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Min Jin Lee

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Beschreibung

Amerikanischer Kapitalismus trifft koreanische Tradition Casey Han, Tochter koreanischer Einwanderer, hat sich den amerikanischen Traum zu eigen gemacht: Sie will reich und erfolgreich sein. Doch nach dem Studium hat sie noch keinen Job und lebt über ihre Verhältnisse – zum Ärger der Eltern, die große Opfer gebracht haben, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Während Casey vor der bunten Kulisse New Yorks einen Weg voller kleiner Triumphe und spektakulärer Misserfolge beschreitet, prallen Werte und Wünsche aufeinander.  Fesselnd und intelligent erzählt Min Jin Lee von einer orientierungslosen jungen Frau, ihrer Familie und ihren Freunden und enthüllt dabei Schicht für Schicht, wie eine Gemeinschaft sich an Traditionen klammert und Menschen zwischen zwei Welten gefangen sind.

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Min Jin Lee

Gratisessen für Millionäre

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Umma, Ahpa, Myung und Sang

»Unsere Kronen sind bereits gekauft und bezahlt – wir müssen sie nur noch tragen.«

James Baldwin[1]

BUCH ILEISTUNG

KAPITEL1:OPTIONEN

Begabung kann zu einem Fluch werden.

Als fähige junge Frau fühlte sich Casey Han dazu verpflichtet, nach Ansehen und Erfolg zu streben. Dabei sehnte sie sich nach Glamour und Erkenntnis. Aufgewachsen als koreanisches Einwandererkind in einem trostlosen Arbeiterviertel von Queens, hatte sie auf ein glückliches, glitzerndes Leben jenseits der arbeitsreichen Entbehrungen ihrer Eltern gehofft, die eine Textilreinigung in Manhattan betrieben.

Casey war für eine Koreanerin ungewöhnlich groß, beinahe ein Meter fünfundsiebzig, schlank und sehr auf ihr Erscheinungsbild bedacht. Sie trug ihr schwarzes Haar schulterlang, puderte sich sorgfältig die Nase und schminkte sich die Lippen ausnahmslos weinrot. Wegen ihrer Kurzsichtigkeit trug sie, um Geld zu sparen, zu Hause eine Brille, in der Öffentlichkeit hingegen Kontaktlinsen. Sie hielt sich selbst nicht für hübsch, glaubte jedoch eine Art Sex-Appeal zu haben, mit dem man arbeiten konnte. Sie bewunderte feminine Zurückhaltung und schaute auf Frauen herab, die versuchten, zu sexy zu wirken. Für eine Zweiundzwanzigjährige hatte sich Casey Han bereits zahlreiche Theorien über Schönheit und Sexualität zurechtgelegt, die Essenz ihrer Philosophie ließ sich jedoch damit zusammenfassen, dass angedeutete Reize den offen zur Schau getragenen überlegen waren. Casey hatte einmal gelesen, Jacqueline Kennedy Onassis habe Frauen geraten, sich nach dem Vorbild einer klassischen Säule zu kleiden, und befolgte diesen Ratschlag ohne Unterlass.

In der geräumigen, mit Linoleum ausgelegten Küche der mietpreisgebundenen Zweizimmerwohnung ihrer Eltern in Elmhurst wirkte Casey in ihrem weißen Leinenhemd und der weißen Baumwollhose fehl am Platz – sie sah aus, als würde man ihr gleich einen Gin Tonic auf einem Silbertablett servieren. Neben ihr am Resopal-Esstisch hätte ihr Vater, Joseph Han, auch gut und gern als ihr Großvater durchgehen können. Er füllte ein Glas mit Eis für seinen ersten Whiskey des Abends. Es war Samstag, und er war vor einer Stunde vom Wäschesortieren aus der Sutton-Place-Filiale zurückgekehrt, die er für Mr. Kang, einen wohlhabenden Koreaner und Besitzer von einem Dutzend Reinigungen, betrieb. Joseph und seine Tochter Casey wechselten kein Wort miteinander. Caseys jüngere Schwester Tina – Finalistin im Forschungswettbewerb der Bronx High School of Science, Vizepräsidentin des Campus für Christus am MIT und angehende Medizinstudentin – war der Liebling ihres Vaters. Als klassische koreanische Schönheit war Tina das Abbild ihrer Mutter Leah in deren Jugend.

Leah war eifrig damit beschäftigt, das erste Familienessen seit Monaten zuzubereiten, und sang dabei Kirchenlieder, während Tina Schalotten klein schnitt. Obwohl noch keine vierzig, hatte Leah vorzeitig ergrautes Haar, das ihre faltenfreie, blasse Stirn verdeckte. Mit siebzehn hatte sie den damals sechsunddreißigjährigen Joseph, einen engen Freund ihres ältesten Bruders, geheiratet. In der Hochzeitsnacht wurde Casey gezeugt, und zwei Jahre später kam Tina auf die Welt.

Es war ein Samstagabend im Juni und seit Caseys College-Abschlussfeier war exakt eine Woche vergangen. Die vier Jahre in Princeton hatten ihr eine kultivierte Ausdrucksweise, ein beneidenswertes Golf-Handicap, reiche Freunde, einen allseits beliebten weißen Freund, die heimliche Leidenschaft einer Agnostikerin fürs Bibellesen und einen Abschluss magna cum laude in Wirtschaftswissenschaften eingebracht. Dafür hatte sie jedoch keinen Job und eine ganze Reihe schlechter Angewohnheiten.

Virginia Craft, Caseys Mitbewohnerin in den letzten vier Jahren, hatte sie von der Angewohnheit abzubringen versucht, die ihr jetzt, während sie neben ihrem grüblerischen Vater saß, gehörig zu schaffen machte. In diesem Moment hätte Casey für eine Zigarette ihren Körper verkauft. Der Gedanke daran, sich nach dem Essen auf dem Dach des Wohnhauses eine anzuzünden, war alles, was sie in ihrem Stuhl hielt – die nackten Füße sanft auf den Boden tippend. Die College-Absolventin plagten jedoch andere Probleme, die sich nicht durch eine Kippe lösen ließen. Da sie keine Arbeit hatte, war sie in die Zweizimmerwohnung ihrer Eltern in der Van Kleeck Street zurückgezogen. Vor siebzehn Jahren, am zweihundertjährigen Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeit, war die vierköpfige Familie in die USA ausgewandert. Und Leahs schreckliche Angst vor Veränderungen hatte sie seitdem in ein und derselben Wohnung festgehalten. Hier wirkte alles eher mitleiderregend.

Unter anderem das Rauchen schmälerte Caseys Gefühl, ein ehrlicher Mensch zu sein. Sie rühmte sich gern mit ihrer Aufrichtigkeit, führte ihre Eltern jedoch oft hinters Licht. Ihr größtes Geheimnis war Jay Currie – ihr amerikanischer weißer Freund. Nachdem sie vergangenen Sonntag sehr schönen Sex gehabt hatten, hatte er sich mit dem Ellbogen auf dem Kissen aufgestützt, den Kopf auf seine Hand gebettet und vorgeschlagen: »Zieh bei mir ein. Stell dir nur mal vor, Miss Han: Geschlechtsverkehr, wann immer du willst.« Ihre Eltern ahnten ebenso wenig, dass sie keine Jungfrau mehr war und seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr die Pille nahm. Zu Hause zu sein verunsicherte Casey, und sie hatte das ständige Bedürfnis, ihre Taschen nach Streichhölzern abzuklopfen. Folglich stellte sie fest, dass sie Princeton vermisste – sogar die kläglichen Mahlzeiten im Speisesaal ihres Eating-Clubs »Charter«. Von Nostalgie konnte sie sich jedoch nichts kaufen. Sie brauchte einen Plan, um Elmhurst zu entkommen.

Im vergangenen Frühling hatte sie sich entgegen Jays Rat bei nur einem Investmentbanking-Programm beworben. Nachdem alle Anmeldelisten bereits voll waren, hatte sie erfahren, dass Kearn Davis unter den Wirtschaftsabsolventen von 1993 die begehrteste Bank war. Doch sie wusste, dass ihre Noten besser waren als Jays und war sich sicher, dass sie alles verkaufen könnte. Beim Vorstellungsgespräch begrüßte Casey die zwei Mitarbeiterinnen in einem gelben Seidenanzug und riss einen Nancy-Reagan-Witz in der Hoffnung, dadurch eine feministische Verbindung herzustellen. Die beiden Frauen trugen marineblaue und dunkelgraue Wollkostüme und ließen Casey in nur fünfzehn Minuten auflaufen. Auf dem Weg nach draußen winkten sie ihr zu, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Hand zu schütteln.

Ihr blieb immer noch das Jurastudium. Sie war an der Columbia angenommen worden. Doch die Väter ihrer Freunde waren überarbeitete Anwälte – ihr Leben wirkte wenig attraktiv. Caseys Kanzleikundschaft bei Sabine’s, dem Modekaufhaus, wo sie neben dem Studium an den Wochenenden gearbeitet hatte, riet ihr: »Um Geld zu verdienen, geh an die Business School. Um Leben zu retten, an die Med School.« Die unheilige Dreifaltigkeit aus Jura, BWL und Medizin schien der einzige Glaube in dieser Stadt zu sein. Für ein Einwanderermädchen aus einem Arbeiterviertel New Yorks schien es arrogant, womöglich sogar töricht, ihren eigenen Weg gehen zu wollen. Nichtsdestotrotz war Casey noch nicht bereit, ihren Traum für ein sicheres Einkommen aufzugeben, so vage er auch sein mochte. Ohne das Wissen ihres Vaters hatte sie die Universität gebeten, ihr den Platz für ein Jahr freizuhalten.

Ihre Mutter sang mit ihrer bemerkenswerten Stimme ein Loblied, während sie Schalottensoße über die gebackene Meerbrasse schöpfte. Sie trillerte am Ende der Strophe: »Waking or sleeping, thy presence my light«, und setzte dann mit einem leisen Atemzug von Neuem an: »Be thou my wisdom, and thou my true word …«. Sie hatte an diesem Tag früh Feierabend gemacht, um einzukaufen und die Lieblingsgerichte ihrer Töchter zuzubereiten. Tina, ihr Baby, war am Donnerstagabend heimgekehrt, und nun waren ihre beiden Mädchen zu Hause. Ihr war warm ums Herz, und sie betete, dass Joseph in einer guten Stimmung sein würde. Sie warf einen prüfenden Blick auf den Füllstand des Whiskeys in der karaffengroßen Flasche Dewar’s. Seit dem Abend zuvor hatte er sich nicht groß verändert. In zweiundzwanzig Jahren Ehe hatte Leah verstanden, dass es besser war, wenn Joseph ein oder zwei Gläser beim Abendessen trank. Ihr Ehemann war kein Trinker – einer, der Bars aufsuchte, sich herumtrieb oder seinen Gehaltsscheck verlor. Er schuftete hart. Ohne seinen Whiskey konnte er jedoch nicht einschlafen. Eine ihrer Schwägerinnen hatte ihr einmal erklärt, wie man einen Mann bei Laune hielt: »Verweigere einem Mann niemals seinen kimbop, Sex und Schlaf.«

Leah, die eine blaue Schürze über ihrem violetten Hauskleid trug, stellte den Fisch auf den Tisch. Als sie sah, dass Casey sich zum zweiten Mal Wasser nachschenkte, presste sie die Lippen zusammen, was ihrem weichen, ovalen Gesicht eine gewisse Strenge verlieh. Mr. Jun, der greise Chorleiter, hatte sie auf diesen nervösen Tick vor ihren Solos hingewiesen und gerufen: »Zeig uns deine Freude! Du singst für Gott!«

Tina, der nie etwas entging, dachte natürlich, dass Casey geradezu provozierte. Sie selbst war abgelenkt von angenehmen Gedanken an ihren Freund, Chul, dem sie versprochen hatte abends anzurufen, und dennoch konnte sie Caseys innere Unruhe spüren. Vielleicht würde ihre Schwester berücksichtigen, wie viele Umstände sich ihre Mutter mit dem Abendessen gemacht hatte.

Es war das Wassertrinken – diese scheinbar harmlose Handlung. Joseph war immer der Meinung gewesen, die Mädchen müssten am Tisch herzhaft zugreifen, sich dankbar für das Essen und die dafür aufgebrachte Mühe zeigen, doch Casey stocherte für gewöhnlich bloß in ihrem Essen herum, und er führte ihren schlechten Appetit auf ihren maßlosen Wasserkonsum zurück. Casey stritt diesen Vorwurf ab, dabei hatte ihr Vater recht. Noch auf der Junior High hatte sie in einem Modemagazin gelesen, dass man weniger aß, wenn man vor einer Mahlzeit drei Gläser Wasser trank. Casey musste hart dafür arbeiten, in Größe 38 oder kleiner zu passen, schließlich war sie ein hochgewachsenes Mädchen. Ihr Gewicht variierte außerdem um zwei bis drei Kilo, je nachdem, wie viel sie rauchte. Ihre Mutter hielt die viele Beschäftigung schlank, und ihre jüngere Schwester, die nach dem kleineren Vater kam, war von normaler Statur und hielt nichts von Diäten. Die brillante Schülerin in den Fächern Physik und Philosophie hatte Casey einmal ausgeschimpft, als diese ein Weight-Watchers-Programm befolgte: »Die Welt versinkt im Hunger. Wie kannst du da freiwillig für deinen eigenen sorgen?«

Caseys Wasserkonsum am Tisch entging auch ihrem Vater nicht.

Mit ein Meter sechzig war Joseph kompakt gebaut, doch seine voluminöse, dröhnende Stimme ließ ihn wie einen sehr viel größeren Mann klingen. Abgesehen von einem Büschel flaumiger Härchen am Hinterkopf war er kahl, und seine Glatze störte ihn nicht, außer wenn er im Winter einen großen grauen Filzhut tragen musste, um seinen Kopf und seine groß geratenen Ohrläppchen vor der Kälte zu schützen. Er war erst achtundfünfzig, sah jedoch älter aus, eher wie ein robuster Siebzigjähriger, vor allem neben seiner jungen Frau. Leah war seine zweite Ehefrau. Seine erste, ein Mädchen in seinem Alter, das er innig geliebt hatte, war ein Jahr nach ihrer Hochzeit, und bevor sie ihm Kinder geboren hatte, an Tuberkulose gestorben. Joseph verehrte seine zweite Frau, womöglich umso mehr aufgrund seines Verlusts. Er schätzte Leahs robuste Gesundheit und ihr frommes christliches Wesen, und er fühlte sich nach wie vor von ihrem hübschen Gesicht und ihrer zierlichen Gestalt angezogen, die über ihre Widerstandsfähigkeit hinwegtäuschten. Jeden Freitagabend machte er Liebe mit ihr. Sie hatte ihm zwei Töchter geschenkt, auch wenn die ältere ihrer Mutter so gar nicht ähnlich sah.

Casey leerte ihr Wasserglas und stellte es zurück auf den Tisch. Dann griff sie nach der Karaffe.

»Ich bin nicht Rockefeller, weißt du?«, sagte Joseph.

Caseys Vater blickte sie nicht an, doch die Worte waren an sie gerichtet. Niemand sonst war im Raum, dem man hätte erklären müssen, dass sie keinen Treuhandfonds besaß. Sogleich begaben sich Leah und Tina vom Küchentresen zu ihren Plätzen am Tisch, in der Hoffnung, so die Spannung aufzulösen. Leah öffnete den Mund, um etwas zu sagen, zögerte dann aber.

Casey füllte ihr Glas erneut mit Wasser auf.

»Ich kann dich nicht ewig durchfüttern«, sagte er. »Dein Vater ist kein Millionär.«

Caseys erster Gedanke war: Und wessen Schuld ist das?

Tina wusste, wann man lieber schwieg. Sie faltete ihre dünne Papierserviette auseinander und breitete sie auf ihrem Schoß aus. In Gedanken ging sie die Zehn Gebote durch – wie immer, wenn sie nervös war. Wenn sie besonders angespannt war, rezitierte sie lautlos das apostolische Glaubensbekenntnis und gleich darauf das Vaterunser.

»Als ich so alt war wie du, habe ich auf der Straße –kimbop verkauft. Nicht ein Stück«, Joseph hob dramatisch die Stimme, »nicht ein Stück konnte ich mir selbst von dem leisten, was ich verkaufte.« Er verlor sich in der Erinnerung, wie er in einer staubigen Ecke des Marktplatzes von Busan stand, auf Kundschaft wartete und die Straßenkinder verscheuchte, die noch hungriger waren als er.

Mit zwei Löffeln befreite Leah den Fisch von seinem Skelett und servierte ihn zuerst Joseph. Casey fragte sich, warum ihre Mutter diese ausschweifende Erinnerungsschwelgerei nie unterband. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich unzählige Monologe über die Entbehrungen ihres Vaters anhören müssen. Ende 1950 wurde dem sechzehnjährigen Joseph – dem Sprössling einer reichen Händlerfamilie – eine zeitweilige Ausreise in den Süden ermöglicht, um seine Einberufung in die Rote Armee zu verhindern. Wenige Wochen nachdem der Junge in Busan, an der südlichsten Spitze des Landes, angekommen war, spaltete der Krieg jedoch die Nation entzwei, und er sah seine Mutter, seine sechs älteren Brüder und zwei Schwestern wie auch das Familienanwesen nahe Pjöngjang nie wieder. Als Kriegsflüchtling ernährte sich der einst verwöhnte Jugendliche von Müll, schlief an kalten Stränden und hielt sich in verschmutzten Lagern auf, wo er leichte Beute für die älteren Flüchtlinge war, die jeglichen Verstand und jede Moral verloren hatten. 1955, zwei Jahre nach Kriegsende, starb seine junge Braut. Ohne Geld und Unterstützung gab er die Hoffnung auf, Arzt zu werden. Da er nicht hatte studieren können, ließ er sich von amerikanischen Soldaten mit einem kleinen Trinkgeld für Botengänge bezahlen, ignorierte seine andauernden Albträume, arbeitete als Straßenverkäufer und brachte sich selbst mithilfe eines Wörterbuchs Englisch bei. Bevor er mit seiner Frau und zwei kleinen Mädchen nach Amerika kam, hatte er zwanzig Jahre lang als Vorarbeiter in einer Glühbirnenfabrik außerhalb Seouls gearbeitet. Leahs ältester Bruder Hoon – der erste Freund, den Joseph im Süden gewonnen hatte – unterstützte sie bei der Einwanderung nach New York und gab ihnen ihre amerikanischen Vornamen. Zwei Jahre später war Hoon an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Alle schienen Joseph wegzusterben. Er war der letzte Verbliebene aus seinem Familienclan und hatte keine männlichen Nachkommen.

Das Leid ihres Vaters war Casey nicht gleichgültig. Sie hatte jedoch entschieden, dass sie nichts mehr davon hören wollte. Seine Verluste waren nicht die ihren, und sie wollte sie nicht länger mittragen. Sie befand sich in Queens, und zwar im Jahr 1993. Am Tisch schrieb man jedoch das Jahr 1953, und der Koreakrieg wollte kein Ende nehmen.

Joseph setzte an, die Geschichte von der weißen Jadebrosche seiner Mutter zu erzählen, dem letzten Gegenstand, der ihm von ihr geblieben war. Natürlich hatte er sie verkaufen müssen, um Medikamente für seine erste Frau zu kaufen, die letztlich doch gestorben war. Ja, ja, wollte Casey sagen, Krieg war brutal und Armut grausam, aber genug davon. Sie würde nie so leiden wie er. War das nicht schließlich der Grund, weshalb sie nach Amerika gekommen waren?

Casey rollte mit den Augen, und Leah wünschte, sie würde es nicht tun. Ihr machten diese Geschichten wirklich nichts aus. Leah stellte sich Josephs erste Frau als eine Art invalide Heilige vor. Es gab keine Fotos von ihr, aber Leah war überzeugt, dass sie hübsch gewesen war – wie alle romantischen Heldinnen. Eine Frau, die so jung (erst zwanzig Jahre alt) gestorben war, musste freundlich, gütig und schön gewesen sein, dachte Leah. Josephs Geschichten waren seine Art und Weise, die Erinnerungen lebendig zu halten. Er hatte alle verloren, und sein unruhiger Schlaf verriet ihr, dass ihn die japanische Okkupation und der Krieg nachts einholten. Seine Mutter und seine erste Frau waren diejenigen, die er als junger Mann am meisten geliebt hatte. Und Leah wusste, was Trauer bedeutete. Sie selbst hatte im Alter von acht Jahren ihre Mutter verloren. Sie wusste, wie es war, sich nach der Mutter zu sehnen, nach dem Geruch ihrer Haut oder dem rauen Gefühl ihres chima-Stoffs am Gesicht, sich abends hinzulegen, die Augen fest zu schließen und sich zu wünschen, sie würde im Morgengrauen an der Pritschenkante sitzen. Ihre Mutter war auch an Tuberkulose gestorben, daher vermischte sich ihr Bild in Leahs Vorstellung mit Josephs erster Frau.

Joseph lächelte Tina reumütig an. »In der Nacht, bevor ich das Schiff bestieg, nähte meine Mutter zwanzig Goldringe ins Futter meines Mantels ein. Sie hatte unglaublich geschwollene Finger vom Rheuma, und normalerweise erledigten die Dienstmädchen die Näharbeiten, aber …« Er hob seine rechte Hand, als könnte er die Hand seiner Mutter anstelle seiner heraufbeschwören, und umschloss sie dann mit seiner linken. »Sie packte jeden Ring in Watte, damit es nicht klimperte, wenn ich mich bewegte.« Joseph bewunderte die Raffinesse seiner Mutter und erinnerte sich lebhaft daran, wie er jedes Mal, wenn er einen Ring verkaufen musste, den weißen Deckenfaden auftrennte, den sie mit ihrer schweren Nadel in den Mantelstoff eingenäht hatte. »Sie sagte zu mir: ›Jun-oh-ah, verkauf die Ringe, wann immer du musst. Iss eine gute warme Mahlzeit. Wenn du zurückkehrst, mein Junge, werden wir ein großes Festessen veranstalten.‹« Das gelbliche Weiß in Josephs Augen wurde glasig.

»Sie löste die Brosche von ihrem choggori und gab sie mir. Seht ihr, ich verstand es nicht. Ich dachte, ich würde nach ein paar Tagen wieder heimkehren. Höchstens drei oder vier.« Seine Stimme wurde weicher. »Sie rechnete nicht damit, dass ich die Brosche verkaufe. Die Ringe, ja, aber nicht …«

Casey holte tief Luft und atmete aus. Sie hörte diese Erzählung bestimmt schon zum dreißigsten Mal. Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß. Nicht die Brosche«, sagte sie.

Entsetzt stieß Tina ihr Knie gegen Caseys.

»Was hast du gesagt?« Josephs fein geschnittene schmale Augen zogen sich näher zusammen. Sein trauriger Gesichtsausdruck wich einem kalten.

»Nichts«, sagte Casey. »Nichts.«

Leah flehte ihre Tochter mit stummem Blick an und hoffte, sie würde sich zügeln. Casey weigerte sich jedoch, sie zu bemerken.

Joseph nahm sein Glas in die Hand, um zu trinken. Er wollte weiter in der Erinnerung an seine Mutter schwelgen, die laubgrüne Seide ihrer Jacke, das kühle Weiß der Brosche vor seinem inneren Auge sehen. Er würde nie den Tag vergessen, an dem er den Juwelier mit dem bisschen Geld im Austausch für die Brosche verließ, seine hastigen Schritte zur Kräuterheilkundigen, um jene übel riechenden Zweige und Blätter zu kaufen, die seine Frau am Ende doch nicht heilen konnten.

Um für Ablenkung zu sorgen, zog Leah ihre Schürze aus und faltete sie aufwendig. »Würdest du für uns das Gebet sprechen, Tina?«, fragte sie.

Tina hätte alles getan, damit Casey sich beherrschte. Sie strich ihr dickes schwarzes Haar zur Seite und senkte den Kopf. »Himmlischer Vater, wir danken Dir für dieses Essen. Wir danken Dir für Deine zahlreichen Segen. Führe uns, oh Herr, zum guten Dienst an Dir. Zeige uns Deinen Willen, lass unser Herz und unseren Verstand damit eins werden. Wir beten im Namen unseres geliebten Erlösers Jesus Christus, unseres Herrn und Heilands. Amen.« Insgeheim wollte Tina von Gott wissen, wie sie mit Chul verfahren sollte – wie sie sein Interesse aufrechterhalten konnte, ohne vorehelichen Sex mit ihm zu haben, oder ob er der Mann war, dem sie sich hingeben sollte. Tina wünschte sich ein höheres Zeichen; sie hatte in ihren Gebeten seit Monaten um Führung gefleht, doch sie konnte nichts wahrnehmen außer ihrem eigenen brennenden Verlangen nach diesem jungen Mann.

Leah lächelte erst Tina, dann Casey zu. In ihrem Herzen betete auch sie: Lieber Gott, lass mich Dir danken, denn endlich sind wir alle vereint.

Bevor sie anfangen konnten zu essen, sprach Joseph: »Also, was hast du vor?«

Casey starrte auf den Dampf, der aus ihrer Reisschüssel emporstieg. »Ich dachte, ich finde es im Laufe des Sommers heraus. Im Moment stellt niemand ein, aber am Montag gehe ich in die Bibliothek, um ein paar Bewerbungen für Jobs zu schreiben, die im Herbst beginnen. Sabine sagte auch, ich könnte ein paar zusätzliche Stunden unter der Woche bekommen, falls jemand aufhört. Vielleicht könnte ich in einer anderen Abteilung arbeiten, wenn sie –«

»Du kennst die Optionen«, sagte er.

Casey nickte.

»Ein richtiger Job«, sagte ihr Vater. »Oder Jura. Hüte verkaufen ist kein richtiger Job. Acht Dollar die Stunde zu verdienen, nachdem man eine Ausbildung im Wert von achtzigtausend Dollar absolviert hat, ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Wozu hast du Princeton besucht, wenn du danach Haarnadeln verkaufst?«

Casey nickte wieder und biss sich auf die Unterlippe. Das Blut wich aus ihrem Gesicht und ließ sie blass werden.

Leah musterte Josephs Gesichtsausdruck. Könnte sie gefahrlos etwas sagen? Er hasste es, wenn sie für die Mädchen Partei ergriff.

»Die Abschlussfeier war erst letzte Woche«, wagte sie sich vor. »Vielleicht sollte Casey sich ein wenig zu Hause ausruhen. Bloß lesen und terebi schauen.« Ihr stockte die Stimme. Sie lächelte ihrer Tochter zu. »Sie hat so viele Prüfungen gehabt.« Sie versuchte, ihre Stimme zu festigen und so zu klingen, als wäre es in ihrer Familie das Normalste der Welt, dass man sich nach dem College-Abschluss Zeit nimmt, um herauszufinden, was man tun möchte. Casey starrte auf ihre Reisschüssel, nahm ihren Löffel jedoch nicht in die Hand. »Wieso lässt du sie nicht erst mal essen?«, sagte Leah vorsichtig. »Sie ist bestimmt müde.«

»Müde? Von diesem Country Club?«, spottete Joseph angesichts dieser absurden Aussage.

Leah verstummte. Es war zwecklos. Sie sah ihm an, dass er ihr weder zuhören noch in Anwesenheit der Mädchen Zugeständnisse machen würde. Vielleicht könnte Tina die Unterhaltung in eine andere Richtung lenken. Allerdings machte diese den Eindruck, mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein, während sie mit geschlossenem Mund ihren Reis kaute. Schon als Kind war Tina eine gute Esserin gewesen.

Casey musterte die weißen Wände. Jeden Samstagabend pflegte ihre Mutter die Glanztapete mit Allzweckreiniger abzuwischen.

»Wieso bist du so müde?«, fragte Joseph Casey, erzürnt darüber, dass sie ihn ignorierte. »Ich rede mit dir«, sagte er.

Sie funkelte ihn wütend an. Es reicht, dachte sie. »Studieren ist Arbeit. Ich habe schon immer hart gearbeitet … genauso hart, wie du im Laden arbeitest. Vielleicht sogar härter. Weißt du, was es für mich bedeutet hat, auf eine solche Uni gehen zu müssen? Von Leuten umgeben zu sein, die in Exeter oder Hotchkiss zur Schule gegangen sind, deren Eltern Mitglieder in Country Clubs sind und deren Väter bloß einen Anruf machen müssen, um ihnen den Arsch zu retten? Weißt du, wie es ist, Bestnoten zu bekommen, Freunde zu finden und zu behalten, wenn alle dich für einen Niemand halten, weil du aus dem Nichts kommst? Ich habe erlebt, dass Kommilitonen vor mir zurückgewichen sind, als wäre ich ungewaschen, nachdem ich ihnen erzählt hatte, dass du eine Reinigung betreibst. Hast du die leiseste Ahnung, wie es ist, wenn Menschen, die auf einer Augenhöhe mit dir sein sollten, durch dich hindurchsehen, als wärst du aus Glas und als wäre etwas Dreckiges in dir? Kannst du dir das vorstellen?« Inzwischen schrie Casey. Sie hob die rechte Hand, als wollte sie ihn schlagen, und zog sie dann, erschrocken über sich selbst, wieder zurück. Sie griff sich an die Brust und zitterte unwillkürlich.

»Was? Was willst du von mir?«, fragte sie schließlich.

»Was ich von dir will?« Joseph wirkte verwirrt. Er wiederholte sich. »Was ich von dir will?« Er wandte sich an Leah. »Hörst du, was sie zu mir sagt?« Dann murmelte er: »Ich sollte sie und mich einfach auf der Stelle umbringen und dem Ganzen ein Ende bereiten.« Sein Blick glitt über den Tisch, als suchte er nach einer Waffe. Dann schrie er: »Was zur Hölle ich von dir will?« Mit beiden Händen stieß er den Tisch von sich weg. Die Gläser klirrten gegen die Teller. Suppe schwappte aus den Schüsseln. Joseph konnte die Unverfrorenheit seiner Tochter nicht fassen.

»Was ich von dir will?«

»So hab ich das nicht gemeint, verdammt.« Casey versuchte, das Beben ihrer Stimme zu unterdrücken, und zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Hab keine Angst, sagte sie sich, hab keine Angst.

Leah rief auf Koreanisch: »Casey, halt den Mund. Halt den Mund.« Wie konnte das Mädchen nur so dumm sein? Was brachte es ihr, gut in der Schule zu sein, wenn sie kein Verständnis für Timing oder den raffinierten Umgang mit schwierigen Menschen hatte? Ihre ältere Tochter war wie ein wütendes Tier, und Leah fragte sich, wieso sie nicht hatte verhindern können, dass sie Joseph in dieser Hinsicht so ähnlich geworden war. Ein Mann durfte eine solche Wut in sich haben, aber eine Frau, nein, eine Frau durfte nicht mit einem solchen Zorn leben – so lief es in der Welt. Wie würde Casey überleben?

Joseph erhob sich. »Steh auf«, sagte er und bedeutete Casey mit einer Geste sich zu erheben.

Leah versuchte, ihn wieder zum Sitzen zu bewegen. »Yobo …« Sie flehte ihn an und bekam mit ihren Fingern die Gürtelschlaufe seiner Hose zu fassen, doch er schlug ihre Hand weg und stieß sie zurück auf ihren Platz.

Casey stand von ihrem Stuhl auf und steckte eine lose Haarsträhne hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war.

»Dummes Mädchen, setz dich wieder hin«, rief Leah in der Hoffnung, Casey würde von den beiden die Vernünftigere sein. »Yobo«, flehte sie. »Das Abendessen …« Sie schluchzte.

»Komm her«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Was?«, begann er und blickte starr aus seinen glänzenden Augen. »Du denkst, du weißt mehr über das Leben und wie du es führen solltest?« Er befürchtete seit Langem, dass seine höher gebildeten Kinder sich ihm eines Tages überlegen fühlen könnten, doch er hätte sie nie davon abgehalten, ganz nach oben zu streben. Allerdings hatte er nicht erwartet, wie brutal es sich anfühlen würde, von seiner eigenen Tochter so herablassend behandelt zu werden – dass sie glauben würde, ihm in Erfahrung, erlittenem Leid und den Dingen, die er gesehen hatte, ebenbürtig zu sein. Er konnte selbst hören, wie sein koreanischer Akzent seine englischen Worte verschmutzte, und er bereute, dass er immer gefordert hatte, sie sollten zu Hause Englisch sprechen. Er hatte es zu ihrem Wohl getan – damit sie sich vor den Amerikanern nicht so lächerlich machen würden wie er. Joseph bereute so viele Dinge.

Zögernd schüttelte Casey den Kopf von einer Seite zur anderen. Sie konnte kaum glauben, was für ein Arschloch er war. Er war so unfair.

Tina drückte die feinen Züge ihres ovalen Gesichts auf ihre gefalteten Hände. Von ihrem Stuhl aus konnte sie die Hitze wahrnehmen, die von Caseys langem Körper ausging, als sie sich ihrem Vater näherte. Seit ihrer Highschool-Zeit hatte Casey sich ein oder zweimal im Jahr mit Joseph gestritten. Und mit jedem Jahr war die Wut ihrer Schwester auf ihren Vater gewachsen und hatte sich zu etwas Hartem und Unversöhnlichem zusammengeballt. In der neunten Klasse war Tina bei einem mehrtägigen Schulausflug in Boston gewesen und hatte in einem Museum eine echte Kanonenkugel gesehen. Sie konnte sich ein solches Ding in Caseys Bauch vorstellen, eingebettet zwischen ihren fingerschmalen Rippenbögen. Doch was auch immer geschah, Tina liebte ihre Schwester abgöttisch. Selbst jetzt, da Casey vor ihrem Vater stand und eine schmerzhafte Strafe erwartete, lag in ihrer aufrechten Haltung eine offensichtliche Anmut. Ihr ganzes Leben lang hatte Tina Casey studiert, und nun war es nicht anders. Caseys weißes Leinenhemd hing locker an ihrer schlanken Gestalt herab, die Ärmel waren hochgekrempelt, als wollte sie gleich einen Pinsel in die Hand nehmen, um ein Bild zu malen, und ihre schmalen weißen Handgelenke waren mit den beiden Silberreifen geschmückt, die sie seit der Highschool trug – ein teures Geschenk ihrer Chefin Sabine.

Tina flüsterte: »Casey, wieso setzt du dich nicht hin?«

Ihr Vater ignorierte sie ebenso wie Casey.

Joseph senkte die Stimme. »Du weißt nicht, wie es ist, keinen Schlafplatz zu haben. Du weißt nicht, wie es ist, so hungrig zu sein, dass du stehlen würdest. Du hattest noch nicht mal einen Job, außer im Geschäft dieser Sook-ja Kennedy«, sagte er.

»Nenn sie nicht so. Ihr Name ist Sabine Jun Gottesman.« Sie spuckte jede Silbe des Namens ihrer Chefin aus wie Pfeile, hielt sich jedoch davon ab, hinzuzufügen: Wie kannst du nur so undankbar sein? Schließlich hatte Sabine seiner Tochter einen flexiblen Job gegeben, mit großzügigen Boni, die ihre Bücher und ihre Kleidung finanzierten – bloß weil Sabine und Leah in Korea dieselbe Grundschule besucht hatten. Die beiden waren damals nicht einmal Freundinnen gewesen – sie waren lediglich zwei koreanische Mädchen aus derselben Heimatstadt, die sich als erwachsene Frauen zufällig auf der anderen Seite der Welt über den Weg gelaufen waren – ausgerechnet bei Macy’s am Herald Square vor der Elizabeth-Arden-Ladentheke. Sabine hatte selbst vorgeschlagen, Leahs Tochter in ihrem Geschäft einzustellen. Und im Laufe der Jahre hatte die kinderlose Sabine Casey unter ihre Fittiche genommen – so wie sie es mit vielen ihrer jungen Angestellten tat. Sie kaufte ihr kostbare und schöne Dinge, einschließlich der italienischen Hornbrille, die Casey an diesem Abend trug. Die Brille hatte inklusive der verschriebenen Gläser 400 Dollar gekostet. Sabine hatte Casey besser behandelt als irgendjemand sonst, und sie konnte es nicht ertragen, dass ihr Vater das nicht sah.

»Ich musste ja für Sabine arbeiten. Ich hatte keine andere Wahl, oder?«

Joseph blickte zu den Deckenplatten in ihrer Küche auf. Er atmete aus, die Unverfrorenheit dieses Kindes machte ihn fassungslos.

Plötzlich hatte Casey Mitleid mit ihm, denn solange sie zurückdenken konnte, hatte es ihnen immer an Geld gefehlt, und ihr Vater schämte sich dafür. Ihr Großvater väterlicherseits war wohl sehr reich gewesen, doch er war gestorben, bevor ihr Vater die Gelegenheit hatte, ihn wirklich kennenzulernen. Joseph glaubte, dass alles anders gekommen wäre, wenn sein Vater ihm erklärt hätte, wie ein Mann zu Geld kam. In Wahrheit hatte Casey ihren Eltern nie die Schuld dafür gegeben, dass sie nicht wohlhabender waren, denn sie arbeiteten so hart. Geld war etwas, das man entweder hatte oder nicht hatte. Letztlich war für sie an der Uni die Rechnung aufgegangen: Princeton hatte ihr beinahe alles finanziert und ihre Eltern jeglichen Anteil beglichen, um den sie gebeten wurden, also hatte sie keinen Studienkredit aufnehmen müssen. Über die Uni war sie zum ersten Mal in ihrem Leben krankenversichert gewesen und hatte somit Zugang zu günstigen Verhütungsmitteln. Um Geld für Bücher, Kleidung und Freizeitvergnügen zu verdienen, nahm sie jedes Wochenende den Zug in die Stadt und arbeitete bei Sabine’s.

»Ich … ich …« Casey überlegte, wie sie das Gesagte wieder zurücknehmen konnte, doch ihr fiel nichts ein.

Joseph sah ihr geradewegs ins Gesicht und musterte den Trotz, der sich darin spiegelte. »Nimm deine Brille ab«, sagte er.

Casey zog das Schildpatthorngestell von ihrer Nase. Sie blinzelte ihren Vater an. Von ihrem Standpunkt aus, keinen Meter von ihm entfernt, konnte sie sein Gesicht noch deutlich erkennen: die gewellten Falten, die sich auf seiner verbitterten Stirn abzeichneten, die großen, stattlichen Ohren, die mit Leberflecken gesprenkelt waren, und seinen strengen Mund – der einzige Gesichtszug, den sie von ihm geerbt hatte. Casey legte ihre Brille auf den Tisch. Ihr Gesicht hatte jetzt die Farbe von gebleichtem Pergament angenommen; einzig der Lippenstift verlieh ihm noch Farbe. Casey wirkte nicht ängstlich, vielmehr resigniert.

Joseph hob die Hand und schlug ihr mit offener Handfläche auf den Mund.

Sie hatte den Schlag erwartet, und als er sie traf, war sie beinahe erleichtert. Jetzt war es vorbei, dachte sie. Casey fasste sich mit der linken Hand an die Wange und schaute weg, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Es herrschte stets betretene Stille, nachdem er sie geschlagen hatte. Sie nahm den Schmerz kaum wahr, obwohl er kräftig zugelangt hatte. Casey beobachtete sich selbst und wünschte sich, die Person, die sie beobachtete, und der Körper, in dem sie sich befand, könnten sich vereinen und zu einer Entscheidung kommen. Was tun?, fragte sie sich.

»Du denkst, gute Noten bekommen und Hüte verkaufen ist Arbeit? Denkst du, du könntest eine Stunde da draußen überleben? Ich schicke dich aufs College. Deine Mutter und ich bringen für die Mittagspause Essen von zu Hause mit oder teilen uns ein Sandwich, damit du und Tina Geld für die Schule habt, und du lernst nichts außer schlechten Manieren. Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, so mit deinem Vater zu sprechen?«

Leah wollte dem Ganzen ein Ende bereiten und erhob sich noch einmal von ihrem Stuhl, aber Joseph schubste sie wieder zurück.

Dann schlug er Casey erneut. Dieses Mal wankte Caseys Oberkörper ein wenig. In ihren Ohren dröhnte es. Sie erlangte ihr Gleichgewicht wieder, indem sie ihren Kiefer zusammenpresste und ihre Fäuste fester zusammenballte. Warum tat er das? Ja, er wollte keine Widerworte von ihr hören. Als ihr Vater verdiente er Respekt und Gehorsam – dieser konfuzianische Mist war ihr von Kindesbeinen an eingebläut worden. Dieses Ritual, bei dem er sie einen Kopf kürzer machte, hatte sich jedoch schon so oft wiederholt und lief immer gleich ab: Er schlug sie, und sie ließ ihn. Sie konnte ihren Mund nicht halten, obwohl es vernünftig gewesen wäre, jedenfalls gab Tina nie Widerworte und wurde nie geschlagen. Plötzlich, als wäre ein Schalter umgelegt worden, beschloss Casey, dass sie seine Sicht der Dinge nicht mehr berücksichtigen würde. Seine Absichten waren nicht mehr von Belang. Sie konnte nicht mehr dastehen und sich schlagen lassen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte einen Universitätsabschluss. Das war doch Bullshit.

»Sag, dass es dir leidtut«, sagte Leah mit angehaltenem Atem und nickte ermutigend, als würde sie ein Kleinkind bitten, noch einen Löffel Haferflocken zu essen.

Casey zog die Lippen stärker zusammen und empfand noch mehr Hass für ihre Mutter.

Joseph beruhigte sich, und Leah betete, der Streit würde ein Ende haben.

»Dieses Mädchen hat keinen Respekt vor mir«, sagte er zu Leah. Sein Blick ruhte noch immer auf Caseys gerötetem Gesicht. »Sie ist nicht … gut.«

»Es tut ihr leid«, entschuldigte sich Leah für ihre Tochter. »Ich weiß es. Casey ist ein gutes Mädchen und meint das alles nicht so. Sie ist nur so müde vom Lernen.« Leah wandte sich an ihre Tochter. »Schnell. Geh. Geh in dein Zimmer. Schnell.«

»Du verwöhnst die Kinder. Du lässt das zu. Kein Wunder, dass diese Mädchen so mit ihrem Vater sprechen«, sagte er.

Tina erhob sich von ihrem Stuhl. Sie legte ihre Hände sanft auf die schmalen Schultern ihrer Schwester und versuchte sie hinauszuführen, doch Casey wollte ihr nicht folgen. Ihre Mutter schluchzte. Sie hatte den ganzen Nachmittag gekocht. Nichts davon war angerührt worden. Tina hätte am liebsten die Zeit zurückgedreht, sich wieder an den Tisch gesetzt und von vorn angefangen.

Tina murmelte: »Casey, Casey, komm schon … bitte.«

Casey starrte ihren Vater an. »Ich bin nicht verwöhnt. Und sie auch nicht«, sagte sie und zeigte auf Tina. »Ich hab’s satt, ständig zu hören, wie schlecht ich bin, obwohl es nicht stimmt. Kinder wie wir sind ein Hauptgewinn. Wieso sind wir nicht gut genug? Wieso sind wir verdammt noch mal nie gut genug? Scheiß doch drauf. Scheiß auf dich.« Den letzten Satz sagte sie leise.

Joseph legte entsetzt die Hände auf seinen Bauch. Er konnte nicht glauben, was sie da sagte.

»Und wieso bin ich jetzt nicht gut genug? Ohne dass ich noch irgendetwas dafür tun muss?« Caseys Stimme überschlug sich, und jetzt schluchzte sie selbst, nicht weil er sie geschlagen hatte, sondern weil sie verstand, dass sie sich schon immer von ihrem Vater unfair behandelt fühlte. Es war nicht so, dass sie nicht versucht hatte, ihm gerecht zu werden.

Joseph holte Luft, schwang seine Faust und traf Caseys Gesicht so hart, dass sie stürzte. Ihre Brille fiel vom Tisch und schlitterte über den Boden. Tina eilte los, um sie aufzuheben. Ein Nasenpad war abgebrochen und einer der Stege beinahe abgerissen. Casey griff nach dem Tisch, um sich aufzustützen, und die Resopal-Platte mit den billigen Metallbeinen gab nach. Sie rutschte aus und fiel inmitten von krachenden Schüsseln und Tellern zu Boden. Über Caseys rechtem Augen erblühte ein hellroter Fleck und fügte Farbe zu den Handabdrücken auf ihrer linken Wange hinzu.

»Steh auf«, sagte er.

Mit gespreizten Fingern auf dem grünen Linoleum drückte sich Casey an der einzig verbliebenen trockenen Stelle des Bodens hoch. Irgendwie schaffte sie es, wieder vor ihm zum Stehen zu kommen. Blut sickerte aus ihrer aufgeplatzten Lippe, der metallische Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.

»Wirst du mich noch mal schlagen?«, fragte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.

Joseph schüttelte den Kopf. »Raus mit dir. Nimm deine Sachen und verlass mein Haus. Ich kenne dich nicht«, sagte er steif. Seine Arme hingen schlaff an seinem Körper herunter. Streiten hatte jetzt keinen Sinn mehr. Er hatte als Vater versagt, und sie war als jemand, um dessen Wohlergehen er sich zu kümmern hatte, gestorben. Er stieg über die Scherben einer weißen Keramikkaraffe und verließ die Küche. In der Tür zum Wohnzimmer drehte er sich noch einmal um, würdigte Casey jedoch keines Blickes mehr. »Ich habe dich auf die Schule geschickt. Ich habe getan, was ich konnte. Jetzt bin ich fertig, und ich will, dass du bis morgen früh weg bist. Dein Anblick macht mich krank.«

Leah und die Mädchen blickten ihm nach, während er im Schlafzimmer verschwand und die Tür schloss. Casey setzte sich auf den leeren Stuhl ihres Vaters. Sie starrte die Deckenplatten an und zählte sie unbewusst, wie sie es früher oft beim Essen getan hatte. Um sich zu beruhigen, strich Tina sich die Haare glatt und versuchte, ihren Atem zu verlangsamen. Leah saß still da und krallte ihre Finger in den Stoff ihres Rockes. Joseph hatte den Raum verlassen. Das hatte er noch nie getan. Sie glaubte, es wäre besser gewesen, wenn er geblieben wäre und Casey noch einmal geschlagen hätte.

KAPITEL2:KREDIT

Das Kinderzimmer, das Tina und Casey sich geteilt hatten, bis Casey zur Uni gegangen war, war viel kleiner als ihre Wohnheimzimmer in Mathey College oder Cuyler Hall. Das Hochbett der Mädchen stand an der Längsseite des Raums und versperrte ein schmutziges Fenster, das nicht geputzt werden konnte. Über dem laminierten Kopfteil des oberen Betts, in dem Casey schlief, hing ein verblasstes Poster von Lynda Carter in der Rolle von Wonder Woman, die Arme in die Hüfte gestemmt. Im eingerahmten Teil des unteren Betts hatte Tina ein kostenloses Yankees-Poster von Burger King aufgeklebt, das sie in der Grundschule bekommen hatte. Kaum fünfzig Zentimeter vom Hochbett entfernt standen zwei zusammengewürfelte Sperrholzschreibtische mit zwei billigen weißen Schwanenhalslampen. Die Wand über den Schreibtischen hatten die Mädchen mit ungerahmten Urkunden aus ihrer Schulzeit gepflastert: Die vielen Auszeichnungen hatte Casey vor allem in Fotografie, Musik und Sozialwissenschaften erhalten; Tina in Geometrie, Religion, Physik und Mathematik.

Casey nahm die Auszeichnungen, die von vergilbtem Klebeband an der Wand gehalten wurden und sich seitlich aufrollten, gar nicht mehr wahr. Genauso wenig wie die Enge des Zimmers oder das fehlende Tageslicht. Während der ersten Jahre, in denen sie zwischendurch aus der Uni heimgekehrt war, hatte sie den prachtvollen, funktionstüchtigen Kamin in ihrer Suite in Mathey, die holzvertäfelten Klassenräume und Buntglasfenster mit dem blauen Florteppich in ihrem alten Kinderzimmer und der panzerverglasten Eingangshalle ihres Wohngebäudes in Elmhurst verglichen und entschieden, dass sie ihr Zuhause besser nicht zu kritisch beäugte, weil es wehtat.

Nach dem Streit mit ihrem Vater ging Casey nur in das Zimmer, um ihre Packung Marlboros zu holen, und sobald sie diese und ein Streichholzbriefchen gefunden hatte, spazierte sie zur Wohnungstür hinaus.

Sie stieg die Treppe drei Stockwerke nach oben, anstatt den Aufzug zu nehmen, weil man nur so auf das geteerte Dach gelangte. Sie kannte den Sicherheitscode auswendig: 4-1-7–4, das Geburtsdatum von Etelda, der einzigen Tochter des Hausverwalters. Jahrelang hatte Casey Etelda Nachhilfe gegeben und sie später auch auf die College-Aufnahmeprüfung vorbereitet. Zum Dank hatte deren Vater Sandro Casey freien Zugang zum Dach gewährt. Als Etelda ein Vollstipendium am Bates College erhielt, kaufte Sandro von seinem eigenen Geld einen metallenen Bistrotisch und zwei passende Stühle in einem Baumarkt in Paramus und hinterließ das Geschenk samt einem gläsernen Aschenbecher für die einzige Besucherin auf dem Dach.

Jetzt nahm Casey sich keinen der Stühle. Sie setzte sich auf die breite Brüstung, die das Dach umgab, und ließ ihre Beine an der Nordseite des Gebäudes zur Straße hin baumeln. Es kümmerte sie nicht, ob ihre weiße Hose aufgrund der braunen Backsteinfassade schmutzig wurde. Die Abendbrise, die in der luftdicht abgeriegelten Küche ihrer Mutter nicht wahrzunehmen war, streifte ihr ramponiertes Gesicht. Der Himmel war schwach erleuchtet, es gab keine Spur vom Mond, und Sterne hatte Casey sowieso noch nie über Queens gesehen. Das erste Mal, als Casey einen schwarzen Himmel mit einer scheinbar unendlichen Zahl weißer Löcher sah, war während eines Besuchs in Newport bei der Großmutter ihrer Mitbewohnerin Virginia in den Semesterferien. Zuerst spürte Casey, wie ihr die Luft wegblieb. Der Anblick raubte ihr buchstäblich den Atem. Dann reckte sie den Hals, um den Wirbel der Milchstraße zu betrachten, und konnte kaum davon überzeugt werden, wieder ins großzügige Haus hineinzugehen, auch wenn Mücken ihre Knöchel zerstachen. Die restliche Zeit ihres Besuchs über nannte die alte Mrs. Craft Casey »das Mädchen, das nach den Sternen greift«. Als die Mückenstiche am nächsten Tag auf ihren Knöcheln und Zehen dick und rot anschwollen – und ihre ganz eigene Konstellation bildeten –, bereute Casey nichts. Mit neunzehn Jahren hatte sie endlich Sterne gesehen.

Casey sehnte sich danach, dass der von rosagrauen Dämmerungsstreifen durchzogene, sich verdunkelnde Vorhang des Nachthimmels wegfallen und die Sterne preisgeben würde. Es war unmöglich, sie zu sehen. Na gut, dachte sie und fühlte sich beraubt. Von ihrem Platz aus konnte sie zahlreiche identische Apartmentfenster sehen. Sie wurden von Glühbirnen erleuchtet, die alle unter denselben viereckigen, in die Decke geschraubten Glasschirmen steckten. Ende der 1960er-Jahre waren zu beiden Seiten der Van Kleeck Street vom selben Bauherren Wohnhäuser errichtet worden – alle besaßen denselben Grundriss, dieselben Kühlschränke und dieselben kleinen Wandschränke. Die Glühbirnen darin flackerten einladend. Die Apartments waren Bienenstöcke aus Backstein – fest eingeteilte Kammern aus Luft, Klang und Licht. Casey wollte gern glauben, dass in ihnen Glück und nicht bloß monotones Summen existieren konnte.

Sie begann, ihr Lieblingsspiel auf dem Dach zu spielen. Es gab kaum Regeln, nur ein Ziel: ein Fenster auszuwählen und zu studieren, was darin zu sehen war. Sie war der Meinung, dass die Besitztümer eines Menschen etwas über ihn aussagen: Ein mit Klebeband zusammengehaltener Sessel im Schottenmuster zeigte die gebrochene Verfassung eines Mannes; ein üppig vergoldeter Spiegel reflektierte die majestätische Seele einer Frau, die noch nicht dahingeschwunden war; und eine Pappschachtel Haferflocken von einer Discountermarke auf der Küchentheke zeugte vom schmalen Portemonnaie eines Rentners.

Gegenüber erhaschte Casey auf ihrer Augenhöhe einen Blick auf zwei südasiatische Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die in einem Wohnzimmer von bescheidener Größe Fernsehen schauten. Sie waren etwa im Grundschulalter. Casey wollte sich neben sie setzen, still, unsichtbar, mit angehaltenem Atem, weil in ihren hübschen, ernsten Gesichtern Staunen über die flimmernden Bilder lag. Caseys glühende Zigarette leistete ihr Gesellschaft, doch sie hätte eine Lampe und ein Buch vorgezogen oder in ihrer jetzigen Stimmung eine Wiederholung von Mary Tyler Moore oder der Bob Newhart Show. Casey war immer sowohl Leserin als auch Zuschauerin gewesen. Die Abneigung, die viele Leute gegen das Fernsehen hegten, ergab für sie keinen Sinn, wo doch Alice, Die Jeffersons, All in the Family, Love Boat, Fantasy Island, Die Sieben-Millionen-Dollar-Frau, Drei Mädchen und drei Jungen, Unsere kleine Farm und natürlich Wonder Woman den Han-Schwestern so viel über Amerika beigebracht hatten. Die literarischen Klassiker aus der öffentlichen Bibliothek in Elmhurst hatten die Schwestern über die Amerikaner und Europäer vor langer Zeit gelehrt, das moderne Leben hatten sie sich jedoch vor ihrem kleinen Bildschirm erschlossen. Joseph und Leah hielten sie nie vom Fernsehen ab. Bei den tadellosen Zeugnissen der beiden war es eine Belohnung, die sich selbst die Hans leisten konnten.

Casey hörte Tinas klackende Holzsandalen näher kommen.

»Spring nicht«, sagte Tina mit einem Anflug von Scherz in der Stimme.

»Ha«, erwiderte Casey. »Wenn es doch nur so einfach wäre.« Sie warf einen Blick auf den Asphalt zehn Stockwerke unter ihr. Auf der entgegengesetzten Seite des roten Hydranten tummelten sich die Nachbarkinder auf dem Aufgang zum Gebäude schräg gegenüber von ihrem und aßen Pizza aus der Schachtel. Casey beneidete sie um ihren Appetit, denn sie selbst verspürte keinen.

Tina trocknete sich die nassen Hände an ihrer blauen Jeans ab. Sie hatte auf Knien den Küchenboden gewischt. Unten spülte ihre Mutter immer noch das Geschirr. Es war Leahs Idee gewesen, dass die Jüngere nach ihrer Schwester schaute.

»Was willst du jetzt tun?«, fragte Tina.

Casey zuckte stumm mit den Schultern. Ihr schwacher Rauchring verlor seine Form.

»Ich hatte erwartet, dass es irgendwann im August knallt. Nicht schon in der ersten Woche nach unserer Ankunft bei Chez Han«, sagte Tina.

»Du bist ja schrecklich witzig heute Abend.« Casey zog an ihrer zweiten Zigarette.

»Kannst du zu Jay?«

Casey nickte. »Denke schon. Virginia ist noch einen Monat lang in Newport und geht dann nach Italien. Es muss schön sein, haufenweise Geld zu haben. Und die Zeit, es zu verprassen.«

»Italien klingt schön«, sagte Tina. Keine von beiden war je in Europa gewesen.

»Ich hab letzte Woche eine Kreditkarte bekommen, und wenn ich mir ein Ticket besorgen könnte, würde Virginia mich bei sich schlafen lassen, aber dort drüben wüsste ich nicht, wie ich Arbeit bekommen sollte, und …« Ihre erste Kreditkarte hatte ein Limit von 5.000 Dollar. Wie viel mochte ein Flugticket kosten? Die Vorstellung, in Italien zu leben, war beeindruckend und aufregend, doch es kam ihr lächerlich vor, sich so etwas auszumalen.

Tina folgte dem Blick ihrer Schwester und versuchte zu erraten, welches Fenster sie studierte. Tina hatte keinen Bezug zu diesem Spiel. Ihr kamen die runde Form von einem Esstisch oder der kurze Jeansrock, den eine Frau zu Hause trug, nicht sehr vielsagend vor. Allerdings wunderte Tina sich auch ständig über ihre Kommilitonen am MIT – über die extremen Unterschiede zwischen ihren Erscheinungen und Geschmäckern –, wohingegen Casey selten von ihren Mitmenschen überrascht wurde. In dieser Hinsicht ähnelte Tinas Freund Chul eher Casey. Er schien von Natur aus neugierig auf die Vorlieben anderer Leute zu sein. Da fiel Tina ein, dass sie noch mit Chul telefonieren wollte, doch es war vermutlich schon zu spät, um bei seinen Eltern in Maryland anzurufen, wo er den Sommer verbrachte.

»Also willst du nach Italien?«, fragte Tina.

»Nicht auf diese Weise«, antwortete Casey.

»Also zu Jay?«

»Ja.«

Tina wusste nicht, was sie zu den Schlägen sagen sollte. Nach solchen Auseinandersetzungen hasste Casey ihre Familie. Und wie hätte Tina ihr das verübeln sollen? Niemand wusste ihren Vater aufzuhalten, wenn er wütend war. »Ich habe zweihundert Dollar, die du haben kannst. Und zwanzig in Münzen.«

»Ich habe noch Schulden bei dir«, erinnerte Casey sie.

Vor vier Jahren hatte Tina Casey all ihre Ersparnisse gegeben, um eine Abtreibung zu bezahlen. Bevor Casey Jay kennengelernt hatte, war sie von einem One-Night-Stand schwanger geworden. Sie kannte den Typen nicht und hatte seine Nummer weggeworfen. Seitdem waren jedoch stets, wenn sie genug Geld zusammen hatte, um es ihrer Schwester zurückzuzahlen, ein Pulli, ein Hut oder ein Paar Stiefel dringender gewesen. Nun wünschte sich Casey eine bessere Kreditwürdigkeit.

»Das Geld ist mir egal. Wenn du diese« – Tina presste ihren Kiefer zusammen – »Prozedur nicht gehabt hättest, wäre dein Leben ruiniert.«

Casey drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus – Rauchen kam dem Verbrennen von Geldscheinen gleich, doch sie genoss diese Verschwendung. Sie zündete sich gleich eine weitere an.

Tina setzte an: »Ich habe Bilder von Lungen gesehen –«

»Nicht heute, bitte. Erspar es mir.«

»Du hättest das heute auch uns ersparen können«, murmelte Tina. Als sie jedoch die schmerzhafte Wahrheit ihrer eigenen Worte vernahm, hoffte sie, Casey würde nicht darauf eingehen.

»Er hat sich wie ein Arschloch benommen, Tina.«

»Ja, ich weiß.« Tina sah ihre Schwester mit unnachgiebigem Blick an. »Na und? Das ist nichts Neues für dich.«

»Und ich vermute, du wärst anders mit der Situation umgegangen. Nein, brillant sogar, bei Ihrer Begabung im Umgang mit Patienten, Dr. Han.« So nannte Casey sie seit ihrer Kindheit.

»Ich sage ja nicht, dass er sich nicht wie ein Arschloch benommen hat.« Tina ärgerte Caseys beständiger Wunsch, die Familie zu spalten.

»Du sagst auch nicht, dass ich mich wie ein Arschloch benommen habe, obwohl du es denkst. Fick dich.«

»Wieso bloß? Wieso schlage ich mich mit dir herum?«

»Ja, wieso?«, erwiderte Casey mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Du brauchst mir keinen Gefallen zu tun.«

Tina fuhr mit leiser Stimme fort. Wenn es um Familienangelegenheiten ging, war sie sich schon immer als die Ältere und Reifere vorgekommen. »Komm schon, Casey. Ich bin es.«

Casey atmete aus. Sie fühlte sich dumm und einsam. Mit ihrem Zeigefinger tippte sie sich an die rechte Schläfe. »Hey, ich habe mir gerade eine Regel ausgedacht. Willst du sie hören?«

»Ja.« Tina antwortete mit ihrem Kleine-Schwester-Lächeln. Es sagte: Bring mir etwas bei. Lass mich wieder zu dir aufschauen.

»Eine Schlacht pro Nacht.« Casey strahlte und hob dramatisch die Augenbrauen. »Ich habe meine heute schon geschlagen. Also kann ich mit dir nicht mehr streiten. Vielleicht kann ich dich morgen in meinem Kalender unterbringen.«

»Trag mich unbedingt ein«, sagte Tina lächelnd.

Sie verstummten. Tina schluckte und versuchte, mit ihrer rechten Hand Caseys Gesicht zu berühren, das teilweise vom nächtlichen Schatten verborgen wurde. »Lass mich dich anschauen.«

»Nicht.« Casey wich zurück und blies Rauch in Tinas Richtung.

»Du solltest das Geld nehmen.«

»Da ich die Probleme verursache, ist es richtig, dass ich gehe.« Casey sprach so nüchtern, als würde sie einen Geometriebeweis aufsagen. Dann murmelte sie: »Hier bekomme ich nie meine Ruhe.«

»Ihr bringt euch gegenseitig um, wenn du bleibst«, sagte Tina. »Nimm das Geld, das ich dir geben kann.«

Casey nickte und versuchte, ihren Widerwillen zu verbergen. »Ich zahle es dir zurück. Alles.«

»Das Geld ist mir egal, Casey.« Als kleines Kind hatte sich Tina schon allein über einen Blick von Casey gefreut.

»Sobald sie im Bett sind, bin ich weg.« Caseys Gesichtsausdruck war teilnahmslos. »Sie dürfen nicht erfahren, wo ich bin. In Ordnung? Bitte tu mir den Gefallen.«

Tina würde nicht versuchen, sie umzustimmen. Dadurch, dass sie Caseys Fehler mitbekommen hatte, konnte sie selbige vermeiden. Wenn sie sich dazu verpflichtet fühlte, es im Leben besser zu machen, dann, weil sie einen Vorgeschmack erhalten hatte. Sie verspürte – was war es? Eine primitive Loyalität? Sicherlich keine Dankbarkeit. Was es auch war, sie wollte es nicht fühlen.

Die dunkle Straße unter ihnen war nun menschenleer. Ein paar Ratten flitzten aus den schwarzen Mülltüten am Bordstein.

So hätte der Abend nicht verlaufen sollen. Auf der Zugfahrt nach Hause war Tina ihre Liste von Fragen an Casey durchgegangen – alles, was ihr im Laufe des Semesters Kopfzerbrechen bereitet hatte. Während der Vorlesungszeit sprachen sie kaum miteinander. Ferngespräche waren teuer und ihre Stundenpläne vollgepackt und ungleich verteilt. Und Casey machte Telefonate noch schwerer. Ihr Leben schien hektisch und ziellos zu sein. Sie war so schwer zu greifen.

Es wurde immer dunkler, und ohne Mond oder Straßenlaternen konnte Tina die Silhouette des Gesichts ihrer Schwester kaum erkennen – die flachliegenden Augen, den Mund ihres Vaters, die hohen Wangenknochen, die an der Spitze leicht abgerundete Nase. Die Haut ihrer Schwester war etwas heller als ihre, und im Sommer färbte sich ihr glattes schwarzes Haar kastanienbraun. Tinas Haar hatte einen Blaustich und war im Winter rabenschwarz. Wenn sie zusammen unterwegs waren, hielt man sie nie für Schwestern. Tina jedoch wollte immer klarstellen, dass sie Schwestern waren. Sie waren keine besten Freundinnen, sondern hatten schon immer zueinander gehört.

Tina holte Luft. Die Zeit war stets so knapp.

»Kann ich dich etwas fragen?«

»Hmm?« Casey war beinahe überrascht, eine Stimme zu hören, hatte sie sich Tina doch schon weggewünscht.

»Wie … ist es?«

»Was?« Casey war verwirrt.

»Sex. Wie ist es so?«

»Wirst du Sex haben?« Casey riss schockiert die Augen auf und wirkte sogleich amüsiert. »Gibt es etwa einen Jungen im Leben meiner Schwester?«

»Halt die Klappe.«

»Also bitte!« Casey tat beleidigt.

»Es gibt einen Jungen«, gestand Tina – ihre Augen waren eher von Sorge als Stolz erfüllt.

»Name?«, fragte Casey.

»Chul.«

»Koreaner?«, fragte Casey mit offen stehendem Mund.

»Ja.«

»Wow.«

»Ich weiß«, sagte Tina. Es war Gesetz: Brachte eine von beiden einen weißen Jungen nach Hause, würde diese Tochter aus der Familie verstoßen. Sie mussten Koreaner heiraten. Die Wahrscheinlichkeit dafür schien allerdings gegen null zu gehen, da sie nie von koreanischen Jungs angesprochen wurden.

»Erzähl.« Casey beugte sich vor.

Im Dunkeln ließ es sich leichter über ihn sprechen. Chul war ein Jahr über ihr am MIT, ebenfalls im Medizingrundstudium, groß und Volleyballspieler. Harvey, der Präsident des Campus für Christus, hatte ihn zu einer Eiscreme-Party im Dezember mitgebracht und Tina vorgestellt. Er machte einen ernsten Eindruck und wirkte männlicher als die anderen Jungs an der Uni, die ihr den Hof machten. Er hatte wunderschöne koreanische Augen, eine hohe Stirn und eine maskuline Nase. Als das Frühjahrssemester begann und er sie ins Kino einlud, konnte sie es nicht glauben, doch er holte sie wie versprochen ab, mit zwölf in weißes Papier gewickelten pfirsichfarbenen Rosen. Nach drei Dates knutschten sie in seinem blauen Honda Accord. Als sie ihm erzählte, dass sie noch Jungfrau sei, hielt er sich zurück. »Das ist süß«, sagte er. Er hatte selbst erst eine sexuelle Erfahrung gemacht – ein peinlicher Akt nach dem Abschlussball. Sie einigten sich, dafür zu beten. Nach kürzester Zeit sagte er, dass er sie liebe. »Es ist deine Entscheidung, Tina.« Fünf Monate vergingen mit geöffneten BHs, Erektionen, die ihr anfänglich Angst gemacht hatten, und Berührungen, bis sie es kaum noch aushielt – jetzt machte sie sich Sorgen, dass ihre Überzeugungen den Charme für ihn verlieren könnten. Sie wollte mit ihm schlafen, fürchtete sich aber davor, vor ihm und vor Gott, und alles wirkte grau. War Fellatio auch eine Sünde? Ihre moralischen Grenzen verschoben sich immer weiter. Sie hatten alles miteinander getan, außer dem letzten Schritt. »Ich … glaube nicht an vorehelichen Sex, du weißt ja. Die Bibel …«

»Ich weiß.« Casey nickte dramatisch. »Aber du findest Abtreibungen okay.« Sie konnte sich diesen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen – er ging sowieso eher zu eigenen Lasten.

»Hattest du nicht eine neue Regel über eine Schlacht pro Nacht aufgestellt?« Tina kniff die Augen zusammen.

»Ach ja. Hab ich vergessen.« Casey lachte.

»Also?«, fragte Tina, um Casey zum Reden zu bringen.

»Ich denke, dein Glaube ist …« Casey suchte nach dem richtigen Wort. »Er ist aufrichtig … dein Glaube. Ich weiß nicht, wie du das machst, aber …«

Tina starrte ihre Schwester gebannt an. Mit Sex kannte Casey sich aus, und Tina beneidete sie um ihre Erfahrung.

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, keinen Sex zu haben. Ich mag es. Ich hoffe, du wirst es mögen. Es ist so … überwältigend. Und ich will überwältigt werden. Kannst du dir das vorstellen?« Casey wandte sich ihrer Schwester zu, konnte ihren Ausdruck jedoch nicht deutlich erkennen. Casey wollte, dass ihre Schwester ihr eigenes Verlangen zuließ, anstatt sich von konservativen Vorstellungen einschränken zu lassen. »Es tut gut, mal den Kopf auszuschalten. Sich zu vergessen. Sich einfach nach jemandem zu verzehren.«

Tina atmete aus. Caseys Mut beeindruckte sie.

»Vielleicht mag ich es zu sehr«, sagte Casey aus Scham, laut auszusprechen, was sie glaubte. Womöglich sollte sie ihre Schwester nicht auf Abwege führen. Heutzutage gab es nur noch wenige Menschen mit echten Überzeugungen. »Wahrscheinlich bin ich kein gutes Vorbild für dich.« Wenn Casey ihre sexuelle Biografie am Beispiel ihrer Schwester maß, war sie vermutlich ein Flittchen – immerhin hatte sie schon mit acht Männern geschlafen, von denen sie manche nur flüchtig kannte, und mit sieben davon noch vor ihrem neunzehnten Lebensjahr. In Princeton hatte es Mädchen gegeben, die mit dreißig bis vierzig Partnern geschlafen hatten (festgehalten in Tagebüchern mit Bewertungsmethoden), und solche, die eine einzig wahre Liebe hatten. Und dann gab es Tina: eine der letzten Verweigerinnen.

Tina wollte Einzelheiten, Tipps, Ratschläge. Am MIT, wo die Mehrzahl der Studierenden männlich war, waren wenige Mädchen noch Jungfrau. Die Männer holten einer Frau die Sterne von Himmel, um Sex zu haben. Jetzt, da Tina einen Freund hatte, verstand sie allmählich, was die anderen Mädchen ihr schon die ganze Zeit erzählt hatten: Es hatte stets Jungs gegeben, die bereitwillig Kassetten mit ihren Lieblingssongs für sie aufgenommen, ihr schlechte Gedichte geschrieben, sie zum Abendessen nach Cambridge ausgeführt hatten – alles für die Chance, sie aus ihren Kleidern schälen zu dürfen. Ihre Freundinnen, besonders die attraktiven, aber selbst die unscheinbaren in ihrem Mittwochsgebetszirkel, konnten nicht glauben, dass Tina noch Jungfrau war.

»Wieso ist es so überwältigend?«, fragte sie.

»Weil die Empfindungen so stark sind. Es ist so wunderbar, mit jemandem, den du magst, nackt zu sein – seine warme Haut zu berühren, seinen Atem und seine Knochen zu spüren, ihm nah zu sein, so nah, und sich gebraucht zu fühlen, ganz dringend – und danach kann es so beruhigend sein, alles andere erscheint so nebensächlich. Und … und …« Casey hatte Sex noch nie beschrieben. Niemand hatte je gefragt. Bilder rauschten an ihrem inneren Auge vorbei. Plötzlich fühlte sie sich hellwach, lebendig.

»Es ist aufregend, so aufregend, von jemandem begehrt zu werden, den du magst. Und wenn Liebe mit im Spiel ist, ist es sogar noch heftiger, denn wenn du ihm vertraust, kannst du dich ihm hingeben. Vollkommen. Ich denke, wenn du Chul liebst, und er dich liebt … na ja …« Casey brachte sich selbst zum Schweigen, weil sie sich vorkam, als würde sie vorehelichen Sex propagieren, was sie gar nicht wollte.

»Erzähl mir mehr.«

»Kennst du den Moment, wenn ein Junge zum ersten Mal versucht, dich zu küssen?«

Tina nickte.

»Es ist diese Art Kribbeln … nur intensiver und langanhaltender. Es ist … die Vollendung.«

Casey hatte Jay Currie von dem Moment an gemocht, als sie ihn unter dem Blair Arch erblickte. Er stand dort inmitten einer Männergruppe und erzählte irgendetwas Witziges, und er bemerkte ihren Blick ebenfalls. Seine großen blaugrünen Augen – die Farbe einer Forelle mit schimmernden grauschwarzen Tupfen – erfassten sie, und sie erschauderte. Ein paar Tage später setzte er sich im Gemeinschaftsraum der Erstsemester neben sie, doch es stellte sich heraus, dass er im vorletzten Studienjahr und Mitglied im Terrace Eating Club war. Später gab er zu, dass er ihr gefolgt war und sich in den Gemeinschaftsraum geschlichen hatte, um ihr zu begegnen. Sie ließ sich auf ein Date ein, und als Pauline am Strand zu Ende war (sie konnte sich kein bisschen an die Handlung erinnern) und der Abspann lief, lehnte er sich zu ihr herüber und presste seine Lippen auf ihre – sein Kinn leicht stoppelig, sein Haar gewellt und honigfarben.

Nachdem er sich von ihr gelöst hatte, sagte er: »Du bist so weich«, als hätte diese Eigenschaft ihn überrascht.

Sie lachte und sagte: »Ist das so?«, dabei biss sie sich vor Glück auf die Unterlippe. Er küsste sie sofort wieder.

»Also glaubst du, Jay ist deine große Liebe?«, fragte Tina.

Casey verzog das Gesicht. Auf diese Weise hatte sie es noch nie betrachtet. »Du meinst so was wie die große Liebe meines Lebens?«, fragte sie schmunzelnd. »Das ist niedlich.«

»Sei nicht so zynisch. Ich habe mich gefragt … ich meine … ich will eigentlich nicht argumentieren.«

»Argumentieren Sie los, Dr. Han.«

Tina ignorierte die Stichelei. »Hör zu, wenn Chul die große Liebe meines Lebens wäre und ich für immer mit ihm zusammenbleiben wollte und ich versprechen könnte, dass ich nur ihn will … dann …« Es auszusprechen, fiel ihr schwer. Sie versuchte zu sagen, dass es womöglich okay wäre, mit ihm vor der Hochzeit zu schlafen.

»Er ist dein College-Freund. Das ist, als würdest du sagen … du wirst … oh mein Gott … ich meine … jemanden heiraten, der dich zu deinem ersten Ball ausgeführt hat oder so. Um Himmels willen.« Casey wollte nicht abschätzig klingen, doch Tinas Argument war absurd. Reine Fantasie oder, schlimmer noch, Orthodoxie.

»Aber du hast doch gesagt, der Sex sei besser, wenn man jemanden liebt …«

»Ja, natürlich … aber … Liebe ist nicht dasselbe wie ein Versprechen, für immer zusammenzubleiben.«

»Aber das ist es, was ich will. Und ich glaube, wir alle wollen das, zumindest am Anfang.«

»Nun, ja. Aber ich bin froh, dass ich nicht Sean Crowley geheiratet habe.« Sie erwähnte den Jungen, an den sie mit fünfzehn ihre Jungfräulichkeit verloren hatte.

»Aber du bist froh, dass du … mit Sean geschlafen hast?«

Die Antwort war ein klares Nein, doch das wollte Casey nicht zugeben. »Ich bin froh, dass ich diese Erfahrung gemacht habe«, sagte sie. Das Widerstreben in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Beflügelt durch ihren bescheidenen Sieg fuhr Tina fort: »Ich weiß, was ich will. Ich will, dass er mir verspricht, dass er immer nur mich wollen wird. Es sollte irgendeine Art von Versprechen geben.« Ihr fiel kein besseres Wort ein.

»Du meinst so was wie einen gottverdammten Vertrag?« Casey fühlte sich körperlich zurückgestoßen, beinahe angewidert von dieser Idee. »Ach komm schon, Tina. Sei realistisch. Du bist zwanzig. Du kannst noch nicht heiraten. Und was machst du, wenn er furchtbar im Bett ist? Das ist verdammt noch mal lächerlich. Eure Ehe könnte fünfzig Jahre dauern. Ach was, beim heutigen Stand der Wissenschaft könnte eure Ehe siebzig Jahre dauern. Was dann?«

»Aber man soll doch lieben … und du hast gesagt, wenn man einander liebt … dass es dann besser ist … Also deinem Argument zufolge, wie könnte der Sex schlecht sein? Ich habe darüber nachgedacht …«

»Ja, das merke ich.« Casey lachte.

»Ich denke, es würde so wehtun, wenn ich ihn wollte, aber er mich nicht … für … für … immer. Weißt du? Und umgekehrt.«