Gott werden oder Mensch bleiben? -  - E-Book

Gott werden oder Mensch bleiben? E-Book

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Beschreibung

KI (auch Artificial Intelligence = AI) beherrscht bereits große Bereiche unseres Lebens. Wie können wir heute und in naher Zukunft mit der digitalen Technologie so umgehen, dass sie für den Menschen human, zum Segen und nicht zum Fluch wird? Aktuelle Essays von namhaften Wissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellern zeigen unterschiedliche Ansätze und Perspektiven auf: Transhumanistische Ideen ebenso wie Positionen, die einen unbedingten Glauben an den technologischen Fortschritt hinterfragen. Mit Beiträgen von E.T.A. Hoffmann, Zoltan Istvan, Hartmut Schröder, Peter Pfrommer, Hans-Dieter Mutschler, Christian Holtorf, Gerald Ehegartner, Christian Salvesen, Kai-Fu Lee, Ralph Hohenwarter, Andreas Müller und Natasha Vita-More.

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Christian Salvesen (Hrsg.)

Gott werden oder Mensch bleiben?

Lektorat:

Christian Salvesen

Gestaltung Umschlag:

Torge Niemann

Covergrafik:

© iStockphoto

Fotos:

Karina Carvalo und

 

Jossuha Theophile on Unsplash

Innensatz:Wilfried Klei

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2022

[email protected] | www.kamphausen.media

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-618-1

ISBN E-Book: 978-3-95883-619-8

1. Auflage 2022

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

HUMANE KI

DER MENSCH IM MITTELPUNKT

Christian Salvesen (Hrsg.)

Gott werden

oder Mensch bleiben?

Einleitung

Teil 1 Geschichte und Geschichten

E.T.A. Hoffmann:

Der Zauber der schönen Olimpia (aus: Der Sandmann)

Christian Salvesen:

Der Mensch als Übergang?

Teil 2 Medizin

Ralph Hohenwarter:

Künstliche Intelligenz in der Medizin

Hartmut Schröder:

Von einer „Maschinen-Medizin“ zur heilenden Kultur

Teil 3 Kunst und Gesellschaft

Natasha Vita-Wore:

Das Transhumanistische Manifest

Hans-Dieter Mutschler:

Mensch und Maschine

Christian Holtorf:

Mitleid mit dem Cyborg

Gerald Ehegartner:

Der Transhumanismus und der Verlust der Poesie

Teil 4 Künstliche Intelligenz und Bewusstsein

Zoltan Istvan:

Die Jesus-Singularität

Kai-Fu Lee :

Deep Learning: Kl hilft im Alltag Anno 2041

Andreas Müller:

Ich-Bewusstsein, Transhumanismus und Kl

Peter Pfrommer:

Experimentelle Selbsterforschung und Transhumanismus

Anhang: Filme, Literatur, Autoren

Einleitung

Was bedeutet die zunehmende Digitalisierung für unser Leben – heute und in naher Zukunft? Wo und wie erleben wir die Veränderungen? Machen Maschinen und Künstliche Intelligenz den Menschen nicht bereits in vielen Berufen überflüssig? Was finden Suchmaschinen wie Google über uns heraus, während wir im Internet Antworten und Rat suchen? Können wir uns mithilfe der digitalen Technologien zu besseren Menschen entwickeln, womöglich – wie in der Philosophie des Transhumanismus angenommen wird – zu einer neuen Spezies, die sich von uns Heutigen so unterscheidet, wie wir uns von den Höhlenmenschen unterscheiden?

Solche brisanten Fragen sollen in unserer neuen Edition namens „transhuman“ erörtert und zur Diskussion gestellt werden. In diesem ersten Band einer geplanten Reihe von Veröffentlichungen mit dem Titel „Humane KI“ finden sich ganz unterschiedliche Beiträge von Wissenschaftlern, Philosophen, Medizinern, Schriftstellern und Künstlern. Sie beziehen sich direkt oder indirekt auf transhumanistische Ideen und auf die Frage: Wie gehen wir – ich persönlich und die Gesellschaft insgesamt – mit den enormen Herausforderungen um, die uns alle betreffen?

Bedeutende heutige Philosophen wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari weisen in ihren Büchern, Vorträgen und Interviews darauf hin, dass wir in einer Zeit des radikalen Umbruchs leben. Nie zuvor war die Gesellschaft in ihrer Grundstruktur so unvorhersehbar wie heute. Und das betrifft aufgrund der rasend schnellen exponentiellen Entwicklung in der wissenschaftlichen Forschung und der digitalen Technologien unser Grundverständnis vom Menschen selbst. Wie wird der Mensch von morgen sein? Ein Cyborg – halb Mensch, halb Maschine?

In einem Vortrag vor jungen Studierenden sagt Harari: „Zum ersten Mal können wir ein menschliches Wesen ‚hacken‘. Das heißt, wir können einen Algorithmus erschaffen, der den Menschen besser versteht als er sich selbst. Er kann deshalb eure Entscheidungen voraussagen, eure Wünsche manipulieren und an eurer Stelle Entscheidungen treffen.“1

Das klingt ziemlich beängstigend. Woran können, sollen wir uns orientieren?

Hier kommt eine weitere Kraft oder Dimension ins Spiel. Einer der heute oft gebrauchten Begriffe dafür ist „das Narrativ“. Im weiten Kontext von Epochen der Menschheitsgeschichte betrachtet kann für das europäische Mittelalter die von der katholischen Kirche vertretene Religion des Christentums als das allgemeinverbindliche Narrativ gelten. Fast alle Menschen in diesem Kulturraum waren überzeugt, dass ein allmächtiger Gott sie vom Himmel aus beobachtet und sie nach ihrem Tod für ihre guten oder schlechten Taten mit einem ewigen Leben im Paradies belohnt oder einem endlosen Grauen in der Hölle bestraft.

Mit der Renaissance setzte sich ab etwa 1500 ein neues Narrativ oder Weltbild durch. Der Mensch selbst steht nun mit seiner freien Willensentscheidung und eigenen Kreativität und Erkenntniskraft im Mittelpunkt. In der damit verbundenen Ethik gelten die Würde, Freiheit und Gleichwertigkeit des Menschen als schützenswert, ja „unantastbar“. Bis heute leben wir – zumindest in der „westlichen Welt“ – überwiegend in diesem Selbstverständnis des Humanismus. Dabei sind aber stets viele, auch durchaus gegensätzliche Narrative oder „geistige Strömungen“ im Umlauf.

Eine dieser Strömungen grenzt sich als „transhumanistisch“ davon ab. Sie sieht in der aktuellen technologischen Entwicklung die Chance des Menschen, die Evolution selbst mitzubestimmen und sich auf eine Weise zu verbessern – körperlich und geistig –, die unsere heutige Vorstellung übersteigt. Ein kurzer, mit „Transhumanismus“ überschriebener Text des Biologen und Eugenikers Julian Huxley (1887–1975), veröffentlicht 1957, sollte sich später als starke Referenz für den Transhumanismus im 20. Jahrhundert erweisen. Darin heißt es:

„Die menschliche Spezies kann, wenn sie will, über sich selbst hinauswachsen, nicht nur sporadisch, ein Individuum hier auf eine Art, ein Individuum dort auf eine andere Art, sondern in ihrer Gesamtheit, als Menschheit. Wir brauchen einen Namen für diesen neuen Glauben. Vielleicht wird der Transhumanismus dazu dienen: Der Mensch bleibt Mensch, aber er transzendiert sich selbst, indem er neue Möglichkeiten seiner selbst und für seine menschliche Natur verwirklicht.“2

Der erste Teil dieses Readers – Geschichte und Geschichten – gibt einen historischen Über- und aktuellen Ausblick. Wie hat sich das Verhältnis von Mensch und Technik entwickelt? Will der Transhumanismus einen „Übermenschen“? Wie stark beherrscht die Künstliche Intelligenz bereits unser Leben heute? Welche Vorstellung hatten die Menschen der Romantik im 19. Jahrhundert von einem künstlichen Menschen? In diese vergangene und doch in unserer Fantasie lebendige Welt zieht uns die Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann.

Im Bereich Medizin und Gesundheit erweist sich die Digitalisierung durchaus als segensreich. Je mehr Daten über den einzelnen Menschen wie auch über möglichst viele andere von einer KI gesammelt und ausgewertet werden können, desto präziser kann der Arzt diagnostizieren und behandeln. Der Informatiker Ralph Hohenwarter arbeitet im Klinikum Großhadern in München mit Ärzten an Algorithmen und Lösungen, die z.B. Querschnittsgelähmten, helfen wieder zu gehen.

Andererseits: Vernachlässigt die moderne Apparatemedizin nicht den Menschen selbst mit all seinen inneren Qualitäten und Selbstheilungskräften? Hier setzt Hartmut Schröder mit seinem Beitrag an. Er war bis 2021 Professor für Sprachgebrauch und Therapeutische Kommunikation an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Er stellt heraus, wie sehr Krankheit und Gesundheit von der Kultur einer Gesellschaft und den herrschenden Narrativen beeinflusst sind. Wie und woher gewinnen wir Vertrauen in unsere Heilung – körperlich wie seelisch?

Das ist eine Frage, die unsere gesamte Gesellschaft, ihre Kultur, Forschung, Bildung und Kunst betrifft. Der 3. Teil dieses Readers kann wie auch die anderen Teile sein Thema nur anreißen.

Die amerikanische Wissenschaftlerin und Künstlerin Natasha Vita-More, Ph.D., setzt sich seit Jahrzehnten für eine transhumane, ethisch fundierte technologische Unterstützung und Verbesserung des Menschen in all seinen Möglichkeiten ein. Zu ihrem hier erstmals in Deutsch veröffentlichten „Transhumanistischen Manifest“ schreibt sie:

„Das Transhumanistische Manifest befasst sich mit dem Problem des menschlichen Alterns und der Endgültigkeit des Todes und sucht hier nach praktischen Lösungen. Es stellt fest, dass erstens Altern eine Krankheit ist, zweitens Unterstützung und Leistungssteigerung des menschlichen Körpers und Gehirns wesentlich für das Überleben sind und dass drittens das menschliche Leben nicht auf eine bestimmte Form oder Umwelt begrenzt ist.“

Prof. Dr. Hans-Dieter Mutschler argumentiert als Philosoph gegen den Fortschrittsglauben des Transhumanismus und die Hoffnung, durch die körperliche Optimierung („Human Enhancement“) zu einem besseren Menschen zu werden. Sein Essay knüpft in gewisser Weise an den von Hartmut Schröder an.

Der österreichische Schriftsteller Gerald Ehegartner beklagt den „Verlust der Poesie im Transhumanismus“. Sein Beitrag zum Reader kann in seiner emotionalen Entrüstung wohl als radikalster gelten – ein Manifest gegen den Transhumanismus. Leben wir bereits in einem faschistoiden Überwachungsstaat? „Die vierte industrielle Revolution, das Internet der Dinge, macht den Menschen selbst zum Ding. (…) Brauchte die religiöse Kirche noch brave Schafe, so benötigt die neue Wissenschaftskirche funktionierende Roboter. (…) Blind ist der Transhumanist für die Schönheit des Lebens. Er hat das Staunen verlernt.“ Starke, schroffe Statements. Das Narrativ dahinter steht dem des Transhumanismus offenbar diametral entgegen. Auch gut. Gegensätzliche Narrative sollen zur Diskussion anregen.

Wie nimmt die Öffentlichkeit die neuen digitalen Technologien überhaupt wahr – abgesehen von der ständigen Nutzung des Smartphones? Christian Holtorf, Professor für Wissenschaftsforschung an der Hochschule in Coburg, geht darauf in seinen Vorträgen, Seminaren und Projekten ein. 2019 gewann er den Creapolis Award „für herausragenden Transfer“ für das Bildungsprojekt „Sounds der Zukunft. Künstliche Intelligenz zwischen Perfektion und Verantwortung“. Eine Woche inspirierten diverse Installationen in der Stadt zum interaktiven Austausch mit KI. Holtorfs kleine und zugleich komplexe Geschichte „Mitleid mit dem Cyborg“ beschreibt in unserem Sammelband die 1988 direkt vor dem Eingang der Hochschule aufgestellte Stahl-Skulptur des Bildhauers Wolfgang Bier. Sie wirkt wie ein schlafender Riesenroboter oder Cyborg. Eine auffällige Erscheinung, die zum Nachdenken anregt.

Den 4. Teil unserer Sammlung – „Künstliche Intelligenz und Bewusstsein“ – eröffnet eine Sci-Fi-Kurzgeschichte, die manch einen schockieren könnte. Der Autor, Zoltan Istvan, kandidierte 2016 bei der Präsidentenwahl in den USA als Vorsitzender der von ihm gegründeten „Transhumanist Party“. Er tourte in einem sargförmigen Bus durch die Lande und warb mit einem der erklärten Ziele des Transhumanismus: Mithilfe der Technik wird der Mensch so lange leben, wie er will. Sein Erfolgsroman „Transhuman Wager“ (Die transhumanistische Wette) erscheint in unserer Edition im Juni 2022 unter dem Titel „Unsterblich“. In der Kurzgeschichte „Die Jesus-Singularität“ steht die Entwicklung einer künstlichen Superintelligenz im Mittelpunkt. Lassen Sie sich überraschen.

„Künstliche Intelligenz“ – dazu fällt heute fast jedem etwas ein. In bekannten Science-Fiction-Filmen, von denen einige im Anhang kurz vorgestellt werden, nimmt die KI (englisch AI=artificial intelligence) fantastische Dimensionen an. So weit ist die tatsächliche Forschung noch längst nicht. Der international wohl bekannteste KI-Experte Kai-Fu Lee und der Sci-Fi-Autor Qiufan Chen widmen sich in ihrem Buch KI 2041 der Frage, wie sich die Künstliche Intelligenz bis zum Jahr 2041 – realistisch betrachtet – entwickelt haben wird. Ein Bereich ist das Deep Learning, das bereits heute zum Beispiel in Übersetzungsprogrammen eingesetzt wird. Unser Auszug aus dem Buch KI 2041 bringt eine nicht fiktive, leicht verständliche Darstellung des Deep Learning.

Könnte Künstliche Intelligenz, wenn sie sich selbst exponentiell weiter optimiert, ein Bewusstsein ihrer selbst entwickeln? Und was würde das für uns Menschen bedeuten? Spekulative Fragen, die uns zumindest darüber nachdenken lassen können, wer wir selbst sind. Ist dieses Ich, das wir für uns selbst, unser Zentrum halten, womöglich nur eine hartnäckige Illusion? Etliche Neurowissenschaftler sind davon überzeugt. Und ein – noch sehr kleiner – Kreis von Menschen, der allerdings mittlerweile weltweit vernetzt ist, tauscht sich über das tatsächliche, plötzliche oder allmähliche Verschwinden dieses Ich-Bewusstseins aus. In diesem Kontext kann mein Interview mit dem „Nicht-Dualisten“ Andreas Müller gelesen werden. Treibt die digitale Revolution das Ich gleichsam zur Selbstaufgabe?

Konsequent das Bewusstsein in sich selbst erforschen, dazu leitet Peter Pfrommer, Professor für Bauingenieurwesen an der Hochschule Coburg, in seinem Beitrag an. Diese empirische Form der Selbsterforschung, die er etliche Jahre Studierenden an der Hochschule, in zwei Büchern und einem Online-Kurs anbot, ist hier erstmals erweitert durch den ausdrücklichen Bezug auf KI.

Dieser erste Band einer geplanten Reihe von Veröffentlichungen soll eine Einführung sein. Viele wichtige Aspekte sind hier nur angerissen oder gar nicht erwähnt. Sie werden in den Folgebänden dargestellt. Doch wenn die Lektüre ein erstes Interesse erweckt, zum weiteren eigenen Nachforschen und Nachdenken anregt, hat diese Ausgabe bereits ihren Zweck erfüllt.

Wir wünschen viele gute Einsichten beim Lesen!

Christian Salvesen

April 2022

1Quelle: The Future of Education – Yuval Noah Harari & Russell Brand – Penguin Talks. https://www.youtube.com/watch?v=j0uw7Xc0fLk

2Julian Huxley: Transhumanism. In: New Bottles for New Wine, London: Chatto & Windus 1957, pp. 13.

Teil 1

Geschichte und Geschichten

Der Zauber der schönen Olimpia

Aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“

Der vielseitig begabte Schriftsteller, Musiker, Karikaturist und Jurist E.T.A. Hoffmann (1776–1822) schildert in seiner berühmten romantischen Erzählung Der Sandmann die Entwicklung des übersensiblen Nathanael. Als Kind ist der bereits traumatisiert von dem abstoßenden Advokaten Coppola, der mit seinem Vater heimlich alchimistische Experimente durchführt. Nathanael sieht in Coppola den Sandmann, der in dem gruseligen Märchen den Kindern die Augen ausreißt. Als junger Mann findet er vorübergehend Halt in der besonnenen und bodenständigen Klara, die allerdings nichts von seinen Phantastereien hält.

Wir steigen in die Geschichte an der Stelle ein, wo Nathanael von der geheimnisvollen Olimpia fasziniert ist, die er in einem Haus gegenüber seiner Wohnung beobachtet.

Wie erstaunte Nathanael, als er in seine Wohnung wollte und sah, daß das ganze Haus niedergebrannt war, so daß aus dem Schutthaufen nur die nackten Feuermauern hervorragten. Unerachtet das Feuer in dem Laboratorium des Apothekers, der im untern Stocke wohnte, ausgebrochen war, das Haus daher von unten herauf gebrannt hatte, so war es doch den kühnen, rüstigen Freunden gelungen, noch zu rechter Zeit in Nathanaels im obern Stock gelegenes Zimmer zu dringen und Bücher, Manuskripte, Instrumente zu retten. Alles hatten sie unversehrt in ein anderes Haus getragen und dort ein Zimmer in Beschlag genommen, welches Nathanael nun sogleich bezog. Nicht sonderlich achtete er darauf, daß er dem Professor Spalanzani gegenüber wohnte, und ebensowenig schien es ihm etwas Besonderes, als er bemerkte, daß er aus seinem Fenster gerade hinein in das Zimmer blickte, wo oft Olimpia einsam saß, so daß er ihre Figur deutlich erkennen konnte, wiewohl die Züge des Gesichts undeutlich und verworren blieben. Wohl fiel es ihm endlich auf, daß Olimpia oft stundenlang in derselben Stellung, wie er sie einst durch die Glastüre entdeckte, ohne irgendeine Beschäftigung an einem kleinen Tische saß und daß sie offenbar unverwandten Blickes nach ihm herüberschaute; er mußte sich auch selbst gestehen, daß er nie einen schöneren Wuchs gesehen; indessen, Klara im Herzen, blieb ihm die steife, starre Olimpia höchst gleichgültig, und nur zuweilen sah er flüchtig über sein Kompendium herüber nach der schönen Bildsäule, das war alles. –

Eben schrieb er an Klara, als es leise an die Türe klopfte; sie öffnete sich auf seinen Zuruf, und Coppolas widerwärtiges Gesicht sah hinein. Nathanael fühlte sich im Innersten erbeben; eingedenk dessen, was ihm Spalanzani über den Landsmann Coppola gesagt und was er auch rücksichts des Sandmanns Coppelius der Geliebten so heilig versprochen, schämte er sich aber selbst seiner kindischen Gespensterfurcht, nahm sich mit aller Gewalt zusammen und sprach so sanft und gelassen, als möglich: »Ich kaufe kein Wetterglas, mein lieber Freund, gehen Sie nur!« Da trat aber Coppola vollends in die Stube und sprach mit heiserem Ton, indem sich das weite Maul zum häßlichen Lachen verzog und die kleinen Augen unter den grauen langen Wimpern stechend hervorfunkelten: »Ei, nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke!« – Entsetzt rief Nathanael: »Toller Mensch, wie kannst du Augen haben? – Augen – Augen? –« Aber in dem Augenblick hatte Coppola seine Wettergläser beiseitegesetzt, griff in die weiten Rocktaschen und holte Lorgnetten und Brillen heraus, die er auf den Tisch legte. – »Nu – Nu – Brill‘ – Brill‘ auf der Nas‘ su setze, das sein meine Oke – sköne Oke!« – Und damit holte er immer mehr und mehr Brillen heraus, so daß es auf dem ganzen Tisch seltsam zu flimmern und zu funkeln begann. Tausend Augen blickten und zuckten krampfhaft und starrten auf zum Nathanael; aber er konnte nicht wegschauen von dem Tisch, und immer mehr Brillen legte Coppola hin, und immer wilder und wilder sprangen flammende Blicke durcheinander und schossen ihre blutrote Strahlen in Nathanaels Brust. Übermannt von tollem Entsetzen, schrie er auf: »Halt ein! halt ein, fürchterlicher Mensch!« – Er hatte Coppola, der eben in die Tasche griff, um noch mehr Brillen herauszubringen, unerachtet schon der ganze Tisch überdeckt war, beim Arm festgepackt. Coppola machte sich mit heiserem widrigen Lachen sanft los und mit den Worten: »Ah! – nix für Sie – aber hier sköne Glas« – hatte er alle Brillen zusammengerafft, eingesteckt und aus der Seitentasche des Rocks eine Menge großer und kleiner Perspektive hervorgeholt.

Sowie die Brillen nur fort waren, wurde Nathanael ganz ruhig und, an Klara denkend, sah er wohl ein, daß der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen, sowie daß Coppola ein höchst ehrlicher Mechanikus und Optikus, keinesweges aber Coppelii verfluchter Doppeltgänger und Revenant sein könne. Zudem hatten alle Gläser, die Coppola nun auf den Tisch gelegt, gar nichts Besonderes, am wenigsten so etwas Gespenstisches wie die Brillen und, um alles wieder gutzumachen, beschloß Nathanael dem Coppola jetzt wirklich etwas abzukaufen. Er ergriff ein kleines, sehr sauber gearbeitetes Taschenperspektiv und sah, um es zu prüfen, durch das Fenster. Noch im Leben war ihm kein Glas vorgekommen, das die Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte. Unwillkürlich sah er hinein in Spalanzanis Zimmer; Olimpia saß, wie gewöhnlich, vor dem kleinen Tisch, die Ärme darauf gelegt, die Hände gefaltet. – Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch-schöne Olimpia betrachtend. Ein Räuspern und Scharren weckte ihn wie aus tiefem Traum. Coppola stand hinter ihm: »Tre Zechini – drei Dukat« – Nathanael hatte den Optikus rein vergessen, rasch zahlte er das Verlangte. »Nick so? – sköne Glas – sköne Glas!«, frug Coppola mit seiner widerwärtigen heisern Stimme und dem hämischen Lächeln. »Ja, ja, ja!«, erwiderte Nathanael verdrießlich. »Adieu, lieber Freund!« – Coppola verließ, nicht ohne viele seltsame Seitenblicke auf Nathanael, das Zimmer. Er hörte ihn auf der Treppe laut lachen. »Nun ja«, meinte Nathanael, »er lacht mich aus, weil ich ihm das kleine Perspektiv gewiß viel zu teuer bezahlt habe – zu teuer bezahlt!« – Indem er diese Worte leise sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer grauenvoll durch das Zimmer, Nathanaels Atem stockte vor innerer Angst. – Er hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl. »Klara«, sprach er zu sich selber, »hat wohl recht, daß sie mich für einen abgeschmackten Geisterseher hält; aber närrisch ist es doch – ach, wohl mehr als närrisch, daß mich der dumme Gedanke, ich hätte das Glas dem Coppola zu teuer bezahlt, noch jetzt so sonderbar ängstigt; den Grund davon sehe ich gar nicht ein.« – Jetzt setzte er sich hin, um den Brief an Klara zu enden, aber ein Blick durchs Fenster überzeugte ihn, daß Olimpia noch dasäße, und im Augenblick, wie von unwiderstehlicher Gewalt getrieben, sprang er auf, ergriff Coppolas Perspektiv und konnte nicht los von Olimpias verführerischem Anblick, bis ihn Freund und Bruder Siegmund abrief ins Kollegium bei dem Professor Spalanzani.

Die Gardine vor dem verhängnisvollen Zimmer war dicht zugezogen, er konnte Olimpia ebensowenig hier als die beiden folgenden Tage hindurch in ihrem Zimmer entdecken, unerachtet er kaum das Fenster verließ und fortwährend durch Coppolas Perspektiv hinüberschaute. Am dritten Tage wurden sogar die Fenster verhängt. Ganz verzweifelt und getrieben von Sehnsucht und glühendem Verlangen, lief er hinaus vors Tor. Olimpias Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüsch und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen aus dem hellen Bach. Klaras Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts als Olimpia und klagte ganz laut und weinerlich: »Ach, du mein hoher herrlicher Liebesstern, bist du mir denn nur aufgegangen, um gleich wieder zu verschwinden und mich zu lassen in finstrer hoffnungsloser Nacht?«

Als er zurückkehren wollte in seine Wohnung, wurde er in Spalanzanis Hause ein geräuschvolles Treiben gewahr. Die Türen standen offen, man trug allerlei Geräte hinein, die Fenster des ersten Stocks waren ausgehoben, geschäftige Mägde kehrten und stäubten, mit großen Haarbesen hin und her fahrend, inwendig klopften und hämmerten Tischler und Tapezierer. Nathanael blieb in vollem Erstaunen auf der Straße stehen; da trat Siegmund lachend zu ihm und sprach: »Nun, was sagst du zu unserem alten Spalanzani?« Nathanael versicherte, daß er gar nichts sagen könne, da er durchaus nichts vom Professor wisse, vielmehr mit großer Verwunderung wahrnehme, wie in dem stillen düstern Hause ein tolles Treiben und Wirtschaften losgegangen; da erfuhr er denn von Siegmund, daß Spalanzani morgen ein großes Fest geben wolle, Konzert und Ball, und daß die halbe Universität eingeladen sei. Allgemein verbreite man, daß Spalanzani seine Tochter Olimpia, die er so lange jedem menschlichen Auge recht ängstlich entzogen, zum erstenmal erscheinen lassen werde.

Nathanael fand eine Einladungskarte und ging mit hochklopfendem Herzen zur bestimmten Stunde, als schon die Wagen rollten und die Lichter in den geschmückten Sälen schimmerten, zum Professor. Die Gesellschaft war zahlreich und glänzend. Olimpia erschien sehr reich und geschmackvoll gekleidet. Man mußte ihr schöngeformtes Gesicht, ihren Wuchs bewundern. Der etwas seltsam eingebogene Rücken, die wespenartige Dünne des Leibes schien von zu starkem Einschnüren bewirkt zu sein. In Schritt und Stellung hatte sie etwas Abgemessenes und Steifes, das manchem unangenehm auffiel; man schrieb es dem Zwange zu, den ihr die Gesellschaft auflegte. Das Konzert begann. Olimpia spielte den Flügel mit großer Fertigkeit und trug ebenso eine Bravour-Arie mit heller, beinahe schneidender Glasglockenstimme vor. Nathanael war ganz entzückt; er stand in der hintersten Reihe und konnte im blendenden Kerzenlicht Olimpias Züge nicht ganz erkennen. Ganz unvermerkt nahm er deshalb Coppolas Glas hervor und schaute hin nach der schönen Olimpia. Ach! – da wurde er gewahr, wie sie voll Sehnsucht nach ihm herübersah, wie jeder Ton erst deutlich aufging in dem Liebesblick, der zündend sein Inneres durchdrang. Die künstlichen Rouladen schienen dem Nathanael das Himmelsjauchzen des in Liebe verklärten Gemüts, und als nun endlich nach der Kadenz der lange Trillo recht schmetternd durch den Saal gellte, konnte er, wie von glühenden Ärmen plötzlich erfaßt, sich nicht mehr halten, er mußte vor Schmerz und Entzücken laut aufschreien: »Olimpia!« – Alle sahen sich um nach ihm, manche lachten. Der Domorganist schnitt aber noch ein finstreres Gesicht als vorher und sagte bloß: »Nun nun!« –

Das Konzert war zu Ende, der Ball fing an. »Mit ihr zu tanzen! – mit ihr!« das war nun dem Nathanael das Ziel aller Wünsche, alles Strebens; aber wie sich erheben zu dem Mut, sie, die Königin des Festes, aufzufordern? Doch! – er selbst wußte nicht, wie es geschah, daß er, als schon der Tanz angefangen, dicht neben Olimpia stand, die noch nicht aufgefordert worden, und daß er, kaum vermögend einige Worte zu stammeln, ihre Hand ergriff. Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen, und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. Und auch in Nathanaels Innerm glühte höher auf die Liebeslust, er umschlang die schöne Olimpia und durchflog mit ihr die Reihen. – Er glaubte sonst recht taktmäßig getanzt zu haben, aber an der ganz eignen rhythmischen Festigkeit, womit Olimpia tanzte und die ihn oft ordentlich aus der Haltung brachte, merkte er bald, wie sehr ihm der Takt gemangelt. Er wollte jedoch mit keinem andern Frauenzimmer mehr tanzen und hätte jeden, der sich Olimpia näherte, um sie aufzufordern, nur gleich ermorden mögen. Doch nur zweimal geschah dies, zu seinem Erstaunen blieb darauf Olimpia bei jedem Tanze sitzen, und er ermangelte nicht, immer wieder sie aufzuziehen.

Hätte Nathanael außer der schönen Olimpia noch etwas anders zu sehen vermocht, so wäre allerlei fataler Zank und Streit unvermeidlich gewesen; denn offenbar ging das halbleise, mühsam unterdrückte Gelächter, was sich in diesem und jenem Winkel unter den jungen Leuten erhob, auf die schöne Olimpia, die sie mit ganz kuriosen Blicken verfolgten, man konnte gar nicht wissen, warum. Durch den Tanz und durch den reichlich genossenen Wein erhitzt, hatte Nathanael alle ihm sonst eigne Scheu abgelegt. Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen, und sprach hochentflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er noch Olimpia. Doch diese vielleicht; denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte ein Mal übers andere: »Ach – ach – ach!« – worauf denn Nathanael also sprach: »O du herrliche, himmlische Frau! – du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt« und noch mehr dergleichen, aber Olimpia seufzte bloß immer wieder: »Ach, ach!« – Der Professor Spalanzani ging einigemal bei den Glücklichen vorüber und lächelte sie ganz seltsam zufrieden an. Dem Nathanael schien es, unerachtet er sich in einer ganz andern Welt befand, mit einemmal, als würd’ es hienieden beim Professor Spalanzani merklich finster; er schaute um sich und wurde zu seinem nicht geringen Schreck gewahr, daß eben die zwei letzten Lichter in dem leeren Saal herniederbrennen und ausgehen wollten. Längst hatten Musik und Tanz aufgehört. »Trennung, Trennung«, schrie er ganz wild und verzweifelt, er küßte Olimpias Hand, er neigte sich zu ihrem Munde, eiskalte Lippen begegneten seinen glühenden! – So wie, als er Olimpias kalte Hand berührte, fühlte er sich von innerem Grausen erfaßt, die Legende von der toten Braut ging ihm plötzlich durch den Sinn; aber fest hatte ihn Olimpia an sich gedrückt, und in dem Kuß schienen die Lippen zum Leben zu erwarmen. – Der Professor Spalanzani schritt langsam durch den leeren Saal, seine Schritte klangen hohl wieder, und seine Figur, von flackernden Schlagschatten umspielt, hatte ein grauliches gespenstisches Ansehen. »Liebst du mich – liebst du mich, Olimpia? – Nur dies Wort! – Liebst du mich?« So flüsterte Nathanael, aber Olimpia seufzte, indem sie aufstand, nur: »Ach – ach!« – »Ja du mein holder, herrlicher Liebesstern«, sprach Nathanael, »bist mir aufgegangen und wirst leuchten, wirst verklären mein Inneres immerdar!« – »Ach, ach!«, replizierte Olimpia fortschreitend. Nathanael folgte ihr, sie standen vor dem Professor. »Sie haben sich außerordentlich lebhaft mit meiner Tochter unterhalten«, sprach dieser lächelnd, »nun, nun, lieber Herr Nathanael, finden Sie Geschmack daran, mit dem blöden Mädchen zu konversieren, so sollen mir Ihre Besuche willkommen sein.« – Einen ganzen hellen strahlenden Himmel in der Brust, schied Nathanael von dannen.

Spalanzanis Fest war der Gegenstand des Gesprächs in den folgenden Tagen. Unerachtet der Professor alles getan hatte, recht splendid zu erscheinen, so wußten doch die lustigen Köpfe von allerlei Unschicklichem und Sonderbarem zu erzählen, das sich begeben, und vorzüglich fiel man über die todstarre, stumme Olimpia her, der man, ihres schönen Äußern unerachtet, totalen Stumpfsinn andichten und darin die Ursache finden wollte, warum Spalanzani sie so lange verborgen gehalten. Nathanael vernahm das nicht ohne innern Grimm, indessen schwieg er; »denn«, dachte er, »würde es wohl verlohnen, diesen Burschen zu beweisen, daß eben ihr eigner Stumpfsinn es ist, der sie Olimpias tiefes herrliches Gemüt zu erkennen hindert?« »Tu mir den Gefallen, Bruder«, sprach eines Tages Siegmund, »tu mir den Gefallen und sage, wie es dir gescheiten Kerl möglich war, dich in das Wachsgesicht, in die Holzpuppe da drüben zu vergaffen?« Nathanael wollte zornig auffahren, doch schnell besann er sich und erwiderte: »Sage du mir, Siegmund, wie deinem sonst alles Schöne klar auffassenden Blick, deinem regen Sinn Olimpias himmlischer Liebreiz entgehen konnte? Doch eben deshalb habe ich, Dank sei es dem Geschick, dich nicht zum Nebenbuhler; denn sonst müßte einer von uns blutend fallen.« Siegmund merkte wohl, wie es mit dem Freunde stand, lenkte geschickt ein und fügte, nachdem er geäußert, daß in der Liebe niemals über den Gegenstand zu rechten sei, hinzu: »Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns – nimm es nicht übel, Bruder! – auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig sowie ihr Gesicht, das ist wahr! – Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine, und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns, als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen, und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis.« – Nathanael gab sich dem bittern Gefühl, das ihn bei diesen Worten Siegmunds ergreifen wollte, durchaus nicht hin, er wurde Herr seines Unmuts und sagte bloß sehr ernst: »Wohl mag euch, ihr kalten prosaischen Menschen, Olimpia unheimlich sein. Nur dem poetischen Gemüt entfaltet sich das gleich organisierte! – Nur mir ging ihr Liebesblick auf und durchstrahlte Sinn und Gedanken, nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder. Euch mag es