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Merit Niemeitz

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Beschreibung

**Wenn die Gegenwart zum stärksten Gegner wird**  Der Yorker Studentin Lia fällt es schwer, ihr göttliches Erbe zu akzeptieren und nicht zur Figur im intriganten Spiel der Götter zu werden. Auf einen kann sie sich aber immer verlassen: Vesper, den jungen Götternachfahren, der Lias Herz regelmäßig zum Stolpern bringt. Bis er ihr durch einen Hinterhalt entrissen wird. Ohne zu wissen, wem sie überhaupt noch vertrauen kann, macht sich Lia auf die Suche nach ihm. Sie ist bereit, alles für Verspers Rettung zu geben. Selbst wenn es bedeutet, mit dem Gott der Unterwelt persönlich einen Deal einzugehen …  Textauszug:  Ich spürte es bereits: Diese dünne Frostschicht, die sich über mein Inneres legte, als stünde der Wintereinbruch kurz bevor. Die Unterwelt vernichtete alles Warme. Meine Gedanken rutschten haltlos auf Vesper zu. Wenn Vesper der Inbegriff von Licht und Wärme war – was würde dieser Ort aus ihm machen?  Für all die Göttinnen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.  //Dies ist der zweite Band der magisch-göttlichen Buchreihe »Göttererbe«. Alle Bände der Fantasy-Liebesgeschichte bei Impress:  -- Göttererbe 1: Apollons Schatten  -- Göttererbe 2: Hades' Vermächtnis   -- Göttererbe 3: Persephones Schicksal Diese Reihe ist abgeschlossen.//

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Merit Niemeitz

Göttererbe 2: Hades’ Vermächtnis

**Wenn die Gegenwart zum stärksten Gegner wird**

Der Yorker Studentin Lia fällt es schwer, ihr göttliches Erbe zu akzeptieren und nicht zur Figur im intriganten Spiel der Götter zu werden. Auf einen kann sie sich aber immer verlassen: Vesper, den jungen Götternachfahren, der Lias Herz regelmäßig zum Stolpern bringt. Bis er ihr durch einen Hinterhalt entrissen wird. Ohne zu wissen, wem sie überhaupt noch vertrauen kann, macht sich Lia auf die Suche nach ihm. Sie ist bereit, alles für Vespers Rettung zu geben. Selbst wenn es bedeutet, mit dem Gott der Unterwelt persönlich einen Deal einzugehen …

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Vita

© privat

Merit Niemeitz wurde 1995 in Berlin geboren und lebt noch immer dort, in einer Wohnung mit unzähligen Flohmarktschätzen, Pflanzen und Büchern. Seit ihrer Kindheit liebt sie Worte und schreibt ihre eigenen Geschichten. Während und nach ihrem Studium der Kulturwissenschaft arbeitet sie seit Jahren in der Buchbranche und möchte eigentlich auch nie etwas anderes tun.

Kapitel 1

Vesper lächelte.

Die Sonne hatte sich in seinem Gesicht verfangen, benetzte seine Wimpern, betonte das Grün seiner Augen und das Gold seines Blicks.

Mein Herz machte einen Satz, als er mich ansah. Auf diese Art, die ich nur von ihm kannte. So voller Zuversicht, Hoffnung und Sicherheit. Und voll von diesem Gefühl, das ich nicht benennen konnte, aber das ich nur bei ihm spürte.

»Lia.«

Er blieb zwei Schritte von mir entfernt stehen, mitten in einem Meer aus rosa blühenden Anemonen.

»Ves.« Meine Stimme klang halb erstickt. So fühlte ich mich immer, wenn wir uns sahen. Als würde ich den ersten Atemzug nach einer Ewigkeit unter Wasser nehmen.

Er öffnete den Mund, aber es kamen keine weiteren Worte zwischen seinen Lippen hervor. Stattdessen war da Blut. Dunkles, dickflüssiges Blut, das seine Zähne verfärbte und sein Kinn hinablief.

»Nein.« Ich taumelte nach vorn und hob die Hände, aber Vesper wich vor mir zurück.

Ein röchelnder Atemzug, mehr Blut, das über sein Gesicht strömte. Direkt auf seinen Hals zu. Seinen Hals, der ebenfalls von tiefem Rot getränkt war.

Vespers Hand schloss sich über den tief klaffenden Schnitt in seiner Kehle, doch die flüssige Farbe quoll zwischen seinen Fingern hervor. Sein Gesicht erblasste, seine Augen wurden trüb und glanzlos. Er sackte auf die Knie, dann kippte er vornüber in das weiche Gras.

Ich wollte etwas tun. Ich wollte auf ihn zugehen, ihn halten – festhalten, zusammenhalten. Ich wollte ihn retten oder mit ihm verloren gehen, aber ich wollte ihn nicht allein lassen. Und trotzdem schaffte ich es nicht, mich zu rühren.

Meine Muskeln waren vereist. Ich öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Die Buchstaben verklebten auf meiner Zunge. Bitter schmeckende Brocken aus Blut und Teer. Ich konnte nur dastehen und dabei zusehen, wie sein Körper sich immer weiter zusammenkrampfte.

Das Leben sickerte mit jedem seichten Atemzug aus ihm heraus. Sein Blick ließ mich nicht los, aber der Ausdruck darin war längst nicht mehr von Wärme erfüllt. Da waren keine Zuversicht, keine Hoffnung, keine Sicherheit. Nur Schock, Angst und … Anklage.

Die Schuld leerte sich über meinen Schultern aus und drückte sie hinab. Alles in mir verfinsterte sich. Das wenige Licht dieses Moments fokussierte sich noch immer auf ihn. Es liebte ihn, es lebte in ihm – bis zum Schluss.

Die Sonne küsste Vespers Körper golden, während er starb.

Sekundenlang, bis er ein letztes Mal zusammenzuckte und schließlich reglos im Gras lag. Sein Atem verstummte und die Welt mit ihm.

So wie mein Herz, so wie alles in mir.

Ich sank auf die Knie und barg mein Gesicht in den Händen. Obwohl ich ihn nicht mehr sah, spürte ich seine Abwesenheit als unerträgliches Gewicht auf meinem Brustkorb. Ich wünschte, es wäre genug gewesen, mich zerspringen zu lassen. Mein Inneres fühlte sich sowieso schon so an. So, als hätten meine gebrochenen Rippen jedes Organ durchstoßen.

Noch immer konnte ich das Eisen des Blutes riechen und als pelzigen Flaum auf meiner Zunge schmecken, aber ich war zu leer, um weinen zu können. Ich hatte diesen Moment schon zu oft durchlebt, ich hatte Vesper schon zu oft verloren.

Die Zeit dehnte sich ins Unendliche, bis die Schritte ertönten. Begleitet von einem gut gelaunten Pfeifen, das erst abebbte, als er fast bei mir angekommen war.

»Welche Kulisse kommt besser? Das Wiese-Wald-Szenario oder der Klassiker in der Ruine?«

Die tiefe, raue Stimme maximierte den Schmerz. Wut flackerte mit dünner Flamme darunter auf, aber sie war nicht stark genug, um Kontrolle über meine Muskeln zu erlangen.

Ich vergrub das Gesicht tiefer in den Händen, um ihn nicht sehen zu müssen. »Hör auf. Geh einfach weg. Bitte!«

Meine Stimme brach in einem trockenen Schluchzen. Ich hatte es längst aufgegeben, meine Emotionen vor ihm verbergen zu wollen. Er hatte zwar nicht mir die Kehle durchtrennt, aber dennoch hatte er mir eine Wunde zugefügt, die nicht heilen würde. Und das wusste er.

Durch meine Finger hindurch sah ich Lex’ schwarze Hosenbeine, die wenige Zentimeter von mir entfernt innehielten.

»Das hier ist nur ein Traum, Lia. Du kannst jederzeit aufwachen. Aber weißt du, was das Schöne daran ist?« Er kniete sich vor mich und im nächsten Moment lagen seine Hände an meinem Gesicht. Bestimmt hob er es an, bis wir einander ansahen.

Ich war zu erschöpft, um mich dagegen zu wehren.

Lex’ Mund verzog sich zu einem schmalen Grinsen, während er meine blassen Züge betrachtete. »Das macht es nicht weniger real. Ganz im Gegenteil.«

Bevor ich mich fangen konnte, stieß Lex mich von sich. Grob und entschieden, sodass ich nicht anders konnte, als zu fallen. Zurück in die Dunkelheit, die seit Tagen mein Zuhause war.

***

Die Schwärze schluckte mich und spuckte mich mit dem nächsten Atemzug wieder aus.

Schwer atmend schoss ich hinauf und stieß mit dem Kopf fast an einen hervorstehenden Holzbalken. Mein Puls raste, das dünne Nachthemd klebte feucht an meinem Körper. Ich presste eine Hand auf mein wild klopfendes Herz und konzentrierte mich auf seine Kraft, die mir zeigte, dass ich am Leben war. Auch wenn es sich seit Wochen nicht mehr so anfühlte.

Minutenlang saß ich da und betrachtete den Sonnenstrahl, der unter der Türschwelle hindurchkletterte. Im Bett auf der anderen Seite der Hütte erkannte ich Hazels schmalen Körper unter ihrer Decke. Sie atmete gleichmäßig, aber ich wusste, dass sie wach war. Mit mir in einem Zimmer zu schlafen war ein Garant für eine Schlafstörung.

In den ersten Tagen hatte sie mich immer wieder geweckt, wenn ich in einem Albtraum festhing, aber irgendwann hatte ich darum gebeten, es zu lassen. Lex hatte recht gehabt: Es spielte keine Rolle, ob ich wach war oder schlief. Ich wachte auf, aber der Albtraum endete nicht. Das, was in der Ruine passiert war, wiederholte sich in mir in Dauerschleife – ganz gleich, ob Lex sich die Mühe machte, mich daran zu erinnern, oder ob er mir eine Nacht Pause gönnte. Und egal, wie oft ich diesen Moment durchlebte: Ich konnte nichts daran ändern, wie er ausging.

Vorsichtig stieg ich aus dem Bett und nahm den Pullover vom Kopfende. Vespers dunkle Jacke hing daneben, aber ich wagte es nicht, sie überzuziehen. Allein der Gedanke daran, einen letzten Rest seines Geruchs am Stoff auszumachen, erfüllte mich mit kaum aushaltbarem Schmerz.

Die kleine Siedlung der Nymphen-Nachfahrinnen war noch verschlafen. Die Wäscheleinen bewegten sich im Morgenwind, silbrig beleuchtet von der Herbstsonne, die zwischen den Baumwipfeln hing. Ein paar Rehe grasten an der Grenze zum Wald. Die Tiere hier hatten erkannt, dass von Jo und ihren Freundinnen keine Gefahr ausging, und sie als ebenbürtige Bewohnerinnen ihres Zuhauses akzeptiert. Oft kamen sie so nah an die Holzhäuser und die Frauen heran, dass man sie hätte berühren können. Nicht nur Rehe und Hirsche, auch Dachse und Rotfüchse liefen zwischen den Hütten umher, als wären die Nachfahrinnen der Nymphen ebenso ein natürlicher Teil des Waldes wie sie.

Meine Schuhe waren feucht vom Morgentau, als ich bei der Lichtung ankam und mich auf einen umgefallenen Baumstamm sinken ließ. Es trieb mich immer wieder hierher, obwohl dieser Ort keinen Trost spenden konnte.

Hier hatte ich vor wenigen Wochen gehört, wie Jo und Vesper über die Legende sprachen. Diese Legende, die vielleicht der Kern alles Übels war. Wenn zwischen Vesper und mir wirklich irgendeine göttliche Verbindung gewesen war, aufgrund derer er mich beschützen wollte, dann war er chancenlos gewesen. Und selbst wenn nicht: Ich hatte es gewusst. Ich hatte gewusst, dass es ihm letztlich wehtun würde, wenn ich ihn an mich heranließ. Und ich hatte es trotzdem getan. Weil ich egoistisch und schwach und dumm gewesen war. So dumm zu glauben, es bestünde Hoffnung für uns. Für mich.

Ich kniff mir in die Nasenwurzel und fixierte den Baumstamm unter mir. Zwischen dem Holz und dem knöchellangen Gras glänzte ein Spinnennetz. Ein paar Tautropfen hatten sich darin verfangen – und in der Mitte ein Schmetterling. Ich schob die Hände zwischen meine Oberschenkel, um sie daran zu hindern einzugreifen. Es war längst zu spät. Die Spinne war im Zentrum ihres Netzes angekommen und begann die Flügel des Schmetterlings anzunagen. Die schönen, bunt beäugten Flügel, die im kühlen Licht schimmerten. Der Schmetterling zuckte noch ein paar Mal auf, ehe er schließlich reglos verharrte.

Tot.

Tot, tot, tot.

Das Wort wummerte durch meinen Kopf, so, wie es das seit Tagen tat. Ich zählte sie schon lange nicht mehr. Die Zeit hatte in der Sekunde aufgehört zu existieren, in der Vesper das letzte Mal ausgeatmet hatte.

Ich erinnerte mich nicht an viele Details der vergangenen Tage. Ein Teil von mir hatte Vespers toten Körper nicht allein lassen wollen, ein anderer hatte es nicht ertragen zu sehen, dass das, was ihn ausmachte, längst fort war.

Also war ich gelaufen. Schritt für Schritt für Schritt, durch die Nacht, durch den Morgen, bis zum Mittag, als ein Wagen neben mir anhielt und die Fahrerin mich fragte, wohin ich unterwegs sei. Mein Verstand hatte keine Antwort darauf parat gehabt, mein Herz schon: Zurück zu dem Wald, der mir wenige Tage zuvor wie ein seltsam vertrautes Zuhause vorgekommen war.

Jo und ihre Freundinnen hatten mich, ohne zu zögern, aufgenommen. Dabei habe ich ihnen nur einen Bruchteil dessen erzählt, was passiert war. Sie drängten mich nicht dazu, aber ich sah, wie Jo mit jedem Tag unruhiger wurde. Sie brauchte Antworten, eine Erklärung, einen Sinn. Als könnte ich ihr diesen geben. Gestern hatte sie angekündigt, dass wir uns heute unterhalten müssten. Ich hatte nur genickt.

Ich wusste, dass ich ihr die Wahrheit schuldete – selbst wenn es mich wahrscheinlich mein Leben kosten würde. Es spielte letztlich keine Rolle mehr.

Es gab unsagbar viele Arten zu sterben. Zwanzig Jahre lang hatte ich sie durchdacht, hatte versucht die akzeptabelste von allen herauszufiltern. Ich hatte geglaubt sie alle mehr oder minder berücksichtigt zu haben. Jetzt wusste ich, dass das nicht stimmte. Es gab eine Art, an die ich nicht einmal im Entferntesten gedacht hatte.

Nichts brachte einen auf schmerzhaftere Art um, als jemanden sterben zu sehen, für den man etwas derart Inniges empfand, dass es sich nicht in Worte fassen ließ. Nichts war grausamer, nichts zerfetzte mehr von Körper und Geist.

Ich starb seit zwei Wochen und ich wusste, es würde nicht enden. Vesper war tot und solange ich lebte, würde ich einfach nicht mehr aufhören zu sterben.

Ich hörte, wie der Wald sich hinter mir teilte, als jemand auf die Lichtung trat. Dennoch sah ich erst auf, als die junge Frau vor dem Baumstamm angekommen war, auf dem ich saß. Obwohl es bereits November und der Herbst zwar mild war, aber dennoch allmählich in den Winter überging, trug sie keine Schuhe. Ihre nackten Füße schimmerten fast so bläulich wie die Glockenblumen, zwischen denen sie standen.

Blaue Glockenblumen. Rosa Anemonen. Blut.

Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf Mercys Gesicht.

»Hier bist du.«

Ihre Moosaugen wanderten aufmerksam über mich. Seit ich hier war, sah sie mich nur so an. Sorgenvoll, bekümmert, tieftraurig.

Ich fragte mich, ob sie Vesper sah, wenn sie mich anblickte. Ich fragte mich auch, ob sie mir ansehen konnte, dass ich für seinen Tod verantwortlich war. Ich fragte mich vieles, aber ich sprach nichts davon aus. Es fiel mir schwer, mit ihnen zu reden. Jedes Wort kam mir so bedeutungslos vor.

»Ich soll dich holen, Liebes. Jo würde jetzt gern mit dir sprechen.« Mercy streckte eine Hand nach mir aus, die ich langsam ergriff. Ihre Finger waren warm und weich, so wie das Lächeln, das sie mir schenkte, als ich aufstand.

Im Flügel des Schmetterlings war ein fingernagelgroßes Loch, als wir gingen. Das in meiner Brust fühlte sich größer an.

***

Jo wartete vor ihrer Hütte auf uns. Mercy und sie tauschten einen kurzen Blick, ehe Jo sich erhob und uns deutete ihr ins Innere zu folgen.

Die Ritzen zwischen den Holzbalken waren mit Moos gestopft, dennoch konnte man den nahenden Winter auch hier fühlen. Ich setzte mich auf einen der Stühle, die um einen kleinen Tisch herumstanden. Jo sank mir gegenüber, Mercy auf das Bett an der Wand.

Jo legte die Hände aneinander und beugte sich leicht zu mir vor. »Du bist jetzt zwei Wochen hier, Lia. Und du weißt, du kannst solange bleiben, wie du willst, aber du musst anfangen zu reden. Du musst uns erzählen, was passiert ist.« Ihre dunklen Augen suchten eindringlich nach meinem Blick, aber ich wich ihr aus.

Was war passiert? Meine Gedanken krochen schwammig durcheinander, ein einziger war deutlich genug, um ihn herausgreifen zu können. »Vesper ist tot.«

An meinem ersten Abend hier hatte ich nur das gesagt. Wieder und wieder und wieder. »Vesper ist tot. Vesper ist tot. Vesper ist tot.« Solange, bis Mercy mich in den Arm nahm und die Worte in ihrem dichten Haar erstickten. In dieser Nacht saß ich mit angezogenen Knien im Bett und hörte draußen die Erbinnen der Nymphen weinen. Klagende, herzzerreißende Laute, die den Wald um uns herum zu verdichten schienen. Nur Jo weinte nicht. Sie war in den Wald verschwunden und erst nach zwei Tagen zurückgekehrt.

Jetzt nickte sie knapp. In ihren Augen lag kein Schmerz, nur eine unergründliche Gefasstheit. Ich zweifelte dennoch nicht daran, dass sie litt. Menschen hatten verschiedene Arten zu trauern und es gab kein Richtig oder Falsch, wenn man jemanden verlor, den man liebte. Und Jo hatte Vesper geliebt. Das war der einzige Grund dafür, dass sie so geduldig mit mir umging. Dass sie mich hier aufgenommen, sich um mich gekümmert und mir Zeit zu schweigen gegeben hatte. Bis jetzt.

»Aber wie ist das passiert, Lia?«

Meine Lippen öffneten sich, doch ich brachte kein Wort heraus. Wenn ich den ersten Faden dieser Geschichte in die Hand nahm und daran zog, dann würde sich alles aufdröseln. Diese ganze, wirr gestrickte Wahrheit, die ich selbst noch immer nicht verstehen konnte. Und wie erklärte man etwas, das man selbst nicht begriff?

Jo neigte sich noch weiter zu mir vor. Endlich schaffte ich es, sie anzusehen. Die Schatten unter ihren Augen wurden mit jedem Tag tiefer. Ich fragte mich, ob sie auch so schlecht schlief wie ich. Ob sie Angst vor ihren Träumen hatte. Die Nächte, in denen Lex mich Vespers Tod erneut durchleben ließ, waren nicht einmal die schlimmsten. Am grausamsten war es, wenn ich von Vesper träumte, ohne dass ihm etwas passierte. Wenn wir einfach nur zusammen waren und ich dieses Gefühl in mir spürte, das jedes bisschen Dunkelheit vertrieb: reines, goldenes Glück.

Jedes Mal, wenn ich danach aufwachte und erkannte, dass all das eine Illusion gewesen war, fühlte es sich an, als würde ich Vesper noch einmal verlieren.

»Du bist bei uns in Sicherheit. Wir achten aufeinander und du gehörst zu uns, solange du es willst. Du kannst uns vertrauen«, sagte Jo ernst in meine Gedanken hinein.

Ein bitteres Lächeln schlüpfte auf meine Lippen. »Ich weiß nur nicht, ob ihr mir vertrauen könnt. Ich weiß nicht, ob ich mir vertraue.«

»Was meinst du damit?«, fragte sie stirnrunzelnd.

Ich schloss die Augen. »Es ist meine Schuld, dass Vesper tot ist.« Ich hatte Lex in meinen Träumen verraten, was Vesper mir bedeutete. Ich hatte ihm so viel von mir gezeigt, was er nie hätte erfahren dürfen. Ich hatte ihm meine Seele offenbart und er hatte dieses Wissen genutzt, um sie zu zertrümmern. An meinen Händen klebte Vespers Blut. In jeder verdammten Hinsicht.

Ich blinzelte auf meine Finger hinab. Stundenlang lang war ich mit der dunklen Farbe auf der Haut herumgelaufen, die sich langsam verändert hatte. Feuer, Sonnenuntergang, Klatschmohn, Wein. Die Rillen meiner Haut waren durch die getrocknete Flüssigkeit hindurchgebrochen, meine Lebenslinien hatten sich unter dem Schwarzrot abgezeichnet, als wollten sie mich verhöhnen. Trotzdem hatte ich es nicht über mich gebracht, meine Hände zu waschen. Dieses Blut war das letzte bisschen von Vesper gewesen, das mir geblieben war. Letztlich hatte Mercy meine Hände im Waldbach gesäubert. Mit behutsamen Bewegungen, die sich trotzdem angefühlt hatten, als würde sie mir weitere Teile meines Herzens abschaben. Jetzt war es fort. So, wie alles von ihm.

Und deswegen hatte ich jetzt vermutlich wirklich nichts mehr zu verlieren. Ich holte tief Luft – und ließ los. »Ihr wisst ja, dass ich die letzte Erbin der Pythien bin«, begann ich leise, ohne den Blick von meinen Händen abzuwenden. »Vesper und die anderen haben mich ausfindig gemacht, damit ich eine Prophezeiung ausspreche.«

»Ja, Zeo hat etwas von einer uralten Legende angedeutet, als sie mich dazu bringen wollten, bei ihnen einzusteigen.« Jos Stimme verriet, dass ihr alles an der dazugehörigen Erinnerung zuwider war. »Worum geht es bei dieser Prophezeiung?«

»Um den Erben von Hades. Der Legende nach soll dieser dazu in der Lage sein, die Ordnung der Götter und der gesamten Welt neu zu gestalten. Hades’ Anhänger glauben, dass es ihm durch diesen Nachfahren möglich sein wird, Zeus’ Herrschaft zu übernehmen und auch wieder Zugriff auf die Erde zu haben.«

Mercy rutschte an die Kante des Bettes. »Aber das wäre schrecklich. Das würde eine Gefahr für jeden einzelnen Erdenbewohner bedeuten.«

Ich nickte mechanisch. »Deswegen wollen Zeos Leute ihn aufhalten. Sie wollen ihn töten, bevor er seine Bestimmung erfüllen kann oder die Anhänger von Dorion ihn finden.«

»Du kennst … Dorion?«, fragte Jo irritiert.

»Ich habe ihn nicht kennengelernt«, gab ich zögernd zurück. »Ich weiß nur, dass er die chthonischen Göttererben anführt und Hades unterstützt. Aber … ich habe ein paar seiner Anhänger getroffen. Sie haben versucht mich dazu zu bringen, die Prophezeiung für sie abzuhalten.«

Jo lachte kalt auf. »Das kann ich mir vorstellen. Die Erben der Unterweltgötter sind zum größten Teil skrupellose Fanatiker.«

Und trotzdem habe ich einen von ihnen bereitwillig in mein Herz gelassen. »Einer von ihnen hat mich ausfindig gemacht, Monate bevor Vesper bei mir aufgetaucht ist. Lex war … er hat so getan, als wäre er mein Freund. Ich habe ihm vertraut.« Es kostete mich alles an Kraft, seinen Namen auszusprechen. Diese drei Buchstaben, die einmal alles für mich gewesen waren und die trotzdem das Nichts in mein Leben gebracht hatten.

Sie schwiegen einen Moment, als könnten sie mir ansehen, dass ich um Fassung rang. Schließlich räusperte sich Jo. »Wann soll die Prophezeiung sein?«

Augen schließen, durchatmen, weitermachen. Langsam hob ich den Blick und erwiderte Jos. Ich wusste, dass dieser Moment mir Angst machen sollte, aber bis auf ein dumpfes Vibrieren hinter meinen Schläfen war da nichts. Vielleicht war selbst der Schwindel in mir zu erschöpft, um mich noch zu warnen. Vielleicht wusste er, dass ich schon verloren war.

»Sie hat bereits stattgefunden. Kurz bevor ich zu euch gekommen bin.«

Mercy erhob sich vom Bett. »Und?«, brachte sie atemlos hervor. Ihre sonst immerzu rötlich gefärbten Wangen hatten jedes bisschen Farbe verloren.

»Ich habe eine Erinnerung gesehen. Eine Erinnerung an Apollon und die Tochter von Hades. Sie waren ein Liebespaar. Er hat ihr dabei geholfen, ihren Tod vorzutäuschen, um sie vor Zeus zu schützen. Und er hat sie mit der Kraft der Weissagung gesegnet, um ihr zur Flucht zu verhelfen.« Die Worte kamen wie von selbst. Emotionslos und starr, als würde ich eine Geschichte vorlesen, die mich nicht interessierte. Als wäre es nicht die Geschichte, die mein Leben definierte. »Er hat aus ihr die letzte seiner Pythien gemacht.«

Stille. Laute, alles zerstörende Stille. Mein Herz flatterte erneut auf. Ich spürte die hektischen Flügelschläge an der wunden Innenhaut meiner Seele. Es tat weh. Alles an dieser Wahrheit tat weh.

Jo setzte mehrmals an, bis sie es schaffte zu antworten. Ihr Blick lag reglos auf meinem Gesicht. »Das würde bedeuten, dass die letzte Erbin der Pythien auch die Erbin dieser Tochter ist.«

»Ja«, sagte ich schlicht.

Mercy machte eine Bewegung auf Jo zu und stellte sich hinter sie.

Ich wusste nicht, ob sie ihre Nähe suchte oder sich nur von mir entfernen wollte. »Das bedeutet …«

»Ja.« Meine Stimme brach, ich schluckte. Ich wollte es nicht aussprechen und ich wollte es nicht ausgesprochen hören. Ich wollte es nicht einmal denken. »Nach der Prophezeiung bin ich zu Vesper zurück. Ich habe es ihm erzählt und er hat gesagt, dass es für ihn keine Rolle spielt. Dass wir einen Weg finden würden. Dass er mich beschützen würde vor den anderen.«

Wenn ich an diesen Moment dachte, dann war da noch der letzte Schimmer Gold, der durch mich hindurchhuschte. Ein Bruchteil dieses überwältigenden Gefühls, das ich gespürt hatte, als Vesper mir in die Augen gesehen hatte. Er hatte alles von mir gesehen und dennoch beschlossen sich nicht abzuwenden. Erst viel später hatte ich verstanden, was das gewesen war: In diesen flüchtigen Sekunden hatte ich begriffen, wie es sich anfühlte, geliebt zu werden.

Tränen stiegen in meine Augen, ich presste die Handballen dagegen.

»Und dann kam Lex. Er hatte es gehört und wollte, dass ich mit ihm komme. Ich habe abgelehnt. Also hat er gesagt, er würde mich töten, damit ich auf diesem Weg in den Hades komme.« Langsam ließ ich die Hände wieder sinken und sah in ihre Gesichter.

Mercys geweitete Augen, die unheilvoll schimmerten, Jos undurchdringbare Maske aus Anspannung und düsterer Vorahnung.

»Ich habe nicht begriffen, was er vorhatte. Ich habe es viel zu lange nicht begriffen. Und Vesper auch nicht.« Vesper, der sonst immer so vorsichtig gewesen war. Der immer einen Blick für den Rückspiegel übriggehabt hatte. Der so bedacht und klug und vernünftig gewesen war. Bis er mich getroffen und damit alles verloren hatte. »Er ist dazwischengegangen. Lex hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Er hat ihn getötet.«

Es hieß, wenn man Worte oft genug aussprach, verloren sie an Schrecken. Nach zwei Wochen, in denen diese Worte sich endlos in mir wiederholt hatten, wusste ich, dass das nicht stimmte. Nichts daran würde je weniger schrecklich werden.

Sie schwiegen. Mercy ließ sich wieder auf die Bettkante sinken. Jo regte sich nicht. Erst nach etlichen Sekunden löste sie sich mit einem Nicken aus ihrer Starre und lehnte sich zu mir vor.

»Und jetzt? Was ist dein Plan?«

»Plan?« Verständnislos sah ich zu ihr auf.

Sie nickte. »Was hast du vor? Wenn du diese Erbin bist, dann sind jetzt beide Seiten hinter dir her, oder nicht? Du kannst dich nicht ewig verstecken. Nicht einmal hier.«

Ich verspannte mich etwas, als ich die Sorge in ihren Augen sah. Sie bezog sich auf mich, aber dennoch verstand ich durch sie etwas, das ich in den vergangenen Tagen ignoriert hatte: Solange ich hier war, war nicht nur ich in Gefahr.

»Es tut mir leid. Ich wollte euch nicht in diese Sache hineinziehen«, sagte ich aufrichtig. »Ich wusste nicht, wohin ich sollte, und das hier war der einzige Ort, der mir eingefallen ist. Aber das war nicht fair. Ich werde gehen.«

»Du gehst nirgendwohin, Liebes«, widersprach Mercy entschieden. »Nicht ehe du einen Plan hast. Da draußen bist du nicht sicher.«

Irritiert begegnete ich ihrem warmherzigen Blick. Darin lag nicht einmal der Hauch von Argwohn oder Unsicherheit. Wie konnte sie mich noch so ansehen, nach allem, was sie gerade erfahren hatte? »Habt ihr keine Angst vor mir?«

Jo schnaubte belustigt. »Bitte? Jede Einzelne von uns bräuchte keine zehn Sekunden, um dich umzubringen. Du hast ja noch nicht einmal irgendwelche göttlichen Kräfte. Von deinen Visionen abgesehen, meine ich. Nicht einmal Mercy konnte erkennen, dass du von einem Gott abstammst.«

Darüber hatte ich auch schon nachgedacht. In den ersten Tagen nach der Prophezeiung hatte ich manchmal das Flackern von Panik in mir gespürt. Panik davor, dass die fremden Erinnerungen etwas in mir wachrufen würden, das schon immer dort geschlummert hatte. Doch nichts war geschehen.

Ich war dankbar dafür. Etwas, das ich von Hades geerbt hatte, könnte niemals gut sein.

»Außerdem haben wir gesehen, wie der Wald auf dich reagiert«, schaltete Mercy sich sanfter ein. »Die Tiere fühlen sich zu dir hingezogen. Wenn sie in dir nichts Böses erkennen, dann tun wir das auch nicht. Die Natur erkennt das Herz eines Menschen – immer. Und unser Herz ist so viel mehr als ein Gefüge aus Genen und Bestimmung.«

Ich lächelte schwach. Ich wollte so gern daran glauben, dass sie recht hatte. Aber wenn mich die vergangenen Wochen eines gelehrt hatten, dann dass ich nichts mit Sicherheit sagen konnte. Weder über die Welt, in der ich lebte, noch über mich selbst. Ich wusste nicht, wer ich war oder wofür ich bestimmt war. Und genau deshalb konnte ich für nichts garantieren. Nur eines wusste ich mit Sicherheit. »Wenn ich hierbleibe, seid ihr nicht sicher.«

»Das lass mal unsere Sorge sein.« Jo verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich im Stuhl zurück.

Ich konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn ratterte, doch ihr Blick wirkte gefasst und neutral. »Aber du musst dir überlegen, was du tun willst. Auf wessen Seite du dich stellst.«

Ich umklammerte die Kante des Tisches so fest, dass ich einen feinen Schmerz in meine Finger kriechen spürte. »Es gibt keine Seite für mich. Zeo will mich umbringen. Dorion will mich dazu benutzen, den gefährlichsten aller Götter zu entfesseln.«

»Sie werden aber nicht zulassen, dass du dich einfach aus allem heraushältst«, gab Jo zu bedenken. »Wenn es stimmt, was du sagst, dann ist das die Schwelle zu einem Krieg.«

Ich lachte bitter auf. »Dieser Krieg interessiert mich nicht.« Diese ganze Welt interessierte mich nicht mehr. Ich wollte nichts damit zu tun haben.

Jo zuckte mit den Schultern. »Aber so, wie ich das sehe, bist du alles, was diesen Krieg interessiert. Also solltest du dir deinen nächsten Schachzug gut überlegen.«

Ich schwieg einen Moment lang. Draußen erwachte die Siedlung. Die Stimmen der anderen kletterten hell durch die Ritzen der Hütte zu uns hinein. Der Geruch von frischem Brot klebte an ihnen und löste ein flaues Gefühl in meinem Magen aus. Ich presste eine Hand auf meinen Bauch und versuchte eine Wahl zu treffen, die keine war.

»Wenn ich mich entscheiden muss, wähle ich Zeos Seite«, sagte ich schließlich leise. »Ich bin lieber tot als einen Finger für Lex zu rühren.«

Jo fuhr sich nachdenklich durch das rotbraune Haar. »Ich verstehe nicht, wieso er das getan hat. Wieso hat er Vesper getötet und dich dann gehen lassen? Er hätte dich doch einfach zwingen können mit ihm zu gehen.«

Die Antwort auf diese Frage war wieder eine, die ich kaum ertrug: Er kannte mich zu gut. Lex wusste, wie ich sein konnte, wenn man mich zu etwas zwingen wollte. Ich war stur, selbst wenn es mich in Gefahr brachte. Vielleicht weil mir mein Leben zu wenig bedeutete, um es über meine Prinzipien zu stellen. Aber es hatte etwas gegeben, das mir mehr bedeutet hatte. Und auch das hatte Lex gesehen.

»Er ist davon ausgegangen, dass ich nur durch Vespers Tod bereit sein würde zu verhandeln. Ich nehme an, er hält mich für naiv genug zu glauben, es gäbe einen Weg, Vesper aus dem Hades zurückzuholen.«

Ich schnaubte leise. Ich war zwar neu in dieser Welt, aber ich war nicht dumm. Selbst in den Erzählungen der griechischen Mythologie starben Menschen – und sie kamen nicht einfach zurück, nur weil man intensiv genug betete.

Jo und Mercy tauschten einen Blick. So kurz und flüchtig, dass ich ihn nicht zu fassen bekam. Trotzdem sorgte etwas daran dafür, dass mein Herz aussetzte.

Reflexartig richtete ich mich auf. »Was ist?«

Jo sah mich widerstrebend an. Ihre Gefasstheit hatte sich gelichtet, da hing ein Faden Nervosität in ihren Augen. »Ganz so absurd ist das nicht«, sagte sie gedehnt.

Mein Herz stolperte schmerzhaft weiter. Meine Stimme klang atemlos, als ich es schaffte zu antworten. »Heißt das, es … es … gibt einen Weg?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Ungeduldig rutschte ich mit dem Stuhl näher an den Tisch und sah ihr eindringlich ins Gesicht. »Jo, bitte!«

Sie sah zu Mercy, die sie mit blassem Gesicht fixierte. Selbst ich erkannte, dass sie Jo wortlos anflehte es nicht zu tun. Jos Wangenmuskulatur zuckte, als sie sich trotzdem zu mir wandte. »Kennst du dich mit unserer Geschichtsschreibung aus?«

»Der griechischen Mythologie?«

»Es ist keine My…, okay, schon gut.« Sie verdrehte die Augen unter meinem angestrengten Blick. »Jedenfalls gibt es durchaus ein paar Geschichten, in denen Hades mit sich hat handeln lassen. Bei Orpheus und Eurydike zum Beispiel. Und Herakles hat es auch geschafft, Theseus und Alkestis zu retten.«

Ich kannte nur die erste Geschichte und versuchte hastig ihre Einzelheiten zu ordnen. Orpheus, der Sohn einer Muse, war für seine Gesangskünste bekannt und wurde dafür selbst von den Göttern verehrt. Er hatte eine Frau, Eurydike, die kurz nach der Hochzeit von einer giftigen Schlange gebissen wurde und daran verstarb. Orpheus konnte das nicht akzeptieren und ging in die Unterwelt, wo er Hades mit einem Lied darum bat, Eurydike wieder zum Leben zu erwecken. Und tatsächlich bekam Hades Mitleid und versprach ihm, dass seine Frau mit ihm zurückkehren durfte, sofern er es schaffte, sich auf dem Weg nach draußen nicht nach ihr umzudrehen.

Langsam schüttelte ich den Kopf. »Aber Orpheus hat Eurydike nicht zurückbekommen. Er hat sich auf dem Weg umgedreht und sie ist wieder verschwunden.« Und Orpheus lebte ein paar weitere einsame, schmerzerfüllte Jahre, ehe er von Anhängerinnen des Dionysos ermordet wurde.

»Schon, aber Hades war bereit sie gehen zu lassen. Und das ist erst einmal das, was relevant ist, oder?«

Noch einmal schüttelte ich den Kopf. Mein Verstand bemühte sich darum, die Hoffnung in mir kleinzuhalten. »Selbst wenn diese Geschichten wahr sind. Er hat keine Macht mehr«, beharrte ich. »Die Götter haben keinen Einfluss mehr, seit Jahrhunderten nicht.«

Das war es doch, worum es bei dieser ganzen Sache ging: Die Götter saßen in ihren über- und unterirdischen Sphären fest, unfähig, auf das Leben der Menschen einzuwirken. Wieso also sollte es Hades nach wie vor möglich sein, über Leben und Tod zu entscheiden?

Jo zuckte mit den Schultern. »Auf der Erde nicht. Aber die Unterwelt ist immer noch Hades’ Reich. Wer sich dort befindet, untersteht somit auch seinem Willen.«

Sie sah mich so vielsagend an, dass ich spürte, wie der Widerstand in mir bröckelte. Durch jede Ritze drang daunenfedrige Hoffnung in mein Inneres.

»Du meinst, es gäbe einen Weg, mit ihm zu verhandeln?«, fragte ich leise. Ich hatte Angst, sie auszusprechen würde den Worten jede Möglichkeit entziehen.

Jos Blick wurde ein wenig weicher. »Selbst wenn – was, denkst du, würde er dafür im Gegenzug von dir verlangen?«

Ein heiseres Lachen entwich mir. »Das ist mir doch egal.«

»Das sollte es aber nicht sein«, widersprach Jo und griff über den Tisch nach meiner Hand.

Vielleicht konnte sie mir ansehen, dass ich dabei war abzudriften. Diese Möglichkeit, egal wie unwahrscheinlich sie war, veränderte alles. Zum ersten Mal seit Wochen war da ein Funken Licht in mir.

Jos Worte drangen wie durch Wasser zu mir hindurch. »Wenn es eine Möglichkeit gibt, Vesper zurückzuholen, dann hat sie ihren Preis. Hades wird verlangen, dass du dich auf seine Seite stellst. Und wenn du das tust, dann bedeutet ein gerettetes Leben gar nichts – weil dann dieser ganze Planet in Gefahr schwebt. Es hat seinen Grund, warum die Götter nicht mehr hier sind, und glaub mir, es würde uns allen nicht guttun, wenn sich daran etwas änderte.«

»Und wenn ich einen Weg finde, Vesper zurückzuholen, ohne Hades etwas zu versprechen?« Meine Gedanken überschlugen sich, Jo drückte meine Hand fester.

»Du solltest nicht so arrogant sein zu denken, du könntest einen Gott seines Kalibers austricksen, Lia«, sagte sie leise. »Hochmut bezahlt man am Ende immer mit Schmerz.«

Und wenn schon, dachte ich. Ich bestehe sowieso nur noch aus Schmerz. Wie konnte es noch schlimmer werden?

»Außerdem weißt du nicht, in welcher Verfassung Vespers Seele ist. Er ist seit Wochen tot. Und die Zeitrechnung in der Unterwelt ist eine andere als hier. Je nachdem, was Hades dort mit ihm macht, ist vielleicht schon nichts mehr von ihm übrig, was du zurückholen könntest.«

Vielleicht hoffte Jo mich mit diesem Argument zum Zweifeln zu bringen. Dabei ließ es mich nur sicherer werden. Wenn ich den Gedanken zuließ, dass Vesper nicht einfach tot war, sondern auf irgendeine Art in der Unterwelt existierte, war mir auch klar, dass Hades ihn vermutlich nicht mit Wohlwollen überschüttete. Er würde ihn wie einen Gefangenen behandeln, nicht wie einen Gast. Und wenn Vesper litt, musste ich ihn retten. Um jeden Preis. Das war keine Möglichkeit, es war ein Muss. Und es war alles, was mich dazu brachte, mich seit Langem wieder lebendig zu fühlen.

Ehe ich etwas erwidern konnte, schaltete Mercy sich mit einem Räuspern dazwischen. Sie war wieder aufgestanden und stand nun an der Seite des Tischs zwischen Jo und mir. Ihr Blick war ungewohnt ernst.

»Es gäbe einen Weg, vielleicht mehr zu erfahren. Darüber, wo Vesper gerade ist. Wie der Zustand seiner Seele ist. Ob er … zu retten ist.«

Ich entzog Jo meine Hand und umklammerte erneut den Tisch. Mein Herz dröhnte, ich spürte es in jeder Zelle. »Welchen?«

»Mercy«, warnte Jo mit zusammengebissenen Zähnen.

»Du hast damit angefangen«, gab sie zurück und sah sie unter ihren dichten Wimpern anklagend an. »Wenn du sie schon auf diese Idee bringst, dann müssen wir ihr auch dabei helfen.«

Jo stand auf und sah Mercy eindringlich ins Gesicht. »Das ist riskant. Und das weißt du.«

Mercy schüttelte leicht den Kopf. Behutsam fasste sie nach Jos Hand und verflocht ihre Finger mit ihren eigenen. »Es geht um Vesper. Schieb ganz kurz diesen Panzer beiseite, den du dir in den letzten Wochen um dein Herz gebaut hast. Fühle, was das bedeutet, Jo. Es geht um Vesper.«

Einen Moment lang sahen sie einander nur an. Mit jeder Sekunde, die verstrich, schwand die Härte aus Jos Augen. Sie fluchte unterdrückt, löste sich von Mercy und fuhr sich über das Gesicht. »Also gut. Ruf die anderen zusammen und frag sie. Heute Nacht ist Neumond. Könnte man glatt einen göttlichen Zufall nennen … fürchte ich.«

Verständnislos ließ ich den Blick zwischen ihnen hin- und herwandern. »Was bedeutet das?«

Mercy wandte sich mit einem feinen Lächeln an mich. »Wir fragen jemanden, der sich in der Unterwelt gut auskennt.«

»Kennt ihr zufällig auch ein Medium, das mit Hades in Kontakt steht?«, hakte ich nach. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn Zeos Kontakt zu Zeus nicht der einzige dieser Art war.

Mercys Lächeln vertiefte sich. Sie drückte meine Schulter, dann lief sie zur Tür und öffnete sie. »Nicht unbedingt mit Hades. Aber wenn es gut geht mit jemandem, der ihm nahesteht.«

Kapitel 2

Der Mond war nur eine schmale Sichel, dennoch tunkte er die gesamte Lichtung in einen milchigen Schein. Ich stand am Rande des Waldes und sah den Nymphen-Nachfahrinnen dabei zu, wie sie die letzten Vorkehrungen trafen.

Eine Linie aus Fackeln bildete einen großen Kreis im knöchelhohen Gras, in der Mitte war eine von Steinen geschützte Feuerkuhle. Aus der Ferne konnte ich nicht genau ausmachen, was sich darin befand.

Jo hatte gesagt, ich solle hier warten, bis sie fertig seien. Obwohl ich mit jeder Sekunde spürte, wie meine Ungeduld wuchs, regte ich mich nicht. Ein Teil von mir hatte noch immer Angst, sie könnte es sich anders überlegen. Ihre Freundinnen hatten zwar nicht gezögert Mercys Plan zuzustimmen, doch ich wusste, dass Jo sie jederzeit dazu bringen könnte, ihre Meinung zu ändern.

Ich bemerkte Mercy erst, als sie vor mir stehen blieb und mich sorgsam musterte. »Wie fühlst du dich?«

Sie trug ein weißes Leinenkleid, so wie vor wenigen Wochen auf der Feier. Generell erinnerte mich vieles der jetzigen Vorbereitungen an diesen Abend. Nicht zuletzt die Kränze aus abblühendem Heidekraut, die sie alle auf den Köpfen trugen.

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich aufrichtig und beobachtete, wie Jo in die Mitte des Kreises trat und sich über das Feuer beugte. Die Flammen warfen zerfranste Schatten auf ihr Gesicht, dennoch erkannte ich die Anspannung, die sich dazwischen niedergelassen hatte.

Sie hatten mir noch immer nicht gesagt, was sie planten, doch mittlerweile hegte ich einen Verdacht. Weil ich mich an den letzten Abend erinnerte, den wir, Ves und ich, hier verbracht hatten. Und an das, was Vesper gesagt hatte.

»Ihr wollt jemanden beschwören, oder? Einen Gott.«

»Eine Göttin«, korrigierte Mercy lächelnd.

»Dann könnt ihr das tatsächlich?« Nicht einmal Vesper hatte gewusst, ob das wirklich möglich sein konnte.

»Ganz ehrlich?« Sie zupfte an ihrem Kranz herum. »Wir wissen es nicht genau. Der Überlieferung nach war es unseren Vorfahrinnen möglich, ihre spirituellen Kräfte derart zu bündeln, dass sie eine Verbindung zu den Göttern herstellen konnten. Aber das war, bevor die Götter von der Erde verschwunden sind. Wir können zu niemandem Kontakt aufnehmen, der von dieser Welt abgeschnitten ist. Die einzige Göttin, die wir vielleicht erreichen können, ist eine, die in der Schwelle zwischen beiden Sphären zu Hause ist.«

Meine Gedanken ratterten, aber ich kam nicht darauf, von wem sie sprach.

Mercy bemerkte meinen hilflosen Blick und holte weiter aus. »Hekate. Sie ist die Göttin der Übergänge und Tore, außerdem die des Wandels und der Magie.«

Ein einzelner Erinnerungsfetzen aus einem meiner Seminare wehte durch mich hindurch. »Sie hat Persephone für Demeter in der Unterwelt gefunden, nachdem sie von Hades entführt worden war, richtig?«

Mercy nickte und strich behutsam mit der Fingerkuppe über den Flügel eines Nachtfalters, der sich auf dem Spitzenausschnitt ihres Kleides niedergelassen hatte. »Genau. Ihr war es möglich, den Zugang zur Unterwelt zu öffnen und somit eine Verbindung zwischen den Welten herzustellen. Hekate stand immer ein wenig außerhalb der Hierarchie der Götter. Als die Übergänge zwischen Erde, Olymp und Hades sich schlossen, entschied sie sich jedoch dafür, in die Unterwelt zu gehen. So sagt man zumindest.«

»Und inwiefern ist es dann einfacher, zu ihr Kontakt aufzunehmen?«

»Übergänge sind ihre Einflussbereiche. Wenn es jemandem möglich ist, durch die Barrieren zu sehen – und zu kommunizieren –, dann ihr.«

Ich umklammerte meine Unterarme und grub die Fingernägel hinein. Der späte Herbst hatte mittlerweile einen so kühlen Atem bekommen, dass das dünne Kleid kaum Schutz bot. Sogar auf Mercys Unterarmen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Ich kannte nur einen Menschen, der in diesem Moment selbst im Shirt nicht gefroren hätte. Ich drängte mich gegen die Erinnerung und konzentrierte mich auf das Wichtigste.

»Wieso sollte sie mir überhaupt erzählen wollen, ob Vesper im Hades ist? Ich habe nichts, das ich ihr anbieten könnte.«

»Sie gilt als sehr hilfsbereite und großzügige Göttin.« Mercy zögerte und zupfte eine lose Blüte aus ihrem Kranz. »Allerdings sagt man auch, dass sie ihren eigenen Vater getötet hat.«

»Dann hoffen wir einfach, dass sie einen guten Tag hat?«

Sie grinste halbherzig. Ehe sie etwas erwidern konnte, ertönte ein Pfiff hinter uns. Mercy sah kurz über ihre Schulter und lächelte mir dann aufmunternd zu. »Wir können anfangen.«

Schweigend folgte ich ihr in die Mitte der Lichtung. Mein Puls beruhigte sich mit jedem Schritt und meine Atmung wurde tief und gleichmäßig. Ich spürte, wie sich alles in mir anspannte.

Es fühlte sich an, als hätte das Gespräch mit Jo und Mercy eine Tür in mir eingetreten – die Barriere, hinter der ich in den vergangenen Wochen jedes Gefühl und jeden Gedanken eingesperrt hatte, die über die Trauer hinausgingen. Ich hatte mir nicht gestattet daran zu glauben, dass es einen anderen Weg geben könnte. Einen Weg, der mich zurück zu Vesper führte. Und doch war ich nun hier. Mitten auf einer nächtlichen Waldlichtung, umgeben von Jos Freundinnen, denen allesamt eine stille Ernsthaftigkeit in die Züge gemalt war.

Mercy führte mich in die Mitte des Kreises und drückte ein letztes Mal meine Hand, ehe sie sich zwischen Hazel und Jo stellte.

Letztere suchte eindringlich meinen Blick. »Ich habe keine Ahnung, ob das hier überhaupt funktioniert, und wenn es klappt, wissen wir nicht für wie lange. Dir wird nicht viel Zeit bleiben, mit ihr zu reden. Du musst dich beeilen, okay?«

Ich nickte schwach. Als Jo ihre Hände nach denen der Frauen links und rechts von sich ausstreckte, überkam mich ein flaues Gefühl. »Jo?«, fragte ich unsicher. »Was meintest du damit, das hier wäre … riskant?«

Jo lächelte schmal. Ihre Iriden glühten rot in dem Licht der Flammen. »Viel Glück«, sagte sie schlicht, ehe sie die Augen schloss.

Eine beinahe unnatürliche Stille legte sich über die Lichtung. Ein paar Sekunden nur, dann begann Jo zu summen. Der Ton schien aus der Tiefe ihres Körpers zu kommen und vibrierte so sehr, dass ich ihn spüren konnte. Nach wenigen Augenblicken stimmten die Nymphen-Nachfahrinnen ein. In einem sanften Rhythmus bogen sie ihre Körper nach links und rechts, hielten sich dabei nach wie vor an den Händen. Während ihre Freundinnen eine Melodie summten, die mir vage bekannt vorkam, begann Jo leise Worte zu murmeln. Ich erkannte Altgriechisch, aber ich verstand es nicht.

Es dauerte nur wenige Minuten, dann begann es. Der Schwindel breitete sich wie ein Flächenbrand in meinem Kopf aus und ließ meinen Körper einknicken. Reflexartig sank ich auf die Knie. Ich grub die Finger in das kaltfeuchte Gras und beugte mich vor. Das flackernde Licht vor meinen Lidern ließ mich wahrnehmen, wie nah mein Gesicht den Flammen war, doch ich spürte die Hitze nicht. Da war nur diese taube Schwerelosigkeit, die von meinem Körper Besitz ergriff, bis alles um mich herum verschwand.

***

Die Schwärze federte meinen Aufprall ab, als hätte sie sich unter mir zu dichten Spinnennetzen verwoben. Schwer atmend kam ich auf die Knie und versuchte mich zu orientieren. Ich befand mich in einem Raum ohne Wände. Einzig ein paar blaue Flammen ohne Ursprung zerbrachen die Dunkelheit. Ich drehte mich im Kreis und bemühte mich darum, diesem Ort Konturen zu verleihen. Doch es gab keine. Keinen Anfang, kein Ende. Keinen Ausgang. Nur alles verschlingende Finsternis.

»Suchst du mich?«

Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Die Frau stand ein paar Meter von mir entfernt. Ihr schwarzes Kleid und ihr Haar verschmolzen fast mit der Umgebung, nur ein zartes Funkeln um ihre Umrisse hob sie davon ab. Ihre blassen Gesichtszüge waren so scharf geschnitten, als hätte man sie in einen Eisblock gemeißelt. Sie strahlte eine seltsame Härte aus, die dafür sorgte, dass ich mich verspannte.

Panik bäumte sich in mir auf. Wenn es geklappt hatte, dann bedeutete das, dass diese Frau Hekate war. Eine Göttin. Ich stand vor einer verdammten Göttin.

Ich brauchte ein paar Sekunden, ehe ich es schaffte, den Fluchtinstinkt unter Kontrolle zu bekommen und etwas zu erwidern. »Was ist das für ein Ort?«

Sie kam auf mich zu, eher schwebend als gehend. Die Dunkelheit floss in Wellen um ihren Körper herum, als würde sie ein Meer teilen. »Es ist kein Ort«, sagte sie in einem überraschend warmen Tonfall. »Es ist ein Schwellenraum. Ein Nichts.«

Erneut sah ich mich um, aber außer uns und dem schwachen Licht der Flammen konnte ich nichts erkennen. »Bist du immer hier?« Bei dem Gedanken, jemand könnte hier leben, überkam mich ein unwillkürliches Gefühl von Mitleid.

Sie lächelte. Das Weiß ihrer Zähne erhellte den ganzen Raum, ich musste blinzeln. »Nein. Nur wenn ich gerufen werde. Was im Grunde nie vorkommt. Wir haben seit langer Zeit keinen Kontakt mehr zu den Menschen. Es sind einsame Zeiten.«

»Und trotzdem bist du nicht überrascht mich hier zu sehen«, stellte ich fest. Sie wirkte so gelassen, als hätte sie gewusst, dass sie gerufen werden würde. Und als hätte sie auch gewusst, wen sie hier treffen würde.

Ihre aschegrauen Augen tasteten sorgsam über meine Züge. Ich konnte den Ausdruck darin nicht ganz deuten. Neugierde, Freude, Wehmut?

»Ich wusste, dass wir einander eines Tages kennenlernen werden. Wir warten schon lange auf deine Rückkehr.«

»Du kennst mich?« Der Gedanke, dass irgendeine Göttin von meiner Existenz wusste, behagte mir nicht. Schon gar nicht, wenn es eine war, die mit Hades in Kontakt stand.

»Natürlich. Ich kenne dich, ebenso gut wie ich jede deiner Mütter kannte. Ich beschütze deine Vorfahrinnen seit Jahrhunderten.«

Verständnislos erwiderte ich ihren unangebracht liebevollen Blick. »Wie meinst du das?«

»Persephone war der Grund, dass ich mich für diese Seite entschied, als ich vor die Wahl gestellt wurde. Ich fühle mich mit Hades verbunden, seit sie bei ihm lebt. Sie war immer wie ein Kind für mich. Und selbiges gilt für ihre Kinder.«

»Also stamme ich nicht nur von Hades ab, sondern auch von Persephone?«

Ich wusste nicht, ob mich diese Erkenntnis tröstete oder beunruhigte. Persephone war die Göttin des Frühlings und stand für Fruchtbarkeit, für das Blühen der Welt, für das Leben. Zumindest war das so gewesen, bis Hades sie durch die Entführung zur Göttin der Unterwelt gemacht hatte. Die Vorstellung, dass er sie nicht nur gezwungen hatte bei ihm zu leben, sondern auch noch ein Kind mit ihr gezeugt hatte, war mir mehr als zuwider.

»Offensichtlich.« Hekate neigte den Kopf und musterte mich, als würde sie etwas in mir sehen, das mir entging – oder jemanden. »Sie hatten kaum Zeit mit ihrem Kind. Was damals geschah, was Zeus ihnen angetan hat, ist unverzeihlich.« Bitterkeit klebte an ihren Worten und für einen Moment verzerrten sich ihre ebenmäßigen Züge zu einem beunruhigend hasserfüllten Ausdruck.

Mir lagen einige Fragen auf der Zunge, aber ich wagte es nicht, sie auszusprechen. Zum einen, weil ich es nicht darauf anlegen wollte, sie wütend zu machen. Zum anderen, weil ich wusste, dass ich dafür keine Zeit hatte. Und im Grunde spielten diese alten Geschichten für mich auch keine Rolle.

»Ich bin nicht hier, um über irgendwelche Streitigkeiten unter den Göttern zu sprechen. Und ich halte weder etwas von Blut-ist-dicker-als-Wasser-Gerede noch von vererbter Dankbarkeit, also solltest du nicht glauben mich zu kennen.« Meine Stimme klang etwas schärfer als beabsichtigt, doch Hekate wirkte nicht im Geringsten verärgert.

Die Wut glitt aus ihren Zügen und ihre Mundwinkel hoben sich sacht an. »Ich habe auch dich beschützt.«

Ich lachte trocken auf. »Daran würde ich mich erinnern.« In meinem Leben hatte mich nur eines beschützt und das waren meine Visionen gewesen. Und auch diese Kraft hatte mich in den vergangenen Wochen im Stich gelassen, als ich sie am meisten gebraucht hätte.

Hekate schnalzte mit der Zunge und im nächsten Moment schob sich ein großer zotteliger Hundekopf unter ihrem Arm hindurch.

Schwer atmend stolperte ich einen Schritt zurück. Erinnerungen durchzuckten mich. Bildfetzen aus jener Nacht in Heroa, als ich vor Lex geflohen und direkt in die Arme der unheimlichen Männer gestolpert war, die einen Schwan für ihre Götter geopfert hatten. Und die vielleicht auch mich geopfert hätten, wenn mir nicht aus dem Nichts drei wilde Hunde zu Hilfe gekommen wären.

»Das ist … nicht möglich«, brachte ich fassungslos hervor.

Hekate legte die Hand zwischen seine Ohren und grub die Finger in das filzige Fell. »Ich kann die Erde nicht betreten. Aber mein Schwellendasein ermöglicht es mir, meine Gefährten dorthin auszusenden. So wie in jener Nacht, als Nyx’ Nachfahren dich verfolgt haben. Du hast um Hilfe gebeten und ich habe sie dir gewährt. Ich habe Persephone vor langer Zeit geschworen, dass ich immer einen Blick auf ihre Kinder haben würde.«

»Ich bin nicht ihr Kind«, erwiderte ich heiser, während ich noch immer versuchte das alles zu begreifen.

Der Hund schnupperte vorsichtig in meine Richtung und winselte, als würde er sich an meinen Geruch erinnern.

Hekate lächelte. »Götter sehen Familie anders als Menschen. Götter lieben anders. Das bringt die Unsterblichkeit mit sich. Für Hades und Persephone bist du eine Tochter. Eine Tochter, die sie seit einer Ewigkeit vermissen.«

»Dann hätten sie nicht veranlassen dürfen, dass jemand, der mir viel bedeutet, umgebracht wird, nur damit ich ihnen gehorche. Das ist keine Liebe, das ist Manipulation. Es ist krank«, erwiderte ich kalt.

Zwar hatte Lex Vesper getötet, aber letztlich stand jemand anderes dahinter. Derjenige, der jede einzelne von Lex’ Handlungen gesteuert hatte. Lex war nur die Marionette. Hades war es, der die Fäden zog. Ich straffte die Schultern. »Was ist mit Vesper?«

Hekate grub die Finger wieder ins Fell, ehe sie noch einmal mit der Zunge schnalzte. In der nächsten Sekunde hatte sich der Hund aufgelöst. »Apollons Erbe«, sagte sie dann gemächlich. Keine Frage, eine Feststellung.

Mein Herzschlag beschleunigte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und grub die Nägel, so fest es ging, in die Innenflächen. »Ja.«

»Er ist im Hades.«

Ein seltsames Gefühl durchfuhr mich. Angst und Erleichterung in einem, eine unangenehme Mischung, die meine Knie weich werden ließ. »Wie geht es ihm?«, fragte ich atemlos.

Hekates Lächeln wurde von einer müden Gutmütigkeit abgeschwächt, bis es nur noch lose an einem Mundwinkel hing. »Was für eine Antwort erhoffst du dir auf diese Frage?«

Natürlich. Wie gut konnte es einem Toten gehen? Trotzdem: Es gab Unterschiede, selbst im Tod. Zumindest wenn man dem glaubte, was die griechische Mythologie erzählte. Und angesichts der Tatsache, dass ich gerade in einem Schwellennichts vor einer Göttin stand, musste ich … glauben. Ich kannte zwar nicht viele Geschichten aus dem Totenreich, aber jede einzelne war eine zu viel. Der Gedanke, dass Vesper etwas Ähnliches wie Prometheus oder Sisyphos durchmachte, war noch schwerer auszuhalten als die Tatsache, dass er tot war.

»Leidet er?« Allein die Frage brannte ein Loch in meine Zunge.

»Er ist im Tartaros.«

Hekates Antwort hingegen brannte ein Loch in mein Herz. Ein dumpfer, heißer Schmerz nistete sich dort ein, ehe er sich ausdehnte und in meinen Kopf schoss. Bilder wirbelten durcheinander, Erinnerungen an Geschichten, die ich gelesen hatte, eine schrecklicher als die andere.

Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich machte mir keine Mühe, sie fortzuwischen. Ich wusste, dass ich vor einer Göttin sowieso nichts verbergen konnte.

»Wieso?«, brachte ich hervor. Das ergab keinen Sinn. Vesper hatte nichts getan, was Hades’ Rache verdient hätte. Sein einziger Fehler war es gewesen, mir zu nahezukommen.

Hekate beobachtete mich wachsam. Ich glaubte einen Funken Mitgefühl in ihren grauen Augen zu erahnen, doch ihre Stimme klang so ruhig wie zuvor. »Ich nehme an, weil Hades damit gerechnet hat, dass du das erfahren wirst. Und weil er deine Motivation, ihn zu retten, verstärken wollte. Entgegen der vorherrschenden Vorurteile ist er keinesfalls grundlos grausam. Sein Vorgehen ist immer zielgerichtet.«

Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass zielgerichtete Grausamkeit nicht weniger verachtenswert war, doch ich schluckte die Worte hinunter. »Kann ich ihn da rausholen? Kann ich ihn retten?«, fragte ich stattdessen beherrscht.

»Jeder, der geliebt wird, kann gerettet werden«, erwiderte sie sanft.

Ein Windzug fegte so plötzlich zwischen uns hindurch, dass ich zusammenzuckte. Die Dunkelheit flackerte auf riss an Hekates Haaren. Schlagartig wurde mir bewusst, was das bedeutete: Mir blieb nicht mehr viel Zeit.

»Also ist es möglich? Würde Hades mit sich verhandeln lassen?«, fuhr ich hastig fort.

»Ich denke, Hades wäre bereit dir vieles zuzugestehen, wenn du dafür nach Hause kommst und den Platz einnimmst, der für dich vorhergesehen ist.«

Das schwache Funkeln in Hekates Augen sagte mir, dass sie mit dieser Frage gerechnet hatte. Jo hatte recht gehabt: Das hier war der Grund dafür gewesen, dass Hades Vespers Tod geplant hatte. »Wenn du bereit bist zu verhandeln« – das hatte Lex gesagt, ehe er gegangen war. Tagelang hatte ich geglaubt, er hätte geblufft. Erst in diesem Moment realisierte ich richtig, dass er es ernst gemeint hatte.

Vespers Tod war keine Endgültigkeit, sondern ein grausamer Schachzug. Jetzt war ich dran. Aber konnte ich mich auf ein Spiel einlassen, dessen Regeln ich nicht kannte? Ich wusste so wenig über diese Welt, so wenig über mich selbst und noch viel weniger darüber, was Hades mit mir vorhaben könnte. Und vermutlich wollte ich es auch nicht wissen.

Ein weiterer Luftzug wehte zwischen uns hindurch, ein paar der Flammen um uns herum erloschen. Ich drängte mich gegen die verworrenen Gedanken und sah zu Hekate auf. »Und wenn ich das nicht will?«

»Die Frage ist doch eigentlich, was für dich mehr wiegt. Das, was du nicht willst, oder das, was du willst.«

Hekates Stimme wurde schwächer, ihre Silhouette löste sich auf. Noch während das letzte Wort zwischen uns schwebte, kippte die Dunkelheit.

Und während ich erneut in sie hineinstürzte, gab es nur noch einen Gedanken in mir. Vesper. Vesper war alles, das wog. Alles, das noch zählte.

***

»Lia?« Jos Stimme kroch zäh in meine Ohren.

Mühsam öffnete ich die Augen. Ich lag auf dem Boden, die Flammen des Lagerfeuers nur Zentimeter von meinem Körper entfernt. Trotz der Hitze des Feuers fühlte er sich kühl und seltsam lose aneinandergefügt an. Als hätte er sich gerade erst wieder zusammengesetzt und bräuchte noch Zeit, um zu funktionieren. Ich rollte den Kopf zur Seite. Jo hockte dicht neben mir, die Nymphen-Nachfahrinnen saßen benommen im Gras um uns herum.