Das Hotel - ein Mysterythriller - Katharina V. Haderer - E-Book

Das Hotel - ein Mysterythriller E-Book

Katharina V. Haderer

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Beschreibung

Haben wir uns nicht alle eine Auszeit verdient? Sonne, Strand und Meeresbrise? Doch was, wenn sich unser größter Wunsch als Alptraum herausstellt? »Urlaub ist alles, was wir wollen – Und dieses Hotel ist perfekt dafür.« Alice Kern tritt ihren Urlaub im Südseeparadies an – nur um rasch zu erkennen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Warum fehlen ihr Teile ihrer Erinnerungen? Wie genau gelangte sie auf die Insel? Wieso beobachtet das überfürsorgliche Personal jeden ihrer Schritte? Und was ist mit dem Mädchen aus dem Nebenzimmer geschehen, das von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwand? Alice fühlt sich zunehmend von außen kontrolliert. Doch ihr Versuch, aus dem Hotel auszuchecken, stellt sich als schwieriger heraus, als erwartet. Jemand ist daran interessiert, dass sie die Insel nicht verlässt. Und er greift zu ungewöhnlichen Mitteln, um das zu ermöglichen. Girl on the Train trifft auf Passenger

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katharina V. Haderer

Das Hotel

Mysterythriller

Copyright © 2022 by

Katharina V. Haderer

Friesstraße 23/1/16

2540 Bad Vöslau

www.katharinavhaderer.com

E-Mail: [email protected]

 

Lektorat: Michael M. Thurner

Korrektorat: Michaela Retetzki

eBook Layout: Katharina Haderer

 

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock, Unsplash, Pexels

 

ISBN: 9783819415746

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Teil 1: Urlaub

Kapitel 1    

Endlich Urlaub.

Mein Badeanzug lacht mir aus dem aufgeklappten Koffer entgegen. Eine Brise streicht durch das Fenster meines Hotelzimmers und bauscht die Vorhänge. Das Meeresblau lockt mich. Ich lehne mich gegen die Fensterbank und genieße den Anblick, der mein Herz erwärmt. Die Zimmerlage auf einer der oberen Etagen erlaubt mir einen Ausblick auf den Inselabschnitt.

Als heller Felsenstreifen zieht sich der Strand hinter wiegenden Palmen entlang. Wellen wippen daran auf und ab, doch sonst liegt er verwaist da. Das Leben tummelt sich unter mir, auf den für die Urlauber abgegrenzten Plätzen. Hellblau leuchten die akkurat geschnittenen Pools. Sonnenschirme bilden gelbe Kreise. Eisbuden, Rutschen,Hunderte Sonnenliegen, die sich aneinanderdrängen. Menschen, klein wie Ameisen. Stimmen werden an der Hotelmauer emporgetragen, zusammen mit der Meeresbrandung mischt sich alles zu einem radiohaften Rauschen.

Eigentlich ist all-inclusive doch sonst gar nicht mein Fall,schießt es mir durch den Kopf. Ich verdränge den Gedanken. Momentan bin ich einfach nur glücklich, jeglichen Stress hinter mir lassen zu können.

Ich bücke mich nach dem Badeanzug. Vom Kofferhenkel rollt ein zerknitterter Papierstreifen, auf dem mein Name vermerkt steht: Alice Kern, Wien.

Mit wenigen Schritten durchquere ich das Zimmer. Seine Ausstattung lässt sich am besten als effizient beschreiben. Eine Tür trennt den Raum von einer Badezimmernische ab. Rasch schlüpfe ich in meinen Badeanzug.

Ich freue mich über einen Bücherstapel auf dem Nachtkästchen. Zu lange bin ich nicht mehr zum Lesen gekommen. Mit den Fingerspitzen fahre ich über die Einbände – allesamt Liebesromane: Jane Austens Stolz & Vorurteil, Sturmhöhe von Emily Brontë, Goethes Leiden des jungen Werther,Liebe in Zeiten der Cholera. Romantische Literatur ist zwar nichts, was mich normalerweise sonderlich locken würde, aber wer stellt im Urlaub Ansprüche? Ein Taschenbuch gesellt sich zu meinem Handtuch in die Badetasche. Ich klemme sie mir unter die Achsel; Strand, ich komme!

Vor der Tür halte ich an. Kein Schlüsselloch, dafür eine Art Sensor neben der Türklinke. Was soll ich damit anfangen? Ich kneife die Lider zusammen und bücke mich danach.

Ein Klicken ertönt, ein scharfes Zischen folgt. Unvermittelt klappt die Tür vor mir auf.

Ein kühler Luftzug peitscht mir ins Gesicht. Ich würge einen Ausruf ab und weiche vor einer Gestalt zurück, die den Durchgang blockiert. Überrascht blinzle ich einer jungen Frau in dunkler Uniform entgegen, der Blusenkragen steif und spitz, als könnte man sich daran stechen.

Verwundert spitze ich die Lippen. »Wer sind Sie?«

Das Mädchen fährt sich über das streng gescheitelte, zum Knoten gefasste Haar. Mit der anderen Hand drückt sie sich eine Art Computer-Tablet gegen die Brust. »Bitte entschuldigen Sie, Frau Kern. Ich bin von der Rezeption. Wir haben bereits auf Sie gewartet.«

Ich schiele zur Türklinke. »Ich bin soeben erst angekommen und habe noch ein wenig die Aussicht genossen …« Was sage ich denn da, ich muss mich doch nicht rechtfertigen? »Sie können einfach so in mein Zimmer?«, füge ich schärfer an.

Ertappt schiebt die junge Frau die Unterlippe vor, blinzelt aus dunklen Augen. »Ich … wir haben uns nur Sorgen gemacht. Das Hotelpersonal hat Zugang zu den Zimmern, selbstverständlich nur für den Notfall …« Sie zuckt mit den Achseln. »Zur Reinigung oder falls jemand krank wird.«

Erneut bücke ich mich. Die Badetasche raschelt unter meinem Arm. »Wie schließe ich die Tür überhaupt ab?«

Das Mädchen – es befindet sich am Scheideweg vom Mädchen zur Frau, irgendwo zwischen achtzehn und zwanzig Jahren – zieht die Tür ein Stückchen weiter auf. Ich merke, dass sie zittert. Ist das ihr erster Tag? Genau wie es mein erster Tag ist?

»Der Zugang ist auf Ihren Fingerabdruck geprägt. Sehen Sie?« Sie presst den Daumen gegen den Sensor. Ein Klicken ertönt, ich sehe, wie der Bolzen im Schloss ausfährt. Ein rotes Licht leuchtet auf. Sie steht nun ganz nah, und ich kann die Härchen auf ihrer goldenen Haut sehen. Sie ist ein südeuropäischer Typ – dunkle Haare, dunkle Augen, vielleicht Französin oder Spanierin. Nervös leckt sie sich über die Lippen.

»Entschuldigen Sie«, sage ich versöhnlicher. »Ich habe mich nur erschrocken.«

Zögerlich hebt sie den Blick. Definitiv ihr erster Tag. Sie sieht mich an, als wäre ich besonders wichtig. Langjährige Mitarbeiter im Kundendienst verlieren diese Demut.

Ich suche nach einem Namensschild. »Wie heißen Sie?«, frage ich.

Irritiert blinzelt sie. »M-Madeleine«, erwidert sie.

»Madeleine – ich nehme an, ich muss noch einchecken?«

Sie schüttelt den Kopf, dann nickt sie hastig. Umklammert das Tablet, als ginge es um ihr Leben. Wenn man seinen ersten Job antritt, überwältigt einen dieses Gefühl gelegentlich. »Ich soll Ihnen alles zeigen«, sagt sie und dreht sich um, weist auf das Ende des Korridors. »Sind Sie so weit?«

Ich nehme den Sonnenhut vom Haken, bette ihn auf mein Haar und trete auf den Gang hinaus. Als ich die Tür hinter mir zuziehe, platzt eine vollbepackte Familie aus dem gegenüberliegenden Zimmer. »Morgen!«, röhrt der Vater, vollgepackt mit Aufblastier, Schwimmnudeln und Schwimmflügel.

»Guten Morgen«, grüßt Madeleine zurück. »Vergessen Sie nicht, Ihre Menükarte beim Schalter abzugeben.«

Der Vater lacht und kämpft sich die Hand frei, um sich demonstrativ über den Wanst zu streichen. »Würde ich nie vergessen!«

Ein Junge im Grundschulalter tastet geistesabwesend nach der Hand der Mutter. Zwischen ihnen hindurch hirscht ein Mädchen, ich schätze es auf dreizehn oder vierzehn Jahre, ein Reh mit gertenschlanken Beinen und schnittlauchgeradem Haar. Es hält auf den Fahrstuhl am Korridorende zu, eine Jugendliche auf der Flucht vor der eigenen Familie.

»Warte auf uns!«, ruft die Mutter und gerät mit ihrer Traglast ins Schwanken. Das Mädchen rotiert herum, zieht dabei eine Schnute und verschränkt die spargeldünnen Arme vor der Brust, stellt jedoch folgsam den Fuß auf die Türschwelle, als sich die Aufzugstür schließen möchte.

Wenig später drängen wir uns gemeinsam in der Fahrkabine, ich blicke direkt in die starren Augen der Aufblasschildkröte. Die Zeit verstreicht mit den Stockwerken, die wir hinabfahren. Als sich die Türen mit einem Pling! öffnen, platzt die Familie raus wie Popcorn. Ich will ihnen folgen, doch Madeleine hält mich mit einem »Frau Kern!« zurück.

Ich gucke auf eine Leiste mit Knöpfen, die die verschiedenen Stockwerke markieren. »Im Prinzip brauchen Sie die nicht. Der Aufzug ist durch Ihren Fingerabdruck auf die Ebene geprägt, auf der Sie nächtigen. Drücken Sie einfach den Daumen gegen das Panel. Befinden Sie sich auf Ihrer Etage, fährt Sie der Aufzug automatisch in diesen Teil des Erdgeschosses. Hier finden Sie nicht nur den Zugang zu den Speiseräumen«, sie tritt über die Schwelle und weist zu ihrer Rechten, wo sich hinter einer spiegelnden Halle Glastüren erstrecken, »genau wie zu den Sport-, Kreativ- und Erlebnisräumen.« Sie weist auf einen angrenzenden Gang. Ich glaube, mich an Sportplätze zu erinnern, als ich aus dem Fenster geguckt habe. »Und zu den Badegelegenheiten.«

Das Reh stakst soeben mit zehn Meter Abstand vor ihren Eltern durch das Haupttor. Dahinter strahlt der Grund weiß und der Himmel blau.

Madeleine winkt mich hinter sich her, auf eine ringförmig angelegte Rezeption zu, die sich im Zentrum der Halle wie eine Goldschlange selbst in den Schwanz beißt. Sie klappt ein Thekenstück auf und schiebt sich dahinter. »Jeden Morgen bieten wir verschiedene Menüs fürs Abendessen an. Bitte holen Sie sich dazu einfach die Karte ab und kreuzen die entsprechenden Wünsche an. Geben Sie diese bitte vor dem Nachtmahl ab, alles wird frisch für Sie in der Küche zubereitet. Untertags können Sie sich jederzeit an unseren zahlreichen Snackbars bedienen, der Speisesaal hat ebenfalls als Café geöffnet.«

Ich überfliege das Angebot und stecke die Menükarte in die Tasche. »Von wann bis wann gibt es Frühstück?«

Madeleine verzieht die Lippen zu dem Oh, das bereits zu ihr gehört wie der leicht verzweifelte Zug ihrer Brauen. Als wäre ich die erste Person, die eine solche Frage stellt. Vielleicht bin ich das auch. Erster Tag. Meiner und ihrer.

»Wir glauben hier nicht an Uhren«, sagt sie zu meiner Überraschung. Ihr Blick fliegt zu dem Tablet, das sie vor sich auf die Theke gelegt hat. »Machen Sie sich keine Sorgen deswegen. Kommen Sie einfach runter, wenn Sie morgens fertig sind. Das Abendessen wird über Lautsprecher auf den Badeplätzen verkündet.«

Ich runzle die Stirn und möchte etwas anfügen – habe ich hier einen Esoterik-Club erwischt, nachdem doch All-inclusive-Urlaube doch schon so gar nicht mein Ding sind?

Sie schiebt mir das Tablet zu. Eine Art Animationsprogramm entblättert sich vor meinen Augen. »Wir bieten täglich zahlreiche Freizeitaktivitäten an. Ob für Familien oder Einzelpersonen, jeder wird hier fündig. Wir bieten nicht nur Sportkurse an, sondern auch Kreativwerkstätten, Meditationseinheiten und interessante Fortbildungen.«

Die Vorstellung, zu den enthusiastischen Rufen eines Animateurs im Kreis zu hüpfen, entlockt mir ein gequältes Lächeln. Yoga-Einheiten mit einer Esoterik-Tante, die Uhren abgeschworen hat? Nein danke. Und Fortbildung, nachdem ich endlich meine stressige Arbeit hinter mir lassen kann? Mir entringt sich ein laubtrockenes Lachen.

Madeleines Blick zuckt irritiert. »Sie können einfach kurz vorher vorbeischauen, um sich anzumelden. Warten Sie …« Sie bückt sich hinter der Theke und schiebt mir einen weiteren Zettel zu, auf den sie das heutige Programm ausgedruckt hat. »Nehmen Sie den einfach mit.«

»Vielen Dank«, sage ich, »aber nein.« Ich schiebe das Papier zurück. Es fühlt sich eigenartig fest an, nahezu wie Kunststoff.

Ihr betretener Blick verrät mir, dass ich ihren sorgsam zurechtgelegten Plan durcheinanderbringe. »Danke«, füge ich mild an. »Ich werde heute einfach mal schwimmen gehen und ein Buch lesen.« Ich wende mich ab, doch Madeleine rattert weiter ihr Programm herunter.

»Es gibt mehrere Poolanlagen, eine für Familien, eine für Alleinstehende …« Sie bricht ab, als sie meinen Blick bemerkt. »I-ich meine ja nur, falls Sie Ihre Ruhe haben möchten.«

Ich werde meine Ruhe haben, aber dazu muss ich erst mal von dieser Rezeption fortkommen. »Ich werde lieber an den Strand gehen«, erkläre ich und schiebe den Fuß vor, um mich aus der Unterhaltung zu schleichen.

»W-wie?«

»Zum Strand. Ich mag Chlorwasser nicht.«

»Aber das geht nicht!«, ruft sie aus. Ihre Stimme quiekt.

Irritiert blinzelnd drehe ich mich um. »Wie bitte?«

Sie saugt die Wangen ein, die Sehnen an ihrem Hals arbeiten, als sie nervös hin und her zappelt.

»Die Strömung ist zu gefährlich«, unterbricht eine ältere Frauenstimme unsere Unterhaltung. Suchend wende ich mich um. Eine Mitarbeiterin nähert sich auf harten Absätzen. Sie befindet sich in ihren Vierzigern und trägt die identische Uniform wie die Rezeptionistin, Stiftrock und Weste, der Kragen ihrer gestärkten Bluse hebt sich als Zacken vor dem Schwarz ab.

Forsch öffnet sie eine Klappe im Rezeptionstresen, schiebt sich dahinter und markiert ihren Posten mit einem Stapel Unterlagen, den sie auf die Theke knallt. »Die gelbe Fahne ist gehisst.«

Ich hebe die Augenbraue. »Die gelbe Fahne?«

Die Rezeptionistin nickt zum Eingang. Tatsächlich, es ist mir zuvor nicht aufgefallen: Eine flatternde Flagge sticht deutlich vor dem krassblauen Himmel hervor.

»Wird die gelbe Fahne gehisst, zieht einen die Strömung ins Meer hinaus. Abgesehen davon gibt es dort hinten ohnehin nur scharfkantige Felsen, an denen man sich die Füße aufschneidet. Versuchen Sie den Salzwasserpool, der wird Ihnen gefallen. Erlebnis wie das Meer, bloß ohne die grässlichen Seeigel, ohne schlabberigen Seetang und all das Zeug …« Sie packt den Stapel Unterlagen, knallt ihn hochkant wiederholt auf die Theke, um die Blätter in die gleiche Form zu bringen – tack-tack-tack. Wie ein Richterurteil.

Enttäuscht schürze ich die Lippen.

»Vielleicht morgen?«, piepst Madeleine, was der Älteren einen strengen Blick entlockt.

»Vielleicht morgen«, murmle ich und fliehe endlich zum Ausgang wie das Mädchen zuvor – dabei habe ich doch gar keine Familie, die mir peinlich sein kann. Der Gedanke verursacht ein merkwürdiges Stechen in meinem Herzen. Doch als ich ins Freie trete und mir die Sonne ums Gesicht schmeichelt, sind alle schlechten Gefühle wie weggeblasen.

Vor mir erstrecken sich Ebenen aus Sandstein wie niedrige Dünen. Dazwischen lagern die Pools als türkisfarbene Pfützen. Ein Schilderwald zeigt die Zugehörigkeiten der Urlaubsgäste an – Familien, Kinder, Singles, Paare. Ich halte wenig von vorgegebener Separierung. Eigentlich hat Madeleine recht, geht mir durch den Kopf. Ich bin hier, um meine Ruhe zu haben.

Doch etwas zieht mich in Richtung Familienareal, und meinen eigenen Versprechungen zum Trotz biege ich dem entsprechenden Pfeil folgend ab.

Mein Weg führt mich fort vom Hotel, der Gigant in meinem Rücken. Die Fensterfront reflektiert den Himmel, an dem Möwen ausschweifende Kreise ziehen. Die Sonne steht im Zenit, doch sie beißt nicht. Normalerweise spüre ich förmlich, wie sich mir bei Sonnenkontakt die Haut von der Nase schält, das ewige Schicksal von Rothaarigen. Ich schiebe den Sonnenhut zurecht.

Dem Geräusch planschender Kinder folge ich den Stufen hinab. Hinter einem Streifen saftiger, künstlich angelegter Wiese wiegen sich die Palmen im Wind. Dazwischen blitzt das Meeresblau auf, doch der Fahnenmast reckt ungebeugt die gelbe Flagge in die Luft, als wolle er mich verspotten.

Grellbunt rückt das Familienareal in mein Sichtfeld – Rutschen drehen Spiralen in die Becken, Kinder kreiseln durch einen Wasserstrudel, Teenager schlecken künstlich gefärbtes Eis vor einer Bude und strecken sich die farbigen Zungen entgegen. Die Kinder ziehen meine Blicke an, das Gegenteil von Ruhe und Zurückgezogenheit. Vor allem die Kleinen, die in gerüschten Badehosen pummelig durch die Gegend tapsen. Suchend grapschen sie nach den Fingern ihrer Eltern, ohne danach blicken zu müssen. Sie vertrauen einfach darauf, dass sie da sind.

Der Gedanke entlockt mir ein Lächeln, doch es tut mir nach einigen Schritten auf den Wangen weh. Ich reibe mir über die Brust, wo mein Herz sich zusammenzieht. Vielleicht nur Sodbrennen, vom Stress. Deswegen bin ich ja hier – um mich zu erholen.

In einem Randbecken spielt ein Animateur Wasserball mit den Kids, Mädchen hängen sich an seine muskulösen Arme, kreischen und lachen. Die Eltern freuen sich über die Fremdbeschäftigung ihrer Sprösslinge, entspannen unter den Sonnensegeln oder genießen an der Bar Kaffee und Drinks.

Ich spanne mir einen Sonnenschirm über eine Liege in der letzten Reihe auf. Gründlich creme ich mich ein und breite das Handtuch über meine Füße, die aus dem Schatten des Sonnenschirms ragen. Der Chlorgeruch und die Geräuschkulisse erinnern mich an Ferien meiner Kindheit. Bilder blitzen auf, als ich ebenso vertrauensvoll nach den Händen meiner Eltern fasste. Die Sonne strahlte, das Meer rauschte – nichts mussten wir in dieser Zeit, alles konnten wir. Das ist Urlaub.

Ich blättere durch die Buchseiten, doch die Handlung vermag mich kaum zu fesseln. Das Hin und Her der turtelnden Figuren frustriert mich. Ich lege den Roman auf meinem Bauch ab und beobachte stattdessen meine Umgebung.

Einige Liegen vor mir hat sich die vierköpfige Familie eingerichtet, die ich bereits auf meiner Etage getroffen habe. Der Sohn leckt an einem Eis am Stiel, grellorangefarbene Schwimmhilfen stehen von seinen Ärmchen ab wie Flügel. Der feiste Vater brät in der Sonne, die Mutter blättert in einem Taschenbuch. Prüfend gleitet mein Blick zu dem Einband hinab, der auf meinem Bauch ruht. Sturmhöhe. Was für ein Zufall! Die Mutter und ich, wir beide lesen dasselbe Buch.

Die Tochter schlendert abseits am Pool entlang. Das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, baumelt es vor ihrem Rückgrat hin und her. Die Schulterblätter piksen aus der Haut. Sie strahlt Langeweile aus, mit der sie nicht nur einen Sicherheitsabstand zu ihrer Familie hält, sondern auch zu den anderen Kindern und Jugendlichen, die sich hier tummeln.

Irgendwie kann ich sie verstehen. Normalerweise sähe ich mich eher in einer einsamen Lagune der Costa Smeralda oder in einem Strandcafé an der Adria, wo ich an einem Cappuccino nippe … aber jetzt bin ich nun mal hier. Ich habe mir diesen Urlaub ausgesucht – Kluburlaub auf einer tropischen Insel, umgeben von nichts als Himmel und Wasser, die nahtlos ineinander übergehen. Einzig die Schatten entfernter Inseln kriechen den Horizont entlang wie Schildkröten.

Immer wieder gleitet mein Blick zum sachten Becken, in dem die Kleinsten spielen. Die dicken Michelin-Ärmchen, die Hütchen, die wie Gänseblümchen verkehrt auf ihren Köpfchen sitzen. Wie sie mit Schaufeln ins Wasser schlagen und begeistert krähen, wenn es aufspritzt. Jeder Augenblick ein noch nie dagewesenes Erlebnis. Der Aufschrei und die eifrig gereckten Arme nach Mutter oder Vater, wenn es ins Auge geht.

Etwas tropft auf meine Brust. Mich wird doch nicht ein Vogel angekackt haben? Ich hebe den Blick – doch über mir flattert nur der Sonnenschirm. Ich schiebe die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und runzle die Stirn. Reibe über das Oberteil, wie peinlich, direkt bei der Brustwarze. Der Stoff ist feucht und warm, doch Vogelexkrement ist es nicht. Möglicherweise war der Sonnenschirm nass? Oder ein Kind hat bis in die hinteren Reihen gespritzt? Ich schnuppere an den Fingern. Kein Chlorgeruch. Es riecht eigenartig süß. Wie …

… Muttermilch.

Erschüttert gucke ich auf meine Hand. So ein Unsinn! Du weißt doch nicht mal, wie Muttermilch riecht.

Mein Blick fliegt peinlich berührt umher. Vielleicht ist ein Kind mit einem Milcheis vorbeigelaufen, und ich habe es nicht bemerkt. Ich schäle mich aus dem Kleid, die Hand vor dem Fleck am Bikini schleiche ich zum Beckenrand und gleite die Stufen hinab. Eine Gruppe Kinder läuft an mir vorbei und beschießt sich mit Wasserpistolen – das muss es gewesen sein! Ich schwimme ein paar Runden, fühle mich zwischen all den Kindern, den Wasserbällen und Schwimmreifen wie in einem Bällebad in einer Kinderbetreuungsanlage – doch es stört mich nicht. Auf dem Rücken treibend lausche ich dem heiteren Gesang.

Der Nachmittag entschwindet mit ein paar gelesenen Buchseiten. Der Himmel verfärbt sich violett, als über einen Lautsprecher mitgeteilt wird, dass in einer Stunde das Abendessen stattfindet und um entsprechende Kleidungswahl im Restaurantareal gebeten werde. Ich bleibe noch einige Minuten, bis ich der langsam abwandernden Masse folge, die sich die Stufen zum Hoteleingang emporschiebt.

Ein Pärchen hält in gegenseitiger Umarmung neben dem Fahnenmast an und beobachtet das prächtige Farbenspiel des Himmels. »Das haben wir uns doch bereits seit so langer Zeit gewünscht«, seufzt die junge Frau.

Er küsst sie auf die Schläfe. »Endlich können wir uns erholen. Das haben wir uns verdient.«

Ich lächle. Dieser Urlaub ist alles, was wir wollten – und dieses Hotel scheint perfekt dafür.

 

Ich gebe meine Menükarte bei einem Kellner ab, der sich mit Kollegen darin abwechselt, die Gäste an ihre Tische zu führen. Er ist gut gekleidet wie alle Angestellten, trägt ein gebügeltes Hemd und schwarze Hosen mit Bundfalten. Sein Gesicht gefällt mir. Als er meine Menükarte fixiert, bildet sich eine Falte auf seiner Stirn.

»Sie haben kein Menü ausgewählt«, stellt er fest und sieht auf. Seine Augen sind schön und dunkel, passend zu seinem kräftigen dunklen Haar und der von Natur aus gebräunten Haut. Ich nehme an, dass er ein wenig jünger ist als ich selbst, was mir prinzipiell nichts ausmachen würde. Er wirkt allerdings genervt. Bin ich hier nicht Gast und König?

»Kann ich Ihnen nicht einfach sagen, was ich essen möchte?«

»Sie müssen es ankreuzen«, wiederholt er langsam, als wäre ich schwer von Begriff.

Ich blinzle. »Dann übernehmen Sie das doch bitte«, erwidere ich. »Salat, Fisch, Mousse.«

Der Mitarbeiter stiert mich an, als wäre ich die erste Person in diesem verdammten Klub, die mit einer nicht angekreuzten Menükarte erscheint. Ich verschränke die Arme und warte. Geduld ist meine Tugend. Wir starren. Die Stille spielt für mich.

Mit einem Schnauben gibt er nach. Entnervt tastet er nach seiner Hemdtasche, zieht einen Kugelschreiber hervor und drückt die Mine heraus. Die Anwendung des Schreibgeräts scheint ihm seinen gesamten Stolz zu kosten. Da hätte er sich einen anderen Job suchen sollen als einen im Dienstleistungssektor.

Überrascht bemerke ich, dass er die Menükarte in einen Schlitz an seinem Empfangstresen einführt. Vermutlich wird die Auswahl direkt an die Küche gesendet. Er tippt auf einem Touchscreen umher, der in der Tischfläche eingelassen ist. »Sie sind allein hier?«, hakt er nach.

Ich nicke und wundere mich, dass mir die Tatsache unangenehm ist.

Er weist mich an, ihm zu folgen. Hintereinander spazieren wir durch den Restaurantbereich. Die Gäste unterhalten sich an adrett hergerichteten Tischen, die bis unter das Segeldach der Terrasse reichen. Das Ambiente ist hell und edel, das Licht gedämpft, die Gespräche verkommen zu einem Raunen … ganz anders als der kreischend laute und bunte Nachmittag am Pool. Da fällt mir auf, was hier fehlt. »Wo sind die Kinder?«

Der Kellner wirft mir einen Blick über die Schulter zu. »Im Familienbereich.«

»Im Familienbereich?«

»Es gibt verschiedene Restaurants, um den Bedürfnissen der Gäste entgegenzukommen und jedem das perfekte Urlaubserlebnis zu bieten.« Die Worte verlassen wie auswendig gelernt seinen Mund. Er erinnert mich an Madeleine, nur dass er so lange im Job ist, dass er sich nicht länger Mühe gibt.

Ich schürze die Lippen. »Und in welchem Bereich befinde ich mich?«

Erneut sieht er über die Schulter. Eine Falte zieht sich über seine Stirn. »In dem für Singles und Paare zwischen dreißig und fünfzig Jahren.«

Er führt mich zu einem Tisch, dessen Kanten bereits von drei Damen besetzt sind. Eine Seite ist für mich frei geblieben, ein Weinglas steht verlockend neben dem Gedeck, mit den anderen stoßen die drei Grazien bereits lachend an. Ich soll wohl eine von ihnen werden.

Ich packe den Kellner am Ärmel. »Ich möchte allein sitzen«, dränge ich.

»Wie bitte?«

»Ich möchte meine Ruhe haben. Gibt es einen Einzeltisch?«

Er wirkt äußerst verdutzt. »Wird Ihnen da nicht langweilig?«

»Ich wäre ein herrlich reizloser Mensch, würde mir in meiner eigenen Gesellschaft so rasch langweilig.«

Unzufrieden sieht er mich an, holt tief Luft und stößt diese lautstark aus.

»Ist das ein Problem?«, frage ich scharf. Kunde, König. Der hat das Konzept wohl verlernt.

»In unserem Hotel gibt es keine Probleme«, erwidert er ruppig. Er führt mich zu einem Tisch am Rand der Terrasse. Von hier aus kann ich das Meer sehen, genieße den Anblick der Wellen, die schwarzblau gegen die Insel schlagen. »Wünschen Sie etwas zu trinken?«, fragt mich mein Kellner und zückt ein Tablet.

»Ein Glas Rotwein bitte.«

»Saint Laurent, Cabernet Sauvignon?« Er vermerkt meinen Wunsch und lässt mich zurück.

Ich genieße die Abgeschiedenheit. Die Pärchen suchen nach den Fingern ihrer Partner, umschmeichelt von flackerndem Kerzenschein.Der Drei-Grazien-Tisch ruft fleißig um alkoholischen Nachschub und feiert sich in heiterer Ausgelassenheit. Ich lausche in die Nacht nach den Familien, mit denen ich meinen Nachmittag verbracht habe, doch es ist, als wären sie gar nicht da. Wie in Quarantäne gesteckt, geht es mir durch den Kopf.

Mein Tischkellner bringt mir den verlangten Wein und meine Vorspeise. Während ich mit der Gabel darin herumstochere, bemerke ich, dass ich die einzige Person bin, die allein sitzt. Einen Augenblick lang fühle ich mich wie eine Außerirdische. Dann beschließe ich, mein Urlaubserlebnis nicht weiter mit schlechten Gedanken zu trüben, und genieße den ausgezeichnet marinierten Salat.

Mit dem Glas Cabernet legt sich eine angenehme Schwere auf meine Sinne. Ich schwenke das Gefäß, beobachte, wie der Wein in Schlieren daran hinabrinnt. Nebenher lausche ich den Stimmen meiner Sitznachbarn. Immer wieder schnappe ich Worte ohne Zusammenhang auf, eines haben sie aber gemein: Sie sind deutsch. Es muss sich um eines dieser Hotels handeln, die für Deutsche, Österreicher und Schweizer konzipiert sind. Selbst das Personal spricht akzentfrei. Was ist mit Einheimischen? Oder dient diese Insel rein als Urlaubsinsel, und selbst die Mitarbeiter werden hierhergebracht?

Das Essen verbringe ich in Schweigen, das durch meine Bedienung gefördert wird, die sich nicht weiter nach meinen Wünschen erkundigt. Als ich den Speisesaal verlasse, bedient mein Kellner den Weibertisch. Die Damen sind beschwipst und lassen ihm schmeichelnde Worte, übertriebene Augenaufschläge und flüchtige Berührungen zuteilwerden.

Obwohl es nicht spät sein kann, fühle ich mich ebenfalls beduselt, weswegen ich beschließe, mich ins Zimmer zurückzuziehen. Ich fahre mit dem Aufzug hoch, spaziere den Gang entlang, mein Blick gleitet über die uniformen Türen. Ich frage mich, ob alle Zimmer dahinter exakt gleich aussehen.

Als ich die Hälfte des Weges zurückgelegt habe, faucht hinter mir die Aufzugstür ein weiteres Mal. Ich drehe mich um und entdeckte meine Familie. Meine. Wie lustig, wie schnell man in neuer Umgebung Dinge zu den seinen werden lässt. Meine Familie. Mein Tisch. Mein Platz. Mein Kellner. Wie bei einer echten Familie muss man nicht alle davon mögen.

Ich frage mich, woher sie kommen – wie ihr Speisesaal aussieht. Hat ihr Fingerabdruck sie dorthin katapultiert, wohin sie gehören? Wollten sie das überhaupt?

Doch sie wirken allesamt entspannt. Der Vater trägt den schlafenden Sohn, dessen Wange an seiner Schulter ruht, der Mund zur Schnute geöffnet. Sogar das Mädchen dackelt an der Seite der Mutter einher, ihr Handrücken streift öfter den der Mama, bis sie sich bei ihr unterhakt.

Vor meiner Tür brauche ich länger, um den Daumen richtig auf dem Panel zu platzieren. Vater und Mutter wünschen mir eine gute Nacht, da klicken unsere Türen zeitgleich auf und wir ziehen uns wie Füchse in unsere Baue zurück.

Die Müdigkeit überwältigt mich ganz unvermittelt, als ich die Schuhe von meinen Füßen streife. Ich wanke ins Badezimmer, in dem das Licht kalt aufflackert. Meine Brust tut weh. Die linke. Die, die nach Muttermilch geduftet hat.

Eis, verbessere ich mich. Es war nur Milcheis.

Ich reibe mir über die angespannte Brust, starre gedankenverloren in den Spiegel, mein Blick verschwimmt vor Müdigkeit. Ich grapsche nach der Zahnbürste, mein Arm schwankt, als wäre ich betrunken. Meine Hand zittert, als ich Zahnpaste auf die Borsten drücke. Der Zahnbürstenkopf klappert gegen meine Zähne. Einige ungeschickte Striche, dann gebe ich auf.

Mit letzter Kraft schleppe ich mich zum Bett. Ich zwänge mich zwischen die steifen Laken. Das Schlafbedürfnis überwältigt mich, als würde man mir einen Sack über den Kopf stülpen. Was ist nur los mit mir? Vertrage ich keinen Alkohol mehr?

Meine Wimpern flattern, einen Augenblick lang lausche ich dem Rauschen des Meeres und meines Atems, die in einen gemeinsamen Rhythmus fallen. Eine letzte Frage leuchtet wie ein neuer Stern am Firmament auf: Wo bin ich hier eigentlich? Er verglüht und hinterlässt mich in Schwärze.

Kapitel 2    

… endlich Urlaub. Der Satz begleitet mein Erwachen wie ein Echo, das durch meinen wie leer gefegten Schädel hallt. Ich denke nicht, wälze mich nur in den Laken herum, starre zum Fenster hinaus, wo sich die Sonne in den Fensterabschnitt schiebt. Benommen beobachte ich sie bei ihrer Wanderung.

Erst nach und nach klettern Erinnerungen zurück. An den gestrigen Tag, den Geschmack des Salats, den Duft von Milcheis, das Lachen von Kindern. Angenehme Erinnerungen, irgendwie, und irgendwie auch nicht. Den sauren Gesichtsausdruck des Kellners schiebe ich fort – ich möchte mich mit nichts Negativem in meinem Urlaub belasten und den heutigen Tag ausschließlich mit schönen Momenten füllen. Wie ein Glas mit getrockneten Blüten, das jedes Mal, wenn man es öffnet und den Duft einsaugt, das herrliche Gefühl des Sommers zurückbringt.

Ich kämpfe mich aus den Laken und bemerke, dass ich noch immer die Kleidung von gestern trage. Wie peinlich! Habe ich gestern zu tief ins Glas geguckt? Oder die Sonne nicht vertragen?

In frische Kleidung geschlüpft, die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen, fühle ich mich gleich besser. Auf dem Weg zum Aufzug, die Badetasche bereits unter den Arm geklemmt, flechte ich mir das Haar zu einem kupferfarbenen Zopf. Ich mag das Gefühl des Flechtwerks zwischen meinen Fingern. Es erinnert mich an etwas. An einen anderen Urlaub, dessen Bilder wie in einer alten Fotografie verblassen.

Der Aufzug senkt sich, die Türen öffnen sich mit einem lauten Pling! Dort, die junge Frau hinter der Rezeption winkt mir lächelnd zu. Ich kenne sie. Ihr Name fällt mir einfach nicht ein! Fast ist mir, als hätte sie ihren Goldtresen seit gestern nicht verlassen.

Ich entringe meinem Gedächtnis ihren Namen nur mühselig. »Madeleine, richtig?«, frage ich, als sie mir die Menükarte reicht.

Sie blinzelt überrascht. »Ganz richtig, Frau Kern. Aber Sie müssen sich meinen Namen nicht merken. Belasten Sie sich nicht damit.«

Was für eine eigenartige Aussage, finde ich. Blütenblätter, erinnere ich mich. Fülle dein Erinnerungsglas ausschließlich mit schönen Momenten. Eigenartiges hat keinen Platz darin. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.

Ich nickte zur großen Fronttür. »Wie sieht es heute aus?«, frage ich. »Hat sich der Wellengang verbessert?«

Madeleine fährt sich mit dem Finger an die Schläfe, dreht einige Babyhärchen darum, die sich aus der sonst so akkuraten Frisur gelöst haben. »Nein, Frau Kern«, sagt sie leise. »Es tut mir sehr leid. Die Flagge hängt nach wie vor.« Sie ist so jung, wie ein Vögelchen wirkt sie auf mich; ein Nestling mit hohlen Knochen, der nicht fliegen kann. »Aber der Salzwasserpool«, fügt sie an und strahlt plötzlich, »der steht dem Meer wirklich in nichts nach.«

Ich entringe mir ein mildes Lächeln und folge ihrem Verweis zum Speisesaal. Als ich mich einige Schritte entfernt habe, drehe ich mich noch mal um.

»Madeleine?«, rufe ich zurück.

Sie blickt von ihrem Tablet auf.

»Wie kommt es, dass hier alle so ausgezeichnet Deutsch sprechen?«

Sie blinzelt. »Standardvoraussetzung für die Einstellung«, sagt sie. Ich kenne sie nicht lange, doch ich glaube bereits zu erkennen, welches Lächeln von ihr echt und welches künstlich ist. Dieses hier besteht aus Einwegkunststoff.

Ich nicke erneut und betrete durch die geöffneten Türen den Speisesaal. Diesmal empfängt mich kein Kellner. Zwischen den besetzten Tischen schlendere ich am gigantischen Frühstücksbuffet vorbei. Der Anblick des continental breakfast erschlägt mich fast. Türme an Obst, Platten voller Aufschnitt, Frühstücksflocken in einem um sich selbst rotierenden Ständer. Tröge voller Marmelade, Schokocreme und Erdnussbutter. Eier in jeglichen Variationen, der deftige Duft von Baked Beans, Würstchen und Speck sowie gebratenen Tomaten. Letzteres kenne ich eigentlich nur von englischen und amerikanischen Touristen.

Überfordert greife ich mir ein Croissant und bestelle einen Kaffee. Automatisch laufe ich zu meinem gestrigen Tisch nahe dem Balkon zurück und merke, dass der Großteil der restlichen Urlauber automatisch zu seinen gestrigen Tischen zurückgekehrt ist – als wären sie nun mit diesen verheiratet. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Möglicherweise habe ich meine Chance verspielt, mir eine Clique zu suchen wie Schulkinder am ersten Tag.

Das Meer lockt meinen Blick an, während ich vom Croissant abbeiße und gedankenverloren kaue. Der Gedanke, meine Füße auch heute nicht in dunkelblaues Nass stecken zu können, stimmt mich melancholisch.

Sommerblüten. Erinnerungsgefäß. Nur die Guten ins Töpfchen.

Vielleicht vermag ich mir am Pool ja zumindest einzubilden, dass ich stattdessen am Felsenstrand sitze.

Draußen wieder der Schilderbaum. Singles, Paare, Salzwasserpool. Das Kinderlachen zieht mich an. Inmitten des Lärms habe ich zumindest das Gefühl, nicht allein zu sein. Dabei habe ich mich nicht mal richtig entschieden, ob ich Gesellschaft der Einsamkeit vorziehe.

 

In George Orwells 1984 versunken, bemerke ich viel zu spät, dass meine Beine ungeschützt in die gleißenden Sonnenstrahlen ragen – und ziehe sie erschrocken unter den Sonnenschirm zurück. Ich wackle mit den Zehen, auf denen kaffeebraune Sommersprossen sitzen, und erwarte das Spannen und Beißen eines mörderischen Sonnenbrands zu spüren, doch das Gefühl bleibt aus.

Eine ganze Weile lang betrachte ich die unversehrte Haut. Als rothaariges Kind wächst man mit Sonnenbränden, Sonnenhut und dickflüssiger Sonnencreme auf wie andere mit Frühstücksflocken und Gutenachtgeschichten. Jede Unachtsamkeit wird mit schlaflosen Nächten, Brandbläschen und Joghurtwickel bestraft. Heute hat mich die Sonne verschont – und das ausgerechnet auf einer tropischen Insel.

Zögerlich schiebe ich die Brille von der Nase und spähe unter dem gelben Schirmrad in den Himmel empor. Die getönten Gläser überziehen meine Umgebung mit einem bräunlichen Schleier. Hm. Es ist warm, aber nicht zu warm. Eigentlich ist es perfekt, wenn man es genau bedenkt – perfekt wie alles hier.

Gedankenverloren knete ich meinen Zopf wie ein geflochtenes Tau, das mir auf hoher See Sicherheit vermittelt. Probehalber rutsche ich ein Stück vor und strecke die Füße zurück in den Sonnenschein. Umspielt von den Familiengeräuschen sitze ich und lasse die Zeit verstreichen, höre Kinder ins Becken springen, ihre lang gezogenen Schreie brechen ab, wenn sie von der spiralförmigen Rutsche in den Pool schlittern. Die Sonnenstrahlen berühren meine Füße, meine Knie, meine Schenkel. Ich werde ganz sicher dafür büßen. Die Sonne starrt steif vom Himmel. Kein einziges Schäfchen gleitet vor ihr Gesicht.

Etwas später ziehe ich meine Beine in den Schatten zurück und meine Sonnenbrille von der Nase. Ich drücke mit dem Daumen auf mein Bein, erwarte einen weißen Abdruck auf leuchtendem Rot zu sehen – doch selbst als ich die Sonnenbrille ins Haar geschoben und die Augen gerieben habe, nichts.

Verstört sehe ich mich um. Die Sonne lässt niemals Gnade walten. Ob nun auf der Skipiste, im regnerischen London oder in den unendlichen Weiten Skandinaviens – ich würde es überall schaffen, mir einen Sonnenbrand zu holen. Warst du dort schon mal?, drängt sich mir ein Gedanke auf. Oder hast du nur ein Bild davon, wie es sich dort anfühlen muss?

Ich spüre die Falten über meiner Nasenwurzel, während ich verwirrt den Blick schweifen lasse – die planschenden Kinder, ihre Eltern, die auf den Sonnenliegen dösen. Ein Gedanke versucht sich vom Rest zu lösen. Ein unstimmiges Detail eines All-inclusive-Urlaubs. Alle glänzen vor Sonnencreme. Doch niemand – kein einziger von ihnen – besitzt die krebsrote Färbung, die sich der durchschnittliche deutsch-österreichische Tourist von hier nach Hause mitnehmen möchte. Urlaub ist ein Statussymbol, und damit ist es auch der gemeine Sonnenbrand. Verdammt seien diejenigen, die daheim nicht damit protzen können.

Selbst der dicke Vater aus meiner Etage, der auf dem Bauch liegt und schnarcht – eine Position, die er selten verlässt – , weist nicht die geringste Rötung auf.

Ein Atemzug dehnt meine Brust. Gleichzeitig säuselt eine Stimme in meinem Kopf, ob ich mich wirklich an so etwas Unsinnigem stören möchte – ausgerechnet an diesem Urlaubstag, den ich mir so sehr verdient habe. Kann ich nicht einfach glücklich sein? Ist es nicht ein Segen, ohne Angst vor einem Sonnenbrand hier sitzen zu dürfen? Wer weiß schon, wie es hier mit dem Ozon steht, mit dem Stand der Sonne. Möglicherweise ist hier alles anders. Perfekt eben. Ratlos fahre ich mir mit der Zungenspitze über die Unterlippe.

Ich beschließe, die bohrenden Gedanken mit einem Spaziergang zu vertreiben. Immer muss ich mir selbst den Tag verderben, mein Erinnerungsglas mit alten Mottenkugeln füllen statt Rosenblättern. Dumme, dumme Alice. Dein erster Urlaub seit so langer Zeit, und du ruinierst dir alles.

Das erste Mal in meiner Erinnerung flaniere ich ausschließlich im Badeanzug durch die Sonnenstrahlen, versuche den Moment zu genießen. Ich durchquere den Restaurantbereich, wo ein gelockter Kellner mir ein Getränk anbietet, das ich lächelnd ablehne. Stattdessen sehe ich mir den Animationsbereich an, versuche die seltsamen Gedanken zu vertreiben, die sich mir aufdrängen.

Typisch Alice. Du Spielverderberin. Wieso kannst du nicht einfach auf die Regeln pfeifen wie alle anderen?

Ich hänge mich an das Netz zu den Ballsportarten, beobachte das Spiel der Touristen. Tennis, Federball und Squash werden hier angeboten. Eine Tanzgruppe trotzt hüpfend der Sonne, angeführt von einer Aerobic-Trainerin mit Zahnpastalächeln. Yoga, Pilates, Spinning, Zirkeltraining und viele andere sportliche Aktivitäten finden im Laufe des Tages statt. Jedem das Seine. Manche wollen im Urlaub schön und fit bleiben.

Ich gelange zu einem Korridor und fühle mich augenblicklich wohler – denn auch im musischen Bereich werden Kurse angeboten. Mit den Fingern fahre ich die gläsernen Wände entlang. Gäste lassen Borstenpinsel über Leinwände tanzen, andere versenken ihre Hände lustvoll in glitschigem Ton oder wiegen sich im Trommelkreis im Takt. Zwar kitzelt es mein Interesse, doch etwas hält mich davon ab, den Fuß durch die Tür zu setzen. Hinter der transparenten Wand bleibe ich stehen, streiche mir über die Oberarme, als würde es mich frösteln. Im Abstand laufe ich weiter, bis der Gang endet. Eine Feuersicherheitstür führt hier nach draußen. Zögerlich lege ich meine Hand an den Öffnungsmechanismus und probiere, ob er sich drücken lässt.

Die Tür schwingt auf.

Das Hotel steht hier an felsigen Klippen, gegen die das Wasser peitscht, der Wind röhrt und bläst mir ins Gesicht. Ich trage keine Schuhe und erinnere mich an die Warnung der strengen Rezeptionistin bezüglich der scharfkantigen Felsen. Zögerlich trete ich die Stufe hinab. Die Arme um mich selbst geschlungen blicke ich mich um. Eine seltsame Stimmung hält mich gefangen. Hinter meinen Schläfen pocht es.

Ich ducke mich im Schatten eines Fassadenvorsprungs, da bemerke ich eine Gruppe von Menschen, die sich weiter hinten neben dem Gebäude tummeln. Sie tragen das typische Schwarz-Weiß der Mitarbeiter und rauchen, ihr Plaudern tönt nur als Singsang zu mir. Lautstark schlagen die Wellen gegen die Felsen.

Zwei von ihnen erkenne ich. Es sind Kellner von gestern Abend. Einer war mein Tischkellner. Sein Blick gleitet zur Seite, er entdeckt mich. Aus der Entfernung merke ich, wie sich seine Brauen verknoten.

Er hebt das Kinn, stößt den Zigarettenrauch aus, schnippt die Zigarette in einen dafür vorgesehenen Aschenbecher und nickt den anderen zu. Sie werden auf mich aufmerksam. Durch einen Hintereingang ziehen sie sich zurück.

Ihr Verhalten kränkt mich, auch wenn ich es nicht erklären kann.

Zögerlich strecke ich meinen Fuß aus und steige auf die Felsen hinab. Die sind hell und grobporig. Weiter hinten haben die Gezeiten kleine Becken hineingeschabt.

Es erscheint mir eine halsbrecherische Aktion, ohne Schuhe durch die unwegsame Landschaft zu staksen, doch das Meer zieht mich an. Ich will es sehen, will es spüren – das Wasser an meiner Haut, schaukelnde Seesterne, schwankende Algen, schimmernde Muschelschalen.

Je weiter ich mich der Küste nähere, desto mehr Wasser füllt die porösen Löcher. Pfützen bilden Minibiotope, in denen ich angeschwemmten Seetang, Schneckenhäuser und ein paar stachelbewehrte Seeigel finde. Die letzten Meter zu überwinden bringt mich ins Schwitzen. Ich habe das Gefühl, mir bei jedem nächsten Schritt den Fuß zu brechen – falls ich in die Fluten stürze, ist hier draußen niemand, der mich so schnell finden wird; ich kann nur auf die Rückkehr der Mitarbeiter hoffen. Die Wellen sind kraftvoll und dunkel, ich bezweifle, dass ich ihnen entkommen kann, wenn sie mich erst in die Tiefe ziehen.

Der letzte Abschnitt erweist sich als unüberwindbar – zwischen den Löchern und aufragenden Felszacken finde ich keinen Weg hindurch. Enttäuscht bleibe ich stehen und lasse mich vom Wind umbrausen.

Als ich mich umdrehe, bemerke ich in einiger Entfernung das Mädchen aus meiner Etage. Es sitzt auf einem Felsen und starrt auf das Meer hinaus. Einen Moment lang fühle ich mich der Jugendlichen verbundener als jedem anderen Gast hier.

Schwermut drückt meine Laune, als mir ein abrupter Gedanke einschießt. Warum blase ich hier Trübsal? Ich habe so selten frei! Und dann riskiere ich hier meinen Hals und klettere waghalsig herum. Will ich meinen restlichen Urlaub mit Gipsfuß am Pool verbringen?

Da ich der natürlichen Form der ausgewaschenen Felsen gefolgt bin, befinde ich mich mittlerweile näher an der Hintertür als jener, aus der ich gekommen bin. Über die Klippen klettere ich an sie heran. Ein Aschenbecher markiert den Zugang, ein Surren raunt. Ich sehe mich um, kann dessen Ursprung jedoch nicht entdecken, vermute jedoch eine Art Lüftung.

Ich fasse die Klinke, die so breit ist wie die Tür selbst, und drücke sie nieder. Die Tür öffnet sich kein Stück weit. Das Personal muss sie hinter sich verschlossen haben.

Ich beiße mir in die Unterlippe, sehe nach links und rechts. Anstatt zum Vorderteil zurückzukehren, überbrücke ich das letzte Stück zur Rückwand. Meine Füße brennen und tun weh. Knapp vor der Ecke erwischt mich ein heftiger Luftzug und drückt mich gegen die Mauer. Daran gepresst, schiebe ich mich ein Stück weiter, um den hinteren Teil der Insel zu sehen.

Steil fallen Felsen ins Meer hinab. Die Rückwand schießt fenster- und makellos in die Höhe. Möwen ziehen über das Dach herum.

Die Insel ist für ihre Verhältnisse winzig. Einzig das Hotel steht darauf, die flachen Treppen mit den Pools. Das ganze Areal dürfte kaum mehr als ein, zwei Quadratkilometer messen. Wie bin ich draufgekommen, ausgerechnet hier meinen Urlaub zu verbringen? So … eingesperrt?

»He!« Ich fahre herum. Gelöste Strähnen toben im Wind. Auf den Felsen, dicht am Meeresrand, drückt sich das Mädchen vom Zimmer gegenüber in die Höhe. Sie ist es jedoch nicht, die gerufen hat.

Von der Seitentür winkt uns eine Mitarbeiterin zu. Madeleine. »Das Betreten dieses Areals ist verboten!« Der Wind verschluckt beinahe ihre Stimme. »Kommen Sie zurück! Bitte!«

Kapitel 3    

Das Windesheulen erstickt, als die schwere Tür hinter dem Mädchen und mir zufällt. Madeleine lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Hastig hält sie den Daumen gegen ein Panel, das kurze Zeit später rot aufleuchtet. »Entschuldigen Sie«, sagt sie fahrig. »Hier sollte abgeschlossen sein.« Sie rüttelt probehalber noch mal an dem breiten Türgriff. Diese rührt sich nicht länger. »Die Mitarbeiter vom Frontdesk nutzen sie öfter zum Rauchen«, erklärt sie. »Die vergessen schon mal abzusperren.«

Vor allem, wenn sie dann hinten reingehen.

Das Mädchen von nebenan guckt zu Boden, das Haar hängt ihm ins Gesicht. Ich fühle mich genauso schuldig, dabei bin ich doch erwachsen. Als wären wir beide ausgebüxt, fünfzehn und dreißig.

Madeleine bückt sich nach ihr und stützt die Arme auf den Beinen ab. »Alles in Ordnung, Jackie?«

Jackie. Vielleicht kurz für Jacqueline. Jackie passt besser. »Möchtest du dir das Unterhaltungsprogramm ansehen? Es gibt heute nach dem Abendessen eine Kinonacht für Teenager. Würde dir das nicht gefallen?«

Jackie schüttelt nur den Kopf, ihre Haare fliegen. Sie verschränkt ihre Arme, steckt die Hände unter die Achseln, als befände sie sich in der Arktis und nicht im Sommerurlaub, und zieht ihrer Wege. Madeleine seufzt und richtet sich wieder auf. Ihr Blick sucht nach mir. »Und Sie, Frau Kern? Haben Sie etwas gesucht? Kann ich Ihnen  irgendwie helfen?«

Mit einem Lachen winke ich ab. »Ich wollte mir wirklich nur alles ansehen.«

Madeleine hebt die Schultern an. »Ich fürchte, dort hinten gibt es nicht viel, außer scharfkantige Felsen und …«

»… ein paar Zigarettenstummel.« Ich kneife die Lider zusammen. Ist doch eigenartig, wie oft sie wiederholen, dass die Felsen scharfkantig sind. Andererseits gucke ich auf meine Zehen hinab – und sehe, dass die feine Haut daran zerschunden ist.

Bevor es peinlicher wird, erlöst mich eine Lautsprecherstimme. Sie ruft zum Abendessen. »Oh«, stoße ich aus. »Ich muss noch meine Sachen vom Pool holen!«

»Das erledigen wir schon«, unterbricht mich Madeleine. »Holen Sie sich einfach von meiner Chefin am Rezeptionstresen eine neue Menükarte, ich lasse Ihnen Ihre Sachen aufs Zimmer bringen.«

 

Während ich in der Schlange aus Paaren und sich unterhaltender Einzelpersonen anstehe, schiebe ich den Träger meines Kleides hin und her. Kein Sonnenbrand, stelle ich fest. Nicht einmal ein Abdruck.

Am Empfangstisch erwartet mich ein blond gelockter Tischkellner. Ich erwidere sein freundliches Lächeln wie ein Spiegel. Als ich an seinen Tisch herantrete, wird ein Name gerufen und er reißt suchend den Kopf herum. Eine Kellnerin winkt ihn zu sich an die Bar. Er entschuldigt sich bei mir, läuft davon – und an seiner statt tritt mein persönlicher Stimmungskiller auf.

Unser beider Gesichter frieren ein. Sauertöpfisch besieht er mich wie ein Richter, der für Strafzettel zuständig ist und seit fünf Jahren nichts anderes macht, als sich Ausreden anzuhören, warum jemand zu schnell fahren oder auf dem Behindertenparkplatz parken musste. Als ich nichts sage, beginnt er die mühevolle Unterhaltung. »Ihre Menükarte bitte.«

Ich spitze die Lippen. »Ich habe sie vergessen.« Nicht wahr, nur war gerade niemand an der Rezeption. Aber ich will mich nicht bei ihm entschuldigen müssen. Sein saurer Blick hinterm Hotel, als hätte ich ihm die Nachmittagspause versaut, hat sich in mein Erinnerungsglas geschlichen – und dafür möchte ich ihn nun bestrafen.

Er blinzelt. »Wie bitte?«

»Ich habe sie vergessen«, wiederhole ich. »Oder verloren. Ich finde sie jedenfalls nicht mehr.«

Eine Weile sieht er mich ungläubig an. Dann winkt er eine Kollegin herbei. »Die Dame hat ihre Menükarte vergessen«, zischt er. Das Mädchen in der weißen Bluse versteift überrascht. »Ist das denn möglich?«

Unwillig nickt er.

»Lächeln!«, sagt sie, ein Tablett mit Getränken auf dem Arm. »Ich hole eine neue Karte.«

Während ich warte, kommen andere Gäste und mein Lieblingsgarçon führt sie davon. Was für eine Erleichterung, diese Gäste haben ihre Menükarte akkurat ausgefüllt! Er wechselt sich mit dem lockigen Kollegen und einer weiteren Kollegin ab, bis das Mädchen zurückkehrt und mir eine neue Karte entgegenstreckt. »Aron!«, ruft sie. Von der Terrasse aus blickt der Angestellte herüber. Die Kellnerin winkt ihm zu und er kehrt zurück. Diesmal zückt er automatisch den Kugelschreiber. »Was möchten Sie?«

»Was empfehlen Sie?«

Er holt tief Luft. »Woher soll ich wissen, was Ihnen schmeckt?«

»Gibt es nichts, was Sie selbst bevorzugen?«

Seine Augenbraue hebt sich. Ich weiß, ich bin ein Biest, aber er hat es wirklich nicht anders verdient.

Die Kellnerin von vorhin rauscht vorbei. »Lächeln!«, zischt sie ihm zu.

Er zwingt sich dazu. Ich frage mich, wie es wohl aussähe, wenn er wirklich lächelt. »Ich bin Vegetarier«, sagt er, »da ist die Auswahl begrenzt.«

»Dann nehme ich die vegetarische Hauptspeise.«

Er bemüßigt sich, Entsprechendes anzukreuzen. »Beef Tartar oder Mozzarella-Platte als Entrée?«

»Beef Tartar.«

»Kirschkuchen oder …«

»Ich möchte keine Nachspeise, vielen Dank.«

Erneut dieser ungläubige Blick. Mir ist klar, dass ich nicht die typische All-inclusive-Urlauberin bin, aber verhalte ich mich hier wirklich so abwegig? Ein Blick zu den zahlreichen Tischen verrät mir ein klares Ja.

Nachdem Aron, der Kellner, die Menükarte in den Schlitz seines Tisches geführt hat, bringt er mich zum selben Tisch wie gestern. Ich bestelle Chardonnay, und bevor ich das Beef Tartar fertig gegessen habe, fühle ich mich zufrieden betrunken und kann mir nicht erklären, warum ich mich heute jemals ärgern musste; noch dazu über solche Banalitäten.

Zum Hauptgericht – Gnocchi mit hausgemachtem Bärlauch-Pesto – bitte ich um ein Achtel Riesling. Der Geschmack erinnert mich an zu Hause. Ich schwenke das Glas. »Woher stammt dieser Wein?«, frage ich meinen Tischkellner.

Er zuckt mit den Schultern. »Ich kann nachfragen«, bietet er mir an.

An anderen Tagen hätte ich ihn geschickt, nur um ihn zu ärgern, doch die Trunkenheit macht mich zu einem sanften Lämmchen. »Schon gut«, sage ich. »Der Duft … er erinnert mich an die Gegend, in der ich aufgewachsen bin.« Meine Gedanken schweben wie Nebel über die Hügel meiner Kindheit und verfangen sich in den Weinreben, die sie als hellgrüne Streifen überziehen.

Aron der Kellner sieht überrascht aus. Kurz imitiert er das Lächeln. Ich spüre, wie ein warmes Gefühl meine untere Bauchgegend erfüllt. Nicht doch!, schimpfe ich mich selbst. Nicht wie in diesem Buch … was war das gleich? Nein, in dem Roman, den ich gerade lese, ist nichts dergleichen passiert … Der Gedanke nagt verzweifelt an meiner Hirnrinde, findet keine Unebenheit, an der er sich festhaken kann. Der Wein verstärkt das Gefühl. Warum sollte ich mich damit beschäftigen, an diesem lauen, tropischen Sommerabend?

Der Kellner sieht mich fragend an. »Brauchen Sie noch etwas?«

Ich schüttle den Kopf. »Nichts, wobei Sie mir helfen können«, erwidere ich. Ich bin nur ein wenig einsam.

Habe ich das jetzt laut gesagt? Doch Aron dreht sich um und geht zu einem anderen Tisch. Es sind die drei Grazien, die mit jedem Glas vergnügter werden. Um das Gefühl von Verlassenheit zu verdrängen, widme ich mich den Gnocchi. Nachdem ich das Glas geleert habe, beeile ich mich, um zu meinem Zimmer zu gehen. Alle anderen sitzen bei ihrer Nachspeise, nur ich … ich fliehe vor etwas, was ich nicht zu begreifen vermag.

Jemand verabschiedet sich von mir. Als ich mich im Gehen umblicke, erkenne ich meinen Kellner. Mein retournierter Gruß klingt traurig. Ich verfluche mich dafür, dass ich diesen wunderbaren Urlaub nicht wie alle anderen genießen kann. Dass sich mein Erinnerungsglas mit Melancholie füllt, Tropfen für Tropfen. Im Bett hält mich die Stimmung umfangen, umarmt mich wie das Bettlaken, in das ich mich fest wickle wie ein Baby. Ich lasse mich vom Schlaf einhüllen wie in einen Seidenkokon.

Morgen – morgen ist ein neuer Tag.

Morgen ist endlich …

 

… endlich Urlaub.

Was für ein wunderbarer Tag.

Ich stemme mich aus den Laken, die unter meiner Bewegung knistern. Diesmal habe ich es in meinen Pyjama geschafft. Rasch putze ich mir die Zähne und brause mich ab, creme mich mit Sonnenmilch ein und flechte mir auf dem Weg ins Erdgeschoss einen Zopf. Mit schwungvollen Schritten hole ich mir Kaffee und Croissant und setze mich auf die Terrasse. Als ich einen Schluck nehme, legt sich ein grauenhafter Geschmack auf meine Zunge.

Ich huste, spucke das Getränk auf die Stoffserviette.

Eine Angestellte eilt herbei. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie besorgt.

»Das kann unmöglich Kaffee sein!«, sage ich, hüstle und schiele in die Tasse, doch der Kaffee hat eine angenehme hellbraune Farbe, genau wie ich Milchkaffee gern mag.

»Natürlich!«, beteuert das Mädchen. »Wir verwenden ausschließlich frischeste Zutaten!«

Vorsichtig rühre ich mit dem Löffel im bräunlichen Spiegel, doch wäre die Milch schlecht, hätten sich Flocken abgesetzt. Ich hebe die Tasse an die Nase und schnuppere – es riecht wie gewohnt. Ich setze die Tasse zögerlich an meine Lippen, nippe und erwarte denselben verdorbenen Geschmack zu schmecken, der mich dazu gebracht hat, das Getränk auszuspucken. Stattdessen strömt warmer Milchkaffee über meine Zunge, nicht zu heiß und nicht zu kalt – genau richtig.

Verdattert setze ich die Tasse ab. »Seltsam …«, murmle ich. Mein Blick trifft den des Mädchens, das mich erwartungsvoll ansieht. »Entschuldigen Sie. Ich … ich muss mich geirrt haben«, sage ich ratlos. »Ich weiß nicht …«

Ein erleichtertes Lächeln tritt auf das Gesicht der Bedienung. »Finden Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragt sie.

Lahm nicke ich. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«

Sie lächelt nur affektiert. »Schon gut, Frau Kern«, sagt sie und überrascht mich damit, dass sie meinen Namen weiß.

Der Appetit ist mir vergangen. Ich lasse den Kaffee stehen, das Croissant bleibt angebissen liegen. Die Schläfen reibend verlasse ich den Speisesaal.

Eine Tür in der Vorhalle klappt auf, die Art Türen wie in einem Westernfilm, die auf und zu schlagen und Einblicke wie in einer Reihe Fotografien erlauben. Dahinter erscheint die strahlend weiße Küche, in der es zischt, brodelt und klappert. Arbeitskräfte mit Kopfbedeckungen tauchen in meinem Blickfeld auf und verschwinden erneut hinter der Schwingtür. Als ich einen abschließenden Blick zurück in den Speisesaal werfe, merke ich, wie das Servicemädchen mit einer Kollegin tuschelt, die Eier aufschichtet.

Unangenehm berührt wende ich den Kopf ab. Sprechen sie über mich? Beschweren sie sich, weil ich es verdammt noch mal nicht lassen kann, mich nicht wie die anderen hier artig zu benehmen?

Es ist doch mein Urlaub! Draußen herrscht herrliches Wetter. Ich sollte mir nicht mit meinen eigenen Spinnereien den Tag verderben.

Im Zimmer packe ich mir meine Bücher – meinen dicken Musil-Band und eine liebevoll gestaltete Version von Thomas Manns Der Tod von Venedig. Ich blättere durch die Seiten und frage mich, wo ich gestern stehen geblieben bin. Verdammt, mein Gedächtnis lässt nach. Möglicherweise muss ich neu anfangen. Aber wann komme ich schon sonst zum Lesen?

Dazu ist Urlaub doch da – um dem Arbeitsalltag zu entfliehen und sich dem zuzuneigen, das sonst keinen Platz im Wochentag findet. Allein der Gedanke an durch Pappwände gegliederte Büroräume, schrillende Telefone und leuchtende Computerbildschirme lässt mir einen Schauer über die Arme laufen. Ich verdränge den Gedanken. Hier hat er nichts verloren – nicht in diesem Hotel, das sich so perfekt meinen Ansprüchen anpasst.

Ich sollte ein Gedankenglas anlegen, beschließe ich. Eines, das ich nur mit schönen Gedanken fülle. Wie mit Schmetterlingen, an denen ich mich den ganzen Tag über erfreuen kann.

Ich kehre zum Aufzug zurück. Die ganzen namenlosen Knöpfe glänzen. Ich frage mich, wohin sie mich bringen würden, wenn ich draufdrücke. Kaum gedacht, schon getan.

Stoisch bleibt die Kabine stehen.

Ich drücke öfter, stärker – fahre mit der Handfläche die Leiste auf und ab. Nichts passiert.

Zögerlich lege ich den Daumen an das Panel. Grün leuchtet es auf, ein Klingeln folgt. Mit einem Ruck setzt sich die Aufzugskabine in Bewegung.

Sie bringt mich nur dorthin, wo ich hinsoll. Rauf zu meinem Stockwerk und anschließend wieder retour zur Rezeption, von der aus mir ein bekanntes Gesicht zuwinkt. M-Margarete. Nein. Etwas Französisches. Marguerite? Nein.

»Madeleine«, stoße ich mit einem Seufzen aus, als ich herantrete.

»Das Meer?«, frage ich.

Sie lächelt mild, als sie den Kopf schüttelt. Unser kleines Ritual. In mein Gedankenglas setzt sich eine Motte, dick und pelzig und schwarz, mit braungrauen Flügeln. Kein Meer für dich, Alice.

»Aber der Salzwasserpool …«

»Danke, Madeleine«, sage ich. »Heute werde ich ihn wirklich mal ausprobieren.«

 

 

Kapitel 4    

 

Auf dem Weg die Ebenen hinab begegne ich der Teenagerin, der rastlosen Wanderin. Ihre Mimik ist weicher als zuvor. Möglicherweise liegt es an ihrer Begleitung. Der Junge befindet sich in ihrem Alter. Seine Körperstatur lässt annehmen, dass er Sport macht, für sein Alter ist er passabel anzusehen. Er trägt eine modische knielange Badehose und vergräbt die Hände lässig in deren Taschen. Sie wechseln nur wenige Worte, bevorzugen die stumme Gegenwart des anderen – Teenager halt. Was bedarf es einer Sommerliebelei mehr? Obwohl ich das Mädchen kaum kenne, lebe ich ein wenig mit ihm mit, freue mich mit ihr über ihr kleines amouröses Abenteuer.

Ich spaziere zum Salzwasserpool, an dem hauptsächlich Pärchen und Singles zu finden sind. Auch meine drei Hennen vom Dinner sitzen nebeneinander aufgereiht und scheinen sich köstlich zu amüsieren. Sie werfen gierige Blicke Richtung Bademeister, der auf einem erhöhten Sessel thront und dabei muskulöse Waden vorführt. Die drei Grazien präsentieren eifrig ihre Vorzüge, drapieren Tücher adrett um ihre Problemzonen und winken gelegentlich dem Retter in Not.

Ich schäle mich aus meiner Tunika, setze mich an den Poolrand und strecke die Beine ins Wasser. Irgendwann gleite ich ganz ins kühle Nass. Hier ist es sehr ruhig, viel ruhiger als im Familienareal. Weniger bunt. Weniger jung. Ich vermisse etwas.

Nach einigen Bahnen bleibe ich am Beckenrand stehen. Geistesabwesend reibe ich mir übers Herz, als könne es die Beklemmung lösen. Ich sollte mich nach dem Urlaub mal vom Arzt durchchecken lassen. Nur zur Sicherheit.

Meine Lippen schmecken vom Wasser salzig. Ich lege mein Kinn auf die Arme ab. Der Sandstein ist schön warm. Gedankenversunken blicke ich hinüber zum Felsenstrand, der Geschmack von Salz auf der Zunge, die Brise im Gesicht. Fast ist es so, als würde ich mich tatsächlich von seinen wilden Fluten mitreißen lassen. Das dunkle Blau lockt mich, die wiegenden Wellen. Ich stelle mir vor, wie sie hochpeitschen und mich verschlucken – und mit mir jegliche Geräusche. Ich, allein in der Unendlichkeit.

Einsamkeit findet man auch zwischen den Urlaubenden, aber kein Alleinsein, wird mir plötzlich bewusst.

Hinter mir ertönt ein Plätschern. Ich nehme peripher wahr, wie sich etwas entfernt und erneut nähert, ein anderer Schwimmer, der später an meine Seite gelangt. Er ist älter als ich, doch zweifelsohne attraktiv, mit grau meliertem Haar, einem scharfen Profil und einem selbstsicheren Lächeln, das Männer sich erst im zweiten Trimester ihres Lebens aneignen. Er macht Sport, verrät sein Körperbau, seine Haut ist braun gebrannt. Ein italienischer Typ, finde ich.

»Nach was oder wem halten Sie Ausschau?«, fragt er mich und legt das Kinn auf seinen Unterarmen ab, in deren Härchen Tropfen glitzern. Er könnte Werbung für eine Männerpflegemarke machen.

»Ich liebe das Meer«, erwidere ich wahrheitsgemäß. »Ich wünschte, die gelbe Flagge würde abgenommen werden und man könnte schwimmen gehen.«

Er betrachtet mich von der Seite. Wassertropfen glitzern in seinen geschwungenen Wimpern. »Ich habe Sie im Restaurant gesehen«, bemerkt er. »Sie sind mir aufgefallen.«

Ich lasse mich darauf ein. »Weil ich allein sitze?«

»Weil schöne Frauen wie Sie niemals allein sitzen sollten.«

Mh. Ich hasse es, von Männern, die ich nicht kenne, mein Aussehen komplimentiert zu bekommen. Selbstverständlich ist es das Erste, was einem am anderen auffällt – aber es zeigt auch, dass man sich keine Mühe gemacht hat, etwas anderes an ihm zu finden. Komplimente über Schönheit sind so … austauschbar. »Und wenn die schönen Frauen allein sein wollen?«

Seine Augenbrauen sind dunkel und dicht, bloß einzelne Härchen glitzern im Sonnenlicht. Er verzieht sie verwundert. »Wollen Sie denn allein sein? Ein Wort, und ich gebe Ihnen den Raum, den Sie sich wünschen.« Er streckt sich davon, hält sich mit den Händen am Beckenrand fest.

Ehrlich denke ich darüber nach. Ich will nicht einsam sein. Aber die Tatsache, dass ich allein in den Urlaub fahre, macht mich nicht automatisch zu willigem Freiwild für jeden Mittvierziger, der hierherkommt, um die zweite Lebenshälfte mit neuen Frauenbekanntschaften zu beginnen. Also teste ich ihn.

Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Beckenwand. »Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Lehrer.«

Er fragt mich nicht danach, was ich mache, doch ich fühle mich bemüßigt, es zu erwähnen. »Ich bin … ich arbeite … ich arbeite in einem Büro«, sage ich und bin ein wenig verwirrt. Unangenehme Bilder des Büroalltags blitzen in meinem Kopf auf. Wenn in meinem heutigen Erinnerungsglas eine dicke, hässliche Motte sitzt, dann ist das Erinnerungsglas an meinen Beruf ein speckiges Marmeladenglas voller Fliegen.

Ich versuche mich dennoch hindurchzuwühlen, um etwas erzählen zu können, doch der Fremde lächelt bloß vertraulich. »Lassen Sie uns nicht über die Arbeit sprechen«, sagt er. »Wir sind doch im Urlaub!« Er lacht, sein trainierter Brustkorb hebt sich, er hat eine tiefe, angenehme Stimme.

Lehrer also. Obwohl er wie ein Männer-Model aussieht, hat er möglicherweise eine soziale Ader. Ich gebe zu, dass mir das gefällt; gleichzeitig stört es mich, dass mich dieser Fremde so leicht um den Finger wickelt. Ich bin hier, um mich zu erholen, und nicht, um mir von attraktiven Männern den Kopf verdrehen zu lassen.

»Entschuldigen Sie mich?«, frage ich und stemme mich rückwärtig am Poolrand in die Höhe, bis ich aufsitzen kann. »Ich werde mich ein wenig nach drinnen verziehen – die Sonne«, füge ich an und stehe auf.

Der Mann sieht zu mir empor. Sein Haar sitzt akkurat, an den Schläfen kürzer, oben mit Gel zur Seite gelegt. Ich frage mich, wie er die Frisur während des Schwimmens so perfekt beibehalten hat. »Darf ich Sie begleiten?«, fragt er und blinzelt in die Sonne.

Ich verlagere mein Gewicht von einem Bein aufs andere. »Ein anderes Mal vielleicht«, erwidere ich.

Ich fühle mich wie ein Teenager, als ich fortgehe. Ich spüre seinen Blick nicht, doch als ich meine Badetasche packe und mich umdrehe, bemerke ich, dass er mich nach wie vor beobachtet. Ich kenne nicht einmal seinen Namen – und frage mich, warum er mir die Abende zuvor nie aufgefallen ist.

Eigenartig beschwingt gelange ich auf der Terrasse an. Vielleicht lasse ich mich doch noch auf einen Sommerflirt ein; genau wie das Mädchen. Mein Herz flattert ein bisschen – diesmal definitiv ein Schmetterling! Ein wunderschön goldener Kaisermantel oder ein rot-blaues Pfauenauge. Manchmal ist es ganz schön, sich wieder wie ein Teenager zu fühlen.

Gäste sitzen verstreut im Schatten, nippen an Kaffeetassen, lesen oder unterhalten sich. Nach einer Weile kommt ein Kellner, um meine Bestellung aufzunehmen. Während ich Kaffee schlürfe, der gar köstlich schmeckt, und im Thomas-Mann-Band blättere, fällt mir mein Mädchen auf, das sich zur Terrasse heraufbewegt. Der hübsche Junge folgt ihr wie ein Hund. Sie wirkt unzufrieden, ja, nahezu zornig.

»Lass mich in Ruhe!«, faucht sie, als sie zwischen den Tischen hindurchstolziert. »Hör auf, mir ständig nachzugehen!« Sie verschwindet im Hotelinneren.

Der Junge blickt ihr wehmütig hinterher, dreht sich jedoch irgendwann um und geht denselben Weg wieder zurück. Sieht so aus, als hätte ihre Sommerromanze ein jähes Ende gefunden … was nicht für meine Romanze gelten muss.

Meine Gedanken hängen eine Weile bei dem attraktiven Lehrer, als ich ein weiteres Mal von den bedruckten Seiten aufblicke und nach dem armen Jungen Ausschau halte. Er ist überraschend schnell verschwunden. Obwohl sich die Sandsteinebenen licht und offen vor mir ausbreiten, kann ich ihn nirgends entdecken.

Die Lautsprecher verkünden das Abendessen, für das ich mich auf meinem Zimmer sorgfältig zurechtmache. Make-up habe ich zwar keines mitgenommen, doch ich bürste mir ausgiebig die Haare, bis sie wie Seide glänzen, und ziehe mir ein Kleid an, das meine Vorzüge besonders hervorstreicht.

Lächelnd fahre ich in die Lobby hinab und stolziere Richtung Essbereich. Statt meines bisherigen Tischkellners empfängt mich die Kellnerin. Anstatt mich nach der Menükarte zu fragen, zückt sie gleich den Stift und notiert sich meine Wünsche. Es ist mir unangenehm. Ich wollte doch gar nicht diese Art Gast sein, dessen Name jeder Mitarbeiter kennt und vor dessen Anblick man Reißaus nimmt. Klaglos führt sie mich zu meinem Tisch.