Green Scales - Katharina V. Haderer - E-Book

Green Scales E-Book

Katharina V. Haderer

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Beschreibung

Teil 1 Blue Scales Teil 2 Green Scales "Ein Jahr. Zwei Arenen. Von einem Duell zur nächsten Schlacht." Die Suche nach ihrem leiblichen Vater führt Christie in die zwielichtigsten Viertel von Shousa, der Stadt der Drachen-Triade. Ausgerechnet ihre verhassten Drachenschuppen erwecken die Aufmerksamkeit zweier niederträchtiger Jäger, die Drachenwandler wie Ware verkaufen und Christie auf offener Straße entführen. In Gefangenschaft wird Christie vor eine schwere Entscheidung gestellt. Soll sie das Risiko eingehen, ihre geheime Identität zu verraten, in der Hoffnung dadurch Hilfe zu erlangen? Die Uhr tickt denn wer nicht verkauft werden kann, dem droht ein weitaus schlimmeres Schicksal.

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Green Scales

Die Drachen von Talanis - Band 2

Katharina V. Haderer

Copyright © 2017 by

Astrid Behrendt

Rheinstraße 60

51371 Leverkusen

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Alexandra Fuchs

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

www.alexanderkopainski.de

Bildmaterial: Shutterstock

Illustrationen: Katharina V. Haderer

ISBN 978-3-95991-411-6

Alle Rechte vorbehalten

Für dich Leser. Weil erst in deinem Kopf gedruckte Buchstaben zu Magie werden.

Ein exorbitantes Dankeschön an …

… Phips für seine Inputs zum Kampftraining.

… Super-Sis Anni für ihren ersten Leseindruck, den

ich ihr – schwupps – immer mal schnell auf den Kindle

schicken darf.

… an das Team vom Drachenmond-Verlag für seine viele

Arbeit, jedes Buch besonders zu machen.

… an die TestleserInnen & UnterstützerInnen sowohl von

Roman als auch Novelle: Danke für die wertvolle Zeit,

die ihr mir geopfert habt, allen voran voran meine Mama,

Belli, Uli, Julius, Sophia, Susanne, Alex F., Marina, Madita

Britta, Beate, Magdi & Nathalie. Ihr rockt!

Inhalt

1. Anwärter

2. Rotieren

3. Das Talanidische Viertel

4. Goldene Fächer

5. Rote Laternen

6. Die Nacht zieht auf

7. Ich hätte Zuhause bleiben sollen

8. Ausschussware

9. Transformation

10. Meister Nacht

11. Der Käfig

12. Das Mädchen und der Drache

13. Drachen, die Drachen jagen

14. Lederpolitur

15. Papa

16. Familienkrise

17. Zurück unter den Lebenden

18. Prioritäten

19. Drachenzahn

20. Frost

21. Entfesselt

22. Anvertrauen

23. Atemzug

24. Satz und Sieg

25. Gold

26. Grun

27. Drache und Phönix

28. Gedankenalarm

29. Nachtfontäne

30. Nackt

31. Kinju

32. Verwandtschaftsbesuch

33. Fisch im Netz

34. Angriff und Verteidigung

35. Atemübung

36. Sklavenherrin

37. Augen auf den Himmel

38. Schuppenmuster

39. Und sie wird zu Schaum auf dem Meer

40. Abbitte

41. Opal und Mondstein

42. Totenmarsch

43. Klauen zwischen Schuppen

44. Freigiebig

45. Kandidat

46. Im Käfig frei

Begriffslexikon

Über die Autorin

Bücher von Katharina V. Haderer

Kapitel 1

Anwärter

Wer hätte gedacht, dass so viele Speichellecker für einen einzigen freien Platz im Stadtrat kandidieren würden? Misstrauisch beäuge ich die zehn Bewerber der heutigen Vorstellungsrunde. Ein Interview reiht sich an das nächste und erfüllt unser aller Leben mit schrecklicher Monotonie. Keiner der bisherigen Kandidaten erscheint mir geeignet, den Stuhl zu besetzen, der durch das Dahinscheiden von Anne Devoye frei geworden ist.

Meine beste Freundin Cordula, die heute im Rat ihre Eltern vertritt, behauptet zu Recht, auch bei Anne Devoye hätte es sich um keine Idealbesetzung gehandelt. Ihrem Verrat habe ich es schließlich zu verdanken, dass ich von einem rachsüchtigen Wolfsrudel entführt worden bin. Obwohl ich auf die verstorbene Hexade-Matriarchin zornig sein sollte, verbinde ich keinerlei negative Gefühle mit ihr. Denke ich an Anne, sehe ich nur die gebrochene Frau, die in einen Käfig gezwängt wurde, von den Wölfen als Haustier gehalten, oder später ihren zerbissenen Katzenkörper, den wir in einem kleinen Sarg zu Grabe getragen haben.

Ihre Tochter Lisbeth – ebenfalls eine Gestaltwandlerin – überlebte die Herrschaft der Wölfe zwar, hat bisher jedoch noch nicht in ihre menschliche Gestalt zurückgefunden. Als Katze hat sie sich bei einem Hexade-Nachfolger einquartiert. Nicht einmal Viktorius Horasch selbst ahnt, wie genau er zu dieser Ehre gekommen ist. Lisbeth und er standen sich in keiner Weise nah.

Mein Blick gleitet in seine Richtung. Viktorius sitzt neben seinem Patriarchen, die Handwerkerarme in einem verblichenen T-Shirt vor der Brust verschränkt. Er sieht aus, als wäre er von einer Baustelle direkt hierhergekommen und hätte sich eben noch den Bauarbeiterhelm vom wehenden blonden Haar gezogen. Auf seinen Stiefeln befinden sich Farbspritzer. Während sein Patriarch mit der Müdigkeit kämpft – sein Kinn mit dem vergilbten Bart sackt zusehends Richtung Brustbein –, lauscht Viktorius dem momentanen Bewerber mit entsprechendem Ernst. Als spüre er meinen Blick, dreht er den Kopf in meine Richtung.

Ertappt wende ich mich ab und versuche mich wieder auf den Kandidaten zu konzentrieren. Für gewöhnlich teile ich die Bewerber in drei verschiedene Typen ein – die Nervösen, die Großkotzigen und die übermäßig Untertänigen. Die Nervösen erkennt man an den ausgedehnten Schweißflecken unter den Ärmeln, dem nervösen Zucken ihrer Gliedmaßen und daran, dass sie trotz Mittermorgens entgegenkommender Interview-Führung immer wieder ins Stottern geraten.

Die Großkotzigen legen gerne eine gespielt gelangweilte Attitüde an den Tag, lehnen lässig auf ihrem Stuhl und versuchen allen das Gefühl zu vermitteln, wir müssten uns gefälligst bei ihnen einschmeicheln, großartig wie sie sind. Die anderen beiden Bewerbertypen sind den Großkotzigen natürlich ein Graus, stehen sie in der Nahrungskette weit unter ihnen. Meist geben sie sich nicht einmal in den Pausen mit ihnen ab. Zuletzt habe ich einen Typ 2-Bewerber dabei erwischt, wie er einen Typ 3-Bewerber – die Untertänigen – um ein Erfrischungsgetränk geschickt hat.

Jener letzter Typ sagt prinzipiell Ja zu jeder Frage, würde nach Aurora paddeln, um jemand anderem einen Gefallen zu tun, und grinst selbst dann noch, wenn Typ 2 ihm das Lächeln mit einem Vorschlaghammer aus dem Gesicht zu prügeln versucht.

Perzival Pensing-Palaver, unser momentaner Kandidat, ist eine Mischform aus Typ 1 und 3. Sein teures Sakko kann die Schweißperlen an seinem Haaransatz genauso wenig verbergen wie die glühenden Ohren, die zwischen seinem nussbraunen Haar hervorspähen. Die Nervosität lässt das Lächeln auf seinem Gesicht flackern. Er scheint sich stark konzentrieren zu müssen.

Perzival befindet sich in meinem Alter und ist der Neffe der Ratsmitglieder Paul und Peter Pensing. Dass sie ihn ausführlich auf die erste Bewerbungsrunde vorbereitet haben, erkennt man auch daran, dass Peter Pensing, der einige Stühle weiter sitzt, die Antworten seines Neffen parallel mit den Lippen nachformt.

Die beiden Brüder sind nicht die einzigen Hexade-Mitglieder, die versuchen, Freunde oder Verwandte auf den freien Platz zu hieven. Nach wie vor verstehe ich nicht, warum sich über hundert Bewerber für einen Posten gefunden haben, der außer Ansehen hauptsächlich Scherereien mit sich bringt.

Neben mir sackt Anselm Horaschs Kinn auf seine Brust und der Alte beginnt zu schnarchen. Das bemerkt auch der junge Bewerber. Sein Unterkiefer hängt sich aus, und sein Satz läuft in einem zerhackten Stottern aus.

Oliver Mittermorgen, der sich während der Bewerbungsphase als Gesprächsführer angeboten hat, dreht sich auf seinem etwas abseits stehenden Stuhl zu uns um und räuspert sich lautstark. »Vielleicht ist der Zeitpunkt für eine Pause gekommen«, schlägt er vor.

Niemand erhebt Einspruch. Als inoffizielles Sprachrohr der Hexade trifft Mittermorgen viele Entscheidungen, an die sich alle halten müssen. Üblicherweise beschwert sich niemand, denn er verhält sich taktisch klug und bleibt immer freundlich.

Stühle werden gerückt. Perzival Pensing, die restlichen Bewerber für den heutigen Nachmittag und die Hexade-Mitglieder strecken ihre Arme und Beine. Anselm Horasch blinzelt durch seine laschen Lider, als Viktorius ihm die Hand tätschelt und vorschlägt, frische Luft zu schnappen.

Neben mir taucht meine Freundin Cordula auf. »Ich brauche dringend ’ne Kippe«, erklärt sie, »sonst halte ich das nicht länger aus.«

An der Seite der Pensings, die ihren Neffen einkesseln, um ihn mit weiteren Tipps zu versorgen, verlassen wir das Ratsgebäude. 

»Feuer?«, fragt Peter Pensing, der wie Cordula Raucher ist. Meine Freundin nickt und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Der Patriarch lehnt sich zu ihr und führte seine gekrümmten Hände heran, ohne dass ich ein Feuerzeug oder Streichhölzer darin entdecken könnte. Plötzlich dringt ein Leuchten zwischen seinen Fingern hervor. Kurze Zeit später steigt Rauch aus Cordulas Zigarettenspitze. 

»Danke«, sagt sie und zieht mich die Stufen hinab, sodass wir in Ruhe sprechen können.

Auf dem Gehweg halten wir neben einer der gigantischen Steinvasen, die den Treppenaufgang zum Ratsgebäude flankieren. Cordula verschränkt die Arme, spitzt die Lippen und stößt den Zigarettenrauch aus, der vom klirrend kalten Wind davongetragen wird. Es nieselt, doch ich bin mir sicher, der erste Schnee lässt nicht mehr lange auf sich warten. 

»Peter und Paul sind unmöglich«, brummt Cordula. Mit ihren kräftig umrahmten Augen fixiert sie die beiden Brüder, die abwechselnd auf ihren Neffen einsprechen. Der junge Mann, der das nussbraune Haar sowie das gleichförmige Gesicht der Pensings teilt, reißt überfordert den Kopf nach links und rechts. Sobald ein Pensing-Bruder das Gespräch übernimmt, zieht der andere gierig an seiner Zigarette. Sie sind zwei seltsame Käuze – ich kann sie nicht sonderlich leiden. 

»So sind sie doch immer«, antworte ich daher.

»Glauben sie wirklich, ihr Neffe schafft es in die Hexade, indem er ihre vorgeschriebenen Floskeln herunterbetet?«

Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf, um mich vor dem Nieselregen zu schützen. Cordulas mit Haarspray zementierte, wasserstoffblonden Haare scheinen immun gegen den Wettereinfluss.

Nachdenklich saugt sie an ihren Wangenpiercings. »Ist dir aufgefallen, wie er immer wieder herübergesehen hat?«

Meine Augenbraue hebt sich. »Er war nervös.«

»Das meine ich nicht. Schau.«

Ich folge ihrem Blick. Perzival Pensing-Palaver starrt in unsere Richtung, die Augen leicht aufgerissen. Sein Kopf fährt wieder herum, als einer seiner Onkel seine Aufmerksamkeit fordert.

Fragend sehe ich meine Freundin an. »Und?«

Cordulas sorgfältig gezeichnete Augenbrauen verschieben sich auf eine Art und Weise, die mir verrät, dass sie mehr weiß als ich. 

»Du wirst es schon merken«, sagt sie und zieht ein letztes Mal an der Zigarette. Dann wirft sie den Glimmstängel auf die Straße und zertritt ihn. »Lass uns reingehen. Je schneller wir weitermachen, desto rascher bringen wir den heutigen Tag hinter uns.«

Ich folge Cordula und marschiere hinter ihr durch das Tor des Backsteingebäudes. Mein Blick kreuzt den des Pensing-Klons. Er starrt. Dann heben sich seine Mundwinkel wie in Zeitlupe, bis sie beinahe seine Ohren durchstoßen. 

»Was …?«, murmle ich, als ich das Tor durchschreite.

Vor mir lacht Cordula. »Die Pensings sind bereit, mit allen Mitteln zu kämpfen«, brummt sie. »Nimm dich in Acht.«

Meine Augen weiten sich, als die Bedeutung ihrer Worte in meinen Kopf sickert. Glaubt Perzival Pensing etwa, er könne mich anbaggern und somit beeinflussen?

Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und stiere finster zurück, bis das Tor hinter mir zuklappt. Cordulas Schritte hallen lautstark durch den Korridor, im Takt dazu klappern die Spielzeugautos ihrer Kinder in ihren Manteltaschen.

Auf dem Weg zum Saal, in dem die Vorstellungsgespräche stattfinden, begegnen wir Oliver und Charlêne Mittermorgen, zwei der Hexade-Mitglieder, die mit einer weiteren Hexade-Matriarchin – Großmama Pheng – in ein Gespräch vertieft sind. Als könne Letztere meine Gedanken lesen, rückt ihr Haupt wie das eines Geiers herum.

Pheng wird von vielen Menschen Großmutter genannt, mit denen sie gar nicht verwandt ist. Tatsächlich hat sie nur sehr wenig mit einer liebevollen Oma gemein. Selbst ihr Sohn, mein Ziehvater Long, nennt seine Mutter nur äußerst selten Mama. Als er nach seinem Gefängnisaufenthalt erfuhr, dass die Matriarchin der Familie mich nie offiziell in der Familie aufgenommen hat, löste er ihre ohnehin erkaltete Beziehung und kehrt ihr mitsamt der Hexade den Rücken zu. Weil er nicht länger dem Stadtrat angehört, war es mir auch möglich, den neutralen Posten als Iudex Poschovaris anzunehmen.

Der Iudex Poschovaris dient bei Streitigkeiten und Uneinigkeiten als neutraler Beobachter. Auch im Nachbesetzungsvorgang für den frei gewordenen Hexade-Platz besitze ich ein Stimmrecht. Das Gute an der Sache ist: Ich werde dafür bezahlt; und Geld hat meine Familie bitter nötig. Das Schlechte folgt auf raschem Fuß: Ich muss mich ständig mit Großmama Pheng auseinandersetzen, die mir mein Leben lang schreckliche Dinge an den Kopf geworfen hat.

Im Vorübergehen messen wir uns in einem Blickduell. Ihr Haar ist streng zu einem Knoten zurückgekämmt, die Augen sind, passend zu ihrer magischen Fähigkeit, schwarz wie die Nacht. Von ihr hat mein Cousin Zhang sein Talent für Nekromantie geerbt, die Fähigkeit zur Totenbeschwörung. 

Charlêne Mittermorgen stellt Pheng eine Frage, weswegen die Alte das Gesicht von mir abwendet. Währenddessen bemühe ich mich, den selbstsichersten Gang meines Lebens hinzulegen. Mich kann sie nicht länger verunsichern. Wenn ich es mir oft genug einrede, glaube ich vielleicht selbst einmal daran.

»Christine!«, ruft Oliver Mittermorgen und bringt damit mein Gehkonzept zum Wanken. Meine Beine verheddern sich. Ich versuche den Fauxpas mit einer Drehung auszugleichen und komme zum Stehen, die Hand an der Taille, als wäre ich soeben am Laufstegende angekommen. Mein Blick zuckt zu Pheng, doch sie ist in das Gespräch mit Mittermorgens Ehefrau Charlêne vertieft.

Der Ratsvorsitzende löst sich von ihrer Seite und eilt auf mich zu, unter den Arm einen Stapel Unterlagen geklemmt. »Ich habe dir mitgebracht, worum du mich letztes Mal gebeten hast. Unser Iudex Poschovaris soll schließlich für seine Entscheidung gerüstet sein.«

Etwas verwirrt sehe ich ihn an.

Er streckt die Hand aus und reicht mir das Zettelwerk, welches ich zögerlich entgegennehme. Dann erinnere ich mich. »Die schriftlichen Bewerbungen …« Jeder Anwärter musste ein Bewerbungsschreiben abgeben. Im Großen und Ganzen interessieren sie mich wenig. Stellengesuche erzählen nur kleine Ausschnitte eines Lebens (und mein eigenes würde vermutlich kaum dazu einladen, mich einzustellen). Für mich ist bloß die Hintergrundgeschichte eines ganz besonderen Bewerbers von Bedeutung.

Vorsichtig blicke ich von der Mappe auf. Ich will nicht, dass Oliver Mittermorgen allzu genau über mein Interesse Bescheid weiß. Er besitzt ein süßliches Lächeln, schmeichelnd wie Honig. Dazu passen auch sein kornfeldblondes Haar und seine goldenen Augen. Ich unterdrücke den Impuls, sein Lächeln zu erwidern. Das Verlangen danach drängt sich ganz automatisch auf.

»Danke«, sage ich. »Ich möchte mich informieren, bevor ich meine Entscheidungen treffe.«

»Dein Interesse freut mich«, erwidert er. »Es ist wichtig, diesen Platz an einen geeigneten Anwärter zu vergeben. Niemand sollte unüberlegt in die engere Wahl gezogen und somit in die zweite Bewerbungsrunde gewählt werden.«

Mein Mund öffnet sich, doch ich schließe ihn wieder. Ich möchte nicht zu auffällig nach Han fragen. Niemand soll über mein besonderes Interesse Bescheid wissen.

»Hast du noch Fragen?« Oliver hat einen untrüglichen Instinkt für die Bedürfnisse anderer. Das macht ihn zu einem erfolgreichen Kunsthändler und zur unangefochtenen Sprechfigur der Hexade.

»Etwas verstehe ich noch nicht ganz«, schließe ich zögerlich an. »Der erste Bewerber – Han …«

»Han Wei«, nickt Oliver.

»Sie meinten damals beim Treffen im Wintersteiner Palast, Han wäre bereits ein Patriarch der Triade. Er gehört zu den drei Drachenfamilien Shousas.«

»Das ist wahr.«

»Warum bewirbt er sich dann für den Posten in Poschovar? Ist es möglich, Patriarch in zwei Städten zugleich zu sein?«

In seinem versteiften Jackett hebt Mittermorgen die Schultern. »Nun …«, erwidert er. »Es gibt zumindest kein Gesetz, das es verbietet.«

Das kratzende Gefühl in meiner Kehle lässt sich nicht hinunterschlucken. Ich weiß, dass ich mit folgenden Worten auf Glatteis trete. »Als Drache der Triade in Shousa … warum wollen Sie ihn bei uns in Poschovar haben?«

Mittermorgen blinzelt. »Warum denkst du, dass ich ihn hier haben möchte?«

»Er wurde im Vorstellungsprozess allen anderen Kandidaten vorgezogen.«

Einen Augenblick lang schweigt mein Gegenüber. Er dreht die Augen zur Seite, dann schnellt sein Blick wieder zu mir, haftet sich an meinem Gesicht fest. »Ich will ehrlich zu dir sein, Christine. Han Wei ist ein mächtiger Mann.« Er legt sich die Worte zurecht, bevor er weiterspricht. »Es gibt zwei Gründe, warum ich ihn verfrüht eingeladen habe. Zum einen wären seine Verbindungen, sein Wohlstand und sein Einfluss ein Gewinn für die Hexade …«

»… zum anderen wollen Sie es sich nicht mit ihm verscherzen.«

Mittermorgen zuckt mit den Schultern, führt die Bewegung jedoch nicht ganz zu Ende. Es ist schwer für mich, mir vorzustellen, jemand mit dem Einfluss und dem Wohlstand Mittermorgens könne sich von einem anderen Geschäftsmann beeindrucken oder beeinflussen lassen. Andererseits ist Han kein einfacher Geschäftsmann. Wer weiß, in wie viele illegale Tätigkeiten er verwickelt ist.

Ich knete meine Hände.

»Hast du sonst noch Fragen? Zum laufenden Prozedere?«

Hastig schüttle ich den Kopf. Aus den hundert Bewerbern wurden rund fünfzig zum Gespräch geladen. Nach den Bewerbungsgesprächen werden durch eine anonyme Abstimmung zehn mögliche Kandidaten für den Hexade-Platz ausgewählt.  Danach findet eine zweite Auswahlrunde statt. Dank meiner Position besitze ich ebenfalls eine Stimme.

Die Pensings traben an uns vorbei. Sie haben sich rechts und links bei ihrem Neffen eingehakt und schleifen ihn zwischen sich her wie Soldaten einen Gefangenen.Ihnen folgt träge Anselm Horasch, geführt von seinem Verwandten Viktorius. Wie genau sie in Beziehung stehen, wurde nie erwähnt. Horasch selbst hat keine Kinder, doch der Horasch-Clan ist groß und Viktorius gehört dazu.

Der alte Greis scheint schon wieder halb dem Schlaf verfallen zu sein, während das Gesicht des Jüngeren ein steinernes Mysterium bleibt. Er nickt mir zu, ich erwidere die Bewegung. Hinter ihm trippelt Großmama Pheng herbei. 

»Kommst du, Christine?«, schnarrt sie. »Du wirst schließlich nicht fürs Herumstehen und Gaffen bezahlt.«

Ich wünsche mir Zhangs Nunchaku – eine talanidische Flegelwaffe, die aus zwei Stöcken besteht, welche mit einer Kette verbunden sind –, damit ich es ihr an den Kopf schleudern kann. Bevor mir eine passende Erwiderung einfällt oder ich auf die Idee komme, die Unterlagen zu werfen, berührt mich Oliver Mittermorgen am Arm. Seine Präsenz wirkt beruhigend, wie ein warmes Bad, das auf meine Glieder drückt und mich schwer und wohlig fühlen lässt. 

»Lass uns gehen«, spricht er leise. »Die nächste Bewerberin findest du auf Seite 36, ich habe dir alles nummeriert.«

Kapitel 2

Rotieren

Am Ende eines kräfteraubenden Nachmittags voll von sich selbst lobpreisenden Anwärtern, strample ich auf meinem neuen Fahrrad nach Hause, kette es an die Feuertreppe und laufe die Treppe hinauf zu unserer Wohnung.

In der Sicherheit meines Zuhauses traue ich mich schließlich, einen Blick in die Bewerbungsunterlagen zu werfen. Ich setze mich aufs Sofa und blättere in den Aktennotizen. Als ich auf Han Weis Schreiben stoße, halte ich automatisch den Atem an. Bei seiner Biografie hat er die für Vesper übliche Schreibweise seines Namens verwendet, Wei Han, wobei es sich bei Han um den Familiennamen handelt. Ich traue mich kaum, weiterzulesen. Was werden mir diese Zeilen eröffnen? Ich lecke mir über die Lippen. Die Vorstellung, dass meine Mutter mit diesem Mann eine Affäre gehabt haben könnte, scheint mir momentan vollkommen absurd.

Ich versuche den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken und blättere in den Dokumenten. Han Wei, wie er nach talanidischer Schreibung heißt, ist zweiundfünfzig Jahre alt. Er wurde in Shousa geboren und wuchs in der Triade auf, in der bereits sein Vater eine Position als Patriarch innehatte.

Besonders interessiert mich sein Familienstatus.

Witwer.

Verdutzt blicke ich auf. Er war verheiratet gewesen und hat seine Ehefrau verloren? Ich widme mich wieder den gedruckten Lettern, sauge jedes Wort gierig auf, von einer ungewohnten Aufregung erfasst.

Als Beruf wird selbstständigaufgeführt.

Ich nage an meinen Fingernägeln, überfliege die wenigen Zeilen Motivationsschreiben, die sich wie eine Biografie lesen, die seine Sekretärin verfasst haben muss. Plötzlich lärmt der Schlüssel an der Wohnungstür. Ertappt klappe ich die Mappe zu, als meine Mutter durch die Haustür schlüpft. »Hallo, Christie, wie war dein Tag?«, fragt sie.

Wenn Mama wissen möchte, wie mein Tag war, meint sie damit alles, nur keine Hexade-Angelegenheiten. Daher zucke ich mit den Schultern. »Ganz okay«, sage ich. »Ist Lin bei dir?«

»Sie ist unterwegs«, erwidert Mama.

Aha. Unterwegs ist eine Art Losungswort dafür, dass sie sich mit ihrem Ex-(Ex?)-Freund Thomas McAvoy trifft.

Meine Mutter schlüpft aus der Jacke und fährt sich durch das ebenholzfarbene Haar. Ihre mandelförmigen Augen sind eine Spur heller als die meinen, da sie von mütterlicher Seite aus aurorische Wurzeln besitzt. Das ist einer der vielen Gründe, warum Großmama Pheng ihre Schwiegertochter nie richtig akzeptieren konnte. Wir leben zwar auf einem anderen Kontinent, aber verdammt – für ihren Sohn wäre nur eine reine Talanidin infrage gekommen.

Als Mamas Blick die Unterlagen auf meinem Schoß ertastet, verengen sich ihre Brauen. »Was ist das?«

Ich umfasse die Bewerbung, als müsste ich sie beschützen. »Nichts.«

Meine Antwort entlockt ihr ein Schnaufen. Sie findet es unmöglich, dass ich den Posten als Iudex angenommen habe. Als ich mein Gehalt der Familienkasse beisteuern wollte, blockte sie komplett ab. Dabei könnte das Geld unser aller Leben erleichtern.

Eine Weile sieht mich Mama an. Sie scheint etwas zu meinem Zweitjob sagen zu wollen, doch wie üblich entscheidet sie sich dagegen. »Einige Vorräte in unserem Laden neigen sich dem Ende zu«, sagt sie stattdessen. »Ich werde wieder nach Shousa auf den Markt fahren müssen.«

Shousa, die Stadt, in der ein dreiköpfiger Stadtrat das Sagen hat, besitzt ein Stadtviertel voll von talanidischen Einwanderern. Hier kaufen wir auch alles für unseren Laden, in dem wir talanidische Medizin und mehr oder weniger wirkungsvolles Zubehör vertreiben.

Als Patriarch der Triade lebt auch der Bewerber Han Wei dort. Ich lecke mir über die Lippen. 

»Soll ich statt dir auf den Markt fahren?«, folge ich einem plötzlichen Geistesblitz.

Mama bleibt auf dem Weg Richtung Küche stehen. Langsam dreht sie sich um. Ihre Stirn schlägt Falten. »Seit wann interessiert dich das? Du behauptest immer, die Märkte wären schrecklich öde.«

Mein letzter Besuch in Shousa ist eine Weile her. Ich mag Mister Rhee und seine Frau, doch der Einkauf zieht ein langwieriges wie auch langweiliges Ritual mit sich. Die wirklich spannenden Teile des talanidischen Viertels waren immer tabu für uns.

Ich versuche mich an einem unauffälligen Lächeln. »Nun … ich …« Ein Räuspern entkommt meiner Kehle. »Durch die Hexade helfe ich momentan weniger im Laden. Ich wollte dir etwas Arbeit abnehmen.« Han Weis Akte fühlt sich an, als würde sie meine Hände verbrennen.

»Du wirst rot, Christine«, mustert mich meine Mutter skeptisch.

»… habe … vorhin was Scharfes gegessen«, stoße ich aus.

Mama verlagert ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. »Du heckst doch etwas aus, nicht wahr?«

Hastig blinzle ich. Kann meine Mutter Gedanken lesen?

Schließlich zuckt sie mit den Achseln. »Ich plädiere an deine Weitsicht und nehme dein Angebot gerne an.« Sie verschwindet in der Küche und hantiert im Küchenschrank.

Ich entspanne die Arme, die Unterlagen knistern unter meinen Fingern. Was erhoffe ich mir überhaupt in Shousa herauszufinden? Schließlich kann ich schlecht vor Hans Haus auftauchen und anklingeln – Hallo, Iudex Poschovaris hier, wollte mal vorbeischauen. Wie sieht es aus? Hatten Sie einmal eine Affäre mit meiner Mutter?

Ich erhebe mich vom Sofa, schleiche in mein Zimmer und verstecke die Unterlagen unter meinem Bett. Eigentlich gibt es dazu keinen Grund. Jeder in meiner Familie weiß von dem Auswahlverfahren und dass ich daran beteiligt bin. Trotzdem habe ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, wenn ich dem Geheimnis meiner Schuppen nachgehe. Ein Geheimnis, das ich vor allen Menschen in meinem Leben verborgen halte.

Vor jedem bis auf Zhang. Mein Cousin, der neben Cordula mein bester Freund ist und bisweilen die nervigste und sturste Pestbeule, die die Welt jemals gesehen hat, weiß als Einziger über meine Schuppen Bescheid. Seitdem er allerdings aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, lässt er sich nicht mehr außerhalb seines Elternhauses blicken.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schreibe ihm eine SMS.

Christie:Heute?

Ein paar Minuten lang warte ich auf eine Reaktion. Wer Zhang eine SMS schreibt, hat momentan die beste Chance, eine Antwort zu erhalten – Anrufe ignoriert er nämlich gekonnt. Seine Stimmbänder haben starke Verletzungen erlitten, als Geralt ihm in Wolfsgestalt die Gurgel zerbissen hat. Die Verletzung hat nicht nur seine Stimme verändert, sondern auch dem Jungen, dem sie gehört. Mein Cousin, der sich seit jeher für den besten Fang der Gegend gehalten hat, vergräbt sich nun als zorniges Häufchen Elend unter seiner Bettdecke, anstatt mit seinen Schlachtnarben zu prahlen.

Mama, Lin und ich haben bereits zu Abend gegessen, als mein Vater nach Hause kommt. Das derzeitige Bauprojekt, bei dem er eine Stelle als Bauarbeiter gefunden hat, befindet sich je nach Anschluss eineinhalb bis zweieinhalb Stunden von zu Hause entfernt.

»Long?«, ruft meine Mutter aus dem Badezimmer. Die drehbare Wäscheleine quietscht. Ich lege mein Taschenbuch ab, das mich kurzfristig in eine andere, kitschige Welt entführten konnte, stehe auf und begrüße meinen Vater. Er berührt meine Schultern, küsst mich auf die Wange, seine Hände streifen meine Arme, als die Erschöpfung sie herabzieht. Der Schutzhelm, der von einem feinen Staubschleier überzogen ist, landet auf dem Haken der Umkleide, daneben sackt alsbald seine Warnweste herab wie ein neonfarbener, zerstochener Luftballon. Meine Mutter kommt aus der Küche und fragt, wie sein Tag war. Grunzend schlurft er ins Bad. Wenig später geht die Dusche an.

Die Arbeit auf dem Bau verlangt Long einiges ab. Er beklagt sich nicht, das würde er seiner Ehefrau gegenüber nie wagen – schließlich hat er sie durch seinen Gefängnisaufenthalt jahrelang mit ihren Problemen allein gelassen.

Als er geduscht hat, tappt er in Unterhemd und Jogginghose in die schmale Küche und lässt sich auf seinen Sessel fallen. Rauchend nimmt er ein verspätetes Abendessen ein und schlürft Nudelsuppe mit schwammigen Pilzen. Auf Mamas Fragen reagiert er einsilbig, weswegen sie bald aufhört, welche zu stellen. Dieser Abend verläuft wie die meisten in Stille. Papas neue Arbeit verlangt ihren Tribut.

Des Nachts höre ich ein Geräusch auf der Feuerleiter vor meinem Fenster. Schlaftrunken hieve ich mich in die Höhe und blinzle hinaus. Mein Vater sitzt im Unterhemd auf den Gitterstufen und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Unter ihm ziert nach wie vor ein Graffiti die Straße, eine Entschuldigung, die Thomas dort für Lin angebracht hat. Gedankenverloren sieht mein Vater darauf hinab.

Ich stemme das Fenster auf. Die kalte Luft zieht herein, weswegen ich die Bettdecke ergreife und mich mit ihr nach draußen zwänge. Das Feuergerüst kracht unter meinen Schritten. Neben meinem Vater lasse ich mich nieder und platziere den Überwurf so, dass er uns beide bedeckt. Eine Weile sehe ich ihm beim Rauchen zu. Der Geruch von Phönix Gold erfüllt die Luft, genau wie der Duft von Schnee, der darauf wartet, aus den Wolken zu segeln.

Schuldgefühle überkommen mich, während ich ihn im Licht der Laternen betrachte. Long war immer mein Vater. Er war es, bevor er ins Gefängnis ging, währenddessen, und ist es auch jetzt. Nach meinem leiblichen Vater zu suchen, erscheint mir plötzlich wie ein Verrat an ihm.

Die Decke verrutscht und entblößt die Schuppen an seiner Schulter. Schuppen, ähnlich wie die meinen. Mein Pyjama-Oberteil ist allerdings so geschnitten, dass es das dunkle Blau verdeckt. Über die Jahre habe ich meine Kleidung angepasst, sie dient mir als Verkleidung.Wären meine Schuppen nicht blau, sondern rot wie Longs, wäre alles gut. Wäre doch die ganze Welt farbenblind! Ich könnte als unerweckter Drache zwischen den Roten Drachen meiner Familie leben, als Tochter dieses Mannes, den ich trotz seiner Verfehlungen so sehr liebe und verehre.

Als ahne er meine Gedanken, sieht er mich an, die Hand mit dem Zigarettenstummel an das bärtige Kinn gelehnt. Dann lächelt er, bemüht sich, aufmunternd zu wirken, doch die Müdigkeit drückt den Versuch. Stattdessen schlingt er den freien Arm um mich und zieht mich an sich. Sein Geruch hüllt mich wohliger ein als jede Decke. Schweigend lauschen wir dem Gemurmel der entfernten Straßen.

Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob mein Ausflug nach Shousa eine so gute Idee ist, wie ich es mir nachmittags noch in meinem Kopf zusammengereimt habe. Vielleicht sollte ich einfach zufrieden sein mit dem, was ich habe. Ich brauche doch gar keinen leiblichen Vater. Dennoch drängt sich vor allem des Nachts immer wieder dieselbe Frage in meinen Kopf …

Ist Han Wei mein leiblicher Vater? Und falls ja, wie ist es dazu gekommen?

Kapitel 3

Das Talanidische Viertel

Meine Mutter bringt mich frühmorgens zum Busbahnhof, schärft mir einige Tipps zur Verhandlung mit Mister Rhee ein und küsst mich zum Abschied auf die Wange. Die erste Fahrtstunde schlummere ich vor mich hin, bis die Dämmerung dem Morgenlicht weicht und mich gänzlich weckt.

Mit einem Ruck wechselt der Bus die Spur. Sein tiefes Brummen wandert meine Beine empor. Ich umklammere den leeren Rucksack, während der Verkehr sich auf zahlreichen Fahrstreifen an uns vorbeischiebt.

Langsam tauchen wir in die Außenbezirke Shousas ein. Kaum übertritt man die Stadtgrenze, befindet man sich zwischen aufragenden Wohngebäuden und Industrieanlagen. Wir nähern uns zunächst den Hochhäusern im Zentrum, dann biegen wir zum Busbahnhof ab. Dort steige ich aus und fahre vier Stationen mit der U-Bahn, bis mich eine Rolltreppe an der Straße ausspuckt, die das talanidische Viertel begrenzt.

In Shousa lebt der größte Anteil talanidischer Einwanderer. Die meisten Zuwanderer dieses spät entdeckten Kontinents stammen aus Aurora, wenige aus Gilebret oder Nodhal. Dass Shousa so viele Talaniden anzieht, hängt vor allem mit der Triade aus Drachenwandlern zusammen, die hier seit Jahrzehnten die herrschende Funktion einnimmt.

In der Zeit, als der schmale Streifen zwischen Vorst-Sandhe und Mangana als Grenzlande oder Grenzzone bezeichnet wurde, um die sich die verfeindeten Staaten stritten, verwalteten sich die darin gelegenen Städte selbst. Bis heute existieren in diesem Streifen alte Strukturen von Herrscherfamilien und Familienräten, obwohl die Städte und Gemeinden nach dem vesperischen Friedenspakt offiziell den Staaten zugeteilt wurden.

Als ich die U-Bahn-Station verlasse, ziehen sogleich die schamanistischen Schutzzeichen an den Häuserfronten meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Gebäude des Viertels scheinen sich zueinander zu lehnen, als würden sie der restlichen Stadt den Rücken zuwenden. Umringt von verkehrsreichen Straßen wirkt der Bezirk in sich abgeschlossen. Inmitten der Traube aus talanidisch aussehenden Menschen falle ich kaum auf, besitze ich doch dieselben dunklen Haare und die mandelförmigen braunen Augen.

Das Viertel erstreckt sich nicht nur in die Horizontale, sondern auch in die Vertikale – zwischen den Spalten und Zugängen der hohen Gebäude sind bunte Lichter gespannt. An der Seite der Einwohner schlüpfe ich durch einen Gebäudespalt. Ein weißer Lampion mit schwarzem Schriftzeichen markiert, dass es sich um eine Gasse handelt, die direkt zum Markt führt.

Mir bleibt gar keine andere Wahl, als der Menge zu folgen. Der Klang der hier gesprochenen Sprache ist mir fremd und gleichzeitig vertraut. Ich frage mich, wie es wäre, hier aufgewachsen zu sein. Vermutlich könnte ich dann die verschiedenen Bevölkerungsgruppen an ihrem Akzent oder sogar an den für mich kaum erkennbaren Unterschieden ihrer Gesichtszüge ausmachen. Der honigsüße Duft kündigt den Blumenmarkt an. Zwischen den Gebäuden, die sich wie Pinguine aneinanderdrängen, beginnt das Marktgelände. Die Blumen bestechen nicht nur durch ihren intensiven Geruch, sondern auch durch ihre prächtigen Farben. Blütenketten aus gelben Chrysanthemen baumeln von den Dächern. In unzähligen Eimern bauschen sich üppige Pelargonien, Orchideen, Rosen und Magnolien – in leuchtenden Nuancen von Orange, Weiß, Rot und Zyklame. Die Händlerinnen scheinen im Blütenmeer zu versinken, zupfen welke Blätter aus den Kübeln und preisen lautstark ihre Ware an.

Während ich weitergeschoben werde, sauge ich die Sinneseindrücke ein. Langsam verändert sich der Geruch. Ich erhasche Blicke auf Lotusblüten, die in Holzschalen schaukeln, und Bottiche, in denen Fische mit schleierhaften Flossen zwischen Seerosen hindurchtauchen. In Glastanks schwanken schwerfällig Algen und Seetang. Kresse sowie Wasserminze werden aus Fässern abgeschöpft und als vitaminreiche Nahrungsmittel verkauft. Unter den schlammigen Duft von Meerespflanzen mischt sich der von Fisch und Muscheln, als ich mich dem Fischmarkt nähere.

Die Gräten, Halbinseln und Inselgruppen, die sich im Norden wie Klauen ins Meer krallen, werden vor allem von den Bewohnern der Landstriche Magandabanna und Mangajanna befischt. Die Talaniden von Shousa kaufen auch jene  Meeresfrüchte, die auf Vesper sonst kaum Verwendung fänden. Tonnen voll silbriger Sprotten, die in Plastiktüten geschaufelt werden, thronen neben walartigen Fächerflosslern, die wie fette Kühe von den Balken hängen. Mit scharfen Messern werden Streifen aus dem Fleisch geschnitten und in Papier eingeschlagen.

An einer Ecke verkauft eine Händlerin frittierte Seesterne am Spieß und bläulich-violette Muscheln, die Passanten aufknacken und aus der Schale schlürfen. In Tanks kleben stachelbewehrte Seeigel, Fische schweben wie Traumwesen durch das Wasser, manche wunderschön, schillernd und in herrlichen Farben, andere klobig, mit grausig-glotzenden Augen und ekligen Barteln.

Immer wieder versuche ich, einzelne Worte aus den Gesprächen herauszufiltern. In Talanis gibt es eine offizielle Amtssprache, die von den Guī-Ding gesprochen wird, der größten und dominierenden Bevölkerungsgruppe, zu der auch Großmama Pheng und der verstorbene Großvater Zuko – die Geister haben ihn selig – gehört haben. Nebenher existieren weitere Dialekte sowie teils stark abgewandelte Sprach- und Schriftformen. Ich verstehe nur wenige Worte, stand mit der Sprache genauso auf Kriegsfuß wie mit der restlichen Kultur meiner Großmutter.

Die Menge vor mir gerät ins Stocken, als jemand um Platz bittet und einen Wagen voll gewaltiger Kisten quer über die Straße schiebt. Neben einem Geschäft mit diversen Aquarien komme ich zum Stillstand und warte. Vor meiner Nase winken faustgroße Schildkröten mit ihren breiten Füßen, exquisite Muster masern ihre Panzer. Unbeobachtet verfolge ich das sanfte Wogen der Algen im Wasser, die schillernden Blasen, die an die Oberfläche steigen, das Flitzen nadelförmiger Fische, die vor jeder Bewegung zurückschrecken. Hinter den Aquarien kommt Bewegung in die Düsternis des zugehörigen Ladens. Eine Gestalt schält sich aus den Schatten. Auffallend ist vor allem die Kopfbedeckung, ein schalenförmiger Hut aus schwarz lackierten Weidenruten. An den kräftigen Waden, die aus einem dunklen, mantelartigen Kleidungsstück hervorragen, glaube ich trotz langen Haupthaars einen Mann auszumachen. Er unterhält sich mit dem Verkäufer und kostet eine dargebotene Leckerei, die verdächtig nach getrockneten Fischaugen aussieht. Hinter dem Verkaufstresen hängt eine vergrößerte, makabre Schwarz-Weiß-Fotografie einer toten Meerjungfrau, die kopfüber von einem Haken baumelt. Die Hände, zwischen deren Fingern sich transparente Schwimmhäute spannen, liegen auf dem Holzsteg auf. Ihre Haut scheint von schimmernden Schuppen überzogen, deren Farbe mir durch die Beschaffenheit der Fotografie verborgen bleibt. Das Haar schlingt sich wie Metallfäden über die Holzplanken.

Der dunkel gekleidete Mann dreht sich um, als spüre er meinen Blick. Überrascht stelle ich fest, dass er zwar Talanide ist, seine Augen aber hell sind und nahezu unnatürlich im schattigen Milieu des Ladens leuchten. Faltenlos wie er ist, könnte er sich in den Zwanzigern wie auch den Vierzigern befinden, älter schätze ich ihn nicht, denn sein Haar ist von einem satten Schwarz.

Als er mich bemerkt, haken sich unsere Blicke aneinander fest. Seine Brauen ziehen sich zusammen. Unangenehm berührt wende ich den Kopf ab. Diese Augen … möglicherweise ist er ein Interens, also ein Zwischenwesen wie ich.

Die Menge vor mir rückt voran, als die Ladung endlich die Straßenseite gewechselt hat. Ich beeile mich, den Fischmarkt zu verlassen und dränge mich zwischen den Menschenmassen hindurch. An einer Ecke schließt der Fleischmarkt an, doch ich schlüpfe in eine Seitenstraße, die zu Mister Rhees Laden führt.

Mister Rhees Geschäft befindet sich in dem Abschnitt, in dem getrocknetes Obst, Hülsenfrüchte, Gewürze und andere haltbare Waren vertrieben werden. Über meinem Kopf rotieren beschriebene Stoffstreifen, welche die Geister besänftigen sollen.

Ich erkenne Mister Rhees Geschäft an dem kobaltblauen Stoffdach, das ihm vorgespannt ist. Darunter drängen sich Tische mit Trockenwaren.

Ich bemühe mich zu der schmalen Tür, die in Mister Rhees Laden führt, und drücke sie auf. Ein Klingeln ertönt, allerdings nicht magisch-ätherisch wie unser Glockenspiel, sondern das einer gewöhnlichen Blechklingel.

Eine Männerstimme, die mich an das Knistern von Papier erinnert, ruft etwas auf Talanidisch. Hier bei Mister Rhee riecht es ganz ähnlich wie in unserem Geschäft – nach Tee, Pilzen, Räucherwerk, Ölen und getrockneten Blumen. Aus einem hinteren Raum bückt sich eine klein gewachsene Gestalt.

Meine Erinnerung gaukelt mir Mister Rhee größer vor, was möglicherweise daran liegt, dass ich schon Jahre nicht mehr hier war. Möglicherweise ist Mister Rhee aufgrund seines fortgeschrittenen Alters aber auch einfach geschrumpft. Sein Haar, das er zu einem exquisiten mehrschichtigen Knoten gebunden hat, ist schlohweiß, während sein Barthaar wie silberne Drahtfäden von seinem Kinn absteht. Er blinzelt durch eine überraschend moderne, bunte Brille, die nicht zu seinem traditionellen Gewand passen mag, und begrüßt mich auf Talanidisch.

Nachdem ich den mir bekannten Gruß erwidert habe, füge ich rasch an: »Ich spreche nur die Gemeinsprache. Mein Name ist Christine Song, ich bin Ruth Songs Tochter.«

Mister Rhee sieht mich verständnislos an, dann erblüht Erkenntnis auf seinem Gesicht. Seine Lippen spreizen sich zu einem Lächeln. »Christie-ya!«, ruft er aus und betont meinen Namen dabei eigentümlich, was zeigt, dass er sein Leben hier in einer abgeschlossenen, talanidischen Enklave verbracht hat. »Wie schön, dich zu sehen!« Er eilt auf mich zu und streckt seine Hand aus, schüttelt meine. Sie ist warm und knotig, wie die von Großmama Pheng, doch die Herzlichkeit in seinem Gesicht hat nichts mit der Matriarchin gemein. »Wie lange haben wir uns nicht gesehen! Ich habe mir so sehr gewünscht, dass du mich einmal besuchen kommst!« Dann verblüht die Freude und offenbart dahinterliegende Furcht. »Allerdings ist gerade ein schlechter Zeitpunkt.« Sein Blick wandert Richtung Fenster. »Man sagt, Drachenblüter wären verschwunden, weißt du?« Meine Hand liegt noch immer in der seinen. Er wirkt, als hätte er vergessen, dass er sie hält.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, erwidere ich, »ich kann auf mich aufpassen.« Möglicherweise sollte ich mir ›Christine Song, Zerschmetterin der Wölfe‹ auf die Stirn tätowieren lassen.

Als könne Mister Rhee meine Gedanken lesen, fügt er an: »Deine Mutter hat mir beim letzten Telefonat erzählt, was mit deiner Familie passiert ist. Eine scheußliche Sache.« Dabei gibt er nicht zu verstehen, ob er auf den Bruch meines Vaters mit der Hexade anspielt oder auf den Angriff des Wolfsrudels. Statt mich loszulassen, zieht er mich weiter. »Komm, Christie-ya, Misses Rhee Ômôni wird dir ein Anju zubereiten.«

Mit Misses Rhee Ômônimeint Mister Rhee seine Ehefrau. In der ethnischen Gruppe, zu der die Rhees gehören, bedeutet Ômôni ›Mutter‹.

Misses Rhee spricht ausschließlich Talanidisch – ein Nachteil, den es mit sich bringt, wenn man in einer abgeschlossenen Gesellschaft wie in diesem Viertel lebt. Sie erkennt mich sofort und empfängt mich mit einer Umarmung. Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, sie wäre meine Großmutter. Ihr Gewand duftet herrlich nach Yasmin und weckt alte Erinnerungen. Mama hat mir verraten, dass es Tradition ist, dass Frauen sich jeden Morgen frische Blumen zwischen die Schichten der Kleidung schnüren. Jede Frau wählt dabei eine andere Sorte wie ein spezifisch auf sie abgestimmtes Parfüm.

Misses Rhee streichelt meine Wange und sagt etwas zu mir, ich grüße sie in der Gemeinsprache zurück. Es hat uns nie gestört, dass wir einander nicht verstehen. Sympathie benötigt keinerlei Worte.

Der Nebenraum bildet das Empfangszimmer. In seiner Mitte steht ein niedriger Tisch, der von Kissen umringt wird. Ich erinnere mich daran, die Schuhe auszuziehen, wie es gute Sitte ist. Erst jetzt sehe ich, dass meine Socke ein Loch hat. Ups.

Mister Rhee scheint es nicht zu bemerken oder sieht darüber hinweg. Er bietet mir einen Platz an, während seine Frau Anju, Schalen mit Knabbereien, hauptsächlich Nüsse, Rosinen, aber auch getrocknete und gesalzene Fischchen, bringt. Besonders gern mag ich Misses Rhees selbst gemachte Gyeongdang, süße Reisbällchen, die zu unterschiedlichen Feiertagen bunt gefärbt werden.

Als Mister Rhee mich nach meinem Vater fragt, serviert seine Frau Blauen Tee. In Talanis ist der Austausch von Waren und Geld ein Vertrauensakt – der Käufer vertraut in die Qualität der Waren, die er erwirbt, und der Verkäufer vertraut darauf, dass die Qualität seiner Waren durch ein entsprechendes Preisangebot gewürdigt wird. Hierbei kann man sich ganz schön in die Nesseln setzen. Wer zu wenig Geld anbietet, beleidigt den Verkäufer.

Misses Ree kniet sich zu uns und befüllt die Teeschalen.

Ich versuche verzweifelt, mir alle Regeln der Höflichkeit in Erinnerung zu rufen. Während es mir bei Pheng egal ist, dass sie mich für eine unzivilisierte Banausin hält, möchte ich bei Familie Rhee einen guten Eindruck hinterlassen.

Als wir das zeremonielle Hin und Her hinter uns gebracht haben, packe ich die Liste für unseren Laden aus. Mister Rhee überfliegt sie und richtet immer wieder ein paar Worte an seine Frau. Kwi-Pilze und das dunkelblaue Yuè-Algen-Pulver bekomme er erst nachgeliefert, alles andere habe er vorrätig. Immer wieder verschwindet er im Vorraum oder dem Lager, Schachteln, Säckchen und Döschen beginnen sich auf dem Tisch zu stapeln. Als alles beisammen zu sein scheint, kehrt Mister Rhee ein letztes Mal mit einem Kästchen herbei, das einige Talismane enthält. »Der Schamane meines Vertrauens hat sie angefertigt«, behauptet er und zieht eines der Amulette hervor. »Das eingeritzte Zeichen soll seinen Träger beschützen.«

Ich lehne dankend ab, da ich nichts ohne das Einverständnis meiner Mutter kaufen möchte. Mister Rhee drückt mir dennoch eines der Amulette in die Hand, ein türkisfarben glasierter Keramiktaler mit einem eingestanzten Symbol, das mich an eine Blume erinnert. »Ein Geschenk für dich«, lächelt er. »Nicht dass dir noch einmal etwas passiert, Christie-ya.«

Ich wickle mir das Lederband um den Finger und betrachte den daran befestigten Talisman. Er ist durchaus hübsch. Die Farbe passt zu mir. 

»Das Zeichen wird dir einen Weg weisen, sollte dein Pfad einmal dunkel sein«, teilt mir der Alte auf kryptisch-talanidische Weise mit.

Ich bedanke mich. Sein Blick ist voller Erwartung, weswegen ich schließlich den Knoten löse, der das Lederband zusammenhält, und mir den Talisman um den Hals hänge. Kühl legt sich der Keramiktaler in die Kuhle meiner Kehle. Falls er irgendeine Art Magie enthält, spüre ich sie nicht. Allerdings zweifle ich daran, dass Mister Rhee mir tatsächlich etwas Magisches geschenkt hat. In Gegenstände gebannte Magie ist überaus teuer.

Während ich den letzten Schluck Tee trinke, packt das Ehepaar meine Bestellung in Tüten und verstaut sie in meinem Rucksack. Das Geld reiche ich Mister Rhee in einem Kuvert. Er bedankt und verbeugt sich, zählt es jedoch nicht nach. Es wäre eine unhöfliche Geste großen Misstrauens.

Ich verabschiede mich. Als ich den Laden verlassen möchte, steckt mir Mister Rhee noch ein weiteres Päckchen zu, das in Seidenpapier eingeschlagen ist. Der Inhalt ist weich, ich vermute kandierten Ingwer oder Rosenkonfekt. Das Ehepaar hat es schon immer geliebt, uns zu verwöhnen, da es selbst nie mit Kindern gesegnet war. Vertrauensvoll zwinkert mir Mister Rhee zu, als wäre ich nach wie vor das kleine Mädchen, das sich hinter Mamas Rockzipfel versteckt. 

»Pass auf dich auf, Christie-ya«, sagt er. »Am besten gehst du schnell nach Hause.« Er schlägt ein Zeichen, das böse Geister vertreiben soll.

Verhalten nicke ich. Eigentlich bin ich doch hier, um mehr über Han herauszufinden. 

»Mister Rhee?«, frage ich, während wir uns der Ladentür nähern. »Kennen Sie einen Han Wei?«

Ein überraschter Ausdruck fliegt über sein Gesicht. »Han Xiansheng?«, wiederholt er. Ich glaube mich zu erinnern, dass Xiansheng die offizielle Anrede von Männern der Guī-Ding, also der Gesellschaftsgruppe meiner Großmutter ist. »Natürlich, er ist ein Patriarch unserer Triade. Warum fragst du?«

Unsicher beiße ich die Zähne zusammen. »Ich bin ihm in Poschovar begegnet.« Ich versuche mich vage zu halten. »Er suchte Kontakt zur Hexade. Ich habe mich nur gefragt … was für eine Art Mensch er ist.«

Mister Rhee hebt die Schultern. »Gesehen habe ich ihn natürlich schon. Er ist ein wichtiger Mann. Ihm gehören Teile des Viertels und er vermietet zahlreiche Marktstände, genau wie die Watanabe- und die Wang-Familie.« Respektvoll nickt er. »Es ist eine große Ehre, mit ihm Umgang zu pflegen.«

In Poschovar ist das Amt eines Hexaden-Mitglieds zwar mit Ansehen verbunden, doch zwischen Ansehen und der Ehrfurcht, die ich in Mister Rhees Stimme höre, scheint ein weiter Schritt zu liegen. »Han Wei ist ein Drachenwandler, nicht wahr?« Als mein Gesprächspartner zustimmt, setze ich fort: »Sie sagten, Drachenblüter seien verschwunden«, spreche ich weiter. »Das verstehe ich nicht. Die Triade besteht doch aus Drachen. Wer sollte es wagen, ihnen etwas anzutun?«

»Es gibt Schwachblüter außerhalb der drei großen Familien, die keinen Schutz genießen«, erwidert Mister Rhee. Fragend sehe ich ihn an. »Die drei Familien haben seit jeher ihre Linien rein gehalten«, erörtert er. »Sie wollen den Drachen in ihrem Stammbaum bewahren. Früher wurden Kinder mit schwachem Blut verstoßen. Heute kann es sich die Triade nicht länger erlauben, unreine Kinder fortzugeben. Damit ihr Drachenblut erhalten bleibt, holen sie auch Frauen aus Talanis nach.«

Mister Rhee bemerkt meine Skepsis, denn er fügt an: »Han Xianshengs erste Frau war kein Drache, sie gehörte nicht einmal den Guī-Ding an, sondern den Yama-ni. Man sagt, sie hätten aus Liebe geheiratet, gegen den Wunsch beider Familien.«

»Was ist mit ihr passiert?«, frage ich.

Mister Rhee schlägt die Augenlider nieder. »Sie verstarb bei einem Autounfall, soviel ich weiß.«

Meine Lippen formen einen unsicheren Kreis. »Und Han Wei ist danach allein geblieben?«

»Später hat er erneut geheiratet. Eine Frau aus Talanis, sie war ein Blauer Drache wie er. Und eine Seomi.« Stolz spricht aus seinem Gesicht. »Das ist die ehrenwerte Gruppe, von der Misses Rhee und ich abstammen.« Han hat zweimal außerhalb seiner Familiensippe geheiratet. Das ist insofern ungewöhnlich, da die drei Bevölkerungsgruppen doch eine Tendenz haben, unter sich zu heiraten. Mein Vater gehört dem Erbrecht nach zu den Guī-Ding wie meine Großmutter, während meine Mutter von väterlicher Seite zu den Seomi zählt. Auch das war Großmama Pheng ein Dorn im Auge. Als Thien allerdings später Tante Kim heiratete – ebenfalls Seomi –, schien sie damit ihren Frieden gemacht zu haben. Sie fand immer noch genügend andere Gründe, Mama und mich zu verabscheuen.

»Ist Han Wei noch mit seiner zweiten Frau zusammen?«

»Sie starb bei der Geburt des gemeinsamen Kindes. Traurigerweise überlebte das Baby ebenfalls nicht.«

Der Gedanke bedrückt mich. »Er ist also ganz allein?«

»Han Xiansheng hat einen Sohn aus erster Ehe. Soweit mir bekannt ist, hat er kein drittes Mal geheiratet.«

Ich nicke langsam, halte jedoch in der Bewegung inne. Falls Han mein Vater ist, könnte ich einen Halbbruder haben. In meiner Speiseröhre bildet sich ein Knoten, der sich nicht fortschlucken lässt. 

»Danke für die Auskunft«, sage ich. 

All das muss ich erst verdauen. Ich verabschiede mich und öffne mit einem Klingeln die Tür.

»Geh direkt nach Hause, Christie-ya!«, ruft mir Mister Rhee hinterher. Er winkt, als die Tür hinter mir zufällt.

Nachdenklich mache ich mich auf den Rückweg. Einerseits beschäftigt mich, dass Han einen Sohn hat, andererseits frage ich mich, worauf zu stoßen ich erwartet habe. Ich hätte mir einen besseren Plan zurechtlegen sollen. Nicht auszudenken, wenn Han erfährt, dass ich ihm nachspioniere.

Gedankenverloren schleiche ich vor mich hin, werde rechts und links überholt, während auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Menschenstrom in die entgegengesetzte Richtung fließt.

Ein Mann sticht hervor – er ist groß gewachsen und pflügt sich durch die Menge. Angesichts seiner Körpergröße, seines hellbraunen, geschorenen Haars und seiner blauen Augen fällt er augenblicklich auf.

Erst als ich ein zweites Mal hinsehe, bemerke ich, dass ich ihn kenne. Im Gegensatz zum letzten Mal trägt er keinen Anzug, sondern legere Kleidung – Jeans und eine schwarze Lederjacke. Ich bleibe stehen und blicke ihm nach. Die markanten Narben seines Gesichts bestätigen mir:

Es handelt sich um Hans Leibwächter.

Einen Moment lang beobachte ich noch, wie die Menge an mir vorbeizieht, dann springe ich auf die andere Straßenseite und folge ihm.

Es fällt mir leicht, mein menschliches Ziel im Auge zu behalten, schließlich überragt es die meisten Passanten um knapp eine Haupteslänge. Überrascht stelle ich fest, dass nur wenige dem Aurora-stämmigen Mann Beachtung schenken. Möglicherweise ist er ein bekanntes Gesicht im Viertel, trotz seines untalanidischen Aussehens.

Die Möglichkeit, dass der Wächter sich auf dem Weg zu Han befinden könnte, steigert meine Aufregung. Ich spüre das Flattern in meiner Brust, meine Nervosität wächst. Die Hände um die Schulterträger meines Rucksacks gekrallt, dringe ich tiefer in das Viertel vor, immer den Hinterkopf des Wächters im Visier.

Wir durchqueren den Teil des Marktes, der hauptsächlich Reis- und Teigwaren feilbietet. Wie Haar hängen meterlange Nudeln zum Trocknen zwischen Stangen und formen einen spinnwebenartigen Baldachin; weißer, brauner, schwarzer und blauer Reis häuft sich in Jutesäcken mit umgekrempelten Rändern. Über schmale Seitengassen verlässt der Leibwächter den Lebensmittelmarkt und dringt in mir unbekannte Teile des Viertels vor.

Die Gassen verdunkeln sich. Die Dächer schließen die Häuserspalten beinahe gänzlich ab und verhindern, dass allzu viel Licht hindurchfällt. Wohin ist der Wächter unterwegs? Wohnt Han in der Nähe? Ich kann es kaum glauben, denn die Häuser wirken schäbig. Möglicherweise liegt seine Wohnung in einem der oberen Stockwerke, dicht unter der Sonne. Mein Blick wird hinaufgezogen zu dem schmalen Streifen Himmel, der sich mir offenbart. Als ich das Kinn wieder senke, ist der Wächter verschwunden.

Erschrocken halte ich an und sehe mich um. Ich kann keine Abzweigungen entdecken – er muss eines der Häuser betreten haben. Dumme, dumme Christie! Wie konnte ich nur so unaufmerksam sein.

Unschlüssig lege ich ein paar Schritte zurück und versuche herauszufinden, wohin er gegangen sein könnte, doch bei den Gebäuden scheint es sich um Privatwohnungen zu handeln.

Enttäuscht drehe ich mich um. Was hatte ich erwartet,  was getan, hätte ich Han getroffen? Ich habe mir ja noch nicht einmal eine richtige Ausrede zurechtgelegt.

Als eine Tür aufklappt, zucke ich zusammen. Ein Betrunkener taucht an einem in einer Vertiefung liegenden Treppenabsatz auf. Seine Beine halten ihn nicht länger, weswegen er plötzlich abtaucht. Lautlos taste ich mich heran, um nachzusehen, ob der Fremde vielleicht einen Arzt braucht. Die Tür zu dem Gebäude steht noch ein Stück offen, dumpf dringt Musik hervor. Im letzten Moment glaube ich noch eine Schulter in schwarzem Leder zu sehen, die zwischen einem Vorhang verschwindet. Dann fällt der Stoff zurück an Ort und Stelle. Neugierig recke ich die Nase. War das Hans Leibwächter?

Der alkoholisierte Mann auf den Stufen ballt die Faust und wettert in Richtung eines unsichtbaren Gegners. Er ruft etwas auf Talanidisch. Offensichtlich wurde er rausgeworfen.

Zögernd trete ich näher, traue mich jedoch nicht, die Treppe zu betreten, als der Betrunkene plötzlich den Kopf zurückkippt und mich anglotzt, ohne mich richtig fokussieren zu können. Er schnauzt mir etwas zu. Als ich das Kinn zurückziehe, lacht er belustigt. Die Tür fällt langsam ins Schloss.

Was erhoffe ich durch Hans Leibwächter herauszufinden? Doch für diesen Gedanken ist jetzt keine Zeit, nur für eine Entscheidung – nur für ein Ja oder Nein.

Ich kratze meinen gesamten Mut zusammen, springe an dem wankenden Mann vorbei, schlüpfe durch den Türspalt und betrete das Gebäude.

Kapitel 4

Goldene Fächer

Hinter schweren Samtvorhängen, welche die Türnische abdecken, ertönen Stimmen und das Hämmern von Musik. Einer der Sprechenden nähert sich. Als ich eine Bewegung an der Stoffbahn wahrnehme, rücke ich erschrocken zur Seite und tauche zwischen die Vorhangfalten. Ein Mann, vermutlich ein Türsteher, positioniert sich an der Tür und verschränkt die massigen Arme vor der Brust.

Offensichtlich dürfen hier nur geladene Gäste rein. Daher drücke ich mich wie ein stilles Mäuschen seitlich durch den Vorhang und schleiche den Korridor dahinter entlang.

Orte wie Pubs und Nachtklubs verlieren tagsüber nichts von dem Geruch, den sie sich des Nachts aneignen, es ist daher unangenehm, mich von meiner Nase durch die Düsternis leiten zu lassen. Der Gang biegt ab, vorsichtig taste ich mich um die Ecke. Eine Treppe führt hinunter, an deren Ende Hans Leibwächter entschwindet.

Je tiefer ich steige, desto schneller schlägt mein Herz, desto durchdringender wird der Geruch nach Alkohol und verschwitzten Leibern, desto klarer wird die Musik. Der Gang mündet in einen Raum, der von grau marmorierten Gipswänden und Plüschmöbeln gegliedert wird. Meine Augen zucken hin und her. In einer Ecke lungern zwei Männer und unterhalten sich, nippen an ihren Bierflaschen. Sonst ist niemand zu sehen – kein Wunder, schließlich ist es kaum Mittag. Allerdings taucht Hans Leibwächter auch nicht in meinem Blickfeld auf.

Meine Zähne graben sich in die Unterlippe. Einen Augenblick lang keimen Zweifeln in mir. Was verspreche ich mir hiervon? Was könnte ich diesen Mann fragen? Das erste Mal, als ich diesen Kerl vor unserer Wohnung angetroffen habe, schien er nicht sonderlich erpicht auf eine Unterhaltung.

Als ich hinter mir Schritte vernehme, trete ich automatisch die Flucht an. Ich bin mir nicht sicher, was passiert, wenn man mich erwischt. Ich husche die Wände mit den kitschigen goldenen Kerzenleuchtern entlang. An den Plüsch der Sofas und Sitzecken klammert sich hartnäckig Zigarettenrauch.

Ein Raumtrenner verspricht Sicherheit, also umrunde ich ihn und bleibe erschrocken stehen, als ich auf ein gewaltiges Aquarium stoße. Darin, von Scheinwerfern bestrahlt, schwebt eine reglose, in durchscheinendes Gewebe gehüllte Gestalt. Schnüre aus Gold schwirren durch das Wasser.

Meine Stirn schlägt Falten. Was ist das? Eine Kunstinstallation? Argwöhnisch trete ich näher. Mein Atem beschlägt das Glas, während meine Finger die glasklare Fassade entlangfahren und eine Spur in den Dunst wischen. Ich erkenne Arme, den Umriss eines Frauentorsos, ein Scherenschnitt vor grellem Licht. Handelt es sich um eine bemalte Schaufensterpuppe?

Als Bewegung in die Gestalt kommt, klatsche ich mir schockiert die Hände vor den Mund. Die Fäden rotieren durch das Wasser, brechen dabei das Licht wie Goldketten. Wie Fächer klappen durchscheinende Membrane auseinander, entblößen ein weibliches Gesicht. Kiemen blähen sich an einem schlanken Nacken, rote Schlitze, durch die das Wasser pumpt. Die Erscheinung taucht zu mir heran. Das Durcheinander aus Goldfäden bildet ihr Haar, welches das Wasser zu durchweben scheint. Ihre Haut erstrahlt wie poliertes Gold. Schillernd rotiert das Wesen um sich selbst und entblößt dabei einen Fischschwanz, an dem transparente Flossen sitzen, die ich zunächst für eine Art Stoff oder Kleidung gehalten habe.

Betäubt trete ich einen Schritt zurück. Die Augen der Meeresgestalt halten mich gefangen. Das menschlich geformte Gesicht, mit winzigsten Goldschuppen überzogen, schwebt vor der Scheibe, die flache Nase berührt beinahe das Glas. Finger tasten über die durchsichtige Barrikade, zwischen ihnen spannen sich Schwimmhäute.

Dann öffnet das Wesen die Lippen und entblößt mit einem Lächeln ihr Gebiss. Schmal und stricknadelspitz, jeder einzelne Zahn so lang wie ein Fingerglied, erscheint das gehässig verzogene Maul eines Raubtiers. Ich reiße den Kopf zurück. Mein entsetzter Gesichtsausdruck wird von der Aquariumscheibe reflektiert und legt sich über das grinsende Wasserwesen. Seine Zunge taucht wie eine rote Schlange zwischen den Zähnen hervor und fährt über die obere Zahnreihe.

Ein Klopfgeräusch durchwandert das Wasserbecken. Die Meerjungfrau fährt herum, windet sich wie ein Fisch durch das Becken, das für einen Fischschwanz mit diesen Ausmaßen – sicher doppelt, wenn nicht dreifach so lang wie normale Beine – zu wenig Platz bietet. An ihren Ellenbogen und Flossenspitzen befinden sich schimmelartige Verfärbungen, womöglich ist sie krank.

Auf der gegenüberliegenden Aquariumseite erscheint eine undeutliche Gestalt. Worte auf Talanidisch dringen dumpf zu mir herüber. Als Reaktion darauf ertönt ein Lachen.

Die Meerjungfrau tastet die Tankseite vis-à-vis ab und versucht das Lachen zu imitieren. Der Laut, der sich ihrer Kehle entringt, lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen.

Diese Interens, jenes Zwischenwesen, dessen Art ich für ausgestorben hielt, ist eine Wildgestalt, dem Tier näher als dem Menschen. Das Gold seiner Schuppen und die menschliche Form dienen allein dazu, Beute anzulocken. Seine Natur entspricht einem Raubtier. Noch heute kann man in den Museen die blank genagten Knochen der Seefahrer betrachten, die man während der Besiedelung Vespers vor den Felsen der Küste fand, mit Abdrücken genau jener Raubtierzähne, wie ich sie eben zu Gesicht bekommen habe.

Vor mir zirkuliert der Fischschwanz. Seine breite Endflosse verdeckt mich wie ein Fächer. Ich schiebe mich zur Kante des Aquariums. Noch scheint mich niemand außer der Meerjungfrau bemerkt zu haben. Die Aquariumbeleuchtung  bricht sich zu meinem Vorteil an den Innenscheiben und lässt mich mit der platten Düsternis dahinter verschmelzen.

Um die Ecke entdecke ich Hans Wächter, der rücklings an einer Bar mit schwarz polierter Tischfläche lehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Aufmerksamkeit ist auf den Mann gerichtet, der zuvor gegen die Scheibe geklopft hat. Auch der Barmann lauscht ihm, genau wie eine Frau in einem roten Kleid, die auf einem drehbaren Barhocker hin und her wippt. Sie lacht über die Worte des Unbekannten und entblößt dabei ihr Zahnfleisch. Auf mich wirkt sie ähnlich raubtierartig  wie die Meerjungfrau im Tank.

Auf einer Bank sitzt ein weiterer Besucher, dessen Auftreten und Kleidung nicht zu diesem modernen Etablissement passen wollen. Er trägt eine traditionelle, ja altmodische Tracht, die so schneeweiß ist wie sein langes Haar. An seiner Seite lehnt ein dazu passender Hut. Unterlagen stapeln sich auf dem Tisch vor ihm, der normalerweise wohl nur Bierflaschen und Cocktailgläsern stemmt. Das beistehende Getränk ist unberührt. 

Der Weißhaarige schlägt ein Bein über das andere. An seinem Zeh baumelt eine Sandale mit Holzsohle. Er spricht in Richtung des Aquariums, nur die letzten beiden Worte erreichen mich. »… Han Xiansheng.«

Mein Herz bleibt stehen.

Han.

Ich presse meine Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzt.

Der Angesprochene lacht lautstark. Der Laut entringt mir ein Stirnrunzeln, denn es scheint so gar nicht zu dem Han zu passen, den ich kennengelernt habe.

Die Gestalt jenseits des Tanks setzt sich in Bewegung, verfolgt von den gierigen Blicken der Meerjungfrau. In mein Sichtfeld stolziert ein schlanker Mann in dunklen Markenhosen und einem purpurfarbenem Hemd. Obwohl ich ihn zunächst nur von hinten sehe, ahne ich sogleich, dass es sich nicht um Han handeln kann – er wirkt größer, dafür schmächtiger, das Haar tiefschwarz ohne Anzeichen von Grau. Als er den Leibwächter erreicht, legt er leger seinen Arm um dessen Schulter. 

»Du hast doch eine Ahnung von so was«, sagt er in der Gemeinsprache zu ihm. Kurz dreht der Talanide den Kopf, sodass ich sein Gesicht zu sehen bekomme. Er muss sich in den frühen Zwanzigern befinden, besitzt eine für Talaniden ungewöhnlich lange Nase und ein spitzes Kinn, das ihm einen koboldhaften Charakterzug verleiht. An der Brusttasche seines Jacketts baumelt eine Sonnenbrille. 

»Auf wen würdest du wetten?«

Hans Wächter rührt sich nicht. Die Narben, die von seiner Stirn durch das kurz geschorene Haar laufen, treten im Deckenlicht hervor. Er verlagert sein Gewicht. »Ich habe dazu keine Meinung«, sagt er schließlich.

»Ich bitte dich!«, ruft der junge Mann. Er greift nach dem Getränk, das ihm der Barmann reicht, und nimmt einen kräftigen Schluck. »Warum bist du so ein verdammter Langweiler, Jason?«

»Es ist das Geld deines Vaters, das du verwettest«, erwidert der Angesprochene.

Der Talanide verdreht die Augen und nimmt einen weiteren Schluck. Eine grellrosa Kirsche am Zahnstocher klimpert im Glas. »Du tust alles, um dein Herrchen glücklich zu machen, hm?«

Die Lippen des Wächters bilden einen Strich.

Der Talanide bleckt die Zähne zu einem Lächeln, dabei schiebt sich trotzig sein Kinn vor. »Da ich das Geld meines Vaters verwette, sollte es doch auch in deinem Interesse liegen, es an richtiger Stelle zu investieren, Jason.«

»Ich lehne mich so weit aus dem Fenster«, kippt der Angesprochene den Kopf zur Seite, »zu behaupten, dass es sich bei Kampfwetten um kein kluges Investment handelt.«

Ein Stöhnen entfährt dem jungen Mann, er verdreht die Augen. »Was weißt du schon!« Er leert das Glas und knallt es auf die Bar. Der Barmann beeilt sich, es mit einem vollen auszutauschen. »Du bist bloß der Prügelknabe.«

Jason wendet sich ab, sein Blick bleibt kurz an der Frau im roten Kleid hängen. Der Talanide, schon wieder das Getränk an den Lippen, hält im Trinken inne und verfolgt die Regung interessiert. Der Glasrand löst sich von der Unterlippe, sodass ein triumphierendes Lächeln sichtbar wird. Lässig platziert er seinen Unterarm auf der Schulter des Bodyguards.