Grandhotel Giessbach. Das schwarze Gold - Phil Brutschi - E-Book

Grandhotel Giessbach. Das schwarze Gold E-Book

Phil Brutschi

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in einen fesselnden Spionage-Thriller voller Intrigen und Verschwörungen im Grandhotel Giessbach. 1914: Im Grandhotel Giessbach findet zum zweiten Mal ein Kongress der Orion-Gesellschaft für Fortschrittsfragen statt. Doch die Zusammenkunft der einflussreichen Elite wird von Anschlägen überschattet: eine versteckte Bombe an Bord eines Luftschiffs, vergifteter Wein, ein Toter in einem Hotelzimmer. Amanda Ammon, die vor vier Jahren die »Giessbach-Affäre« aufgedeckt hat, soll die Drahtzieher finden. Gemeinsam mit dem Journalisten Henri Burkard gerät sie in ein gefährliches Spiel aus Verrat und Machtkämpfen. Spionage und Intrigen am Vorabend des ersten Weltkriegs. Historisch fundiert und filmreif erzählt. Ein atmosphärischer historischer Krimi voller Wendungen, der die Leser in die schillernde Welt der Belle Époque entführt.

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Seitenzahl: 618

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Geboren 1977 und aufgewachsen im Schweizer Kanton Aargau, arbeitet Phil Brutschi seit 2001 als Bauingenieur und Senior Projektleiter. Parallel schuf er zahlreiche Songtexte, Sketche, Drehbücher und Skripte für Werbe- und Filmproduktionen.

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, andere nicht. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

 

 

© Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive

shutterstock.com/alex74/Verlion, istockphoto.com/etraveler

Karte S. 2–3: Staatsarchiv des Kantons Bern, AA 2280 (bearbeitet)

Gestaltung Innenteil: DÜDE Satz und Grafik, Odenthal

Lektorat: Lothar Strüh

Druck und Bindung: sourc-e GmbH

Printed in Europe 2025

ISBN 978-3-9870-7315-1

Historischer Roman

Originalausgabe

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen

insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß

§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

 

 

Das Leben ist ungerecht –aber nicht zwingend zu deinen Ungunsten.

Inoffizieller Leitspruch derOrion-Gesellschaft für Fortschrittsfragen

Inhalt

1 Donnerstag, 21. Mai 1914

2 Donnerstag, 21. Mai 1914

3 Donnerstag, 21. Mai 1914

4 Donnerstag, 21. Mai 1914

5 Donnerstag, 21. Mai 1914

6 Donnerstag, 21. Mai 1914

7 Donnerstag, 21. Mai 1914

8 Donnerstag, 21. Mai 1914

9 Pantai auf Java, Sonntag, 22. März 1914

10 Donnerstag, 21. Mai 1914

11 Donnerstag, 21. Mai 1914

12 Donnerstag, 21. Mai 1914

13 Donnerstag, 21. Mai 1914

14 Donnerstag, 21. Mai 1914

15 Donnerstag, 21. Mai 1914

16 Donnerstag, 21. Mai 1914

17 Donnerstag, 21. Mai 1914

18 Donnerstag, 21. Mai 1914

19 Donnerstag, 21. Mai 1914

20 Donnerstag, 21. Mai 1914

21 Donnerstag, 21. Mai 1914

22 April 1914, sechs Wochen vor dem Kongress

23 April 1914, sechs Wochen vor dem Kongress

24 Freitag, 22. Mai 1914

25 Freitag, 22. Mai 1914

26 Freitag, 22. Mai 1914

27 Freitag, 22. Mai 1914

28 Freitag, 22. Mai 1914

29 Freitag, 22. Mai 1914

30 Freitag, 22. Mai 1914

31 Freitag, 22. Mai 1914

32 Freitag, 22. Mai 1914

33 Freitag, 22. Mai 1914

34 Freitag, 22. Mai 1914

35 Freitag, 22. Mai 1914

36 Freitag, 22. Mai 1914

37 Freitag, 22. Mai 1914

38 Freitag, 22. Mai 1914

39 Samstag, 23. Mai 1914

40 April 1914, sechs Wochen vor dem Kongress

41 April 1914, sechs Wochen vor dem Kongress

42 Samstag, 23. Mai 1914

43 Samstag, 23. Mai 1914

44 Samstag, 23. Mai 1914

45 Samstag, 23. Mai 1914

46 Samstag, 23. Mai 1914

47 Samstag, 23. Mai 1914

48 Samstag, 23. Mai 1914

49 Samstag, 23. Mai 1914

50 Samstag, 23. Mai 1914

51 Samstag, 23. Mai 1914

52 Samstag, 23. Mai 1914

53 Luxor, Ägypten, Oktober 1912

54 Samstag, 23. Mai 1914

55 Samstag, 23. Mai 1914

56 Samstag, 23. Mai 1914

57 Samstag, 23. Mai 1914

58 Samstag, 23. Mai 1914

59 Samstag, 23. Mai 1914

60 Samstag, 23. Mai 1914

61 Samstag, 23. Mai 1914

62 Kairo, Ägypten, Januar 1913

63 Samstag, 23. Mai 1914

64 Samstag, 23. Mai 1914

65 Kairo, Ägypten, April 1914

66 Sonntag, 24. Mai 1914

67 Sonntag, 24. Mai 1914

68 Sonntag, 24. Mai 1914

69 Kairo, Ägypten, März 1913

70 Sonntag, 24. Mai 1914

71 Sonntag, 24. Mai 1914

72 Sonntag, 24. Mai 1914

73 Kairo, Ägypten, Juni 1913

74 Sonntag, 24. Mai 1914

75 Sonntag, 24. Mai 1914

76 Kairo, Ägypten, April 1914

77 Sonntag, 24. Mai 1914

78 Sonntag, 24. Mai 1914

79 Sonntag, 24. Mai 1914

80 Sonntag, 24. Mai 1914

81 Sonntag, 24. Mai 1914

82 Sonntag, 24. Mai 1914

83 Sonntag, 24. Mai 1914

84 Montag, 25. Mai 1914

85 Montag, 25. Mai 1914

86 Montag, 25. Mai 1914

87 Montag, 25. Mai 1914

88 Montag, 25. Mai 1914

89 Montag, 25. Mai 1914

90 Montag, 25. Mai 1914

91 Montag, 25. Mai 1914

92 Montag, 25. Mai 1914

93 Montag, 25. Mai 1914

94 Montag, 25. Mai 1914

95 Montag, 25. Mai 1914

96 Montag, 25. Mai 1914

97 Montag, 25. Mai 1914

98 Montag, 25. Mai 1914

99 Montag, 25. Mai 1914

100 Montag, 25. Mai 1914

101 Montag, 25. Mai 1914

102 Montag, 25. Mai 1914

103 Montag, 25. Mai 1914

104 Montag, 25. Mai 1914

105 Montag, 25. Mai 1914

106 Montag, 25. Mai 1914

107 Montag, 25. Mai 1914

108 Montag, 25. Mai 1914

Epilog

Merci

1

Donnerstag, 21. Mai 1914

Claire juckte es an fünf Stellen ihres Körpers, aber sie wagte es nicht, sich zu kratzen. Es geziemte sich einfach nicht für eine Dame in feiner Gesellschaft. Das Kleid, das sie trug, hätte sie sich niemals leisten können und den Flug in einem Zeppelin schon gar nicht. Gigantisch ragte das elfenbeinweiße Ungetüm vor ihnen auf, und sie standen mittlerweile so nahe, dass sie die Spitze und das Ende nicht mehr sehen konnte. Gut vier Dutzend kräftige Männer in rauen Hemden hielten es an Tauen in Schach, während es sich in der sanften Frühlingsbrise zu winden versuchte.

Die bis eben noch furchtbar redselige Gruppe, mit der Claire die Reise antrat, schwieg zum ersten Mal, seit sie dazugestoßen war. Auch den anderen verschlug es offenbar den Atem. Mit offenem Mund und die Augen mit einer Hand gegen die schon starke Maisonne abschirmend, bestaunten sie das gigantische Gefährt. Ein Wunder der modernsten Technik. Aber auch Claire war aufgeregt, was dieses Kribbeln auf der Haut verursachte. Sie wippte mit den Füßen und konnte es kaum erwarten, an Bord zu gehen. Wie es wohl sein würde, abzuheben und die Welt von oben zu sehen?

Seit das Luftschiff vor wenigen Stunden eingetroffen war, um sie von dieser ausgedehnten Wiese am Rande der Stadt Bern abzuholen, hatte es eine Menge Schaulustige angezogen, die sich nun in Scharen hinter dem Zaun sammelten. Doch an diesem Tag würden damit nur ihre Begleiter reisen, die allesamt Teilnehmer des bevorstehenden Kongresses der Orion-Gesellschaft für Fortschrittsfragen waren – siebzehn Männer und eine Frau –, und Claire selbst.

Bis zu diesem Tag hätte sie das nie für möglich gehalten. Claire war neben einem ganzen Dutzend weiterer Bediensteter des Grandhotels Giessbach aufgeboten worden, die Kongressteilnehmer am Vorabend in Bern in Empfang zu nehmen und ihnen, als Vorgeschmack zum Kongress, ein opulentes Nachtessen zu servieren. Dabei hatte sie sich Röbi Bänzli junior angelacht. Dieser drückte ihre Hand gerade etwas zu fest: »Schau dir nur dieses Riesending an. Du hast sicher nicht erwartet, je mit so etwas fliegen zu dürfen, was?«

»Fahren«, berichtigte der Greis neben ihm, der, wenn sich Claire richtig erinnerte, Walter Wyss hieß. »Luftschiffe und Ballone fahren. Aeroplane und Vögel fliegen.«

»Und manchmal auch das Geschirr zu Hause«, sagte der ebenfalls schon ältere Herr neben ihm und lachte. Dabei entblößte er eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die gut einem zusätzlichen Zahn Platz geboten hätte. Die beiden seien schon seit Jahren befreundet, hatten sie erzählt, und sie waren einander seit gestern auch kaum von der Seite gewichen.

»Fahren«, wiederholte Röbi lang gezogen, während er das wie eine gigantische Zigarre geformte Gerät in größter Ehrfurcht betrachtete. Zu ihrer Linken war die offene Führergondel angebracht, unter den Tragkörper montiert wie ein Rettungsboot. Eine zweite Gondel befand sich im hinteren Teil. Dazwischen war die Passagierkabine aus blank poliertem Metall angeordnet, vor der sie noch immer anstanden. Sie verfügte über sechs großzügige Fenster und eine Tür, vor der eine schmale Treppe bis zum Erdboden reichte. In eckigen Großbuchstaben stand auf dem Rumpf der Name »VIKTORIA LUISE«.

Röbi Bänzli war mit seinen einundzwanzig Jahren mit Abstand der jüngste der Männer, und er war in Begleitung seines Vaters, der am Zürichsee eine große Schlachterei führte. Die Vaterschaft hätte niemand in Frage gestellt: Röbi war ein exaktes junges Abbild seines Alten mit demselben speckigen Gesicht. Zudem war er richtiggehend von sich eingenommen, und Claire hätte wetten können, dass er zu Hause nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Mit vor Stolz geschwellter Brust stand er da, mit ihr als seiner Eroberung an der Seite.

Sie hätte ihn gewiss nicht gewählt, um ihr Leben mit ihm zu verbringen, aber unter den Kongressteilnehmern hier in Bern passte er am besten. Immerhin waren die übrigen weit über sechzig Jahre alt, mit Ausnahme des eher schweigsamen Herrn, der aus Ägypten angereist war. Claire wusste, dass erfahrene Männer oft misstrauisch reagierten, wenn eine junge Frau wie sie Interesse für sie kundtat. Bei Bänzli junior jedoch hatte es auf Anhieb geklappt. Er war vom ersten Augenblick an Feuer und Flamme für sie gewesen, und es lief sogar so gut, dass er ihr diesen Flug – respektive diese Fahrt – im Luftkreuzer spendierte.

Sie wusste nicht erst seit ihrem früheren Freund Heiner, dass sie doch ganz ansehnlich geraten war. Zudem kam ihr französischer Akzent, den sie ohnehin nicht ablegen konnte, in der Schweiz offenbar recht gut an. Wenn sie es nur einigermaßen geschickt anstellte, würde sie sich so immer in der Nähe der Kongressteilnehmer aufhalten können und die eine oder andere nachrichtendienstlich interessante Information aufschnappen.

»Die LZ 11 mit dem wohlklingenden Namen Viktoria Luise wurde vor zwei Jahren in Betrieb genommen und ist das elfte zivile Luftschiff der Luftschiffbau Zeppelin GmbH«, erklärte der Kongressteilnehmer mit dem grauen Spitzbart, der sich Claire gestern als Heinz-Peter Zwyssig vorgestellt hatte. Es gehörte zu ihrer Mission, sich die Namen der Leute zu merken. Zumindest so gut sie konnte. »Die LZ 11 hat eine Gesamtlänge von hundertachtundvierzig Metern und ein Volumen von achtzehntausendsiebenhundert Kubikmetern«, sagte Zwyssig, aber Claire hörte ihm bald nicht mehr zu, weil einer der Helfer mit den Tauen in den Händen immer wieder zu ihr herüberschaute. Eine Schiebermütze beschattete sein Gesicht. Er winkte, als sie zurückblickte. Etwas verlegen winkte sie auch.

Wie es wohl sein würde, wenn sie die Seile losließen und die Viktoria Luise sich erhob? Der Blick von oben auf die staunenden und winkenden Zaungäste, die unter ihnen immer kleiner und kleiner wurden. Die Stadt Bern und ihre Häuser zu ihren Füßen. Wie es wohl sein würde, die Welt der Vögel zu erreichen? Sie würde es erleben, sie, ein französisches Mädchen vom Lande.

Der Kerl an den Seilen machte eine Geste in Claires Richtung, als vertreibe er ein lästiges Tier. Nur dezent zwar, aber so, dass Claire es sehen konnte. Es schien, als wollte er ihr damit etwas mitteilen. Aber was? Als sie nicht sofort reagierte, schob er die Mütze ein Stück weit nach oben. Da sah sie, dass sie ihn kannte, hätte aber nicht sagen können, woher. Claire tat es damit ab, dass er vermutlich einer derjenigen war, die ihr gestern am Bahnhof schon schöne Augen gemacht hatten.

»Jeder der drei Motoren der Firma Maybach leistet hundertfünfzig PS«, sagte Zwyssig.

»Aha, aha, interessant«, machte Zahnlücke ironisch und erntete ein Grinsen von seinem Kumpel Wyss.

Allmählich begannen Claires Füße in den etwas zu engen Schuhen zu schmerzen. Sie erhaschte einen Blick auf die teure Uhr am Handgelenk Zwyssigs, die ihr verriet, dass es sechs Minuten vor eins war. Wie lange sie hier wohl noch stehen und warten mussten? Der Zeppelin war doch bereit. Der Luftschiffführer und seine Mannschaft warteten in ihren Gondeln, die Motoren brummten gutmütig, die Tür zur Kabine stand offen, und das kleine Treppchen davor war ebenfalls ausgeklappt.

Dann bemerkte Claire, wie der Helfer mit der Mütze auf sie zuschritt. Nun erinnerte sie sich. Ja, natürlich, ein Mitarbeiter des Deuxième Bureaus, des französischen Geheimdienstes. Sie war ihm schon in der Zentrale in Paris begegnet.

Zu Röbi Bänzli, der noch immer auf den gigantischen Tragkörper starrte und Zwyssigs Ausführungen lauschte, sagte sie: »Ich möchte da kurz etwas anschauen gehen«, was er mit einem knappen »Mhm!« quittierte, als sie sich aus seiner Hand befreite.

Eilig drängte sie sich zwischen zwei Kongressteilnehmern hindurch, die sie nicht beim Namen kannte, und traf hinter dem Grüppchen auf ihren Arbeitskollegen. Dieser beugte sich nur kurz zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sie erstarren ließ wie ein Bannspruch. Er hatte dazu kaum angehalten und kehrte gemessenen Schrittes zu seinem Strick zurück, um mit den anderen das Gefährt im Zaum zu halten. Claire versuchte, das Gesagte zu begreifen. Das konnte doch nicht wahr sein!

»Wo bleibst du denn?«, fragte Röbi Bänzli junior und ergriff ihre Hand. »Wir können endlich an Bord. Ist das nicht aufregend?«

Als sie nichts erwiderte, zerrte er sie einfach mit sich. Erst als sie hinter dem greisen Herrn Wyss anstehen mussten, der mit der Unterstützung von Zahnlücke mühsam die steilen Stufen des klapprigen, an Drähten wankenden Treppchens erklomm, kam Claire wieder zu sich. »Non!«, rief sie aus. Dann fuhr sie auf Deutsch fort: »Ich kann da nicht rein!«

»Warum denn nicht?«, wollte Bänzli wissen.

»Weil – weil …« Sie suchte nach Worten. »Ich vertrage die Höhe nicht.«

»Ja, Höhe werden wir in den nächsten Stunden eine Menge haben, so viel ist sicher«, lachte Zahnlücke.

»Ach, komm schon, du wirst es genießen«, sagte Bänzli.

»Ich komme da nicht mit.« Claire schüttelte entschieden den Kopf und versuchte vergebens, sich von seiner Hand loszureißen.

»Aber ich werde auf dich aufpassen.«

»Nein!«

»Macht ihr endlich vorwärts?«, drängte Bänzli senior ungehalten hinter ihnen, und gemeinsam mit seinem Sohn bugsierte er Claire über die Stufen an Bord.

Da entwand sie sich den kräftigen Männerarmen. Sie machte kehrt, um die Kabine sofort wieder zu verlassen, und prallte gegen den ausladenden Wanst eines nachkommenden Kongressteilnehmers.

»Hoho! Nicht so stürmisch!«, brummte dieser.

Bänzlis Vater wies seinen Sohn an, dafür zu sorgen, dass seine »Begleitung« nicht so ein Theater veranstaltete. Schnell hatte Bänzli sie auch wieder eingefangen und in einen Korbsessel an einem der Aluminiumtischchen gepflanzt. In Claire machte sich Verzweiflung breit. Ihre Sicht trübten Tränen. »Ich will nicht fliegen.«

»Fahren!«, korrigierte Wyss, der hinzugekommen war.

»Ach was, es wird dir gefallen«, sagte Zahnlücke und tätschelte ihr gutmütig die Hand.

»Ich muss aussteigen. Habe furchtbare Angst in der Höhe.« Claire versuchte, sich zu erheben, aber Bänzli junior drückte sie an der Schulter zurück auf den Sessel. »Manchmal muss man sie zu ihrem Glück etwas drängen«, erklärte er den viel älteren Herren aus seinem Erfahrungsschatz.

»Lasst sie doch gehen«, ging nun der Herr aus Ägypten dazwischen. »Seht ihr nicht, wie bleich das Mädchen ist und wie es zittert?«

»Leider zu spät«, sagte der Mann, dem sie vorhin gegen die Plauze gelaufen war. »Die Tür ist geschlossen. Die Reise geht los.«

Man wünschte sich eine frohe Fahrt und »Glück ab«. Für Claire hätten diese Worte nicht zynischer klingen können.

Der Kabinensteward meldete sich zu Wort: »Werte Herren – die Damen, ich begrüße Sie an Bord der Viktoria Luise. Bitte setzen Sie sich, bis wir auf Reiseflughöhe aufgestiegen sind. Die Fahrzeit bis nach Interlaken wird voraussichtlich drei Stunden betragen. Wir werden nicht mit voller Geschwindigkeit reisen, damit Sie ausreichend Zeit haben, die Aussicht auf das Berner Oberland zu genießen. Falls die Natur ruft, hinten neben der Ausstiegstür befindet sich der Toilettenraum mit fließendem Wasser.«

Ein sanfter Ruck ging durch die Kabine, dann hoben sie um Punkt ein Uhr ab, wie die Borduhr an der mit Mahagoni vertäfelten Wand anzeigte. Nun ist alles vorbei, dachte Claire. Oder sollte sie den Anwesenden verraten, was ihr der Agent mit der Schiebermütze erzählt hatte? Gewiss, dann würden sie sofort wieder landen. Alle würden das Weite suchen, und Panik würde ausbrechen. Aber sie hätte eine Chance, ihre Haut zu retten.

Unter ihr winkten die Menschen mit Tüchern und Hüten. Als sie den Blick hob, konnte sie ein gutes Stück entfernt die Stadt erkennen. Das Berner Münster und die grünen Kuppeln des Bundeshauses. Von hier aus wirkte es, als warte es an einem Abhang, um sich in den Tod zu stürzen.

»Geh da nicht an Bord!«, hatte der andere Agent ihr in aller Eile zugeflüstert. »Wir haben gerade ein kleines Paket platziert, das um zwei hochgeht.«

2

Donnerstag, 21. Mai 1914

Nachdem das gewaltige Luftfahrzeug eine Weile gestiegen war, drehte es die Nase in die angepeilte Richtung, und die Motoren gaben laut brummend Gas. Claire bekam davon kaum etwas mit, so sehr war sie ins Grübeln vertieft.

Ein Paket, das hochgeht? Also eine Bombe. Veranlasst vom Deuxième Bureau, davon musste sie ja ausgehen. Ihr Arbeitgeber konnte nicht wissen, dass sie ebenfalls an Bord sein würde, sie hatte dies ja selbst nicht einmal kommen sehen. Aber was nun? Es wäre Verrat an Frankreich, wenn sie ihren Mitreisenden die Pläne des Deuxième Bureaus mitteilte. Hochverrat. Sie würde standesrechtlich erschossen. Also war sie ohnehin tot. Wenn sie schwieg, starb sie wenigstens im Dienste des Vaterlandes.

»Seht nur, wie grün sie wird«, sagte jemand.

»Kann ihr einer das Fenster öffnen? Nicht dass sie hier drin noch – ihr wisst schon«, sagte jemand anderes.

Besser, der Agent hätte sie gar nicht erst gewarnt. Am Ausgang hätte sich nichts geändert, aber sie hätte die ihr noch verbleibende Zeit nicht mit düsteren Gedanken verschwenden müssen. Sie hätte es genießen können bis zum jähen Ende.

»Leidet wohl an der Neurasthenie, die Arme.«

»Nein, das ist eine ganz normale Hysterie.«

»Als ob ihr euch damit auskennt.«

»Ein entspannendes Bad in der Anstalt beim Giessbach, und dann ist alles wieder in Ordnung.«

»Oder besser gerade ein Bad im kalten Giessbach-Wasser.«

Dabei war Claire doch immer ein Glückskind gewesen. Es hatte nicht erst damit begonnen, dass sie als eine der wenigen Serviererinnen des Grandhotels für den Empfang der Herrschaften in Bern eingesetzt wurde. Nein, sie hatte schon früher immer wieder unverschämtes Glück gehabt. Als sie vor vier Jahren noch für das Deutsche Kaiserreich als Spionin tätig gewesen war, war sie aufgeflogen. Ausgerechnet bei Lambert, dem Direktor des französischen Geheimdienstes persönlich. Doch es war Heiner gewesen, der sie ertappt hatte. Ein Doppelagent, dessen Treue ebenfalls den Deutschen galt. So hatte er sie verschont, aber Claudette, wie sie damals noch hieß, musste aufhören zu existieren. Sie wurde zu Christine, einer Clocharde in Paris, und konnte so ihre Arbeit fortführen. Da den französischen Geheimdienst chronischer Geldmangel plagte, hatte er seine Sicherheitsmaßnahmen auch in der Hauptstadt schleifen lassen, und so war es ihr gelungen, unter dem Dach der damals noch behelfsmäßigen Zentrale den Direktor Émile Lambert ein zweites Mal abzuhören. Wieder wurde sie erwischt. Man steckte sie in ein Verlies, wo sie nur noch darauf warten konnte, an die Wand gestellt zu werden. Sie hatte bereits mit ihrem jungen Leben abgeschlossen. Aber wieder nahm es eine erfreuliche Wendung. Der Direktor suchte sie nach ein paar Tagen persönlich in der Zelle auf. Lange hatte er sie angeschaut. Schließlich sagte er: »Wirst du ein Mal ausspioniert, dann Schande über dich. Wirst du zwei Mal von derselben Person ausspioniert, dann stelle diese sofort selber ein!«

Was er dann auch tat. Christine nahm sofort an. Was brachte es schon, für das Deutsche Reich zu sterben? Doch dazu musste auch Christine aufhören zu existieren, und sie wurde zu Claire. Sie schwor Frankreich die Treue. Im Grunde war es ohnehin viel ehrbarer, für das eigene Land zu arbeiten. So wurde sie etwas über drei Jahre später im Grandhotel Giessbach als Serviererin eingeschleust. Und jetzt war es ihr sogar gelungen, an der Seite vom jungen Bänzli mitzugehen, in dessen Gesellschaft sie am Kongress bestimmt weitere Informationen aufschnappen konnte.

Stand einem im Leben nur eine begrenzte Menge an Glück zu, und sie hatte alles aufgebraucht? Folgte nun ihr Absturz – im wahrsten Sinne des Wortes?

»Hast du dich endlich beruhigt?«, fragte Röbi Bänzli junior in leicht vorwurfsvollem Ton.

Mit einem dezenten Räuspern, das dennoch laut genug war, die Motoren zu übertönen, meldete sich der Steward wieder zu Wort: »Es ist Ihnen möglich, über den Steg zur Führergondel zu gelangen. Der Luftschiffführer wird Sie gerne begrüßen. Melden Sie sich bitte vorher bei mir. Es kann immer nur eine Person auf einmal gehen. Wegen der Stabilität. Verstehen Sie?«

Niemand meldete sich. Stattdessen stellte Zahnlücke eine Frage, die alle Anwesenden brennender zu interessieren schien: »Gibt es hier auch etwas zu trinken?«

»Aber gewiss doch, der Herr. Möchten Sie Tee, Kaffee oder Wasser?«

»Ich meine, etwas Richtiges zu trinken.«

»Es war nicht vorgesehen, für den kurzen Flug Alkoholika mitzuführen, wenn Sie dies damit meinen.« Der Steward machte eine Pause, lange genug, dass sich schon Unmut breitmachen wollte. »Aber offenbar auf Anweisung der Orion-Gesellschaft haben wir dennoch zwei Kisten mit ein paar auserlesenen Getränken geladen.«

In schneller Abfolge wurden Wein, Bier und Zwetschgenschnaps geordert, die wahlweise mit einem belegten Brötchen aufgetragen wurden. Allmählich heiterte die Stimmung sich weiter auf. Bis auf Claires Stimmung, versteht sich.

»Wie schwer ist denn so ein Luftschiff?«, fragte Bänzli junior an Zwyssig gewandt, als alle gemütlich beisammensaßen, mampften und sich zufrieden zuprosteten.

»Das variiert natürlich«, erklärte dieser. »Aber im Moment sind es ziemlich genau null Kilo.«

»Was, null Kilo?«, fragte Bänzli empört. »Das kann doch nicht sein. Das Ganze …«, er suchte nach Worten, »ist ja da.« Er hob seinen Humpen Bier und wog ihn in den Händen.

»Wenn es leer ist, ist es schwerer«, erklärte Zwyssig, und einige um ihn herum nickten zustimmend.

Bänzli schüttelte den Kopf, als verstehe er die Welt nicht mehr. »Aber was leer ist, ist doch leichter, nicht schwerer«, widersprach er.

»Wenn es voll mit Wasserstoff ist und der Ballast abgeworfen würde, ist es sogar sechseinhalb Tonnen leichter als Luft. Man kann also sechstausendfünfhundert Kilogramm Last mitführen.«

»Da oben ist Wasserstoff drin?«, fragte Zahnlücke.

»Was meinst du, warum wir hier nicht rauchen dürfen?«, merkte Wyss an.

»Aber das ist doch furchtbar gefährlich.«

»Wasserstoff ist nun mal das leichteste Element«, sagte der Mann mit dem Bauch.

»Ein Vakuum wäre leichter.«

»Dann füll einmal ein Vakuum in einen Ballon.«

»Wieso ein Ballon? Das Luftschiff hat doch eine starre Hülle.«

»Das LZ 11 hat achtzehn weiche Gaszellen, die im Gerippe untergebracht sind. Die Außenhülle bildet ein imprägnierter Baumwollstoff«, führte Zwyssig weiter aus.

Die Uhr an der Wand tickte unbarmherzig. Es war bereits nach halb zwei. Bern lag ein gutes Stück hinter ihnen, und Claire konnte ein Dorf am Ufer eines Flusses ausmachen.

Sie stellte sich vor, wie sie mit dem Luftkreuzer auf das Heim einfacher Bauersleute fielen. Aus dieser furchtbaren Höhe!

Aber verhielt es sich tatsächlich so, wenn die Bombe losging, fragte sich Claire. Die Gaszellen! Sie würden nicht stürzen, sondern in einer riesigen Wolke aus Flammen explodieren. Diese Aussicht erfüllte sie mit noch größerem Entsetzen. Die Bombe müsste nicht die Motoren oder die Steuerung beschädigen, sondern nur den Wasserstoff in Brand setzen. Dazu musste sie nicht einmal groß sein. Es würden kaum Spuren zurückbleiben.

»Es können gerade mehrere von den achtzehn Gaszellen Löcher haben, und das Luftschiff würde trotzdem nicht abstürzen«, erklärte Zwyssig.

Aber wenn eine brannte, würden sie alle brennen, überlegte Claire, worauf ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief.

»Siehst du«, versuchte Wyss, Zahnlücke zu beruhigen, »Zeppeline gehören zu den sichersten Fortbewegungsmitteln.«

»1910 stürzte die LZ 7 ›Deutschland‹ ab, 1911 die LZ 8, 1912 die LZ 10 ›Schwaben‹. Und denkt nur an letzten Oktober: Beim Brand der LZ 18 kamen alle dreißig Mann um. Und im März –«

»Lass es gut sein, Heinz-Peter«, unterbrach Wyss Zwyssig. »Du machst dem Mädchen noch mehr Angst.«

»Excuse moi!« Claire sprang auf und winkte dem Steward zu. Dieser kam ihr entgegen. »Ich möchte den Luftschiffführer in der Gondel besuchen.«

»Aber gewiss doch, junge Dame.«

»Na, hat sie ihren Mut doch noch gefunden?«, fragte Zahnlücke.

»Aber da bist du noch höher«, warf Bänzli junior ein.

Der Steward begleitete Claire durch die Kabine zwischen den säulenartigen Stützpfeilern hindurch bis zum vorderen Teil, wo sich hinter einer Anrichte der abgetrennte Servicebereich befand. Da öffnete er eine Tür, hinter der sich ein schmaler Steg durch ein kompliziertes Metalltragwerk hinzog. Es war kaum Licht darin. Der Wind rüttelte lautstark an der Außenhülle, sodass der Steward seine Stimme erheben musste. »Leider kann ich Sie nicht begleiten, da sonst das gesamte Gefährt zu sehr aus dem Gleichgewicht geraten würde«, erklärte er. »Sie werden an einer Öffnung ankommen, an der Sie über eine Strickleiter in die Führergondel hinabsteigen können. Soweit ich weiß, sind Sie die erste Dame, die dieses Angebot annimmt, Sie wissen schon, wegen dem Kleid.«

Doch Claire setzte auf dem Steg bereits vorsichtig einen Fuß vor den anderen und hielt sich krampfhaft an den Führungsseilen zu beiden Seiten fest.

Die Order nach einer weiteren Runde Schnaps hallte aus der Kabine bis zu ihnen. »Man verlangt nach mir«, sagte der Steward. »Rufen Sie mich einfach, wenn etwas ist«, sagte er, dann drehte er sich um und kehrte zurück zu den anderen Passagieren.

Gut so, dachte sich Claire. So konnte sie sich in aller Ruhe auf die Suche machen. Wo also konnte sich die Bombe befinden? Sie schaute sich um. Über ihr hingen zwischen Streben in Leichtbauweise und gespannten Stahlseilen die Gaszellen. Oben füllten sie prall die Konstruktion, während sie an ihrem unteren Ende tatsächlich wie Ballone schlaff herabhingen. Alles knisterte, knackte und waberte um sie herum, als sie weitere Schritte vorwärts wagte. Sie hielt Ausschau nach hingehängten Taschen, abgestellten Werkzeugkoffern oder mit Draht an einer Strebe festgemachten Paketen. Doch sie konnte nichts ausmachen, was eine Bombe beinhalten könnte oder zumindest so aussah, als ob es nicht hierhergehörte. Sie musste sich aber auch eingestehen, dass sie zwar eine Vorstellung von Bomben hatte – sie wurde dahingehend ausgebildet –, aber keine Ahnung, was zum Innenleben eines Luftschiffes gehörte.

Vor ihr stieg der Steg ein Stück an, sodass sie sich erst ducken und schließlich sogar auf allen vieren weiterkrabbeln musste. Der Agent hatte ihr doch gesagt, dass »soeben« ein Paket platziert worden sei. Also musste dies nach der Landung in Bern geschehen sein. Und es hatte schnell gehen müssen. Claire schloss deshalb aus, dass der Bombenleger sie im gigantischen Gerippe über ihr platziert haben konnte. Dafür hätte die Zeit gar nicht gereicht.

Bald erreichte sie die vom Steward angekündigte Öffnung, ein einfaches Loch links in der Plane, hinter dem Wind und Wetter tobten. Kurzerhand ergriff sie die Strickleiter und hangelte sich die Sprossen hinab ins Freie.

»Oho! Hoher Besuch«, rief eine raue Stimme zu ihr herauf. Der Wind brachte ihren Rock zum Flattern. Der Mann hielt ihr die Strickleiter fest und drehte den Kopf züchtig von ihren Beinen weg, als sie an ihm vorbei in die offene Gondel hinabkletterte.

Ein Herr in den reiferen Jahren mit Bart und Uniform nahm sie in Empfang und stellte sich als der Luftschiffführer vor. Offenbar war er gelegentlichen Besuch von den Mitreisenden gewohnt. Er erklärte mit routinierten Worten, dass ihm die Steuerung der Viktoria Luise oblag. Der Bursche, der ihr beim Abstieg geholfen hatte und nun süßlich lächelte, sei der Bugmaschinist. Der an den Hebeln sei für die Höhensteuerung zuständig, und der Vierte im Bunde überwache auf einer Karte ihre Position über dem Boden. Hinten in der Steuergondel befand sich einer der drei Motoren und verursachte einen Höllenlärm. Claire gab sich gar nicht erst die Mühe, sich die Namen zu merken. Vielmehr blickte sie sich um, ob ihr etwas auffiel, was einen Sprengsatz beinhalten könnte. Der Wind zerrte an ihrem Kleid, und sie fröstelte bald.

»Der Berg mit den Wolken um den Gipfel da vorne rechts ist der Niesen. Wir haben gerade Thun überflogen«, kommentierte der Navigator. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf die Landschaft hinab. »Sehen Sie da das Städtchen! Ein Stück unter dem See.«

Doch Claire interessierte sich wenig dafür. Sie wies auf die zahlreichen Kisten und Behältnisse am Boden und fragte: »Ist hier irgendetwas, das nicht hierhergehört?«

»Ja, wir haben schon ein ziemliches Durcheinander, das müssen wir zugeben«, erwiderte der Navigator lachend.

Claire kam ein weiterer Gedanke: »Haben Sie bei Ihrem Zwischenhalt in Bern eigentlich die Gondel verlassen?«

»Nur Herr Eckmann.«

»Herr Eckmann?«

»Der Luftschiffführer. Wir anderen sind nicht ausgestiegen.«

»Wissen Sie die genaue Uhrzeit?«, fragte Claire.

»Sie wollen Sachen wissen, junge Frau.« Der Navigator zog seine Taschenuhr an einem Kettchen aus der Uniform und las ab. »Es ist vier vor zwei. Wieso, müssen Sie noch irgendwohin?«

Er lachte, aber Claire kletterte bereits wieder die Sprossen empor. Als der Maschinist zur Stelle war, die Strickleiter festzuhalten, war sie schon durch die Luke geschlüpft und erreichte den Steg.

Die Gondel war nie unbewacht gewesen, da konnte demnach der Sprengsatz nicht platziert worden sein. Ebenso verhielt es sich mit der hinteren Gondel. Da waren die Männer auch nicht ausgestiegen, sondern hatten unentwegt an den Maschinen gewerkelt, diese hatte sie schon vom Boden aus beobachtet. Der Durchgang zu den hinteren Gondeln fiel ebenfalls weg. Welches Versteck kam sonst noch in Frage? Die Zeit war knapp. Viel zu knapp! Sie krabbelte den Steg zurück, bis sie sich wieder aufrichten konnte. Sie befanden sich nun über dem See. Der ideale Ort, um einen Luftkreuzer zum Absturz zu bringen, wenn man möglichst wenig Spuren hinterlassen wollte!

»Na, hat es dir gefallen in der Führergondel?«, wurde sie in der Passagierkabine empfangen.

Claire dachte nicht daran, sich hinzusetzen. Eilig blickte sie sich um, sah die Uhr, die unbarmherzig tickte. Aber wo sollte sie sonst noch suchen?

»Du siehst ganz schön durchgefroren aus. Herr Steward, bringen Sie dem Mädchen doch einen zünftigen Schnaps. Der wird sie etwas aufwärmen.«

Der Schnaps! Alkohol war gar nicht vorgesehen gewesen, hatte der Steward gesagt.

»Wo sind die Kisten?«, fragte sie.

»Die hat es aber nötig«, frotzelte der Herr mit dem dicken Bauch.

Sie eilte zur Anrichte. Stieß auf die Holzkisten. Hastig hob sie eine Flasche um die andere heraus und legte sie achtlos daneben. Die Kiste war mit Holzwolle ausgelegt, damit das Glas beim Transport nicht in die Brüche ging. Eine Weinflasche zerbrach auf einer Schnapsflasche neben ihr. Sie betastete den Boden der Kiste: nichts Auffälliges. Nahm die zweite Kiste zur Hand. Die Flaschen fühlten sich kühl an. Sie enthielten Bier und waren etwas kürzer als die mit dem Wein und den Spirituosen. Dennoch standen die Deckel etwa gleich weit über den Rand der Kiste. Sie ließ die Fläschchen jetzt nur so auf den hölzernen Boden knallen, wobei mehrere zu schäumenden Scherbenhaufen zerbarsten.

»He! He! Was treibst du da?«, fragte jemand hinter ihr.

»Das ganze gute Zeug!«, jammerte ein anderer.

Doch Claire hatte keine Ohren dafür. Sie musste sie alle retten! Besonders sich selbst.

Der Steward versuchte, sie zurückzuhalten. Seine Ausbildung hinderte ihn jedoch daran, grob zu werden, und so konnte Claire sich leicht wieder losreißen. Als sie die Kiste zur Hälfte geleert hatte, gelang es ihr, die Holzwolle sowie ein dünnes Brett darunter anzuheben. Es diente als zweiter Boden. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie erblickte Kabel. Eine tickende Uhr. Und drei Dynamitstangen! In rasender Abfolge durchfuhren sie mehrere Gedanken. Sie erinnerte sich, dass man eine Bombe entschärfte, indem man das richtige Kabel herauszog oder durchtrennte. Doch dafür blieb ihr keine Zeit, wie ihr die Zeiger auf der Uhr in der Kiste verrieten. Ihr blieb nur noch eines übrig. Ächzend hob sie die noch immer halb volle Kiste hoch und stürmte zum nächsten Tischchen an das offene Fenster. Mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft schleuderte sie die Kiste nach draußen und beobachtete ihren langen Fall zur grünlich blauen Oberfläche des Thunersees. Weiße Gischt spritzte hoch, als sie unten ankam.

»Jetzt sind die Pferde komplett mit ihr durchgegangen«, stellte Bänzli junior bestürzt fest.

Die Erleichterung in Claire ließ sie schwindeln, und sie sank in den nächsten freien Korbsessel. Neben ihr saß der Mann aus Ägypten, der sich zuvor für sie eingesetzt hatte. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Alle starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Hat Höhenangst und wirft unser feines Bier aus dem Fenster«, sagte Zahnlücke und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Verstehe einer mal die Frauen«, sinnierte Wyss, der Greis.

»Ich habe dich gewarnt, Junge«, mahnte Bänzli senior Röbi mit erhobenem Finger. »Die macht nur Probleme, hab ich gesagt.«

Claire lehnte sich erschöpft zurück. »Steward, bringen Sie mir ein Gläschen Rotwein, s’il vous plaît.«

Ein fernes Donnergrollen war über dem gleichmäßigen Brummen der Motoren gerade noch zu vernehmen.

Wenn man wusste, auf was man horchen musste.

3

Donnerstag, 21. Mai 1914

Die nur leicht gekräuselte Oberfläche des Thunersees weit unter ihnen funkelte im Sonnenlicht wie topasfarbener Samt mit eingewirkten Brillanten. Als das gigantische Luftfahrzeug dessen oberes Ende erreichte, wich der See einem frühlingsgrünen Uferwald. Nur noch ein kurzes Stück, dann würden sie über die Häuser Interlakens gleiten. Dahinter erblickte man aus dem Fenster der Kabine auch schon die in einem etwas kühleren Türkis erscheinenden Wasser des Brienzersees, der sich zwischen zwei steile Bergflanken schmiegte.

Henri Burkard sog diese neue Perspektive auf die Welt unter ihm und um ihn herum auf. Zog die kühle und klare Luft in sich hinein, die von den schneebedeckten Bergen herrühren musste – bis ein Schwaden Motorenabgase des Zeppelins ihn erreichte und ihn aus seinen Träumereien zurückholte. Er hustete und schloss das Fenster.

Franz Kandlbaur und Walter Wyss schwatzten an ihrem Tischchen an den gegenüberliegenden Fenstern und prosteten sich ein weiteres Mal zu. Bestimmt war es auch ihre erste Fahrt durch das Luftmeer, aber die Aussicht aus dem Fenster schien ihnen nicht viel mehr zu bedeuten als bei einer Reise mit einem gewöhnlichen Schiff auf dem See. Robert Bänzli senior versuchte derweil, seine Beunruhigung über die große Höhe damit zu überspielen, dass er seine Aufmerksamkeit seinem Sohn widmete, der mit einer Begeisterung, die man einem Kind zugestand, mal hier auf ein Segelboot, mal da auf eine Weide mit grasenden Kühen zeigte und seinem Vater seine Entdeckungen mitteilte. Weiter hinten veräußerte Heinz-Peter Zwyssig sein Bücherwissen in einem fort, und Olaf Inderbitzin streckte eine Hand in den Fahrtwind, während seine Frau Henris Blick abfing, einen langen Augenblick festhielt und ihn mit einem Blinzeln wieder gehen ließ. So ging jeder auf seine eigene Weise mit dem herrlichen Erlebnis, durch die Lüfte zu reisen, um, nun, da sich die hysterischen Gebaren des kleinen Fräuleins gelegt hatten.

Dieses saß zurückgelehnt am Tischchen und hatte auch endlich die Ruhe gefunden, den Anblick der Welt von oben zu genießen. Seit sie die Kiste mit dem Bier aus dem Fenster geworfen hatte, war sie wie ausgewechselt. Henri hatte schon verschiedene Arten von Hysterie beobachtet, nicht zuletzt auch jene, die durch übermäßigen Konsum von Substanzen wie Opium, Laudanum oder Kokain verursacht wurde, aber eine derartig schnelle Besinnung zurück zur Normalität hatte ihn dann doch überrascht. Wenn man es denn Normalität nennen konnte. Immerhin hatte sie sich letzte Nacht an den jungen Bänzli herangeschmissen, nur um mit dem Luftschiff mitfahren zu können. Aber was wusste Henri schon darüber, was normal war? Er gehörte nicht zu diesen neuen Psychoanalytikern wie ein C. G. Jung oder Sigmund Freud, die derzeit in aller Munde waren.

Das Mädchen musste seinen Blick gespürt haben, denn sie sah sich zu ihm um und klimperte mit den Wimpern, bevor sie sich mit einem frechen Lächeln auf den Lippen wieder der Landschaft zuwandte.

Irgendwas passte einfach nicht bei ihr, da war sich Henri sicher. Sie machte ihnen allen etwas vor. Ob sie einfach eine schnöde Taschendiebin war? Tatsächlich gäbe es hier einiges zu holen, wenn er sich so umsah. Gut betucht waren die Anwesenden ja. Seidenfoulards, goldene Kettchen, Siegelringe, Taschenuhren oder allein schon die Perlenkette der Frau Inderbitzin. Es ließ sich gut leben in der Schweizer Oberschicht, und man zeigte es auch, besonders, wenn man unter sich war.

»Burkard ist doch Ihr Name, das sagt mir was«, unterbrach der greise Wyss plötzlich Henris Gedanken.

»Ich reise als Berichterstatter archäologischen Grabungen nach«, gab Henri Auskunft. »Gelegentlich erscheinen Artikel von mir in Schweizer Zeitungen, womöglich haben Sie bereits etwas von mir gelesen.«

»›Das Tal der Könige‹, ich erinnere mich.« Kandlbaur lachte und entblößte seine Zahnlücke. Henri fiel dessen sündhaft teure Zenith-Armbanduhr ins Auge.

»Einer meiner besten Artikel.« Es freute Henri, wenn man sich an seine Arbeiten erinnerte.

Wyss schüttelte den Kopf. »Nein, es muss etwas anderes sein. Aber ich komme nicht drauf.«

Kandlbaur grinste kumpelhaft. »Das kommt mit dem Alter. Da beginnt der Kalk zu rieseln.«

Henri kam ein beunruhigender Gedanke. Wyss spielte doch hoffentlich nicht auf Henris Vater an. Ob der alte Gauner auf seine unrühmliche Art Aufsehen erregt hatte? Um davon abzulenken, sagte er: »Burkard ist gewiss kein seltener Name. Soll auf den heiligen Burchardus zurückgehen, der im 8.Jahrhundert der erste Bischof von Würzburg war.«

»Sie kennen sich wohl ganz gut mit Geschichte aus?«, stellte Kandlbaur fest.

»Bringt meine Berufung mit sich.«

»Sind Sie als Gastredner auf dem Kongress?«, fragte Wyss.

Ein Mann, der Henri letzte Nacht als Gregor Rhynegger bekannt gemacht wurde, erhob sich aus seinem Korbsessel und kam mit einem gut gefüllten Weinglas in der Hand in den vorderen Teil der Kabine. Er hatte einen rötlichen Haarkranz und einen Spitzbart in derselben Farbe, der seinem Alter gemäß mit weißen Streifen durchsetzt war. Soweit Henri sich an seine gestrigen Worte erinnern konnte, leitete er eine Fabrik für Seidenbändchen. Seine zögerlichen Schritte schienen nicht der Höhenangst geschuldet. Vielmehr schien er sich zu etwas durchringen zu müssen.

Schließlich baute er sich neben Wyss und Kandlbaur auf. »Auf die Reise durch die Lüfte«, sprach er feierlich und erhob sein Glas.

Die beiden Angesprochenen sahen ihn nur mit unverhohlenem Missmut an und dachten nicht daran, nach ihren Gläsern zu greifen.

»Warum zeigt ihr mir die kalte Schulter? Gestern Abend schon.« Rhynegger büßte seine stramme Haltung ein. »Wir hatten es doch früher so gut miteinander.«

»Du weißt ganz genau, wieso«, gab Wyss kalt zurück.

»Liegt es immer noch daran, was auf dem letzten Kongress geschehen ist?«

»Darüber spricht man nicht«, sagte Kandlbaur.

»Aber das sollte man.« Rhyneggers Tonfall kippte ins Klagende.

»Damit du dich herausreden kannst?« Wyss erhob den Zeigefinger, und seine Stimme war kaum mehr als ein zischendes Flüstern. »Das wird dir nicht gelingen. Du hast deine Seite gewählt, und es war die falsche.«

Kandlbaur fügte hinzu: »Was mich anbelangt, sollte es deinesgleichen gar nicht mehr erlaubt sein, am Kongress teilzunehmen.«

Rhynegger musste einen sicheren Stand suchen, obwohl die Kabine nicht wankte. »Denkt ihr beide so?«, fragte er den greisen Wyss.

Dieser nickte bloß.

Als die zwei Sitzenden sich von ihm ab- und der vorbeiziehenden Landschaft zuwandten, blieb Rhynegger noch einen Moment lang verloren stehen, bis er mit gesenktem Kopf an seinen Platz zurückkehrte.

Was war das eben? Henri hatte bereits vergangene Nacht den Eindruck, dass kaum etwas über den letzten Kongress von vor vier Jahren zur Sprache kam. Trotz des reichlich geflossenen Alkohols und der ausgelassenen Stimmung. Als ob jeder einer unausgesprochenen Regel gehorchte, dass er darüber zu schweigen hatte. Oder war diese Regel womöglich gar nicht unausgesprochen? Er wusste es nicht. Er war weder ein Mitglied der Orion-Gesellschaft für Fortschrittsfragen, noch hatte er den Kongress für Zukunftsbetrachtungen 1910 miterlebt. Aber seine Neugier war geweckt. Die nächsten Tage im Grandhotel Giessbach würden sicherlich die eine oder andere offene Frage beantworten. Er hätte ohnehin kaum sagen können, womit er sich den gesamten Kongress lang beschäftigen sollte. Er war als Gastredner eingeladen, um mehrere Referate zu halten. Dann würde er sich bestimmt noch das eine oder andere Referat weiterer Teilnehmer anhören und den allgemeinen Festlichkeiten beiwohnen. Doch die übrige Zeit? Wahrscheinlich lief es darauf hinaus, dass er oft und ausgiebig wandern ging.

Unter ihnen glitt das Städtchen Unterseen und gleich darauf das Zentrum Interlakens dahin. Auf den Straßen blieben – wahrscheinlich aufmerksam geworden durch den Motorenlärm – die Touristen jeglicher Couleur stehen und blickten mit gegen das Sonnenlicht abgeschirmten Gesichtern zu ihnen hoch. Der gesamte Verkehr schien stehen geblieben zu sein. Bauern mit Handkarren, Velozipedisten, Kutscher und gelegentliche Automobilisten bremsten ihre Vehikel ab und winkten den Luftfahrern mit Tüchern zu. Einige der Reisenden in der Kabine taten es ihnen gleich und winkten aus offenen Fenstern zurück.

Henri konnte ein kleines Stück vor ihnen das Victoria Jungfrau ausmachen, der edelste Bau in Interlaken, und davor die großzügige Wiese, die Höhematte, auf der ihre Landung vorgesehen war. Es hatten sich bereits einige Menschen versammelt, und ihn durchfuhr ein sanfter Stich der Wehmut. Viel zu kurz war die Reise gewesen. Wäre es ihm möglich, würde er ganze Tage in dieser Kabine in luftigen Höhen verbringen. Hatte ihn bereits das Luftfieber ereilt, von dem die Aviatiker immer wieder sprachen?

Doch Henri stellte auch fest, dass sie noch kaum an Höhe eingebüßt hatten. Im Gegenteil, er hätte schwören können, dass sich der Boden immer weiter entfernte. Dass sie langsam anstiegen.

Der Steward meldete sich mit einem Räuspern zu Wort und lieferte auch gleich die Antwort: »Sehr geehrte Damen und Herren. Bevor wir unser Schuhwerk wieder auf festen Boden setzen, wollen wir als krönender Abschluss zuerst noch in die Ferne blicken.«

Und tatsächlich verlangsamte das Gefährt noch weiter, sodass es exakt über der Höhematte und den das Luftschiff bewundernden Menschen darauf zu stehen kam. Die Tourenzahlen der Motoren wurden gedrosselt, sodass die Klänge der Blaskapelle unter ihnen bis zu ihnen heraufsteigen konnten wie auch der Duft gebratener Würste und süßer Leckereien.

Plötzlich erschallten aufgeregte Rufe. Spitze Schreie. Der Zweivierteltakt der Polka brach mitten im Stück ab. Henri beobachtete, wie die Musikanten zusammen mit den Schaulustigen und Helfern auseinanderstoben. Das Kreischen von Kindern und Frauen fuhr ihm durch Mark und Bein. Inzwischen waren auch sämtliche seiner Mitreisenden in der Kabine aus ihren Korbstühlen hochgeschossen, um besser nach unten sehen zu können. Was ging da vor sich? War etwas mit dem Luftschiff nicht in Ordnung? Henri hatte volles Vertrauen in die moderne Technik der Zeppelinwerke, trotz des gigantischen Wasserstoffreservoirs über ihnen, aber in diesem Augenblick schienen sich doch Risse des Zweifels zu bilden.

Er schaute nach oben, konnte aber nur die untere Rundung des dicken Bauchs überblicken. Etwas, was Anlass zur Beunruhigung geben sollte, erspähte er nicht. Er hatte auch nicht das Gefühl abzustürzen. Vielmehr fühlte er die Schwere wie in einem aufsteigenden Fahrstuhl. Er hätte auch nicht sagen können, warum einige der Leute unten auf der Wiese lachten.

Auch in der Kabine begann sich eine Welle der Heiterkeit auszubreiten. Erst als ein paar Kinder unter dem aufsteigenden Luftschiff zu tollen und ausgelassen zu tanzen begannen, verstand er. Ich Narr, schalt er sich selbst. Der Luftschiffführer ließ einen Teil des als Ballast mitgeführten Wassers ab und spritzte die Menschen unter ihnen nass. Nun musste auch Henri lachen. Auch ihn hatte der Kapitän voll erwischt. Vielleicht hatte Henri einfach zu viele Gefahren auf seinen Exkursionen erlebt und war zu schreckhaft geworden.

»Da, die Jungfrau!«, rief Heinz-Peter Zwyssig und rannte an die Fensterfront auf Henris Seite. »Kennt ihr diese Postkarte, die es überall zu kaufen gibt? Die, wo die kleinen Bergsteiger an der Jungfrau herumkraxeln, und der Berg ist wirklich wie eine junge Frau gemalt?« Er gluckste vor Lachen. »Kennt ihr die nicht?«

Bänzli junior kam ebenfalls an ihre Fensterfront herangeeilt, was den Steward zu mahnen veranlasste: »Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Die Stabilität – verstehen Sie?«

Und tatsächlich stieg das große Dreigestirn der Berner Alpen vor ihnen auf: Eiger, Mönch und Jungfrau. Sie standen wie drei Anführer eines Heeres aus Gipfeln hochalpinen Schnees, das sich zu beiden Seiten ausdehnte, so weit das Auge reichte. Die Luft war klar, und die Sonne strahlte. Man hätte wahrlich keinen besseren Tag für eine Fahrt durch die Lüfte wählen können.

Henri hatte im Vorfeld gedacht, eine Reise mit einem Luftschiff sei so etwas wie eine bessere Jahrmarktsattraktion. Doch selten hatte er sich so geirrt. Das Erlebnis war auch nicht damit zu vergleichen, auf einem hohen Berg oder einem Turm zu stehen und die Aussicht zu betrachten. Es war etwas vollkommen anderes, ohne Boden, ohne Seile, losgelöst von jeglichem Irdischen, im Reich der Vögel zu schweben. Das, was sie hier erlebten, der Anblick, der sich vor ihnen auftat, war bisher nur wenigen Menschen vergönnt gewesen. Erlebte er gerade die Zukunft? Er hatte sich als Historiker und Berichterstatter für archäologische Ausgrabungen bisher der Vergangenheit, der Geschichte, verschrieben, aber womöglich sollte er künftig auch dem Fortschritt mehr Beachtung schenken. Die Zeit der Ägypter und Griechen hatte viele Wunder zu bieten, aber was würde die Zukunft für sie noch alles bereithalten?

In der Kabine hatte sich andächtiges Schweigen ausgebreitet. Selbst Wyss und Kandlbaur, die sich bisher unbeeindruckt gegeben hatten, waren gebannt von der Schönheit der Landschaft aus dieser Höhe. Die Viktoria Luise stieg weiter. Henri konnte das Lauterbrunnental sehen und davon leicht abgewinkelt das Tal mit Grindelwald. Als einer der Motoren hochdrehte, begann sich das Luftschiff sanft zu drehen. Von seinem Fenster aus schaute er zurück über den Thunersee, über den sie gerade hergekommen waren. Im Norden erblickte er einen entfernten Hügelzug, den er als den Jura ausmachte. Oder war das bereits der Schwarzwald mit seinen Tannen? Dann das Brienzer Rothorn. Der Brienzersee im Osten.

Henri kniff seine Augen zusammen. Da war es doch, von hier oben aus gesehen am rechten Ufer – das Grandhotel Giessbach, wie es im Sonnenlicht zu leuchten schien. Weiß schäumten daneben die Wasserfälle, und selbst die Schneise der Giessbachbahn konnte er erkennen.

4

Donnerstag, 21. Mai 1914

Henri Burkard hatte schon so manches gesehen. Die Grabkammern von Pharaonen, die Überreste Trojas oder kalbende Gletscher Grönlands, nur drei aus einer Vielzahl eindrücklicher Erlebnisse bei seinen Reisen um die Welt. Als er seinen Fedora aufsetzte und mit seiner Dokumententasche im Arm über das klapperige Metalltreppchen von Bord auf das kurz gemähte Wiesengras stieg, hielt er sich vor Augen, dass seine Sammlung mit diesem Tag um eine unvergessliche Erinnerung reicher geworden war.

Doch der Tumult, der ihn draußen auf der Höhematte in Interlaken empfing, war ihm nach den Eindrücken der Ruhe in luftiger Höhe gerade zu viel. Die ganzen Menschen. Die vier Dutzend Helfer, die das Luftschiff an Tauen hielten und einander laute Anweisungen zuriefen, den Uniformen nach waren sie dazu von der Armee abkommandiert worden. Der bunte Haufen der Schaulustigen mit ihren Kindern, die den Luftkreuzer bestaunten, quasselten und umhertobten. Einige von ihnen mit durchnässter Kleidung. Ausländische Touristen sowie einheimische Bauern und Arbeiter, angelockt vom Festbetrieb, der offenbar eigens für die Landung des Luftschiffs aufgezogen worden war. Die Bauchladenverkäufer mit ihren Leckereien und Rauchwaren, die einen sechsten Sinn dafür zu haben schienen, wo sich Menschen zusammenfanden. Den Ameisen bei einem Picknick im Grünen nicht unähnlich. Aber auch die Blaskapelle, die gerade einen munteren Marsch zum Besten gab, umrankt von Blumenkränzen aus roten und weißen Geranien, die die Farbensprache der nicht gerade sparsam eingesetzten Schweizerfahnen aufnahmen.

Seinen Mitreisenden schien das alles zu gefallen. Sie mischten sich unter das Volk, wo sie auf weitere ihnen bekannte Herrschaften trafen, freudig Hände schüttelten und in Gespräche verfielen, nicht ohne sich dabei an gebratenen Würsten und frisch gezapftem Bier gütlich zu tun. Die gepflegten Anzüge, die Uhrenkettchen, die dicken Zigarren und die ausladenden Bäuche ließen Henri darauf schließen, dass die anderen Männer ebenfalls der Gattung der wohlhabenden Fabrikanten, der Patrone und der Politiker angehörten. Folglich waren sie ebenfalls Teilnehmer des bevorstehenden Kongresses. Dieses scheinbar kurzerhand improvisierte Volksfest war demnach gar nicht kurzerhand improvisiert, sondern musste von der Orion-Gesellschaft für Fortschrittsfragen in die Wege geleitet worden sein. Was es wohl gekostet haben mochte, ein ganzes Luftschiff zu chartern, allein des hohen Personalaufwands wegen. Für gewöhnlich starteten und landeten diese immer nur von einer Luftschiffhalle aus. Die nächste stand einige hundert Kilometer weit weg, bei den Zeppelinwerken in Friedrichshafen am Bodensee.

Henri hielt sich weiter im Schatten der Viktoria Luise. Er betrachtete die großen Propeller und näherte sich der hinten angebrachten Gondel, in der zwei Motoren untergebracht waren. Wie auch die Führergondel war sie unten mit einem großen Gummipolster ausgerüstet, das den Schlag bei der Landung dämpfen sollte. Zwei Maschinisten – beides vierschrötige Kerle mit buschigen Schnurrbärten und Ölflecken – diskutierten angeregt. Als Henri zu ihnen trat, verstummten sie jedoch, sodass er sich gezwungen sah, das Wort zu ergreifen: »Ihr Arbeitsplatz muss wohl zu den schönsten gehören, die man sich denken kann.«

»Manchmal friert man sich da oben auch einfach den Arsch ab«, kam die lakonische Antwort. Henri hätte nicht sagen können, ob er scherzte oder es bitterernst meinte. So entschied er sich für eine Erwiderung, die dazwischenlag: »Eine Ungerechtigkeit, dass der Komfort bloß den Reisenden vorbehalten bleibt.«

»So ist es wohl.«

»Los, frag ihn schon«, forderte der zweite Maschinist den ersten auf.

»Was möchten Sie mich fragen?«, wollte Henri wissen.

»Der Göpf hier«, er zeigte auf seinen Kameraden, »behauptet, er hätte beobachtet, wie ihr aus der Kabine Zeug rausgeworfen habt.«

»Nun ja, das ist wohl geschehen«, musste Henri einräumen.

»Sie wissen schon, dass es verboten ist, Dinge aus einem Luftschiff zu werfen?«, mahnte der Maschinist namens Göpf. »Es könnte jemand verletzt werden.«

Henri ließ den Vorwurf an sich abprallen. »Nun, ich werde es so an die verantwortliche Person weiterleiten.«

»Wie oft haben Sie denn Sachen hinausgeworfen?«

Sollte das ein Verhör werden? »Wie gesagt, ich habe gar nichts geworfen.« Er lupfte seinen Hut. »Ich wünsche noch einen schönen Tag.«

Als Henri davongehen wollte, sagte Göpf zu seinem Kollegen: »Weißt du, ich habe es zwei Mal im See hochspritzen sehen.«

Zwei Mal?, fragte sich Henri. Er hatte die Kleine nur ein Mal etwas hinauswerfen sehen. Er blieb stehen.

»Wenn die ständig Zeug aus dem Fenster werfen.« Der erste Maschinist winkte ab.

»Nein, nicht so. Das zweite Mal hat es so richtig weit hochgespritzt.«

»Was willst du damit sagen, dass etwas Großes von der Luise abgefallen ist?«

»Ich glaube nicht.« Göpf suchte nach einem Vergleich. »Es war vielmehr so … Ich habe mal beobachtet, wie sie im Bodensee mit Dynamit gefischt haben. So hat das ausgesehen.«

»Mit Dynamit fischen? Na also, da hast du es ja.«

»Aber es hatte gar keine Fischerboote.«

»Die Fischerboote sollten ja auch nicht da sein, wo das Zeug hochgeht«, sagte der erste Maschinist und überlegte einen Augenblick. »Aber Dynamit hätte man hören müssen. Du weißt schon, dass dieses Zeug furchtbar laut ist?«

»Wie willst du etwas hören zwischen unseren beiden Maybach-Motoren?«

Henri schaute auf seine Uhr und entschied, sich besser zu den anderen zu gesellen. Er wollte es nicht verpassen, wenn die Reise zum Grandhotel weiterging.

5

Donnerstag, 21. Mai 1914

»… und ich habe geantwortet: Wohl eher von einem alten Esel als von einem Rindvieh.« Der Schlachtereibesitzer Bänzli lachte am lautesten über seinen Witz. Dass er dabei beinahe sein Bier verschüttete, schien die um ihn herumstehenden Männer mehr zu amüsieren als seine Zote.

Nach dem Verlassen des Zeppelins hatten sich die Männer schnell unter das Volk gemischt und sich um den Zapfhahn geschart. Auch Bänzli junior schloss sich ihnen an. Claire musste nun wieder aktiv werden, wenn sie den Kontakt nicht abreißen lassen wollte. Sie kannten sich ja erst seit letztem Abend, und ihre Bindung war noch nicht so stark, als dass sie einen Fehler überstehen würde. So stellte sich Claire in das Halbrund der Männer neben den Junior, der gerade voller Bewunderung zu seinem alten Herrn hochblickte, während dieser sich ein Lachtränchen aus dem Augenwinkel wischte. Als sie Juniors Hand halten wollte, zog er sie zurück, als hätte er in den Fleischwolf gegriffen.

»Was tust du denn hier?«, fragte er schroff.

»Ich wollte dich wiedersehen.« Claire klimperte mit den Wimpern.

»Geh weg, du verrücktes Huhn.« Er schob sie unsanft zur Seite.

Es würde schwieriger werden, ihn zurückzuerobern, als sie gedacht hatte. Kurz erwog sie, stattdessen den Berichterstatter aus Ägypten anzugehen. Er dürfte zwar schon deutlich über vierzig sein, aber er war braun gebrannt und hatte sich im Luftschiff für sie eingesetzt. Doch sie konnte ihn nirgends ausmachen. Dann also doch den jungen Bänzli. Noch während Claire sich überlegte, ob sie Charme, Empörung oder Tränen zum Erreichen ihres Ziels auffahren sollte, zupfte jemand sie am Ärmel. Erbost schaute sie sich um. Es war einer dieser Verkäufer mit einem Bauchladen.

»Ich brauche nichts«, versuchte sie, ihn abzuwimmeln.

»Süßigkeiten, Raucherwaren, Nähzeug«, machte er stattdessen auf sich aufmerksam. Sie betrachtete seine Auslagen, tatsächlich trug er in einer Holzkiste vor sich in zahlreichen kleinen Fächern Kekse, Bonbons, kandierte Äpfel am Stiel, Zigaretten, Zigarren und Zündhölzer sowie Knöpfe, Nadeln und Fadenspulen. Claire wollte sich das wenige Geld, das sie verdiente, für Sinnvolleres bewahren. Noch bevor sie ihn zur Hölle schicken konnte, sagte er jedoch: »Die Nachtigall singt nicht.«

Woher kannte der Kerl die Parole des Deuxième Bureaus für diesen Tag? Wie automatisch erwiderte sie: »Das tut sie am Tage nie.«

»Claire, ich bin’s.«

Claire betrachtete den Mann. Seine orange, mit goldenen Verzierungen ziemlich überladene Uniform biss sich mit seinen karottenfarbenen Haaren und dem gleichfarbigen Bart. Dann erst fiel der Groschen. »Meise? Du?«, fragte Claire und fasste sich schnell wieder.

»Schhht«, machte er. »Lass uns ein paar Schritte gehen.«

Sie folgte ihm ein Stück weg von den Mitgliedern der Orion-Gesellschaft an den Rand der Festivitäten, bis er stehen blieb. Claire kannte ihn nur unter seinem Decknamen »die Meise«.

»Die Perücke und der angeklebte Bart sehen nicht gerade echt aus.«

»Aber selbst du hast mich nicht erkannt«, hielt Meise dagegen. »Darauf kommt es schließlich an.«

So gesehen musste sie ihm recht geben. Meise arbeitete schon seit Jahren für das Bureau und war Claires Verbindungsmann geworden, als man sie in verdeckter Mission im Grandhotel Giessbach eingesetzt hatte. Die Voraussetzungen hatten sich für das Deuxième Bureau verkompliziert, weil die Orion-Gesellschaft viel strengere Personenüberprüfungen anwandte. Wer im Entferntesten mit dem französischen oder auch dem deutschen Geheimdienst in Verbindung stehen könnte, ja sogar wer Franzose oder Deutscher war, wurde ausgeschlossen. Mit Claire aber hatte das Bureau regelrechtes Glück gehabt.

Unter Kollegen wurde zwar geunkt, sie sei nur deshalb durch das Raster der Orion gefallen, weil ihr niemand zutraue, für einen Geheimdienst zu arbeiten, was Claire ärgerte. Sie selbst schrieb es vielmehr ihrer wasserdichten Legende zu, die sie als gebürtige Welschschweizerin auswies, sowie dem Umstand, dass sie in ihrer Zeit beim Deutschen Geheimdienst Deutsch gelernt hatte. Während das Erste in keinster Weise zutraf, war sie doch in einem Dorf in der Nähe von Paris aufgewachsen, so war sie auf das Zweite, ihr Gespür für Sprachen, besonders stolz. Sie ging in den Ohren der Deutschschweizer als zweisprachig, als bilingue, durch.

Seit dem letzten Kongress bemühte sich die Orion-Gesellschaft verstärkt, ihr angeknackstes Verhältnis mit den französischsprachigen Landesgenossen zu kitten. So hatten sie dieses Mal auch mehr Romands zum Kongress eingeladen und auch mehr Personal aus der französischen Schweiz eingesetzt.

Während Claire als Einzige über Zugang zum Grandhotel verfügte, mussten ihre Genossen vom Bureau sich in Interlaken halten. Angeleitet von Meise, mit dem sie ein gutes Einvernehmen pflegte, auch wenn er erfahrungsgemäß ein ziemlich harter Hund sein konnte. Claire hegte den Verdacht, dass er ein wenig in sie verschossen war, so wie er sie bisweilen ansah.

»Warum bist du mit dem Zeppelin gereist?«, fragte er, als sie unbeobachtet waren. »Das war so nicht vorgesehen.«

»Ich habe Kontakt zu den Kongressmitgliedern aufgebaut und wurde zum Flug eingeladen. Wie hätte ich das ablehnen können?«

»Eingeladen? Du weißt schon, dass ein Platz frei geblieben ist?«

Claire zuckte die Schulter. Es war unerheblich, ob Bänzli junior für ihren Flug hatte bezahlen müssen oder nicht. Aber irgendwie wurmte es sie dann doch. »Immerhin habe ich etwas erreicht.«

»Ob das etwas taugt, was du erreicht hast, wird sich noch zeigen«, erwiderte Meise humorlos.

»Als ich erfahren habe, dass ihr ein Paket platziert habt, hat das meine Mission ruiniert.«

»Und so hast du es einfach aus dem Fenster geschmissen. Mein Späher hat die Explosion auf dem Thunersee beobachtet. Wie hast du davon erfahren?«

»Durch einen Genossen, der sich in Bern unter die Haltemannschaft für das Luftschiff gemischt hat.«

»Cédric, verdammt!«

»Ich war gezwungen zu improvisieren. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Was sollte das mit der Bombe überhaupt?«

»Das Deuxième Bureau hat seine Gründe. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Meise überlegte. »Ist jetzt ohnehin egal. Er war nicht an Bord.«

»Wer war nicht an Bord?«

»Vergiss es! Wurde vom Bureau als très secret eingestuft.«

Claire stampfte wütend auf. Wenn man von ihr verlangte, dass sie gute Arbeit leistete, brauchte sie Informationen. »Ich wäre dabei beinahe draufgegangen«, raunzte sie.

»Da hast du es! Also keine eigenmächtigen Aktionen mehr.«

»Aber wenn derjenige nicht an Bord war, ist es doch besser, dass das Luftschiff nicht explodiert ist.«

»Darum hätte es über dem Wasser geschehen sollen. Da gibt es keine Spuren bis auf ein paar Holzsplitter, die aufschwimmen.«

So richtig Sinn ergaben Meises Erklärungen nicht. Doch sie schwieg.

Meise machte eine Geste über seinen Bauchladen. »Jetzt such dir etwas aus. Wir müssen meine Tarnung aufrechterhalten.«

Als Claire zögerte, klaubte er ein rosa Papiersäckchen aus einem Fach. »Hier, nimm das.«

»Ich mag dein Magenbrot nicht.«

»Aber es muss aussehen, als ob du etwas kaufst.«

»Dann gib mir eine Zigarette.« Sie steckte sie zwischen die Lippen und nuschelte dann: »Und Feuer.«

Meise entflammte ein Zündholz, und Claire zog. Ein Kerl mit Schiebermütze kam herangeeilt und flüsterte Meise etwas ins Ohr. Meises Reaktion nach zu schließen, schien es sich um etwas Dringliches zu handeln. »Komm! Wir müssen nach Thun«, sagte er.

»Warum?«

»Ich setze dich unterwegs in Kenntnis.« Dann ging er davon.

Claire nahm noch einen Zug, schnippte die Kippe über die Wiese und folgte den beiden mit eiligen Schritten.

6

Donnerstag, 21. Mai 1914

»Plan B«, hatte der Funkspruch gelautet und: »Macht euch bereit, das Paket abzuliefern. Standuhr im Speisesaal – Feuerwerk beim Frühstück.«

Kurz darauf saßen die beiden Männer wie gewöhnliche Touristen auf dem Zweite-Klasse-Deck des Dampfschiffs und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Abseits von neugierigen Ohren und übertönt vom gleichmäßigen Stampfen der Maschinen aus dem Inneren des mächtigen Wasserfahrzeugs, prahlten sie von früheren Heldentaten, um sich die Zeit der Überfahrt zu verkürzen.

Sie kamen sich dabei vor wie Geheimagenten, unterwegs auf einer Mission. Nur dass sie das nicht waren. Sie gingen einer Gelegenheitsarbeit nach. Ihr Auftraggeber nannte sie »die Reserve«, und ihre Funktion bestand bisher nur darin, am Funkgerät auf Anweisungen zu warten. Diese hatten schnell kommen können oder auch nie. Es war ihnen einerlei, bezahlt wurden sie ohnehin für ihre Zeit, und das ganz ordentlich.

»Verstanden«, hatte ihre Antwort gelautet. Sie hatten den bereitstehenden Beutel gepackt und sich auf den Weg zum Schiffssteg gemacht, der nur wenige Minuten von ihrer Unterkunft entfernt war.

Ihr Auftraggeber nannte sich »Meise«. Ein Deckname, wie sie vermuteten. Wie er aussah, woher er kam und für wen er tätig war, wurde ihnen nicht mitgeteilt. Ein so fortschrittliches Gerät wie der Funkapparat und der Inhalt des Beutels ließen sie jedoch vermuten, dass es sich bei Meise um so etwas wie einen Geheimagenten handelte. Da war es doch auch nicht falsch, sich selbst als solche zu bezeichnen. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Sie mussten ja geheim bleiben. Pistolen, Messer und dergleichen bei sich zu tragen, wurde ihnen verboten. Schließlich mussten sie auch bei genauerer Betrachtung oder gar einer Leibesvisitation als gewöhnliche Kerle wahrgenommen werden. Dies leuchtete ihnen ein, und so hielten sie sich an die Anweisung.

Auch wenn ihnen das große Ganze, von dem sie Teil waren, vorenthalten wurde, war ihnen der Inhalt des Beutels, den sie mitführten, kein Geheimnis. Dieser bestand aus einer Uhr, einem Zündmechanismus und einem Bündel aus sechs Sprengstoffstangen.

Beim »Bonzenbunker« angelangt, wie sie das Grandhotel Giessbach nannten, herrschte emsiges Treiben. Optimale Bedingungen also, um im Speisesaal unerkannt ihre Aufgabe zu erledigen.

Die letzten Vorbereitungen bedurften keines allzu großen Geschicks. Die Weckuhr musste bloß noch gemäß den Anweisungen eingestellt und am Zünder angebracht werden. Jener wurde behutsam in das Paket eingeführt und alles zusammen im Unterbau der Standuhr positioniert. Der eine verrichtete am Boden kauernd die mehrmals eingeübten Handgriffe. Der andere stand daneben Schmiere, gab vor, das große Bild an der Wand zu betrachten, und verdeckte mit seiner Gestalt seinen Komplizen.

Alles ging wie geplant vonstatten. Ihnen blieb noch etwas Zeit, bis das nächste Schiff nach Interlaken ablegte. So mischten sie sich unter die ganzen Menschen auf der ausladenden Terrasse und schauten dem Treiben eine Weile zu. Ein fernes Brummen lag in der Luft, es schien sich zu nähern. Die Menschen schauten sich um und begaben sich zum hinteren Teil der Terrasse, wo man den See besser überblicken konnte.

»Zehn Minuten«, sagte der eine plötzlich.

»Was?«, fragte der andere.

»Du brüstest dich ja immer, ein begnadeter Langfinger zu sein. Eine kleine Wette gefällig?«

»Denkst du ernsthaft, du kannst mir das Wasser reichen?«

»Wir werden sehen. Wer in dieser Zeit mehr Goldkettchen, Ringe und Uhren abgenommen hat, hat gewonnen.«

»Und der Sieger kriegt was?«

»Ich kriege auch noch das, was du dir in die Tasche steckst.«

»Träum weiter. Dich stecke ich doch gleich mit in die Tasche.«

»Zehn Minuten ab jetzt?« Sie blickten beide auf ihre Uhren.

»Dann mal los.«

7

Donnerstag, 21. Mai 1914

Amanda Ammon nippte unter den beiden großen Buchen vor dem Grandhotel Giessbach an einer Tasse Tee. Hinter ihr rauschten die Kaskaden des Giessbachs und verliehen dem heiteren Frühlingsnachmittag diese besondere Atmosphäre, wie sie nur hier anzutreffen war. Es war der Tag der Abreise für die Übernachtungsgäste, denn sie mussten das Hotel für den bevorstehenden Kongress für Zukunftsbetrachtungen freigeben. Niemand hatte seinen Aufenthalt länger buchen können als bis zu diesem Tag, und es war erst nach dem Kongress wieder möglich zurückzukehren.