Graue Pfote, Schwarze Feder - Marc Rybicki - E-Book

Graue Pfote, Schwarze Feder E-Book

Marc Rybicki

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Beschreibung

Vor langer Zeit im Yellowstone Tal: Die Familien der Wölfe und der Raben trennt ein erbitterter Streit. Gegen alle Widerstände wächst zwischen dem kleinen Raben Thor und dem Wolfsmädchen Wild-wie-der-Wind eine zarte Freundschaft. Als Indianer den alten Leitwolf entführen, schmieden die beiden einen gefährlichen Plan, um ihn zu retten und ihren Völkern den Frieden zu bringen... "Graue Pfote, Schwarze Feder" ist eine Fabel über die Macht der Freundschaft, die alle Grenzen sprengt und Hass und Vorurteile überwindet.

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Seitenzahl: 158

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Marc Rybicki

Graue Pfote, Schwarze Feder

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1, in dem zwei besondere Wölfe geboren werden

Kapitel 2, in dem Familie Rabe ein Fest feiert

Kapitel 3, in dem die kleinen Wölfe ihre Höhle verlassen und erste Regeln lernen

Kapitel 4, in dem die Wölfe Rauchzeichen sehen, von Indianern hören und ihre Namen bekommen

Kapitel 5, in dem Thor das Fliegen lernt

Kapitel 6, in dem Wild-wie-der-Wind von zu Hause wegläuft

Kapitel 7, in dem Thor einen Ausflug mit Folgen macht

Kapitel 8, in dem es zu einer spannenden Begegnung kommt

Kapitel 9, in dem es mächtigen Ärger gibt

Kapitel 10, in dem ein Treueschwur geleistet wird

Kapitel 11, in dem die Wölfe ein hartes Urteil fällen

Kapitel 12, in dem Freunde auf die Jagd gehen

Kapitel 13, in dem sich Falkenauge einen Wunsch erfüllt

Kapitel 14, in dem Thor kämpfen muss

Kapitel 15, in dem die Wölfe überfallen werden

Kapitel 16, in dem Wild-wie-der-Wind um Hilfe bittet

Kapitel 17, in dem Thor und Wild-wie-der-Wind eine Überraschung erleben

Kapitel 18, in dem die Freunde Interessantes über Indianer lernen und einen Plan schmieden

Kapitel 19, in dem unsere Helden in viele brenzlige Situationen geraten

Kapitel 20, in dem ein letzter Kampf entscheidet

Wissenswertes über Wölfe und Raben

Die Autoren

Impressum neobooks

Prolog

Cita Born

Marc Rybicki

GRAUE PFOTE,

SCHWARZE FEDER

Mit Zeichnungen von Melanie Stoll

© Marc Rybicki, 2014

Layout, Satz: José-Javier Rodriguez

Titelbild: Melanie Stoll

Lektorat: Anke Stakemann

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten

Prolog

Unsere Geschichte spielt in jenen Jahren,

als Wolf und Rabe keine Freunde waren.

Ihre Familien trennte ein erbitterter Streit,

genährt von Argwohn, Furcht und Futterneid.

Heutzutage nennt kein Wolf einen Raben Feind.

Die Grauen und die Schwarzen leben freundschaftlich vereint.

Wie es kam, dass sie sich ihre Heimstatt teilen?

Die Antwort liegt in diesen Zeilen ...

Kapitel 1, in dem zwei besondere Wölfe geboren werden

Es war einmal in einem grünen Tal ...

Eine Drossel flatterte freudig mit den Flügeln, während die Morgensonne über den Bergen aufging. Der tiefe Schnee war endlich geschmolzen. Der Frühling zog ins Land. In einem Tal in Amerika, das man heute den Yellowstone Nationalpark nennt, erwachte die Natur aus dem Winterschlaf. Überall in den Wäldern und auf den Wiesen begannen junge Bäume und Gräser aus dem Boden zu wachsen. Die Knospen öffneten sich. Die Blumen blühten. Auch die Tiere, die zahlreich im Tal lebten, bekamen um diese Jahreszeit Nachwuchs. Die Eichhörnchen, die Biber, die Bären und die Murmeltiere, die Adler, ja sogar die Ameisen – alle freuten sich über ihre Babys.

Nur aus der Höhle der Wölfe hatte man noch keinen Freudenschrei gehört. Seit Stunden schon wartete Büffeltöter auf die Geburt seiner Welpen.

„Warum dauert das so lange?“, grummelte er und trabte unruhig hin und her. Büffeltöter war der Anführer des Rudels. Kräftig und groß, mit weißgrau gemustertem Fell und tiefblauen Augen. Obwohl er ein hervorragender Jäger war und über reichlich Ausdauer verfügte, fiel ihm das Warten unheimlich schwer. Er wollte endlich als stolzer Vater in die Knopfaugen seiner kleinen Kinder sehen.

Doch es kam nicht der geringste Laut aus dem Wolfsbau, der auf einer felsigen Anhöhe lag. In die Erde unter den Steinen hatten die Wölfe vor geraumer Zeit einen Tunnel gegraben. Er diente nun als Eingang zu ihrer Höhle, die gut versteckt im Berg lag, geschützt vor den Blicken neugieriger Besucher. Dort lebte Familie Wolf zusammen. Normalerweise. Jetzt hatte sich Mutter Wolf allein in den Bau zurück gezogen und wollte niemanden sehen. Bei der Geburt ihrer Kinder brauchte sie keine Zuschauer. Ihr Name war Nachtschatten. Warum sie so hieß, konnte jeder leicht erraten, der die Wölfin einmal mit eigenen Augen gesehen hatte. Ihr Fell schimmerte nämlich so schwarz wie eine Nacht, in der kein Mond scheint. Büffeltöter war stolz auf seine schöne Frau, die ihm bereits im vergangenen Frühjahr zwei Kinder geschenkt hatte. Zwei Söhne, um genau zu sein.

Sie saßen mit gespitzten Ohren am Höhlenrand, neugierig lauschend, ob sich die neuen Geschwister schon meldeten. Die beiden wurden Falkenauge und Brautschauer genannt. Neben ihnen hockten die näheren Verwandten. Heult-in-der-Nacht und Silberfell, ihre beiden Tanten. Dazu ein Onkel, der Bruder ihrer Mutter, mit Namen Stopft-sich-voll, weil er gerne aß und sein Bauch dick war wie eine Trommel.

„Kommen die Babys heute noch?“, fragte Brautschauer und steckte seinen grau-braunen Kopf ein Stück weit in den Eingang zur Höhle.

„Nimm die Nase da raus!“, raunte Falkenauge und funkelte seinen Bruder aus stechend gelben Augen an.

„Entschuldigung“, stammelte sein Bruder kleinlaut. „Ich wollte nur … ich meine … ich freue mich eben so sehr auf das Spiel mit den Kleinen.“

„Das Leben ist nicht nur Spiel und Spaß. Merk dir das“, erwiderte Falkenauge. „Dir werden die Schreihälse

noch früh genug auf die Nerven gehen.“ Der junge Wolf war alles andere als begeistert, dass sich das Rudel vergrößern würde. Auf noch mehr Geschwister konnte er getrost verzichten. Denn Falkenauge befürchtete insgeheim, dass ihm die Babys den Rang ablaufen könnten. Als Erstgeborener wollte er im Mittelpunkt stehen und eines Tages die Nachfolge seines Vaters Büffeltöter als Chef der Familie antreten.

„Brautschauer, es dauert bestimmt nicht mehr lang. Bald kannst du mit ihnen raufen“, meinte Onkel Stopft-sich-voll mit einem gutmütigen Lächeln. „Und die Geburt feiern wir mit einem leckeren Festessen, mjam!“, rief er und leckte sich die rundliche Schnauze.

Büffeltöter wollte ihn gerade ermahnen, wie er denn jetzt bloß ans Essen denken könne, als ein Geräusch aus der Höhle kam. Ein lautes Hecheln.

„Das ist Nachtschatten! Sie hat Schmerzen! Aus dem Weg! Macht Platz!“, schrie Büffeltöter und machte sich bereit, mit einem mächtigen Satz in die Höhle zu springen. Seine Schwester Heult-in-der-Nacht hielt ihn zurück.

„Ruhig Blut! Du weißt doch wie eine Geburt abläuft, und dass Nachtschatten nicht gestört werden darf. Erinnere dich an das vergangene Jahr als deine Söhne zur Welt kamen!“

„Diesmal ist es anders“, sagte Büffeltöter. „Das kann ich wittern.“ Er zog die Nase kraus und schnüffelte aufgeregt in den sanften Frühlingswind.

Heult-in-der-Nacht sprach ihm gut zu. „Vertraue auf den Schöpfer, die Kraft von Manitu. Er ist der Herr unseres Schicksals. Der Lenker jedes Augenblicks. Was immer auf der Welt geschieht, es passiert nach seinem Plan.“

Während die alte Wölfin sprach, glänzten ihre Augen weiß wie die Sterne. Büffeltöter schaute sie gebannt an.

Er bewunderte wieder einmal die Gelassenheit und Weisheit, die er im Gesicht seiner Schwester entdeckte. Auf ihrer Stirn schlängelten sich die silbergrauen Haare zu einem Muster, das wie die Sichel eines Halbmonds aussah. Ein Zeichen, dass sie mit den Mächten des Himmels im Bunde war.

„Schwester, ich weiß, du verstehst dich auf das Wirken unseres großen Gottes Manitu. Du kannst in die Zukunft sehen. Warum dauert es diesmal so lange? Was geschieht mit Nachtschatten?“, fragte Büffeltöter.

Bevor Heult-in-der-Nacht antworten konnte, kam Freddy, der Fuchs, aus einem Busch gewetzt. Er fragte freundlich: „Na, habt ihr eure Jungen schon?“

Büffeltöter knurrte: „Was geht`s dich an, du elender Hühnerdieb? Hau ab und verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist!“

Der entsetzte Freddy rannte schleunigst weg.

„Der ist genauso feige und faul wie diese widerlichen Raben“, sagte Falkenauge.

„Mein Sohn, da hast du Recht“, stimmte der Leitwolf zu. „Wenn ich an dieses Diebsgesindel nur denke, wird mir übel.“

Mit ihrer heiseren Stimme mahnte Heult-in-der-Nacht den werdenden Vater: „Anstatt auf die Raben einzuhauen, solltest du hoch zum Himmel sehen. Du wolltest doch wissen, warum du so lang auf deine Welpen warten musst.“

Büffeltöter nickte schweigend und sah hinauf.

Seine Schwester sagte: „Achte auf den Lauf der Sonne!“

Goldene Strahlen tanzten über das klare Wasser des nahen Flusses, brachen durch die Baumkronen am Waldrand und landeten direkt vor Büffeltöters grauen Pfoten.

„Das, mein Lieber, ist ein Zeichen Manitus! Ein Ereignis von Besonderheit steht bevor“, verkündete Heult-in-der-Nacht. „Und auf Besonderes muss man immer ein wenig länger warten“, fügte sie schmunzelnd hinzu. Ihre Nase wies auf einen Schmetterling, der durch das Sonnenlicht flatterte. „Siehe den Falter! Er ist ein Symbol für Veränderung, die uns Wölfen bevorsteht.“

Alle Mitglieder des Rudels stellten ihre spitzen Ohren auf. Was sollte sich denn bei ihnen verändern? Die Dinge waren doch gut, so wie sie waren.

„Veränderung? Zum Guten oder zum Schlechten?“, fragte Büffeltöter misstrauisch.

Heult-in-der-Nacht schloss für einen Moment ihre weißen Augen, als würde sie tief in sich schauen, um die Antwort zu finden. Dann meinte sie: „Deine Welpen, die soeben den ersten Duft der Erde riechen, werden uns Wölfe auf einen neuen Kurs führen.“

„Neuer Kurs?“, sagte Büffeltöter irritiert. „Habe ich das Rudel bisher etwa falsch geführt?“

Stopft-sich-voll jubelte: „Vielleicht zeigen sie uns ein Schlaraffenland, in dem jeden Tag der Mittagstisch reichgedeckt ist mit Fleisch und Fisch.“

Silberfell schüttelte ihre leuchtend helle Mähne, die genauso sauber gepflegt war wie ihre blankgeputzten Zähne. „Denkst du immer nur mit deinem Magen?“, fragte sie. „Also ich brauche keine Veränderung. Schon gar keine Luftveränderung. Ein Umzug würde mir überhaupt nicht passen. Ich find`s schön in unsrem Wald. Für meine Haut ist das Klima ideal. Dazu gibt es genug Pflanzen, Gräser und Beeren für eine gesunde und biologisch einwandfreie Ernährung.“

„Gras? Pah!“, schnaubte Stopft-sich-voll. „Da verputze ich doch lieber einen Wapiti-Hirsch!“

Silberfell streckte sich und hob stolz ihren zierlichen Kopf.

„Man sieht`s dir an, wie viel Fleisch du frisst. Ich dagegen habe eine tadellose Figur dank meiner Salat-Diät.“

„Ein vegetarischer Wolf. Hat man sowas schon gehört? Du spinnst ja, Schwesterchen“, entgegnete Stopft-sich-voll.

Die beiden hätten ihre übliche Zankerei sicher fortgesetzt, wenn nicht ein lieblicher Gesang erklungen wäre. Brautschauer erkannte ihn sofort. „Es ist Mamas Stimme! Ich glaub, die Kleinen … sie sind da!“

Nachtschatten sang ihren Dank zum Himmel für die gesunden Babys, die ihr geschenkt worden waren.

„Komm und schau dir das Wunder an!“, rief sie Büffeltöter zu.

Der große Wolf war sofort zur Stelle und spurtete schleunigst in die Höhle, um nach seiner Frau zu sehen. Sie sah müde aus,doch auch dankbar und zufrieden. Zwischen ihren Pfoten lagen zwei kleine Wölfchen. Noch blind und taub und mit kurzen flauschigen Haaren bedeckt. Ihr Fell bekamen sie erst später, wenn sie älter wurden. Auch Augen und Ohren öffnen sich bei den Wölfen erst nach ein paar Wochen.

„Wir haben einen Sohn und eine Tochter – ist das nicht schön?“, fragte Nachtschatten. Liebevoll leckte Büffeltöter über die Wange seiner Gefährtin und sah fröhlich grinsend auf seine beiden Kinder.

Brautschauer, der seinen Hals in die Höhle reckte, meinte: „Oh weh, die sehn ja aus wie Schweinchen mit ihren kurzen Beinen und dem rosa Stummelschwanz! Hattest du nicht gesagt, aus denen soll etwas Besonderes werden?“

Heult-in-der-Nacht nickte bedächtig. „Mancher hat klein und unscheinbar angefangen, der nachher großen Ruhm erwarb.“

Büffeltöter stieß ein Jubelgeheul aus, das er sonst nur nach einer erfolgreichen Jagd erklingen ließ. Das Rudel stimmte ein und selbst die zarten Welpen begannen, vor sich hin zu kläffen.

Die ganze Familie Wolf hatte ein Lächeln im Gesicht. Nur Falkenauge blinzelte verstört. Würden ihm seine Geschwister die Nachfolge von Büffeltöter streitig machen wollen? Dann bekämen sie nichts zu lachen, schwor er still bei sich...

Kapitel 2, in dem Familie Rabe ein Fest feiert

Nicht sehr weit entfernt von den Wölfen lebte ein Rabenpaar auf einem Ahornbaum. Das Männchen hieß Odin und war der Chef des Rabenclans. Seine wunderschöne Frau, um die ihn alle Männchen beneideten, trug den Namen Freya. Beide warteten ungeduldig darauf, dass ihr Küken schlüpfte. Als es in einer mondhellen Nacht endlich die Schale seines Eis durchbrach, war die Freude riesengroß. Es war das erste Küken von Freya und Odin. Ein Junge! Der kleine Rabe sollte einmal mutig und voller Stolz das Erbe der Eltern antreten und die Leitung der Rabenfamilie übernehmen. Deshalb war Odin der Meinung, dass sein Kind nach einem mächtigen Gott benannt werden sollte. Also nannte er ihn nach dem Gott des Donners: Thor. Und noch etwas war ganz besonders an Thor. Er kam aus dem einzig noch verbliebenen Ei des Nestes. Denn eigentlich waren es zu Beginn vier Eier gewesen, aus denen vier Küken schlüpfen sollten.

Doch eines Nachts, als Freya auf Jagd und Odin einen kurzen Augenblick eingeschlafen war, kam ein Eindringling zum Ahornbaum und raubte die Eier. Eines hatte er allerdings übersehen und zurückgelassen. Alle Raben hatten die Wölfe im Verdacht. Sie waren schließlich Raubtiere und jagten alles, was ihnen in den Weg kam. Beide Familien waren seit Generationen verfeindet. Da lag es doch nur nahe, dass ihnen die Wölfe eins auswischen wollten, dachten die Raben. Bestimmt war es ihr Anführer Büffeltöter gewesen, der die Idee für diesen Raub ausgeheckt hatte. Der Schock und die Trauer um die verlorenen Eier waren groß. Aber die Freude über die Geburt von Thor tröstete die Eltern. Sie nahmen sich vor, ihr geschlüpftes Küken nicht mehr aus den Augen zu lassen und es immer zu beschützen.

Nachdem Thor aus seiner Eierschale gekrochen war, veranstalteten die Raben ein großes Fest, zu dem alle Verwandten eingeladen wurden. Der Ahornbaum war geschmückt mit bunten Fäden, die Opa Jakob in einem Garten der Menschen stibitzt hatte. Außerdem gab es frische Beeren aus dem Wald, für jeden so viel, bis er beinahe platzte. Jakob war das Schlitzohr der Familie und wusste lustige, aber auch spannende Geschichten zu erzählen. Seine Frau Hedwig war die einzige, die ihn dabei immer ermahnte.

„Du und deine Geschichten. Deine Fantasie ist einfach zu groß“, pflegte sie zu sagen. Aber wenn Jakob zu sprechen begann, wurde auch sie von seinen Schilderungen mitgerissen und war insgeheim sehr stolz auf ihren Mann. Zugegeben hätte sie es niemals, da sie ihrer Rolle als strenge Oma und Älteste der Sippe gerecht werden wollte. Ihrer Meinung nach musste jemand für Zucht und Ordnung sorgen, sonst würden sich am Ende alle gegenseitig auf der Nase herumtanzen.

Insgesamt waren zwanzig Raben zur Feier des Tages im Ahornbaum versammelt und begrüßten den kleinen Thor in ihrer Gemeinschaft. Alle gratulierten Freya und Odin zu ihrem ersten Küken und versprachen, bei der Aufzucht zu helfen. Denn solch einen jungen Raben großzuziehen, bedeutete viel Arbeit und konnte sehr anstrengend sein. Der Hunger des Kleinen würde unersättlich sein und die Eltern mussten Tag und Nacht auf die Jagd nach Beeren und Insekten gehen. Jede Hilfe war deshalb willkommen. Gemeinsam würden sie es schon schaffen. Das Geburtstagsfest dauerte einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang. Es wurde gesungen, gegessen und den Geschichten von Opa Jakob gelauscht.

Nach ein paar Wochen, in denen die Eltern und Verwandten fleißig Futter für den kleinen Raben gesammelt hatten, war Thor prächtig gewachsen. Der weiche Babyflaum war verschwunden und die ersten richtigen Federn kamen zum Vorschein, die schwarz im Sonnenlicht glänzten. Doch was war das? An einem klaren Morgen, als Freya den kleinen Thor in einer Pfütze badete, entdeckte sie eine mausgraue Feder an seinem linken Flügel. Voller Schreck rief sie nach Odin: „Komm schnell her, da stimmt etwas nicht!“

Es dauerte keine Stunde, bis sich unter den Raben herumgesprochen hatte, dass Thor kein komplett schwarzes Federkleid hatte – wie es sich für einen Nachfolger des Clanchefs eigentlich gehören sollte.

„Er ist ein Kuckuckskind“, rief Freyas Schwester voller Entsetzen.

„Ist er überhaupt ein Rabe?“, fragte Thors neidischer Cousin.

„Papperlapapp“, sagte Opa Jakob bestimmt, „Thor ist ein waschechter Rabe und Freya und Odin sind seine richtigen Eltern. Hört auf mit dem Gerede, nur weil ihr eifersüchtig auf sein Erbe seid.“

Nur um sicherzugehen, dass mit Thor wirklich alles in Ordnung war, riefen die Eltern den Rabenarzt Ole Einar zu Hilfe. Dieser schaute sich die mausgraue Feder genau an und sagte beruhigend: „Euer Piepmatz ist kerngesund und ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Thor ist etwas ganz Besonderes und wird einmal große Taten vollbringen. Die graue Feder wird ihm dabei helfen, sich in der Waldgemeinschaft durchzusetzen“.

Damit waren die Eltern und alle Verwandten beruhigt, auch wenn der Cousin immer noch seine Zweifel hegte.

Kapitel 3, in dem die kleinen Wölfe ihre Höhle verlassen und erste Regeln lernen

Acht Wochen nach ihrer Geburt durften die Wolfskinder zum ersten Mal den Schutz ihres Baus verlassen. Büffeltöter und Nachtschatten waren der Meinung, dass ihre Jungen nun reif genug seien, ein Stückchen der Welt zu erkunden. Wie richtige Wölfe sahen die Zwerge noch nicht aus. Eher wie dicke Teddybären mit spitzen Ohren und kurzen Beinen. Tapsig liefen sie durch das hohe Gras, das vor ihrer Höhle wuchs. Später, als erwachsene Wölfe, würden ihre Beine lang und ihr Herz und ihre Lunge groß und kräftig sein. Dann wären sie so gute Langstreckenläufer wie ihre Eltern, die an einem Tag 50 Kilometer weit traben konnten. An derart gewaltige Ausflüge war jetzt allerdings noch nicht zu denken.

Es genügte, wenn die Welpen rund um die Höhle stapften oder ein Stück in den Kiefernwald oder zum Fluss hinunter liefen.

Obwohl die beiden Zwillinge waren, unterschieden sie sich sehr voneinander. Das Fell des Jungen war völlig grau von der Schnauze bis zur Schwanzspitze. Wären da nicht seine schwarze Nase und die blauen Knopfaugen gewesen, hätte man ihn leicht mit einem Stein verwechseln können. Wenn er vor einem Felsen stand, erkannte man ihn kaum. Das Mädchen hingegen hatte weißes Haar, das von einem schwarzen Streifen verziert wurde. Er begann an einem Punkt zwischen ihren Ohren und lief über den Rücken wie eine Welle auf dem Meer. Ihre Augen schauten leuchtend braun und wissbegierig in die Welt. Überhaupt war das Mädchen sehr neugierig und als Erste zur Stelle, wenn es etwas Neues zu erforschen gab. Nie bewegte sie sich langsam, vielmehr schien sie es immer unglaublich eilig zu haben. Bald sprang und hüpfte sie wie ein Gummiball von einem Fleck zum anderen. Ihr Bruder war zaghafter, vorsichtiger, ja sogar ein bisschen ängstlich. Außerdem ziemlich ungeschickt, wie sich herausstellte. Eines Tages hatte er einen Fischreiher entdeckt, der ein Stück weit in der Wiese am Ufer stand und sich putzte. Ins Gras geduckt schlich der Wolf-Junge auf Zehenspitzen heran, um den Reiher mit einem gewaltigen Sprung zu erschrecken. Der Vogel aber hatte den Kleinen längst bemerkt und beobachtete jede seiner ungelenkigen Bewegungen aus dem Augenwinkel. Als der Wolf-Junge zum Sprung ansetzte, flog der Reiher graziös und mit einem krächzenden Lachen davon. Der Welpe schaute verdutzt in die Luft. Rasch wollte er dem Reiher hinterherlaufen. Aber seine kurzen Beine blieben an einer Wurzel hängen. Rumms – landete er platt auf dem Bauch. So erging es ihm häufig. Es gab keinen Tag, an dem er nicht über seine Pfoten stolperte und auf die schwarze Nase plumpste.

Wie alle Kinder, so mussten auch die jungen Wölfe sehr viel lernen. Ihre Lehrer waren die Eltern und die Brüder, die Tanten und der Onkel. Jeder gab sein spezielles Wissen weiter. So war Silberfell für den Unterricht in Schönheitspflege und melodischem Gebell zuständig. Heult-in-der-Nacht erzählte von den Geboten des großen Manitu, dem Schöpfer der Erde.

„Seid ehrlich und freundlich zueinander. Helft euch gegenseitig. Lügt nicht, stiehlt nicht, tut dem anderen nicht weh – wenn ihr euch an diese Regeln haltet, wird Manitu fröhlich sein und euch Glück und Freude schenken“, erklärte Heult-in-der-Nacht. Sie zeigte den Welpen auch, was die Sternbilder am Himmel bedeuten und wie man das Wetter am Stand der Wolken voraussagen kann.