Good Girls Die First - Kathryn Foxfield - E-Book

Good Girls Die First E-Book

Kathryn Foxfield

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Beschreibung

So unheimlich wie spannend: ein mörderischer Pageturner der Extraklasse Ava wird zum Portgrave Pier gelockt, einem verlassenen, heruntergekommenen Freizeitpark in ihrer Heimatstadt. Genau wie neun andere Jugendliche, von denen sie manche kennt, manche nicht. Jeder von ihnen hat eine rätselhafte, erpresserische Einladung erhalten – mit der Anspielung auf ein großes persönliches Geheimnis, das er um keinen Preis verraten will. Bald verschwindet der Pier im Nebel, sie sind von der Außenwelt abgeschnitten. Jemand dringt in ihre Gedanken ein und schickt ihnen Botschaften. Offenbar sollen sie sich gegeneinander wenden, Opfer werden gefordert. Spielt ihnen ihr Gehirn Streiche? Ava muss sich ihrem eigenen Geheimnis stellen und die Frage beantworten, wie weit sie gehen würde, um selbst zu überleben.

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Kathryn Foxfield

Good Girls Die First

Thriller

Aus dem Englischen von Christine Blum

FISCHER E-Books

Inhalt

Du weißt, wer du [...]EINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHNSECHZEHNSIEBZEHNACHTZEHNNEUNZEHNZWANZIGEINUNDZWANZIGZWEIUNDZWANZIGDREIUNDZWANIGVIERUNDZWANZIGFÜNFUNDZWANZIGSECHSUNDZWANZIGSIEBENUNDZWANZIGACHTUNDZWANZIGNEUNUNDZWANZIGDREISSIGEINUNDDREISSIGDANKSAGUNG

Du weißt, wer du bist.

EINS

An Abenden, wenn der Wind aus der falschen Richtung wehte, schien von Allhallows Rock her verzerrte, misstönende Musik aufs Festland zu treiben. Das letzte Abendlicht ließ die Insel in nebligem Rot und Orange erstrahlen, und einen Moment lang sah es aus, als stünde sie noch immer in Brand.

Dann versank das Licht in den pechschwarzen Fluten, und die Bewohner von Portgrave wandten den Blick wieder ab. Alle Fragen, die sie sich vielleicht zu dem verlassenen Vergnügungspark mit seinem endlosen Pier stellten, lösten sich in nichts auf. Meistens vergaß Ava, dass es die Insel überhaupt gab.

Erpressung war doch eine hervorragende Methode, um das Gedächtnis aufzufrischen.

Menschenleer erstreckte sich nach rechts und links der düstere Strand. Auf der einen Seite führte ein mit Kies und Seetang bedeckter Streifen zur Strandpromenade von Portgrave hinauf, die in schmuddeliges Neonlicht getaucht war. Auf der anderen folgte eine Betonmauer der Krümmung des Ufers, wodurch die windschiefen Buden und mit Brettern vernagelten Läden wie ein Gefängniskomplex aussahen.

Weit und breit war kein Erpresser zu sehen – oder überhaupt jemand.

Zwanzig Uhr, Portgrave Pier. Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?

So stand es in ihrer »Einladung«. Anfang der Woche war diese in einem makellosen weißen Umschlag durch den Briefschlitz in den Hausflur geworfen worden. Sie bestand aus einem Foto, das niemand außer Ava je gesehen hatte. Oder je hätte sehen sollen. Auf die Rückseite hatte jemand mit einer alten Schreibmaschine das heutige Datum und die mysteriösen Anweisungen getippt. Mehr nicht. Doch es musste Erpressung sein. Aus welchem anderen Grund hätte dieser Jemand Ava einen Beweis ihres größten Geheimnisses schicken sollen?

Sie wandte sich dem Pier zu. Hinter dem Eingangstor, das durch ein Vorhängeschloss gesichert war, erstreckte er sich aufs Meer hinaus wie ein im Regen vergessener Steg aus Streichhölzern. Unter halb verrotteten Bodenplanken schäumte gierig das Wasser. Das vierzig Jahre alte Gerüst schwankte gefährlich. Und für alle, denen das noch nicht reichte, prangte am Tor ein Schild in blutroter Handschrift: HIER LAUERT DER TOD.

Einst war die Insel ein Vergnügungspark gewesen: Schaubuden, Fahrgeschäfte, eine Spielhalle, ein Nachtclub. König dieses kleinen Reichs war der Große Baldo, bis ein Brand, dessen Ursache nie geklärt wurde, es vernichtet hatte. Pflichtschuldig hatten Feuerwehr und Küstenwache die Flammen gelöscht. Der Pier war mit einem Gerüst umgeben worden, um ihn zu erhalten. Dann zogen sich alle aufs Festland zurück, und das Tor wurde versperrt.

Mehr wusste Ava nicht. Niemand in Portgrave sprach über Portgrave Pier. Oder über Baldo. Fast als hätte man beides vergessen. Ein paarmal hatte Ava ihre Großmutter gefragt, aber die hatte nur geantwortet, sie solle sich davon fernhalten. Wenn Ava nachgefragt hatte, hatte sie nicht erklären können, warum. Das Merkwürdige war: Ava hatte sich ferngehalten, bis dieser Erpresserbrief sie vor das Tor des Piers gezwungen hatte.

Aus Gewohnheit hob sie ihre Spiegelreflexkamera auf Brusthöhe und machte sich auf die Suche nach einem guten Motiv. Die verrosteten Drehkreuze und verfallenen Donutbuden strahlten eine seltsame Schönheit aus, doch Ava wollte, dass in ihren Fotos mehr steckte als nur dramatische Lichtverhältnisse und verblichene Farben. Eine Aussage. So schrieb sie es wenigstens in ihre Instagram-Untertitel. Sie hatte vor, den Geist von Kapitalismus und Misswirtschaft einzufangen, der dem Pier noch immer anhaftete, vier Jahrzehnte nachdem die Menschen verschwunden waren.

Halbherzig hielt sie die Kamera auf Armeslänge von sich, schoss ein Selfie und betrachtete es. In der Dämmerung war ihr Gesicht etwas unscharf. Dunkles, leicht gewelltes Haar, zu einem kinnlangen Blunt Cut geschnitten. Die olivfarbene Haut im schwachen Licht scheinbar makellos. Ansatzweise geöffnete Lippen, kein Lächeln. Ava lächelte auf Fotos nie; wenn sie lächelte, sah sie viel zu sehr wie eine Sechzehnjährige aus.

»Die Kamera klaut dir noch die Seele«, rief jemand hinter ihr.

Ava zog sich der Magen zusammen. Auch ohne sich umzudrehen, wusste sie, dass es ihre beste Freundin Jolie war, die über die Wellenbrecher näher kam. Ava und Jolie – ein Paar wie Pech und Schwefel, wie Pommes und Ketchup, wie diese gruseligen Zwillinge aus The Shining. Einmal war Jolie vom Uferdamm gefallen und hatte sich den Arm gebrochen, und wochenlang hatte auch Avas eigener Arm weh getan. Und als Avas Haare nach einem unseligen Färbeversuch schreiend orange wurden, hatte Jolie ihre ebenso gefärbt. Sofort war sie von allen nur noch »Clown Bozo« genannt worden, und Avas Missgeschick war von Jolies überlebensgroßem knallorangem Schatten überdeckt worden.

Sicher, manchmal hatte Jolies Freundschaft etwas Erdrückendes. Aber meistens hätte sich Ava niemanden sonst an ihrer Seite gewünscht. Das hier jedoch war etwas anderes. Mit dieser Erpressung musste Ava allein fertigwerden, ohne dass Jolie sich einmischte oder ein Urteil abgab. Eigentlich hätte Jolie gar nicht wissen sollen, dass sie hier war.

Ava schaltete die Kamera aus und wartete, bis das Objektiv sich eingefahren hatte. Als sie aufsah, lehnte ihre Freundin schon an einem mit Graffiti besprühten Werbeplakat vor ihr. Funkelte sie unter der Kapuze eines Riesenpanda-Einteilers an, aus der wild die noch immer orangen Spitzen ihres blonden Kraushaars hervorlugten. »Komisch, dich hier zu sehen. Ich dachte, du hättest heute Abend große Pläne mit Photoshop?«

Der genervte Unterton war nicht zu überhören. Ava ging nicht darauf ein. »Und du? Wolltest du nicht lernen? Und dein Handy stummschalten?«

Jolie verengte die Augen, sichtlich unschlüssig, ob es Sinn hatte, weiter sauer auf Ava zu sein, da auch sie geschwindelt hatte. »Also, was machst du hier?«

Ava wies mit dem Kinn auf den Pier. »Mein Ding. Verfall der Zivilisation.«

»Deine vierzehn Follower werden überschnappen vor Begeisterung.«

»Es sind neunzehntausend, aber ist ja egal.« Ava machte eine kurze Pause. »Bist du mir gefolgt?«

Jolies Blick blieb finster. »Hä? Nein. Ich hab da per Post so ’ne Einladung gekriegt.« Sie verzog das Gesicht, krauste die sommersprossige Nase. »Wer verschickt denn heutzutage noch was mit der Post?«

Alte Leute und Erpresser. Betonung auf Erpresser. Also hatte auch Jolie ein Geheimnis, aufgrund dessen sie hier war.

»Was stand denn drin?«, fragte Ava.

Jolie musterte sie misstrauisch. Schließlich zog sie ein zerknittertes Stück Papier aus dem Einteiler und klatschte es Ava praktisch vor die Brust. »Kannst es gern sehen.«

Ava strich das Papier glatt. Es sah aus wie ein Zirkus-Werbeplakat aus dem neunzehnten Jahrhundert. In der Mitte saß steif eine bärtige Dame auf einem hochlehnigen Stuhl, auf ihrem Knie stand eine winzige Frau. Umrahmt wurden die beiden von einem Jungen, der mehr Wolf als Mensch zu sein schien, und einem Mann mit Elefantiasis. Monster und Missgeburten! Komm ins Kuriositätenkabinett, lautete die Überschrift über ihren Köpfen.

Ava drehte es um. Auf der Rückseite standen die gleichen Instruktionen wie die, die sie bekommen hatte. Zwanzig Uhr, Portgrave Pier. Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?

Nach Avas Erfahrung gab es zwei Arten von Geheimnissen auf der Welt. Solche, die ihre Macht verloren, wenn man sie verriet, und solche, die alles veränderten. Die das Innere einer Person nach außen kehrten und zeigten, wie sie wirklich war. Zu welcher Sorte ihr eigenes gehörte, wusste sie. Doch was war mit Jolies?

»Sagt dir das Bild was?«, fragte sie.

»Sagen?«

»Na ja, weil meine Einladung irgendwie … persönlich war.«

Jolies verhärtete Miene wurde etwas weicher. »Ich dachte, da will sich jemand über mich lustig machen. Ein blöder Scherz. Wegen Max, weißt du. Ein paar assige Kids in der Nachbarschaft rufen ihm Missgeburt nach, wenn er rausgeht.«

»Oh«, sagte Ava.

Bei einem Hausbrand im vorigen Sommer wäre Jolies älterer Bruder fast gestorben. Eine unbeaufsichtigte brennende Zigarette, und alles hatte so schnell in Flammen gestanden, dass er davon eingeschlossen worden war. Es würde sicher noch fünf Jahre dauern, bis er mithilfe qualvoller Hauttransplantationen und plastischer Chirurgie wieder ein richtiges Gesicht hatte.

Ava kratzte sich am Kopf. Ihr Haar war schon ganz salzverklebt. »Das ist hart.«

Jolie nahm ihr die Einladung wieder ab. »Wenn ich rauskriege, wer das verbrochen hat, der kriegt so was von in die Eier, das sag ich dir. Deine ist also anders? Zeig mal her.«

Ava zögerte, wie viel sie preisgeben wollte. Schon dass eine Person außer ihr – der mysteriöse Erpresser – ihr Geheimnis kannte, war zu viel. Sie zog die Einladung aus der Hosentasche und drehte sie zwischen den Fingern.

Jolie schnappte sie sich und betrachtete das Foto. »Ist das das Parkhaus am Oracle? Warum bitte schickt dir jemand ein Bild von ’nem Parkhaus in der Stadt?«

Ava öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.

»Hm. Was ist in dem Parkhaus passiert?«

»Nichts.«

»Tu nicht so! Ich merk doch, wenn du was vor mir verbirgst. Dann wirst du total rot und fängst an zu schwitzen.«

»Und ich merke, wenn du was vor mir verbirgst. Zum Beispiel, was dieses Missgeburtposter wirklich bedeutet.«

Sie funkelten einander an. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Ava es für undenkbar gehalten, dass Jolie und sie je Geheimnisse voreinander haben könnten. Doch nicht nur sie verbarg also etwas vor Jolie.

Es war Jolie, die das Blickduell abbrach. »Ist das Oracle nicht der totale Dogging-Treff?«

»Woher weißt du denn so was?!«

»Keine Ahnung. Müsstest nicht eher du das wissen, mit deiner Begeisterung dafür, Betonpfeiler und solches Zeug zu fotografieren, du perverse Nudel?«

Ava brachte ein Lächeln zustande. Fast hätte sie es sogar geschafft zu lachen, doch da begann in der Ferne eine Kirchturmuhr zu schlagen. Jeder Schlag rammte sich ihr in die Magengrube. Sie sah zum Pier hinüber. Dort flackerte ein Licht auf. Eine nach der anderen erwachten die Laternen zum Leben, glommen düster-orange durch den Nebel. Noch nie hatte Ava auf der Insel Licht gesehen; sie hätte nicht gedacht, dass es dort noch Strom gab.

»Da macht sich jemand ganz schön viel Mühe für einen stinknormalen Donnerstagabend«, sagte sie.

»Also, ehrlich gesagt«, sagte Jolie, »so fängt doch im Prinzip jeder Horrorfilm an, den ich je gesehen hab. Jemand bestellt zwei junge Mädels auf mysteriöse Weise zu einem verfallenen Pier – und schwups, passiert der erste Mord.«

Ava spähte durch den Absperrzaun. »In dem Fall wärst du erledigt. Im Film erwischt es die bösen Mädchen immer zuerst.«

»Oh Shit, stimmt. Vor allem, wenn sie aussehen wie ein Comedy-Panda.«

»Was mich zu meiner nächsten Frage bringt …«

Jolie zuckte mit den Schultern. »Meine anderen Klamotten sind alle in der Wäsche.«

Ava lehnte sich an den Zaun. Jolie kam zu ihr herüber. Ihre Hand verschwand im Halsausschnitt ihres Kostüms und kam mit einem abgegriffenen Edelstahlfeuerzeug wieder zum Vorschein. Sie schnippte es an, betrachtete die Flamme, bis der Wind sie ausblies, schnippte wieder. Schnipp, schnipp, Flamme. Und wieder von vorn.

Schließlich klappte sie den Deckel zu. »Ich frag mich die ganze Zeit, warum wir hierher bestellt wurden. Da hält sich jemand wohl für so schlau wie Stephen Hawking mit diesen Einladungen.«

Ava richtete sich auf. Über die verlassene Uferpromenade kam jemand auf sie zu. Sie kniff die Augen zusammen. Die lässige Haltung der Schultern war ihr vertraut. »Übrigens, wo wir’s gerade von sich für schlau halten haben …«

»Ist das der notgeile Clem?«

Ava verdrehte die Augen. Jolie hasste alles, was die meisten Leute toll fanden, egal ob Klamotten, Musik oder Leute. Bei Clem kam all das zusammen. »Das ist gemein. Aber ich glaube, ja.«

Clem erreichte den Schein einer Straßenlaterne und bemerkte sie. Sofort blieb er stehen. Durch den Schattenwurf der Laterne wurde er zu einer dunklen, von Licht umrahmten Silhouette. Der Anblick erinnerte an ein Albumcover, auf gekünstelte Art mysteriös. Ava konnte nicht widerstehen, die Kamera zu heben. Das Blitzlicht ließ ihn zusammenzucken. Dann kam er über die Promenade zu ihnen herüber. Brille mit roter Fassung, Vintage-Hosenträger über einem zerschlissenen Kraftwerk-T-Shirt.

»Was macht ihr zwei denn hier?«, fragte er zu laut und streifte sich die Kopfhörer von den Ohren. Jetzt hingen sie ihm um den Hals und spuckten dissonante elektronische Klänge aus.

Ava starrte ihn an. Seine Wollmütze war tief in die Stirn gezogen, um seine vollen Lippen spielte ein verächtliches Lächeln. Lippen, von denen Ava noch genau wusste, wie es sich angefühlt hatte, als sie mit ihren Zähnen daran geknabbert hatte. Scham stieg ihr in die Wangen.

»Hallo? Ich hab euch was gefragt?«

»Dogging«, sagte Ava und bereute es im selben Moment. Sie klappte den Mund zu und nahm sich vor, ab jetzt stumm zu bleiben, koste es, was es wolle.

Verwirrt musterte Clem Jolie in ihrem Pandakostüm. »’kay, alles klar.«

»Hast du auch ’ne Einladung gekriegt?«, wollte Jolie wissen. »Zeig her.«

»Wow, da spielt sich aber jemand auf.« Etwas widerstrebend zog er einen DIN-A5-Zettel aus der Tasche und hielt ihn Jolie hin.

Drei Leute. Drei Geheimnisse. Ava beugte sich vor, um das Papier besser sehen zu können. Es war ein Werbeflyer für einen Liveauftritt im Black Box an der South Street, wie sie dort zu Dutzenden auf dem Bürgersteig herumlagen. Er zeigte den Schattenriss einer nackten Frau mit ekstatisch zurückgeworfenem Kopf. White Flag, stand darunter. Heute Abend live.

White Flag, so nannte Clem sich auf den Internetseiten, auf denen er seine Musik bewarb. Hatte bei ihm die Erpressung etwas mit seiner Musik zu tun? Wobei das nicht die Frauensilhouette erklärte.

»Sehr schick.« Jolie bedachte Clem mit einem ihrer Blicke. Sie hatte ihre Augenbrauen absichtlich so gezupft, dass die eine immer skeptisch erhoben zu sein schien. Ava wusste genau, wie sehr einen so ein Blick aus dem Konzept bringen konnte.

Mit zusammengebissenen Zähnen blickte Clem finster zurück. »Das ist kein echter Flyer.«

»Schon klar«, sagte Jolie. »Weiß doch jeder, dass deine einzige Bühne dein Zimmer ist und deine Albumcover nur deshalb nicht total billig aussehen, weil du Avas Fotos dafür missbrauchst.«

»Er hat um Erlaubnis gefragt«, sagte Ava leise. Es war seit langem das erste Mal, dass Jolie ihre Fotos auch nur ansatzweise lobte.

»Wie du meinst.« Jolie rüttelte an der Absperrung wie ein gefangenes Monster. »Und, gehen wir rein?«

»Was, sollen wir etwa rüber zur Insel laufen?«, fragte Clem.

»Kannst auch stepptanzen, mir egal«, gab Jolie zurück. »Los, kommt.«

Sie zog sich an dem Absperrzaun hoch und kletterte darüber. Die Bohlen, auf denen sie landete, knarrten unheilvoll, und zwei aufgescheuchte Ratten huschten in die Deckung eines Mini-Schaukelhubschraubers für Kleinkinder. Ava lief ein Schauder über den Rücken.

»Ladys first?«, sagte Clem hoffnungsvoll.

Ava schüttelte den Kopf und sah zu, wie er widerstrebend die Oberkante des Absperrzauns packte. Ihr war seltsam und peinlich zumute. Sie hatten sich einmal geküsst. Na und? Das war doch kein Grund, weshalb sie nicht mit ihm reden konnte wie mit jedem anderen Menschen. Sie könnte ihn zum Beispiel vor den Ratten warnen, dachte sie. Oder ihn bitten, vorsichtig zu sein.

»Sei … die Ratten«, war das Einzige, was herauskam. Du liebe Güte.

»Spannender Vorschlag, mach ich, danke.« Er schwang sich über den Zaun.

»Sei die Ratten?«, flüsterte Ava vor sich hin, während sie ihre Kamera durch eine Lücke schob, um ebenfalls hinüberzuklettern. »Bist du noch zu retten?«

Auf der anderen Seite hob sie die Kamera wieder auf. Zu dritt machten sie sich auf den Weg den Pier entlang, immer auf der Hut, nicht in Löcher zu treten. Clem ging voraus, Ava und Jolie folgten. Unter ihnen brachen sich Wellen in der Finsternis.

»Was ist los?«, wisperte Jolie Ava zu. »Du bist so komisch – noch komischer als sonst.«

Avas Blick flitzte zu Clem und gleich wieder weg. »Nichts.«

»Clem?« Jolies Augen wurden groß. »Du und Clem?«

»Es war ein einziges Mal, und es ist mir einfach nur peinlich. Können wir das Thema sein lassen?«

»Auf keinen Fall. Dass du davon kein Wort gesagt hast!«

»Ich wollte doch nicht, dass die ganze Schule Wind davon kriegt! Weil er so …«

»Notgeil ist? Und wie. Der hat sicher schon die Hälfte der Mädels aus unserem Jahrgang im Bett gehabt. Oh, Clem, deine Musik ist sooo toll!«, säuselte sie. »So ein Charmebolzen … ohne das ›Charme‹ davor.«

Ava verkniff sich ein Lächeln. »Weißt du«, flüsterte sie, »er hat mir todernst erzählt, Major-Seventh-Akkorde wären der Klang der Liebe, und dann hat er doch tatsächlich eine Mundharmonika aus dem Ärmel gezogen – er scheint sie immer da drin zu haben – und mir was vorgespielt.«

»Und das fandest du anziehend, weil?«, fragte Jolie nur.

Ava suchte nach einer Antwort. Leute wie Jolie würden mit Typen wie Clem nie etwas anfangen können. Ava eigentlich auch nicht. In der Schule stolzierte er herum und tat, als sähe er all die Mädchen gar nicht, die ihn anhimmelten. Aber mit einem beiläufigen Grinsen schaffte er es sofort, sich die Nächste zu sichern. Es wäre gelogen gewesen zu behaupten, dass Ava nicht auch die letzten paar Jahre immer wieder verstohlene Blicke auf ihn geworfen hätte. Und ein bisschen geträumt. Aber mehr nicht; eine hippe Brille und ein Zwinkern allein zogen bei ihr nicht. Doch dann war sie online mit Clem in Kontakt gekommen. Und auf dem Bildschirm war er plötzlich ein ganz anderer Mensch gewesen – und diesem Clem hatte Ava nicht widerstehen können.

Also hatten sie angefangen, übers Netz Fotos und Musikstücke auszutauschen, und Clem hatte ein paar von Avas Bildern für seine Albumcover verwendet. Der nächste logische Schritt war gewesen, sich mal abends nach der Schule zu treffen. Doch das war total in die Hose gegangen. Ava hatte sich unsäglich gehemmt gefühlt und kaum einen Satz herausgebracht, was aber völlig egal gewesen war, weil Clem ohne Punkt und Komma von sich erzählt hatte. Ihn zu küssen war die einzige Möglichkeit gewesen, die Qual zu beenden, aber auch das war kein bisschen wie in ihren Tagträumen gewesen. Nass und etwas knabbernd.

»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, wollte Jolie wissen.

»Ich hab nicht wirklich nachgedacht«, gab sie zu.

»Jedenfalls nicht mit deinem Hirn.«

Ava gab Jolie einen scherzhaften Rippenstoß. »Hör schon auf.«

»Hey Clem«, rief Jolie nach vorn. »Ava sagt mir gerade, sie findet dich –«

Ava hielt ihr die Hand vor den Mund. »Sei still, oder ich werf dich ins Wasser!«

Jolie nickte gehorsam. Ava nahm die Hand weg. »Ava liebt dich!«

Ava funkelte sie an. »Tue ich nicht«, sagte sie matt.

Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Clem den Austausch. »Okay«, sagte er langsam und ging mit einem Kopfschütteln weiter. Hätte Ava es nicht besser gewusst, sie hätte geglaubt, dass er verletzt wirkte. Aber sie wusste es besser.

»Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich dich hasse?«, flötete sie Jolie zu.

Jolie nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und drückte ihr einen nassen Kuss auf die Lippen. Dann lachte sie und marschierte weiter. Ava wischte sich den Mund ab und sah ihr scharf nach, wie sie unbeschwert den Pier entlangschlenderte. Jolie benahm sich nicht, als machte sie sich Sorgen, dass sie erpresst wurde. Andererseits war es momentan schwer, Jolies Verhalten zu deuten. Zwischen ihnen herrschte Spannung; Ava war sich nicht sicher, ob seit Max’ Unfall oder erst seit dem Oracle.

»Sei kein solcher Angsthase und komm«, rief Jolie über die Schulter.

Ava setzte sich in Trab, um aufzuholen. Zu dritt betraten sie durch einen großspurigen schmiedeeisernen Torbogen die Insel Allhallows Rock. Hier roch es verwahrlost und verlassen, nach modrigem Holz und faulendem Seetang. Die Meeresbucht im Hochsommer eben. Der Große Baldo wünscht Herzlich Willkommen, verkündete eine verblichene Werbetafel, die Baldo selbst zeigte, einen Mann mittleren Alters in einem altmodischen Anzug. Um die Taille war er mit einer funkelnden Kette gefesselt, als wäre er ein Verbrecher oder Psychopath.

Doch nicht Baldo zog Avas Aufmerksamkeit auf sich. Im Bildhintergrund stand ein zweiter Mann. Jünger, die Augenpartie maskenartig schwarz überschminkt, den Mund zu einem teuflischen Grinsen verzogen. Ava erschauerte.

»Mann, ist das ein Schrottplatz«, sagte Jolie.

Ava riss den Blick von der Werbetafel los. Jolie und Clem spähten bereits zu einem runden Gebäude hinüber, das auf dem höchsten Punkt der kleinen Insel thronte. Im Erdgeschoss beherbergte es die Spielhalle, darüber den Nachtclub. Es hatte den Brand unversehrt überstanden und wirkte noch immer so billig und geschmacklos wie an dem Tag vor vierzig Jahren, als die Insel aufgegeben worden war.

Rechts davon lagen Aussichtsplattformen und Fahrgeschäfte einschließlich einer riesigen hölzernen Achterbahn, die vom Feuer fast völlig zerstört worden war. Links führte zwischen ein paar gemauerten Gebäuden eine Treppe zur tiefer gelegenen Inselhälfte hinab. Dort unten, am felsigen Ufer, schon halb vom Meer verschluckt, war schattenhaft eine Vielzahl von Kirmeszelten und -buden auszumachen.

»Ich hatte mir das hier …« Ava suchte nach dem richtigen Wort. »Romantischer vorgestellt«, sagte sie schließlich, obwohl es das nicht so recht traf.

»Fürs Dogging?«, fragte Clem grinsend.

Ihr wurde der Mund trocken. Alles, woran sie denken konnte, war, wie sie sich geküsst hatten. Keine gute Erinnerung.

Jolie legt ihr schwungvoll den Arm um die Schultern. »Ava wird den Moment festhalten, wo ich rausfinde, wer uns hierher bestellt hat, und ihm die Eier platttrete.«

»Du hast so eine zauberhafte Art, dich auszudrücken«, sagte Clem.

»Ich kann dir gern mal einen Songtext schreiben.«

»Danke. Aber meine Stücke haben keinen Text.«

»Weil der zu sehr von den Major-Seventh-Akkorden ablenken würde?«, versetzte Jolie und klemmte abwartend die Unterlippe zwischen die Zähne.

Clems Blick huschte zu Ava. Sie starb innerlich tausend kleine Tode. Um der peinlichen Lage zu entgehen, marschierte sie über den großen offenen Platz vor ihnen in Richtung Spielhallengebäude. Sie war nicht hier, um sich in Probleme mit Jungs hineinzusteigern. Sie wollte herausfinden, wer sie erpresste.

Vor einem Wegweiser mitten auf dem Platz blieb sie stehen. Die Pfeile waren fast alle abgefallen. Auf dem einzigen verbliebenen stand lediglich Whispers. Er zeigte nach links auf die Treppe zum Jahrmarkt.

Ava ging dorthin und spähte die Treppe hinab, die an der Klippe entlangführte. Schemenhaft erspähte sie alte Stoffzelte, von Wind und Wetter zerfetzt. Vierzig Jahre lang hatten die Gezeiten an dem felsigen Strand genagt und das Kirmesareal teilweise überflutet. Wasser leckte an den Fundamenten der Buden.

Etwas bewegte sich.

Zuerst hielt Ava es für flatterndes Zelttuch im Wind. Doch dann kam es in Sicht.

Es war ein schattenhaftes Wesen, menschlich und doch wieder nicht. Seine Glieder hatten seltsame Gelenke, als sei jeder einzelne Knochen gebrochen worden. Die Augen bestanden aus Leere. Mit schauderhaften, ruckartigen Bewegungen überquerte es die freie Fläche zwischen zwei Zelten, wankte durch das Brackwasser, in dem sich die Lichter spiegelten.

Und war verschwunden.

Bebend stieß Ava den Atem aus. Ruhig bleiben. Ganz ruhig. »Habt … habt ihr das gesehen?«, stammelte sie.

»War da jemand?« Jolie ließ die Fingerknöchel knacken und kam zu ihr herüber.

»Weiß nicht. Vielleicht.« Nun, da es nicht mehr zu sehen war, fragte Ava sich, ob es sich nicht um ein Hirngespinst gehandelt hatte. Oder – zuckte ein flüchtiger Gedanke in ihr auf – war dieses Ding ihr Spiegelbild gewesen? War die pechschwarze Schuld in ihr zum Leben erwacht, hatte die Gestalt des Monsters angenommen, das Ava insgeheim war? Sie zwang den Gedanken nieder. »Ich dachte, ich hätte was gesehen. Da unten. Aber ich glaub nicht, dass es –«

»Okay. Zeit für ein paar Antworten.« Ohne zu warten, bis Ava den Satz beendet hatte, eilte Jolie zur Treppe.

»Hey, wie war das mit dem Anfang so ziemlich jeden Horrorfilms?«, rief Ava ihr nach.

»Das hier ist das echte Leben«, gab Jolie zurück. »Da kommen die bösen Mädchen immer durch.«

ZWEI

Ava machte einen Schritt ins knöcheltiefe Wasser und versank in einem dicken Schlammbett. Beim Anziehen waren ihr die Vintage-Schlaghosen aus schwerem Cordstoff noch praktisch erschienen. Jetzt saugten sie sich sofort mit dem halben Ozean voll und klebten ihr an den Waden. Jolies Pandakostüm erging es nicht besser, aber sie schien sich nichts daraus zu machen.

»Der Jahrmarkt des Großen Baldo«, sagte sie. »Heute nicht mehr ganz so großartig.«

Ava schoss rasch ein paar Fotos von dem überschwemmten Areal. Der Pier und der Hauptplatz waren in ihrer Verwahrlosung faszinierend gewesen. Doch der Jahrmarkt, auf drei Seiten von unerbittlich schroffen Felsen umgeben und auf der vierten vom ebenso unerbittlichen Meer? Ava hatte Mühe, dem stinkenden Morast etwas Schönes abzugewinnen.

Clem und Jolie begannen, die dunklen Gassen zwischen den zerfetzten Zelten und verrottenden Buden zu erkunden. Ava schlenderte zu einem Angelspiel, einer sechseckigen, nach allen Seiten offenen Bude, mittendrin ein Bassin, in dem in einer grünlich-dickflüssigen Pfütze noch immer gelbe Schwimmenten herumlagen. Die darüber hängenden Gewinne waren zum Teil aus den Plastiksäcken gefallen, Spielzeugpistolen und Haarreifen, nicht weniger knallbunt als am Tag ihrer Herstellung. So würden sie vermutlich noch in fünfhundert Jahren geduldig auf Kundschaft warten.

Ava fotografierte die Gewinne, die mit Angeldraht an der Decke befestigt waren. Plüschtiere, die aussahen wie verschimmelte Piñatas. Wie die Spielhalle war der Jahrmarkt bei dem Brand, der die Fahrgeschäfte zerstört hatte, nur leicht durch den Rauch geschädigt worden. Man hätte ihn retten können. Die Insel hätte wiedereröffnet werden können. Warum nur hatte der Große Baldo alles einfach stehen und liegen lassen, wie es war?

»Wir leben in einer Wegwerfwelt«, murmelte sie – der Titel des neuesten Stücks von Clem. Sie hatte das Cover gestaltet, ein paar arbeitslose Jugendliche, die auf einem müllübersäten Strand saßen.

Im spiegelnden Display bemerkte sie eine Bewegung hinter sich. Nach Luft schnappend wirbelte sie herum, die Kamera erhoben, als könnte diese sie beschützen, und drückte im Reflex auf den Auslöser.

Es war nur Clem. Im Blitzlicht hob er sich überdeutlich vor dem Rot und Rosa des Abendhimmels ab. Auch er atmete scharf ein. Sie starrten sich an, er fragend, Ava voller Panik. Seine Lippen öffneten sich leicht, als wolle er etwas sagen, aber die Worte steckten irgendwo fest.

»Hey, ihr Loser«, ertönte da Jolies Stimme. »Kommt mal her.«

»Was gibt’s denn?« Dankbar für die Rettung platschte Ava zu Jolie, die hinter einem Teetassenkarussell hervorspähte.

»Hört ihr das?«, fragte sie.

Hinter der nächsten Budenzeile ertönte verzerrtes Piepen. Wie aus einem alten Computerspiel. Außerirdische Raumschiffe, die die Erde beschossen, oder so.

»Da ist jemand«, flüsterte Ava. »Ich höre Stimmen.«

»Ich gebe dir Deckung.« Und Jolie gab ihr einen solchen Klaps auf den Hintern, dass sie nach vorn stolperte.

Ava duckte sich zwischen die Zelte. Hinter der nächsten Ecke war etwas zu sehen. Bunte Lampen, deren knalliges Licht im Wasser verschwamm. Stimmen. Gelächter. Ein schweres Aufklatschen, das Wellen zu ihr herüberschwappen ließ. Sie schielte zurück zu Jolie. Die bedeutete ihr weiterzugehen. Ava holte tief Luft, schlich zu dem Zelt, das ihr den Blick versperrte, und spähte vorsichtig daran vorbei.

Zwischen den unbeleuchteten Attraktionen funkelte strahlend hell ein Hau-den-Lukas-Spiel – von ihm kam das Piepen. Davor standen drei Leute. Einer mit dem Rücken zu ihr, einen Gummihammer in der Hand. Er hob ihn hoch über den Kopf und ließ ihn auf die Platte niedersausen. Das Lichtband des Spiels entflammte bis ganz oben, Discoblitze zuckten auf, Musik ertönte.

»Ha!« Der Typ ließ den Hammer fallen und reckte die Arme in die Luft. Die Lichter beleuchteten sein tiefbraunes Sixpack. Olly Okeke, Portgraves Antwort auf Captain America. Billiger Trainingsanzug, Neun-Karat-Goldkettchen vom Trödelmarkt, drei Jahre in Folge Gewinner des Jugend-Bodybuildingwettbewerbs von Portgrave. Langsam ließ Ava die Luft entweichen. Olly war ganz in Ordnung, auch wenn er herumlief, als hätte er heiße Kohlen in den Achselhöhlen, so angespannt waren seine Arme. Vielleicht war das eine natürliche Folge davon, wenn man Muskeln hatte, mit denen man fast aussah wie ein Luftballontier.

Sie schob sich noch etwas weiter vor. Neben ihm standen zwei Mädchen und sahen ihm bewundernd zu. Scarlett Matthews und Livia Holt. Ava runzelte die Stirn. Also waren sie zu sechst auf der Insel? Jolie und – leider – auch Clem kannte Ava gut. Aber mit Livia hatte sie schon länger kaum noch etwas zu tun, und Scarlett war lediglich ein solariumgebräuntes Gesicht, dem sie ab und zu auf dem Gang begegnete. Schul-High-Society, die sich nur mit Schulstars wie Olly und Clem abgab, nicht mit den Avas dieser Welt. Was für ein Erpresser bestellte sechs so zusammengewürfelte Leute auf eine verlassene Vergnügungsinsel Hunderte von Metern vor der Küste?

»Nicht schlecht, Dora the Explorer«, sagte Jolie laut.

Die drei Neuzugänge drehten sich erstaunt um.

»Hey, Olly, Alter«, rief Clem erfreut und quetschte sich an Ava vorbei. Clem und Olly waren dicke Freunde. Wenn die beiden in der Schule zusammenstanden, war das schon von weitem an den Lachsalven zu hören, die durch die Gänge tönten. Eine Bromance nannte Clem es.

»Kleiner!«, gab Olly zurück und boxte Clem so fest in den Arm, dass dieser fast zu Boden ging.

»Autsch.« Clem rieb sich den Arm. »Und, was geht?«

»Ich sahne hier legendär ab, und die Mädels wünschten, ich wäre nicht so schwul.« Olly streifte einen Ärmel hoch und spannte den überdimensionalen Bizeps an.

»Schon gut, schon gut, steck’s wieder weg«, sagte Clem. »Ich komm mir ganz mickrig vor. Und ganz ehrlich ein bisschen verwirrt, was meine sexuelle Orientierung angeht.«

»Allzeit bereit.« Olly zwinkerte Clem zu. Dann hob er den Hammer auf und stieß ihn seinem Freund vor die Brust. »Zeig mal, was du drauf hast.«

»Nicht viel«, sagte Clem.

»Das hast du gesagt.« Olly grinste und hob die Hand zum High-Five mit Clem. Der hob nur die Augenbrauen, also klatschte Olly sich einfach selbst ab.

Jolie schnappte ihm den Hammer aus der Hand. »Wenn ihr mit den Macho-Sprüchen fertig seid, macht mal Platz, ihr Kleinkinder, und erstarrt in Ehrfurcht vor der Kraft des Pandas.«

»Pandas und Kraft? Ich dachte, die wären dafür bekannt, dass sie’s nicht so haben mit dem Einen-Hochkriegen?«, sagte Scarlett.

Das hübscheste und fieseste Mädchen der Schule – ein wandelndes Klischee. Mit dramatisch geschwungenem Lidstrich und in einem hautengen T-Shirt-Kleid mit Totenschädel-Gekreuzte-Knochen-Motiv. Darin war es sicher nicht leicht gewesen, über den Absperrzaun zu kommen. Andererseits, Scarlett verbrachte fast jeden Abend in der AliKatz-Tanzschule, daher war sie vermutlich noch fitter als Olly. Unter ihrem Kleid zeichnete sich jeder ihrer schlanken Muskeln ab.

Jetzt funkelte sie Ava an. »Ist was?«

Hastig wandte Ava den Blick ab. »Pandas können tatsächlich stärker zubeißen als die meisten Fleischfresser«, sagte sie. »Eisbär, Tiger, Braunbär, Löwe, dann kommt schon der Riesenpanda.«

Alle starrten sie an.

»Hab ich im Internet gelesen«, schloss sie. Und hätte sich in den Hintern treten können. So hatte die alte Ava geredet. Die neue Ava war cool und überlegen und schwieg, wenn sie nichts Sinnvolles zu sagen hatte.

Livia lachte abrupt auf. »Sind Pandas echt Fleischfresser? Nie im Leben. Ich dachte immer, die wären, na ja, was Mythisches. Und machen in der Freizeit Karate.«

»Was hast du denn eingeschmissen«, murmelte Scarlett.

»Alles.« Livia grinste sie an und flatterte mit den Augenlidern. Halb neun, und sie war schon high. Nicht dass Ava überrascht gewesen wäre. Jeder von ihnen war für irgendwas bekannt. Scarlett war die sexy Tänzerin, Jolie das aggressive Großmaul. Clem der Musiker, Olly die Sportskanone. Ava machte Fotos, und Livia nahm Drogen.

Früher waren Ava und Livia Freundinnen gewesen. Nicht so wie Ava und Jolie. Eher so, dass man sich gegenseitig Freundschaftsbändchen knüpfte und sich dann wieder tagelang nichts zu sagen hatte. Nur waren aus den Tagen irgendwann Wochen geworden und dann Monate. Heutzutage sah Ava Livia in ihrer zu großen, nach Ammoniak riechenden lila Lederjacke nur noch aus der Ferne. Wie sie mit Leuten rauchte, die Ava gar nicht kennenlernen wollte. Aber Avas Bändchen trug Livia immer noch.

Jolie schwang den Hammer. Der Knall ließ Ava zusammenfahren. Die Flipperkugel sauste auf kaum halbe Höhe der Messlatte, was Jolie als »Weichei« auswies. Es schien ihr nichts auszumachen; prahlerisch tänzelte sie auf Olly zu. Er grinste sie verschmitzt an und wischte ihr mit einer gezielten Bewegung die Pandakapuze vom Kopf. Sie packte ihn am Arm, und die beiden fingen lachend an zu rangeln im Versuch, einander zum Stolpern zu bringen. Ava verfolgte sie mit der Kamera – immer schussbereit.

Sie beneidete Jolie um ihre Kühnheit. Wie diese sich munter auf jede Situation einließ, sogar mit Beinahe-Fremden, unbekümmert darum, was andere von ihr dachten. Jolie konnte einschüchternd und scharf sein, aber langweilig war sie nie.

Online versuchte Ava, ihr ähnlicher zu sein. Ohne Scham dazu zu stehen, was sie mochte, selbstsicher ihre Meinung zu vertreten, offen und witzig zu sein. Doch draußen in der Wirklichkeit verwandelte sich diese Version von ihr in eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzog.

»Lass mich los.«

Jolies Ton ließ Ava aufsehen. Diese lächelte noch immer, aber auf verärgerte Weise. Olly bemerkte es nicht; er hielt sie am Ärmel fest und wollte sie im Kreis herumschleudern. Er wusste nicht, wie sehr Jolie es hasste, nicht die Oberhand zu haben.

»Auuu!« Abrupt ließ er sie los und rieb sich den Arm. »Was soll das, warum zwickst du mich?«

Jolie zog ihren Ärmel zurecht. »Du wolltest ja nicht hören.«

Clem trat zwischen die beiden. »Hey, hey, kein Streit, okay?«

»Entspannt euch«, sagte Livia und wühlte in den Taschen der lila Lederjacke. »Hier ist was zur Stärkung. Ich hab mich für alle Fälle gewappnet.«

Ava schoss ein Foto von ihr. Selbst im Blitzlicht blieben ihre Pupillen geweitet. Schwarze Löcher, die mit der bleichen Haut und den roten Strähnen im dunklen Haar kontrastierten. So war sie nicht immer gewesen. Noch vor knapp über einem Jahr war sie zwar zu allem bereit gewesen, aber nicht so selbstzerstörerisch, so kaputt. Damals hatten es alle noch witzig gefunden, wie Livia stets die Erste war, die einen Joint ansteckte oder eine Pille schluckte. Irgendetwas hatte sich verändert.

Jolie musterte Livia von oben bis unten. »Lass das Drogendealen. Das hier ist keine Party.«

»Ja, aber was ist es dann?«, wollte Olly wissen.

»Klar ist es eine Party«, sagte Scarlett. »Was sonst?«

Das unbehagliche Gemurmel der anderen ließ ahnen, dass sie ähnlich wie Ava nicht zum Spaß auf den Pier gekommen waren.

»Kann ich mal deine Einladung sehen?«, fragte Ava.

Scarlett reichte ihr eine edel wirkende Karte mit Goldprägung und verschnörkelter Schrift – eine Einladung zu einer Soirée auf einer Yacht. Doch auf der Rückseite standen dieselben getippten Anweisungen wie auf den vorigen Einladungen. Zwanzig Uhr, Portgrave Pier. Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?

»Findest du nicht, dass das mit dem Geheimnis komisch klingt?«, fragte Ava.

»Nö. Yachtpartys sind wahnsinnig exklusiv, weißt du. Mein Gott, letztes Wochenende war ich auf der von den Stumpff-Montjoys, es war der Hammer. Ich hab noch nie so viele reiche Männer auf einem Haufen gesehen.«

Olly schüttelte den Kopf. »Reiche alte Männer. Du bist echt schamlos.«

»Überrascht dich das etwa?«, fragte Jolie. »Gegen Scarlett hat doch selbst ’ne Pfütze in der Sahara Tiefgang.«

»Ph. Dafür hab ich eine Menge Sachen, die du nicht hast.« Scarlett klimperte mit der Männer-Rolex, die ihr lose ums Handgelenk hing. »Und eines Tages heißt’s hasta la vista, dann segle ich raus aus diesem Loch hier, direkt nach Monaco. Ich schick dir gern eine Postkarte in die miefige Sozial-WG, in der du dann wohnst, Jolie.«

Die beiden Mädchen starrten einander an. Beide waren in derselben heruntergekommenen Straße aufgewachsen, beide in Familien, die kaum über die Runden kamen. Doch während Jolie das stolz zur Schau trug wie eine Auszeichnung, schien Scarlett sich seit eh und je dafür zu schämen. Nie hatte sie jemanden zu sich nach Hause eingeladen, und nie bekam jemand sie anders als makellos gepflegt zu Gesicht.

Clem räusperte sich. »Und wo ist die Yacht?«

Wütend verschränkte Scarlett die Arme. »Vielleicht hat sie abgedreht, als ihr aufgetaucht seid. Die Küstenwache fragen kann ich leider nicht, hier ist kein Netz.«

Ava sah auf ihr Handy. Scarlett hatte recht. »Wieso das denn?«, fragte sie.

Olly zuckte mit den Schultern. »Wieso gibt’s noch Strom? Wo alles zehn Zentimeter unter Wasser steht?«

Livia hob die Hand. »Magie!« Dann erlosch ihr Grinsen. »Ich frag mich, ob es an all den toten Leuten liegt.«

Jolie blieb buchstäblich der Mund offen stehen. »Äh, wie bitte?«

Livia legte den Kopf schief, als dächte sie nach. »Die vielen Geister, wisst ihr.«

Ava wollte anmerken, dass es doch gar keine Geister gab, doch die Worte erstarben ihr auf der Zunge. Als sie blinzelte, glaubte sie einen Moment lang, die Silhouette des Schattendings zu sehen, diese leeren Augenhöhlen zu spüren, die aus einer verborgenen Welt herüberstarrten.

»Du bist echt schräg, wenn du high bist«, sagte Olly angespannt.

Livia musterte ihn verärgert. »Mein Opa hat hier gearbeitet, damals vor dem Brand. Wenn er was getrunken hatte, hat er mir oft Sachen erzählt.«

»Dein Opa, der mit den verratzten Pennern am Strand rumhängt, die sich das Hirn weggesoffen haben?«, fragte Scarlett. »Igitt.«

Avas Herz setzte einen Schlag aus. Eine Weile hatte sie die Penner vom Strand fotografisch verfolgt. An manchen Abenden versammelten sie sich auf einem der Parkplätze im Gewerbegebiet und veranstalteten Prügeleien, bis sie blaue Flecken und Platzwunden hatten. Warum, hatte Ava nie herausgefunden, doch einige der Fotos, die sie bei diesen Gelegenheiten geschossen hatte, zählten zu ihren besten. Und hatten ihr ziemliche Schwierigkeiten beschert. Ava versuchte, möglichst nicht daran zu denken.

»Ja«, sagte Livia. »Also, nein. Nicht mehr. Er ist tot. Schon seit über ’nem Jahr.«

Scarlett zuckte mit den Schultern. Keine Spur von Beileid.

»Was hat er denn über den Pier erzählt?«, wollte Ava wissen.

»Dass die ganze Insel auf Knochen erbaut ist.« Sie setzte ein gruseliges Grinsen auf und begann mit schlackernden Armen zu tanzen. »Dem bones, dem bones, dem dry b-«

»Die Einladungen wurden uns aber nicht von Knochen geschickt«, sagte Clem leicht genervt. »Knochen können nicht schreiben und zur Post gehen und Geister auch nicht.«

»Boah, bist du schlau«, knurrte Jolie.

»Du bist so empfindlich heute, Big Jo«, sagte Scarlett. »Erzähl doch, was dich bedrückt. Wir können schließlich ein Geheimnis für uns behalten.«

Kannst du ein Geheimnis für dich behalten? Scarletts Formulierung klang viel zu absichtlich. Ava hatte damit gerechnet, am Pier auf ihren Erpresser zu treffen. Wenn dem nun schon so war? Wenn nun jemand von den anderen –

»Sag das noch mal«, zischte Jolie bedrohlich.

Ava kehrte geistig in die Gegenwart zurück. Jolie und Scarlett standen einander drohend gegenüber. Scarlett leckte sich die Schneidezähne, und Jolie hatte sich die Pandakapuze tief in die Stirn gezogen. Ava seufzte innerlich auf. Nicht schon wieder. Seit sie sich erinnern konnte, waren Scarlett und Jolie verfeindet, bedingungslos und ohne ersichtlichen Grund. Sich zu streiten war ihr Normalverhalten.

Jolie rückte Scarlett noch mehr auf die Pelle. »Na los, sag’s noch mal, wenn du dich traust.«

»Okay, ganz langsam«, sagte Scarlett. »Dein – Hirn – sollte – man – besser –«

Jolie stieß Scarlett gegen die Wand eines Zuckerwattestands, so dass einige Plastiktüten voller schmutzigrosa Flüssigkeit gefährlich zu schwanken begannen. Der Catfight war eröffnet. Scarlett versuchte, Jolie mit einem Tritt ihres Stiefelabsatzes in die Wade zu Fall zu bringen, aber Jolie packte sie an den Haaren und zerrte sie im Kreis herum. Beide kratzten, bissen und schubsten einander. Die vier anderen sahen mit geweiteten Augen und offenem Mund zu.

»Hm, nicht ganz so sexy, wie man sich das vorstellt«, murmelte Clem.

»Geh doch bitte jemand dazwischen!«, quiekte Livia. »Sonst gibt’s noch Verletzte!«

»Ich misch mich da nicht ein«, wehrte Olly ab. »Scarletts Fingernägel sind verdammte Krallen, Mann, und mein Gesicht ist alles, was ich zu bieten habe.«

»Hey«, rief Ava – viel zu leise. Sie räusperte sich. »Hört auf, ihr zwei!«

»Lass mich los«, kreischte Scarlett und rammte Jolie den bestiefelten Fuß in den Magen, um sie wegzuschieben.

Jolie riss ihr die Rolex vom Handgelenk und schleuderte sie in hohem Bogen zwischen die Zelte.

Scarlett wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Du mieses Stück.«

»Du kannst mich mal«, schnaubte Jolie. »Ich bin hier fertig.« Sie wandte sich ab.

»Wo willst du hin?«, rief Ava ihr nach.

»Mir reicht’s mit dem Scheiß. Ich find jetzt raus, was hier los ist.«

Scarlett wartete, bis Jolie ein paar Schritte weit gekommen war, und versetzte ihr dann einen heftigen Stoß. Jolie stolperte mit rudernden Armen vorwärts und prallte gegen eine Bude. Feuchte Späne und verrottete Splitter flogen in alle Richtungen. Aus dem klaffenden Loch in der Budenwand strömte ein Gestank nach Schimmel und etwas wie eingelegten Zwiebeln.

Ava stürzte zu Jolie und zog sie auf die Beine. »Alles in Ordnung mit dir?« Doch sie war kaum fähig, sich auf die Freundin zu konzentrieren. Das Loch in der Wand fesselte ihre Aufmerksamkeit. Darin war etwas, das spürte sie. Ganz deutlich, wie das Knistern in der Luft damals, als die erste Nachricht von Clem auf ihrem Bildschirm erschienen war. Etwas, was sie zugleich anzog und ihr Angst einjagte.

»Mist, das war meine Lieblingshand«, brummte Jolie.

Ava besah Jolies aufgeschrammten Unterarm und ihre blutenden Fingerknöchel. So schlimm war es nicht; sie hatte schon Schlimmeres mit ihr erlebt, etwa als Jolie wegen einer Wette um zwanzig Pence vom Uferdamm gesprungen war.

»Such mal bitte jemand eine Axt? Wir müssen amputieren«, rief sie.

Jolie zeigte ihr den blutigen Mittelfinger. »Oh, halt, sie funktioniert noch, Gott sei Dank.«

Olly kam zu ihnen herüber. »Schaut mal, da drin ist was.«

»Mein halber Arm vielleicht?«, brummte Jolie.

Für den Augenblick war der Streit vergessen. Sie drängten sich um das Loch. Dahinter lag ein kleiner dunkler Raum. Er hatte weder Fenster noch Luken, nur eine schummrige Lichterkette an der Decke, die das Ambiente kaum erhellte. Und ja, darin stand etwas, aber was, war kaum zu erkennen.

Ava machte sich auf die Suche nach einer Tür. Die Bude stand ganz am Rand des Jahrmarkts, etwas abseits der anderen Attraktionen, und erweckte fast den Eindruck, als hätte sie sich aus eigener Kraft aus angeschwemmtem Treibholz geformt. Die Wände hinauf zogen sich schwarze Schimmelstreifen, als hielten nur sie die Bretter zusammen.

Tatsächlich fand sie eine Tür, doch noch ehe sie auf die Klinke drücken konnte, schwang diese im Luftzug von selbst auf. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnten. Mitten im Raum stand ein Tisch. Und an allen Wänden hingen Porträts. Da waren Ölgemälde von ernst blickenden Herren, andere waren auf Holzstücke gemalt und sahen aus, als wären sie Hunderte von Jahren alt. Auch ein paar Fotos waren darunter, von sepiafarbenen Aufnahmen aus dem neunzehnten Jahrhundert bis hin zu einem Farbfoto – es zeigte den Großen Baldo.

Doch allen Bildern war etwas gemein: ein Spiegel mit Goldrahmen. Er hing hinter jeder der porträtierten Personen, halb im Schatten. Und immer spiegelte sich darin ein Gesicht. Ein bereits vertrautes. Die Augenpartie mit schwarzer Schminke wie eine Maske gestaltet, darunter ein teuflisches Grinsen. Der Mann von der Werbetafel.

Aus den Augenwinkeln erhaschte Ava etwas Goldenes. Mitten zwischen den Porträts hing der Spiegel, der auf allen Bildern abgebildet war.

Nur ohne den grinsenden Mann darin.

Olly reckte den Hals und spähte ihr über die Schulter. »Was ist das?«

Ava schluckte ihr unbehagliches Gefühl hinunter, betrat die Bude und näherte sich dem Tisch. »Ein Einmachglas.«

Sie beugte sich darüber. Es war ein großes Einmachglas, und darin stand eine trübe Flüssigkeit. Auf dem vergilbten Etikett stand: Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?

Schon wieder die Geheimnisse.

»Was ist da drin?«, wollte Scarlett wissen und schob sich an Ava vorbei. Sie nahm das Glas, klemmte es sich in die Armbeuge und wischte mit der Hand den Staub ab. Durch die Bewegung trübte sich die Flüssigkeit noch mehr ein, und der Zwiebelgestank verstärkte sich.

»Riecht wie Formaldehyd«, murmelte Ava.

Sie alle warteten, bis der Bodensatz wieder abgesunken war. Der eigentliche Inhalt des Einmachglases bestand aus etwas, was aussah wie mehrere sehr dicke, zusammengeringelte Schlangen.

»Äh, Leute«, stammelte Olly, »sind das Zungen?«

Clem lachte nervös auf. »Quatsch, natürlich nicht. Das sind … irgendwelche dicken Würmer. Oder Schnecken.«

»Klar, ein Glas eingemachter Schnecken, das ist ja das Normalste von der Welt«, sagte Scarlett.

Livia war schon einen Schritt zurückgewichen. »Ich hab nie erlebt, dass mein Opa Angst vor irgendwas hatte. Außer vor Whispers.«

»Vor Geflüster?«, fragte Scarlett nach.

»Nein. Whispers. Das Ding in den Spiegeln. So heißt es. Das Glas gehört ihm.« Und Livia floh zwischen ihnen hindurch nach draußen. Platschend entfernten sich ihre Schritte.

Scarlett ließ den Glasinhalt noch einmal kreisen und rümpfte die Nase. »Igitt.« Sie drückte das Glas Ava in die Hände und wandte sich dem goldgerahmten Spiegel zu, um ihre Frisur in Ordnung zu bringen und etwas zerlaufene Mascara wegzuwischen.

»Was haben Würmer mit Geheimnissen zu tun?«, sagte Ava leise.

»Keine Ahnung, aber mir reicht’s.« Auch Jolie marschierte zur Tür und stieß sie so heftig auf, dass das Foto des Großen Baldo von der Wand fiel.

DREI

Hastig stellte Ava das Glas ab und eilte Jolie nach. »Warte! Wohin willst du?«

»Na, endlich den Vollhonk finden, der uns den Scheiß hier eingebrockt hat.« Bei jedem ihrer Schritte schwappten die losen Füßlinge ihres Pandakostüms über die Wasseroberfläche. »Keiner, der sich so mit mir anlegt, kommt lebend davon.«

Ava hätte nicht sagen können, ob sie es womöglich wörtlich meinte. Was schon an sich erschreckend war. Immer hatte Ava geglaubt, Jolie besser zu kennen als sich selbst. Ihre Hände hatten sich beim Nebeneinandergehen automatisch verschränkt, ihre Textnachrichten sich regelmäßig überschnitten. Sie konnten sich unterhalten, ohne auch nur ein Wort sagen zu müssen. Doch das war vorher gewesen. Während des letzten Jahres hatte sich etwas verändert. Du hast dich verändert, flüsterte Ava eine kleine Stimme zu. Sie brachte sie zum Schweigen, ehe sie weiterflüstern konnte.

»Was ist los, Jolie?«, fragte Ava in genervterem Ton als beabsichtigt.

»Aaalso, da hat jemand uns alle hierhergelockt und will, dass wir uns in die Hose machen vor Angst?«

»Ich meine, warum du auf Scarlett losgegangen bist.«

»Sie hat’s nicht anders gewollt.«

»Sie will’s seit zehn Jahren nicht anders. Warum jetzt?« Doch schon ehe sie fragte, wusste Ava, dass Jolie nicht antworten würde. Nicht nur sie selbst hatte sich verändert.

Jolie schwang sich auf den Tresen einer Western-Schießbude und zog ihr Handy heraus.

Ava setzte sich neben sie. »Kein Netz, schon vergessen??«

»Wie willst du auch nur zwei Stunden überleben, ohne ein Selfie zu posten?«

Ava musste sich einen Moment lang eine Antwort verkneifen. »Warum hast du ein solches Problem damit, dass ich noch ein Leben außerhalb der Schule habe?«, fragte sie dann.

»Ich hab kein Problem damit. Und ein Leben ist das doch gar nicht, jedenfalls kein echtes. Nur weil du dir im Internet ’ne Fake-Persönlichkeit zugelegt hast, bist du noch lange nicht besser als ich.«

»Ich hab nie behauptet, ich wäre besser als du!«

»Kommt einem aber so vor bei jedem von deinen Fake-Fotos und ach so tollen Posts, was für Gedanken du dir um die Umwelt und sozial abgehängte Leute und weiß der Geier was für Gutmenschenscheiß machst.«

Ava klappte der Unterkiefer herunter. »Das ist kein Fake! All das ist mir wirklich wichtig. Online komme ich mir zum ersten Mal im Leben vor wie mein wahres Ich. So bin ich, und wenn dir das nicht gefällt –«

»Es gefällt mir nicht. Du blendest alles aus, was spannend an dir war, nur damit du vor Leuten gut dastehst, die dir überhaupt nichts bedeuten. Was ist mit der Ava passiert, die allen Möwen am Strand Namen gab, selbst den struppigen alten?«

»Die Ava war die totale Loserin.«

»Die Ava hatte noch ihren eigenen Kopf. Die neue zieht sich fröhlich jedes Mäntelchen über, in dem sie gut aussieht.«

»Sag, was du willst, ich hör mir das nicht länger an!« Ava sprang auf und stürmte zwischen den Buden davon.

Über ihr klimperten Netze aus Lichterketten. Hinter ihr zischten und krachten die Wellen. Die Zeit schien in Momentaufnahmen aufzublitzen: Zorn, Verletztheit. Gerade war sie noch die Treppe zum Hauptplatz hinaufgepatscht, die Augen voller heißer Tränen, die sie hastig wegwischte. Plötzlich fand sie sich auf festem Boden unter dem Wegweiser mit den zerbrochenen Pfeilen wieder.

Fast ohne Erinnerung daran, wie sie dorthin gekommen war.