er eigentlich gewusst hat, wo ich wohne. Und auch nicht, woher er wusste, wo er klingeln muss. Also, wie ich mit Nachnamen heiße. In dem Moment habe ich mir solche Fragen überhaupt nicht gestellt, so verdutzt war ich. Und später erst recht nicht, weil da gab’s dann ganz andere Probleme.
Ich stammelte nur «Ja – klar», drückte auf den Knopf mit dem grünen Schlüsselsymbol und öffnete die Wohnungstür.
Kurz darauf stand er, von den vielen Stufen außer Atem, vor mir. Er trug eine Art Bademantel über einem Schlafanzug, war barfuß und vom Regen völlig durchnässt. Zitternd vor Kälte sah er mich an. Ohne groß Fragen zu stellen, führte ich ihn schnell in mein Zimmer – bevor meine Eltern noch Wind von der Sache bekamen. Weil, dass da was nicht stimmte, war natürlich sofort klar.
Während Malik sich seine vom Regen klatschnassen Haare aus dem Gesicht strich, scannten seine Augen mein Zimmer ab. Als hätte er Angst, dass sich meine im Regal eingestaubten Avengers- und Transformers-Figuren, von denen ich mich unerklärlicherweise nicht trennen konnte, plötzlich in lebende Wesen verwandeln und ihn, was weiß ich, angreifen oder entführen könnten.
«Was ist los, sag schon», drängte ich. Ich konnte es kaum erwarten, zu hören, was er zu erzählen hatte.
Malik setzte sich auf mein Bett und holte tief Luft. «Ich werde verfolgt», begann er zögernd. «Ich bin seit heute morgen unterwegs. In der Früh sind sie gekommen. Zu uns nach Hause. Sie haben meinem Vater gesagt, dass wir unsere Sachen packen sollen. Meine Mutter hat mich und meine Schwester in den Arm genommen. Meine Schwester hat geweint. Die Wohnungstür stand einen Spalt offen. Da habe ich mich aus den Armen meiner Mutter losgerissen und bin weggelaufen. Im Treppenhaus stand ein Mann. Er wollte mich festhalten. Ich habe ihm in die Hand gebissen und bin die Treppen runter gerannt, so schnell ich konnte. Ich habe mich in einer Garage versteckt. Sie war nicht verschlossen. Hinter lauter Gerümpel. Irgendwann bekam ich Hunger und Durst. Und mir war kalt. Trotzdem habe ich mich nicht bewegt. Viele Stunden lang. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Da ist mir eingefallen, dass du ja in der Nähe wohnst.»
Als er schwieg, wusste ich nicht, was ich sagen sollte, so perplex war ich.
«Simon?», hörte ich meine Mutter rufen. «Wer hat denn eben geläutet?»
Ich hielt meinen Zeigefinger an den Mund, schlich aus dem Zimmer, ging in die Küche und rief: «Ach, war nur Baran, hat gefragt, ob ich zum Spielen runter komme, hab aber keinen Bock. Bin außerdem grade am Lesen, also bitte nicht stören.»
Zum Glück nahm sie mir diese schwache Notlüge ab – als ob Baran bei dem Wetter klingeln würde.
Als ich zurück ins Zimmer kam, stand Malik am Fenster und spähte hinunter auf die Straße. Er hatte sich aus dem Regal ein Buch gegriffen und hielt es mir hin. «Ist es gut?», fragte er. Es war JC – Agent im Fadenkreuz.
«Ganz okay», antwortete ich. «Aber ziemlich unrealistisch. Als ob man mit zwölf Jahren ein Superagent der britischen Regierung sein kann.»
Malik warf einen Blick auf den Klappentext. «Aber er hat übermenschliche Kräfte …»
«Ja, das schon, aber trotzdem – irgendwie unrealistisch. Kinder sind doch keine Agenten von Regierungen, selbst wenn sie übermenschliche Kräfte haben.»
«Stimmt auch wieder», pflichtete Malik mir bei und stellte das Buch zurück.
Ich hatte ihm aus der Küche eine Scheibe Brot mit Käse, eine Schüssel mit Milch und Cornflakes und ein Glas Kirschsaft mitgebracht, mehr war auf die Schnelle nicht aufzutreiben gewesen, war auch so schon ein ziemlicher Balanceakt. Dankbar nahm er mir alles ab. Ich ließ ihn in Ruhe essen, bis nichts mehr übrig war.
«Was sind das für Leute, die euch am Sonntagmorgen einfach aus dem Bett holen?» fragte ich schließlich.
«Ich weiß nicht, Polizisten oder so … manche hatten aber keine Uniform an. Mein Vater hatte uns schon gewarnt, sie wollen, dass wir nach Marokko zurückgehen. Ich will aber nicht.»
«Warum denn?»
«Wie, warum? Was soll ich denn da?»
«Nein, ich meine, warum ihr nach Marokko zurück müsst.»
«Wenn ich das wüsste … irgend ein neues Gesetz, keine Ahnung.»
«Und was willst du jetzt machen?»
Er zuckte mit den Schultern, den Blick auf den Boden gerichtet, als ob dort irgendwo die Lösung läge. Tat sie aber nicht; leider.
«Ich kann dich hier nicht verstecken, Malik. Das klappt nicht, meine Eltern würden … ich weiß nicht, die würden uns bestimmt verraten.»
«Dann haue ich eben ab.»
«Ganz alleine? Und deine Familie?»
Er schaute mich fragend an. «Was soll ich denn sonst machen? Zur Polizei gehen? Damit die mich auch wegbringen – oder in ein Heim stecken? Nein danke, ich verschwinde von hier.»
«Aber wohin?»
«Kein Plan, einfach weg. Hättest du vielleicht was Trockenes zum Anziehen?»
Daran hatte ich in der Aufregung gar nicht gedacht, wie peinlich. Ich holte Unterwäsche, eine Jeans und, weil es zufällig auf dem Stapel ganz oben lag, mein ausgeleiertes Iron-Maiden-T-Shirt aus dem Schrank und hielt ihm alles hin.
Malik nahm das Shirt, faltete es auseinander und betrachtete es aufmerksam.
«Abgefahren …», sagte er nach einer Weile.
«Ja, krass, oder? Altes T-Shirt von meinem Dad. Benutz ich eigentlich nur zum Schlafen. Das Monster hier heißt Eddie, das Maskottchen der Band. Und da drunter, ganz in Rot, ist der Teufel. Und der kleine Mensch da im Fegefeuer ist eine Marionette des Teufels. Aber der Teufel selbst ist auch nur eine Marionette – von Eddie! Das bedeutet, der Strippenzieher hinter allem ist Eddie! Er zieht alle Fäden, sogar die vom Teufel, und der merkt’s nicht mal, sondern hält sich für besonders schlau! Wahnsinn, oder?»
Malik nickte bedächtig, um zu zeigen, dass er meine geniale Analyse verstanden hatte.
«Kennst du die Band?», fragte ich. «Stell dir vor, der Sänger hat einen Flugschein für Boeing-Maschinen, außerdem bildet er andere Piloten aus und unterrichtet antike Geschichte und ich glaube, er wurde von der Queen auch zum Ritter geschlagen und war mal in der Olympiaauswahl der Fechter und hält Vorträge für Manager und schreibt dicke Bücher und keine Ahnung was noch, ich schwör’s – und ganz nebenbei ist er noch Sänger der größten Metal-Band aller Zeiten!»
Maliks Staunen hielt sich in Grenzen. «Coole Story. Aber irgendwie auch ein bisschen streberhaft der Typ, findste nicht?»
«Wieso, wenn er Bock drauf hat? Was hörst du denn so?»
«Ach, alles Mögliche.»
«Und – was ist alles Mögliche?»
«Was mir halt so gefällt.»
«Und was gefällt dir so? Abba? Snoop Dogg? Die Schlümpfe?»
«Sehr witzig.»
«Ja, sorry, hab ja nur gefragt.» Ich wechselte das Thema. «Und deine Lieblingsfiguren bei Star Wars?»
Malik zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung – die Wookiees?»
«Die Wookiees? Schafft mir Chewbacca herbei, er soll für diese Frechheit büßen», ahmte ich die leiernde Bass-Stimme von Jabba the Hutt nach, so dass wir beide lachen mussten. Sofort legte ich meinen Finger an den Mund. «Pst, sonst hören uns meine Eltern!»
Ich hatte mich noch nie so intensiv mit Malik unterhalten, und wir plauderten auch noch ein bisschen weiter, während er sich umzog. Die Jeans war ihm etwas zu klein, deshalb kramte ich widerwillig meine neue Trainingshose raus, die mir meine Eltern vor kurzem gekauft hatten. Lila mit Goldstreifen … aus Ballonseide … sie passte ihm leider perfekt.
«Coolio!», rief er begeistert und stolzierte, während er an sich herabsah, im Zimmer umher.
«Ey, du Poser, du musst aber versprechen, sie mir zurückzugeben.»
Er wog seinen Kopf hin und her und grinste. «Hm, mal sehen …»
«Hey, rück sie sofort wieder raus!», rief ich halb ernst, halb im Scherz, und versuchte, ihn zu packen. Er fiel auf den Boden und robbte in die andere Ecke des Zimmers, stand auf, hievte meinen Schreibtischstuhl empor und hielt ihn wie ein Schutzschild vor sich. «Pass auf», rief er, «wenn du meinem Kraftfeldgenerator mit Neutronenlaser zu nahe kommst, wirst du auf der Stelle zu Staub …»
Zum Glück beschallte der Fernseher in voller Lautstärke die Wohnung. Guter Lärmschutz. Quasi Lärm gegen Lärm. Mein Vater hörte ja damals schon nicht mehr so gut. Zu viele Konzerte, meint meine Mum. Obwohl er sich gegen den Gitarrenkrach immer Taschentuchfetzen in die Ohren gestopft hat, wie er mir mal gestanden hat. Ich hab ihm auf die Schulter geklopft und gesagt, dass er trotzdem ein harter Kerl sei, und da haben wir dann beide lachen müssen.
«Okay, meinetwegen», sagte ich zu Malik. «Kannst sie haben. Aber nur geliehen.»
Dann fischte ich aus einem Kleiderberg einen Hoodie. Vorne drauf ein grinsender Snoopy mit dunkler Sonnenbrille, gemütlich auf einem Schlauchboot liegend, während sein bester Freund Woodstock, ein kleiner gelber Vogel mit strubbeliger Frisur, zufrieden auf Snoopys Fußspitze sitzt und mit geschlossenen Augen nach vorne blickt. Vielleicht ja bis in die Zukunft. Wie ein Prophet. Und über beiden eine Gedankenblase: KEEP COOL!
Und dann geschah etwas Seltsames. Ein seltsamer Zufall. Wobei es erst im Rückblick als Zufall erscheint. Falls es Zufall war. Weil, eigentlich war es völlig belanglos. Aber ich glaube, es sollte uns später das Leben retten. Also – das Taschentuch. Weil in dem Moment, als Malik den Hoodie überstreifte, überkam ihn ein fieser Niesflash, und weil er anfing, sich seine triefende Nase am Ärmel abzuputzen, kramte ich aus einer Schublade ein Papiertaschentuch und reichte es ihm. Als er sich ausgiebig geschnäuzt hatte und nicht wusste, wohin damit, knüllte er es zusammen und stopfte es in seine Hosentasche. Ich weiß, klingt erst mal harmlos, aber der andere Part kommt später.
«Also, ich pack’s dann», sagte er, und in seiner Stimme klang eine Mischung aus Resignation und Trotz.
Als er sich umdrehte und zur Tür gehen wollte, hielt ich ihn fest. Ich versuchte, so ernst wie möglich zu klingen:
«Das geht nicht … man kann nicht einfach so abhauen, wir sind ja nicht im Film. Die finden dich außerdem eh gleich. Bestimmt gibt’s auch eine andere Lösung!»
Den Blick ins Leere gerichtet, schüttelte Malik langsam den Kopf. Ich log ihm noch vor, dass meine Mutter eine Anwältin kennen würde, die genau auf solche Sachen spezialisiert wäre oder sei oder keine Ahnung – aber als er sich auch davon nicht umstimmen ließ, holte ich ihm noch die gefütterte Regenjacke, die ich nicht mehr trug, und drückte ihm meine alten Sneaker in die Hand.
Er bedankte sich, zog beides an, öffnete vorsichtig die Zimmertür und blickte hinaus in den Flur. Die Luft schien rein. Er pirschte sich vor bis zur Wohnungstür. Bevor er hinaus trat, drehte er sich noch einmal um, hob zum Abschied die Hand – und verschwand im Treppenhaus.
Ich weiß nicht, was mich daraufhin packte. Wirklich nicht. Ich kann es nicht erklären. Bis heute nicht. Ohne zu überlegen, stopfte ich ein paar Klamotten in meine rote Sporttasche, schmiss mein altes Sparschwein, in dem ein paar Münzen traurig vor sich hin klimperten, hinein, holte als Proviant eine Packung Milch aus der Küche und schrieb auf einen Zettel:
MUS WAS WICHTIGES ERLEDIGEN (MALIK HELFEN). BIN BALD WIDER DA! MACHT EUCH KEINE SORGEN!!! EUER SIMON
Ich legte den Zettel auf den Küchentisch, ging auf Zehenspitzen in den Flur, zog mich an und lief aus der Wohnung, die Treppen hinunter, raus auf die Straße, wo ich Malik zunächst nicht finden konnte, ihn dann aber doch in einiger Entfernung sah, wie er an den Hauswänden entlang schlich, die Hände in den Taschen der Trainingshose, die Kapuze meines Snoopy-Hoodies tief ins Gesicht gezogen.
Dunkelgraue, schwere Wolken hingen bedrohlich am Himmel.
Der Regen hatte zwar aufgehört, aber es war noch immer windig und ungemütlich.
Irgendwas hielt mich davon ab, zu ihm hin zu laufen, ihm meinen Arm um die Schulter zu legen und sowas zu sagen wie – keine Ahnung, was Nettes eben, was Aufmunterndes.
Stattdessen folgte ich der Gestalt vor mir mit einigem Abstand, bemüht, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Malik schien nicht zu wissen, wohin er gehen soll – ziellos bog er mal in die eine, mal in die andere Straße. Zum Glück drehte er sich nicht um. Bald kamen wir an den Fluss, der die Stadt durchquert. Das Wasser war vom vielen Regen aufgewühlt und die Strömung stärker als sonst. Malik kletterte die Böschung hinab, setzte sich am Ufer auf einen großen Stein und sah in das dahinfließende Wasser. Er schien über etwas nachzudenken. Nach einiger Zeit wurde mir kalt und ich begann schon, mich zu ärgern, ihm überhaupt gefolgt zu sein.
Auf einmal erhob er sich – gerade noch rechtzeitig sprang ich hinter ein Gebüsch. Er stieg die Böschung hinauf und schien nun genau zu wissen, wohin er will. Zügig ging er den Uferweg entlang, überquerte die Brücke, folgte der Straße geradeaus, dann bog er links ab, an den Gleisen der Tram entlang, der Biegung nach rechts folgend, an der großen Kreuzung über die Hauptstraße rüber, quer über den kleinen Platz, und da wurde mir klar: Er geht Richtung Bahnhof!
In der Ferne konnte man schon die Bahnhofsuhr erkennen; sie zeigte fast halb sieben.
Je näher wir dem Bahnhof kamen, vorbei an Kebab-Läden, Kosmetik-Salons und Wettbüros, desto mehr Menschen waren unterwegs. Als ich mich durch eine lachende Reisegruppe zwängte, die vor einem Hoteleingang den Gehweg blockierte, stieß ich aus Versehen einen Koffer um, und obwohl ich mich höflich entschuldigte, rief mir der Besitzer etwas sehr Unfreundliches hinterher und … wo war Malik? Eben noch hatte ich ihn zwischen zwei parkenden Autos hindurch die Straße zum Bahnhof überqueren sehen, er hatte sich sogar kurz umgedreht, mich aber zum Glück nicht bemerkt – aber jetzt hatte ich ihn im Trubel aus den Augen verloren.
Ich irrte umher, schaute in alle Richtungen, lief um die Ecke bis zum Haupteingang des Bahnhofs, sprang die Stufen hinauf, rannte in die Vorhalle – er blieb spurlos verschwunden. War er schon bei den Gleisen? Oder noch gar nicht im Bahnhof, sondern –
«Hey, willst du auch verreisen?», hörte ich plötzlich hinter mir eine vertraute Stimme. Malik! Ich erschrak so sehr, dass ich im ersten Moment kein Wort heraus brachte. So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Auf frischer Tat ertappt, wie so ein kranker Stalker!
«Nein, i-ich, ich wollte nur …», stammelte ich. Doch mir fiel keine Ausrede ein. Dabei war ich mir sicher, dass mir später, wenn ich mir das Ganze in Gedanken nochmal vorstellen würde, die besten Antworten einfallen würden. So wie jetzt. Ich hätte einfach antworten sollen: «Nein, natürlich will ich nicht verreisen, ich will dich einfach nur abhalten, eine echt bescheuerte Dummheit zu machen …», und dann wären wir in die City und hätten uns zwei Double Cheese mit Limo gegönnt, und zum Nachtisch im Kino Ice Age 9 – Hotter than Hell.
Das wäre vernünftig gewesen. Weil Vernunft ist relativ – mal so, mal so. Je nach dem.
Stattdessen fing ich an, irgend einen Riesenschmarrn zu rhabarbern – von wegen ich hätte im Bahnhofsshop noch Milch besorgen müssen, und meine Sporttasche, also, die bräuchte ich eben, um die Milch zu transportieren, ich hätte nämlich sehr viel Milch besorgen wollen, für die ganzen Ferien, um genau zu sein, aber im Shop sei die Milch schon fast ausverkauft gewesen … «hier, nur noch eine lächerliche H-Milch hatten die und – ach so, ja, die Kleider, die sind noch von der letzten Reise drin, hab ich ganz vergessen, raus zu holen, bin zur Zeit etwas verpeilt … aber was machst du eigentlich hier?»
Ich war ziemlich verpeilt, um ehrlich zu sein – stand irgendwo drei Meter neben mir und sah mir beim Verpeiltsein zu.
Malik musterte mich belustigt. Er glaubte mir natürlich kein Wort. Er schien sich aber zu freuen, mich zu sehen. Seine trübsinnige Stimmung von vorhin am Flussufer war wie verflogen.
«Wir haben Verwandte in Hamburg», begann er, nachdem er mich in eine abgelegene Ecke der Bahnhofsvorhalle geführt hatte. «Meine Cousine lebt dort. Sie ist so alt wie ich, vierzehn.»
«Du bist … vierzehn?», unterbrach ich ihn.
«Ja, ich wurde ein bisschen später eingeschult, und du?»
«Äh, dreizehn, aber auch bald vierzehn …», was ja im Grunde auch stimmte, weil in einem Monat wurde ich dreizehn, und von da war es dann auch nicht mehr weit bis zur Vierzehn. Zumindest wenn man eins und eins zusammenzählen kann.
«Meine Cousine lebt bei meiner Tante», fuhr Malik fort, «das ist die Schwester von meinem Vater. Ihr Mann, also mein Onkel, ist vor vielen Jahren gestorben, kurz nachdem sie aus Marokko nach Deutschland geflohen waren.»
«Geflohen …?», unterbrach ich ihn erneut. «Warum das, ist doch schön in Marokko, oder waren sie … Terroristen?» Was Intelligenteres fiel mir in dem Moment leider nicht ein.
Malik schüttelte den Kopf. «Quatsch, nein, mein Onkel hatte nur ziemlich Stress, weil er in seiner Gemeinde politisch engagiert war, gegen den König und so, gegen die Monarchie und den ganzen Kram. Er kämpfte für mehr Demokratie und bekam ständig Morddrohungen. Deshalb sind sie dann weg. Als mein Onkel starb, sind wir auch nach Deutschland gekommen. Damit meine Tante nicht allein ist. Ich war damals noch klein und kann mich nicht richtig erinnern. Mein Vater hat in Hamburg aber keine Arbeit gefunden, deshalb sind wir hierher nach München gezogen. Hier gab es Arbeit. Bei BMW. Warum meine Tante in Hamburg geblieben ist, weiß ich nicht.»
Malik machte eine Pause. Er schien für einen Augenblick mit seinen Gedanken woanders.
Plötzlich gab er mir einen Stoß in die Rippen. «Also – was ist? Kommst du mit? In einer halben Stunde fährt der Nachtzug!»
« … der Nachtzug?»
Ich war komplett überfordert. Ich sah hinüber in die Bahnhofshalle, sah die ganzen Menschen mit ihren Rollkoffern und Fresspaketen, Menschen, die ich noch nie gesehen hatte und auch bestimmt nie wieder sehen würde. Und alle hatten ihre eigene Richtung, ihre eigenen Wege. Ihre eigene Geschichte …
Wie ich. Wie Malik.
Es war nicht zu spät, umzukehren – ich musste mich nur entscheiden! Das Dumme war, ich konnte es nicht. Alle möglichen Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Und welcher der richtige war, wusste ich natürlich nicht. Woher auch? Es gibt ja für Gedanken, also, bevor man sich entscheidet, keine Qualitätsprüfung oder so. Oder einen Stresstest. Folgt man dem falschen … Pech gehabt. Danach ist man schlauer. Manchmal.
Also – wenn ich dabliebe, würde Malik fortfahren, klar. Ich würde ihn bestimmt nicht überreden können, hier zu bleiben. Er hatte sich entschieden. Oder sollte ich es doch nochmal versuchen, ihn umzustimmen? Weil seine Familie auf ihn wartete? Vor allem seine kleine Schwester? Auch wenn er dann nach Marokko zurück musste, warum auch immer? Außerdem – ein durch die Gegend irrender Junge kommt nicht weit, sondern schätzungsweise gleich ins Heim.
Und wenn ich mitfahren würde? Allein bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut. So absurd war er. Vor allem – dann würde man am Ende noch mich beschuldigen. Und behaupten, dass alles meine Idee gewesen sei. Dass ich Malik womöglich angestiftet hätte. Außerdem käme ich dann natürlich auch ins Heim, logisch. Meine Eltern würden mich einmal im Jahr an Weihnachten besuchen, ein Paar Star-Wars-Socken mitbringen, wahrscheinlich auch noch die falschen, bei Kaffee, Limo und Kuchen fragen, wie es mir so geht, schimpfen, dass sogar im Heim mein Zimmer nicht aufgeräumt sei, mir dafür irgendein dummes, sinnloses Verbot erteilen und dann wieder nach Hause fahren, um sich da in Ruhe ihren eigenen wichtigen Problemen zu widmen. Na danke.
Andererseits könnte ich, wenn ich mitfahren würde, auf Malik aufpassen. Was zugegeben eine komische Vorstellung war. Wo ich ja noch nicht mal im Stande war, ihm klar zu machen, was für einen unglaublichen Scheiß wir gerade im Begriff waren zu, keine Ahnung … fabrizieren. Statt dessen stand ich original mit gepackter Tasche neben ihm.
All das schoss mir in Windeseile durch den Kopf. Aber natürlich nicht so geordnet, wie ich es gerade erzähle. Kaum hatte ich einen Gedanken, der mir befahl, gefälligst hier zu bleiben, kam schon der nächste um die Ecke, der mir verführerisch zusäuselte: Fahr doch mit, Simon, wird bestimmt ein großes Abenteuer! Das reinste Chaos im Kopf. Es war zum verrückt werden.
Ich weiß nicht mehr, wie lang wir so da gestanden waren, als mir Malik erneut einen Stoß in die Rippen gab:
«Und – was ist?»
Ich zuckte mit den Schultern.
Mehr nicht.
Ich zuckte einfach nur mit den Schultern – doch das genügte ihm als Antwort.
«Okay, dann los!»
Er schaute sich um, zog die Kapuze ins Gesicht und ging Richtung Haupthalle, während ich – also, was hätte ich denn tun sollen? Ihn einfach allein gehen lassen?
Ohne mich weiter zu beachten, schlenderte Malik durch die Halle, während ich neben ihm her stolperte, immer wieder unschlüssig stehen blieb – und ihn dann doch wieder einholte … Auf einmal hielt er mich fest. Er nickte unauffällig in Richtung eines großen, stämmigen Mannes, der vom Seiteneingang aus die Bahnhofshalle betreten hatte und sich nun grimmig nach allen Seiten umsah, während er sich immer wieder durch seine blonden, strähnigen Haare fuhr. Er trug einen auffälligen Schnauzbart, mit langen, nach oben gebogenen Spitzen, und an einer Hand einen Verband …
«Das ist der Typ von heute morgen», sagte Malik leise – und ehe ich realisiert hatte, worum es ging, hatte er mich in einen Zeitschriftenladen bugsiert, zwei Zeitschriften aus einem Regal gezogen und mir eine davon in die Hand gedrückt. Die andere schlug er selbst auf und begann zu lesen – oder zumindest, so zu tun.
Nach einer Weile schielte ich zu ihm rüber. Fisch & Fang stand auf dem Umschlag, hinter dem er seinen Kopf versteckt hielt. Thema Sportangeln. Ich versuchte, mir einen Sportangler vorzustellen. Wie er in hohen Gummistiefeln Stunden lang im Wasser steht, während ein Schiedsrichter aufpasst, dass am Angelhaken keine gedopten Riesenfliegen hängen, und sobald sich die Angelschnur bewegt, geht ein Raunen durch das Publikum, und wenn der Titelverteidiger am Ende zwei fette Barsche oder Hechte gefangen hat, der Herausforderer aber immerhin drei alte Sneaker und zwei leere Raviolidosen, dann ist die Frage, wer –
Ich schreckte aus meinen Gedanken auf.
Irgendwas hatte sich verändert.
Ich sah auf das Regal mit den Zeitschriften neben mir. Ich begriff im ersten Moment nicht, was genau anders war – wie diese Figuren in Zeichentrickfilmen, wenn sie zu weit über die Klippe gerannt sind und in der Luft erst mal weiterlaufen. Solange sie den Abgrund, der sich unter ihnen auftut, nicht sehen, scheint die Schwerkraft deaktiviert; aber sobald sie die Leere bemerken – stürzen sie ab.
Als ich realisierte, dass Malik nicht mehr da stand, wo er eben noch gestanden hatte, erfasste mich ein Schwindel, meine Knie wurden weich und ich musste mich sogar kurz am Regal festhalten, um nicht umzukippen. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Vielleicht ist er nur kurz aus dem Laden raus, um die Lage zu checken, versuchte ich, mich zu beruhigen.
Ich wollte gerade vor die Ladentür treten, um nachzusehen – als ich hinter mir eine verärgerte Stimme hörte. Ich verstand erst nicht, wem die schroffe Aufforderung galt, zu warten, also ging ich weiter, bis mich eine schwere Hand an der Schulter ergriff und zurückhielt. Unwirsch nahm mir der Verkäufer die Zeitschrift aus der Hand und besah sich den Umschlag. «So … was haben wir denn da … aha … Hund im Glück … Sonderausgabe Hundesprache … na, wenigstens mal kein GameStar … macht fünf Euro zwanzig.»
«Ich, aber, i-ich wollte nur –»
«Warten Sie, ich bezahle für den Jungen. Hier, stimmt so.»
Als ich zu dem Mann hoch sah, der auf einmal neben mir stand und dem Verkäufer einen Zehn-Euro-Schein in die Hand drückte, bin ich so erschrocken wie – mir fällt gerade kein passender Vergleich ein. Starr vor Schreck stand ich da. Neben mir aufgebaut hatte sich – Schnauzbart. Er überreichte mir die Zeitschrift mit den seltsamen Worten: «In der Hundesprache kenne ich nur eine Vokabel – fass!»
Während er über seinen Witz, den ich nicht verstand, höhnisch lachte und sich dabei fast verschluckte, stopfte ich die blöde Zeitschrift wortlos in meine Tasche und wollte mich schon zum Gehen abwenden, als er mich am Handgelenk packte. Sein Lachen war wieder dem grimmigen Blick gewichen.
«Sag mal, dein Kumpel, wo steckt der?»
«Äh, we-welcher … welcher Kumpel?»
«Stell dich nicht so an. Weißt genau, wen ich meine. Hab euch doch beide vorhin gesehen.»
«Ich … ich weiß es nicht. Ich suche ihn selbst.»
«Na, das passt ja. Dann suchen wir jetzt gemeinsam», und mit diesen Worten zerrte er mich vor den Laden. Ich versuchte, mich loszureißen – vergeblich.
«Sie haben kein Recht, mich festzuhalten, wenn Sie mich nicht loslassen, schreie ich um Hilfe!»
Zu meiner Überraschung wirkte die Drohung. Wahrscheinlich, weil ein paar Umstehende schon komische Blicke auf uns geworfen hatten. Mit einem leisen Fluchen ließ er von mir ab. Ohne zu überlegen, rannte ich los. Ich bog um die nächste Ecke, stolperte über eine Hundeleine und krachte der Länge nach auf den Boden. Ein kleiner Zwergpinscher jaulte auf. Ich rappelte mich auf, drehte mich um und sah, dass Schnauzbart mir folgte.
Er ging hastig, mit schnellen Schritten, trotzdem unauffällig, ohne zu rennen.
Was sollte ich tun? Zum Nachtzug, schoss es mir durch den Kopf; endlich ein klarer Gedanke! Zunächst galt es aber, Schnauzbart abzuhängen. Ich lief zum Seiteneingang, sprang die Stufen hinab, raus aus dem Bahnhof, vorbei an zwei Punks, die mir einen zerknautschten Pappbecher freundlich entgegenhielten, überquerte dann die breite Hauptstraße, zum Glück sprang die Ampel gerade auf Grün, bog in eine kleine Seitenstraße und versteckte mich, eine Kreuzung weiter, vor Aufregung keuchend hinter einem Lieferwagen, aus dem gerade Dönerspieße so groß wie Hinkelsteine entladen wurden. Der Lieferant musterte mich skeptisch, ließ mich aber in Ruhe und ging weiter seiner Arbeit nach.
Immer wieder spähte ich am Lieferwagen vorbei den Gehweg hinab.
Als auch nach längerer Zeit von Schnauzbart nichts zu sehen war, ging ich den Weg zurück bis zum Bahnhof.
Am Seiteneingang angekommen, erkannte mich einer der Punks von vorhin und kam auf mich zu. Er trug eine grüne Irokesen-Frisur und tausend Piercings im Gesicht. Ein strubbeliger Köter folgte ihm missmutig an der Leine.
«Meister, haste zufällig ’ne Bank ausgeraubt und von der Beute noch ’n paar Euro übrig? Oder wenigstens ’ne kleine Spende für Dieter?», und dabei zog er so kräftig an der Leine, dass das armselige Geschöpf hinter ihm, vermutlich Dieter, verängstigt winselte.
«Dann verrate ich dir auch, in welche Richtung der Bulle ist. War doch einer, oder?»
«Ich … also, keine Ahnung, wer das war … außerdem … ich muss dringend zum Zug, ich hab noch … einen Termin.»
«Na dann, ’nen schönen Abend noch», sagte er achselzuckend und wandte sich ab, um dem nächsten Passanten seinen Pappbecher hinzuhalten. Auf dem Rücken seiner schwarzen, zerschlissenen Lederjacke stand in großen, weißen Buchstaben: CRASS. Ich wunderte mich kurz, dass ein einzelnes Wort meine Lage so treffend beschreiben konnte.
Ich betrat die Haupthalle. Schnauzbart war nicht zu sehen. Auf der Anzeigetafel fand ich den Zug und die Abfahrtszeit. Nur noch zwei Minuten! Ich sprintete vor zum Gleis und – da stand er. Leibhaftig. Der Nachtzug nach Hamburg. Kaum war ich in den erstbesten Wagen gesprungen, ertönte auch schon das Signal zur Abfahrt. Als sich kurz darauf die Zugtüre schloss und mit einem lauten Geräusch einrastete, hatte ich kurz das Gefühl, dass mir das Herz stehen blieb – es gab kein Zurück!
Und während ich überlegte, ob Malik eventuell doch von außerirdischen Wesen entführt worden war oder, noch schlimmer, mich mit seiner ganzen Story einfach nur komplett verarscht hatte und der Typ vielleicht wegen was ganz anderem hinter ihm her war – da sah ich, wie Schnauzbart auf den Bahnsteig gehetzt kam, wie angewurzelt stehen blieb und mit hochrotem Gesicht, geballter Faust und schäumend vor Wut dem vor seinen Augen davonfahrenden Zug ein paar gar nicht so zärtliche Worte hinterher hauchte.
Wie betäubt starrte ich auf die vorbeiziehende Häuserkulisse. Abgesehen davon, dass es kompletter Wahnsinn war, in diesen verdammten Zug gestiegen zu sein, hatte ich auf einmal das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Es war nur so ein unbestimmtes Gefühl. Ganz diffus. Wie eine Art Phantomschmerz. Reflexartig griff ich in die Hosentasche. Im selben Moment schoss mir das Blut in den Kopf. Oder aus dem Kopf raus, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich beides. Ich durchsuchte alles … Hose, Jacke, jede Ecke der Sporttasche … nichts. Der Schweißausbruch, der folgte, fühlte sich an, als würden alle Niagarafälle der Welt gleichzeitig aus meinen Poren schießen. Wie konnte ich nur so bescheuert sein! Ich hatte mein verfluchtes Handy vergessen. Und zwar im Flur. Mittlere Schublade, unter den Briefumschlägen. Dort, wo sie es immer versteckten. Immer.
Meine letzte Hoffnung: gleich schweißgebadet aus einem Fiebertraum zu erwachen. Um das Erwachen zu beschleunigen, biss ich mir auf die Unterlippe. Nichts geschah. Oder träumte ich jetzt bloß, dass mir die Lippe weh tat? Und selbst wenn – ich brauchte mein Handy natürlich auch im Traum! Wie sollte ich nur –
«Guten Abend, junger Mann, kann ich ihnen behilflich sein? Wohin soll denn die Reise gehen?»
Auch das noch, der Schaffner! Okay, das war’s dann, Ende Gelände! Ich wusste ja noch nicht mal, wo sich Malik befand, ob er überhaupt in den Zug gestiegen oder nicht schon am Bahnhof aufgegriffen und sofort in ein Heim gesteckt worden war. Ich wusste einfach überhaupt nichts, auch nicht, was ich mir bei dem Ganzen gedacht hatte, warum ich das alles tat, wie es weitergehen sollte, und überhaupt …
«Ich – ich – ich bin auf der Suche nach der Toilette, Herr Schaffner», kam es plötzlich aus mir heraus. Ich weiß nicht woher, es war wie automatisch. «Meine Eltern sind zwei Waggons weiter. Wir fahren nach Hamburg, meine Tante besuchen. Ich freue mich, sie bald wiederzusehen. Sie ist sehr einsam. Ich heiße übrigens, äh … Ferdinand. Ferdinand Witzel. Aber alle nennen mich Schnitzel.»
Manchmal konnte ich mich wirklich noch selbst überraschen.
«Na, das ist doch schön», antwortete der Schaffner. «Hamburg ist eine aufregende Stadt, einiges los dort, ich sag nur eins: Sankt Pauli!»
Und dann fing er an zu singen. Ich schwör’s. So richtig mit tiefer Stimme. Und dabei schunkelte er sogar ein bisschen. Wobei, so richtig singen war das nicht. Es war mehr so ein Schmunzelnd-in-sich-hinein-Brummeln: «Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, ob du’n Mädel hast oder kein’s, amüsierst du dich, denn das findet sich, auf der Reeperbahn nachts um halb eins …»