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Der ehemalige Elitesoldat Daniel West stammt von der Erde. Die ebenso schöne wie geheimnisvolle Evalina lebt auf dem mittelalterlich geprägten Planeten Galea. Beider bisheriges Leben wird auf den Kopf gestellt und einer gemeinsamen Mission unterworfen. Eine abenteuerliche Reise beginnt, auf der Evalinas wahre Identität mächtige Gegner und große Gefahren auf den Plan ruft.
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2023
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EVALINA
DANIEL
JOHANN
DANIEL
HELLEN
JOHANN
KIRSTEN
JOHANN
EVALINA
DANIEL
EVALINA
DANIEL
JOHANN
STEVAN
HELLEN
EVALINA
CECILIENNE
JOHANN
HELLEN
EVALINA
HELLEN
DANIEL
SOPHIE
ELISABETH
HELLEN
THOMAS
DANIEL
HELLEN
DANIEL
GREGOR
EVALINA
EVALINA
JOHANN
EVALINA
GREGOR
EVALINA
JOHANN
EVALINA
HELLEN
DANIEL
SOPHIE
JOHANN
VINCENT
GENERAL NORTON
EVALINA
VINCENT
EVALINA
HELLEN
JOHN
DANIEL
RICHARD
JOHANN
HELLEN
EPILOG
Im Unterrichtsraum der Abtei des Grünen Ordens in der Bergstadt Felsengard herrschte überwiegend Langeweile wie immer, wenn das Fach ´Geschichte der Magie´ auf der Tagesordnung stand. Kirsten Wallendorf, die Dekanin der Magieschule, hielt den Unterricht höchstpersönlich ab. Sie gab sich Mühe, das trockene Thema mit Anekdoten aus dem Leben der berühmten Persönlichkeiten der Geschichte aufzulockern. Vermutlich lag es auch an der frühen Morgenstunde, dass sie damit kaum Erfolg hatte.
Evalina von Greifenstein saß an einem der hinteren Tische neben ihrer Freundin Hellen. Auch ihr fiel es schwer, dem Stoff zu folgen. Immer wieder schaute sie aus dem Fenster, wo das frühe Morgenlicht sein rotes Farbenspiel über die zerklüfteten Berggipfel des Drachengebirges legte. Sie hatte, wie so oft, schlecht geschlafen und war von Alpträumen geplagt worden, die sich meist um den gewaltsamen Tod ihrer Eltern drehten, den sie als achtjähriges Kind miterleben musste. Sie selbst war den Mördern nur mit knapper Not entkommen und lebte seit zehn Jahren unter dem Namen Evelin Bergmann im Internat der Abtei.
Es war ihr letztes Jahr an der Schule und bald standen wichtige Entscheidungen an. Niemand außer der Dekanin kannte das Geheimnis ihrer Herkunft und wusste wessen Tochter sie war. Sollte das Versteckspiel ewig so weitergehen? Bisher war ja alles gut gegangen und sie hatte schöne Jahre hier in der Abtei und inmitten der grandiosen Berge verlebt.
Sollte sie also versuchen, ein normales Leben zu führen? Oder sollte sie sich offenbaren und ihr Geburtsrecht einfordern? Das würde allerdings gefährliche Konsequenzen nach sich ziehen. Der Weg zurück in die Anonymität einer normalen Existenz wäre dann für immer verbaut.
Evalina versuchte gerade ziemlich erfolglos ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Unterricht zu lenken, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Kirstens Assistentin Doris hereinplatzte.
„Am Südtor stehen Reiter des Königs! Es sind sehr viele!“
Mit einem Mal war von Langeweile nichts mehr zu spüren. Alle Schülerinnen sprangen auf. Über die Köpfe der aufgeregten Mädchen hinweg wechselte Evalina einen alarmierten Blick mit Kirstin Wallendorf.
„Alle Schülerinnen begeben sich sofort in den Versammlungsraum!“, rief die Dekanin mit fester Stimme. „Ich komme zu euch, sobald sich abzeichnet, was die Soldaten in der Stadt wollen.“
„Evelin, du bleibst hier!“, fügte sie hinzu.
Hellen winkte ihr zum Abschied zu und schloss sich den anderen Schülerinnen an. Als sie schließlich unter sich waren, legte Kirsten einen Arm liebevoll um Evalinas Schultern.
„Hast du deinen Dolch, das Amulett und den Bolzenschlüssel bei dir?“, fragte sie eindringlich.
Erst als die junge Frau nickte, fuhr sie fort.
„Du weißt, warum sie hier sind. Du musst sofort verschwinden. Nimm das Nord-Tor und fliehe in die Berghütte. Ich versuche nachzukommen, sobald es geht. Wenn ich in zwei Tagen nicht dort bin, begibst du dich allein nach Sturmsand. Alles wie besprochen. Traue niemandem und sei vorsichtig!“
Als Evalina wenig später, in einen unscheinbaren, graubraunen Mantel gehüllt, vom Vorplatz der Abtei auf die Hauptstraße einbog, sah sie von links schon einen Trupp Soldaten heraufreiten. Ihr eigenes Ziel lag jedoch rechts, wohin sie sich jetzt wendete. Sie hielt sich im Schatten und versuchte schnell Abstand zur Abtei zu gewinnen.
Das Nord-Tor kam nach wenigen Minuten in Sicht und sie sah mit aufkommender Panik, dass ein Dutzend Berittene bereits das Tor versperrten. Eine Jägerin in der typischen schwarz-grauen Tracht war ebenfalls unter ihnen. Evalinas Amulett schützte sie zwar aus der Entfernung, aber im Nahbereich hatte sie keine Chance unerkannt zu bleiben. Offensichtlich war die Stadt bereits generalstabsmäßig abgeriegelt. Es blieb nur noch eine einzige Möglichkeit zur Flucht - der Hallertunnel!
Der Bergbach Haller floss unterirdisch durch den Ort. Der Ein- und Ausgang unter der Stadtmauer wurde von schweren Eisengittern geschützt. Allerdings gab es unter der Wasserlinie einen Durchgang, den man mit einem achteckig geformten Schlüssel öffnen konnte, den sie stets mit sich führte Das Wasser war immer sehr sauber und klar, weil es streng verboten war, den Fluss zu verschmutzen. Im weiteren Verlauf bewässerte der Fluss das Gebiet der Magie fördernden Blaupilze, deren Wirksamkeit stark von der Wasserqualität abhängig war.
Da das nördliche Tor für sie nicht in Frage kam, drehte sie sich abrupt um und ging zurück. Leider machte sie sich damit verdächtig. Sekunden später hörte sie schon Reiter, die sich vom Tor her näherten. Evalina begann jetzt zu rennen. Sie bog links in eine Seitengasse ein und bei nächster Gelegenheit wieder rechts. Hufgetrappel näherte sich schnell, also öffnete sie eine Tür zu einem Mietshaus und schlüpfte hinein. Niemand hatte sie beobachtet, so hoffte sie wenigstens. Eine Weile stand sie mit dem Rücken an die Tür gepresst da und lauschte mit angehaltenem Atem. Das Hufgetrappel wurde lauter und wieder leiser. Für den Moment war sie wohl sicher. Dennoch saß sie hier in der Falle, wenn sie zu lange verweilte. Die Durchsuchung der Stadt würden bald beginnen und ganz sicher in diesem Viertel ihren Anfang nehmen.
Mühsam versuchte sie, die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Sie musste den Hallertunnel unbedingt erreichen. Nicht weit von hier gab es einen wenig bekannten und verschlossenen Zugang, den sie mit ihrem Schlüssel würde öffnen können. Aber es gab weitere öffentliche Zugänge innerhalb der Stadtmauern und es stand zu vermuten, dass zumindest diese von Soldaten überwacht wurden. Vielleicht standen im Tunnel selbst auch schon Wachen, aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn es soweit war.
Evalina horchte aufmerksam, öffnete die Haustür und spähte in die Gasse. Die Luft war rein. Schnell lief sie durch die schmalen Straßen der Stadt. Als sie vorsichtig um die letzte Ecke in die Straße lugte, in der sich der Zugang befand, sah sie einen Trupp Soldaten am anderen Ende der Straße. Der Zugang zum Tunnel befand sich etwa in der Mitte. Evalina hielt sich noch verborgen und überlegte. Wenn sie schnell loslaufen würde, hätte sie einen kleinen Vorsprung, bevor man sie entdeckte. Das sollte reichen, um in den schmalen Durchgang zu schlüpfen, die Tür zu öffnen und im Tunnel zu verschwinden.
Sie nahm den Schlüssel in die rechte Hand, atmete dreimal tief durch und rannte los. Sie hatte kaum zehn Meter geschafft, als sie auch schon entdeckt wurde. Die Soldaten auf der anderen Seite setzten sich nun ebenfalls in Bewegung. Der Durchgang war noch etwa 40 Meter entfernt. Plötzlich zischten Pfeile an ihrem Körper vorbei. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, sprang in den Durchgang, rammte den Bolzen in das Schloss und versuchte ihn zu drehen, um die Tür zu öffnen. Der Mechanismus klemmte. Sie stieß einen Fluch aus und legte ihr ganzes Gewicht hinein. Knirschend drehte sich das Schloss. Schon hörte sie die schweren Schritte ihrer Verfolger. Gleich würden sie um die Ecke biegen. Sie stieß die widerspenstige Tür auf, sprang in den engen Bereich dahinter und zog sie, so schnell es ging, wieder zu. Kaum hatte sie das Schloss wieder verriegelt, hörte sie auch schon krachend Schläge gegen die Tür dröhnen.
Sie durfte jetzt nicht zögern. Im Tunnel würde es bald von Soldaten wimmeln. Sie eilte die Stufen zum Fluss hinunter und rannte rechts am Fluss entlang in Richtung Süden, also flussabwärts. Der Weg zum südlichen Durchfluss war zwar weiter als zur Nordseite, doch mit der Fließrichtung des Wassers würde es einfacher sein, am Ausgang durch die Unterwasserpforte zu tauchen.
Jetzt im Tunnel waren die Lichtverhältnisse schlecht. Dennoch konnte sie erkennen, dass der Weg noch frei war und niemand sie aufhalten würde.
Als sie den letzten Aufgang zur Stadt passierte, hörte sie jedoch schon Schritte und das Klirren von Schwertern aus dem Treppenhaus. Sie beschleunigte noch einmal und kam wenige Minuten später atemlos am Gitterwerk unterhalb der Stadtmauer an.
Während sie dort wartete, um wieder zu Atem zu kommen, erschienen auch schon die ersten Soldaten, die sich sofort auf sie zu bewegten. Bevor die Verfolger sie erreichen konnten, ließ sie ihren Mantel fallen und sprang, ohne zu zögern, in den Fluss. Das eiskalte Wasser war ein Schock, doch die Furcht trieb sie voran. Sie tauchte im klaren Wasser, so wie sie es ein paar Mal mit Kirsten geübt hatte, öffnete die Pforte, schwamm hindurch und schloss sie wieder, um mögliche Verfolger abzuhalten. Dann tauchte sie hinaus und nach links in den Schatten eines vorspringenden Felsens und hob den Kopf vorsichtig aus dem Wasser.
Sie konnte eine der Wachen sofort auf der anderen Seite ausmachen. Sein Gesicht war von ihr abgewandt, weil seine Aufmerksamkeit auf eine vor ihm stehende Frau gerichtet war, mit der er sich unterhielt. Das musste eine der von Kirsten bestellten Prostituierten sein. Er war also abgelenkt. Direkt über sich hörte sie leises Gelächter, genau dort, wo sie geplant hatte, ans Ufer zu steigen. Sie würde sich den Weg freikämpfen müssen, wenn sie überhaupt noch eine Chance zur Flucht haben wollte. Dass dies notwendig sein würde, hatte sie am meisten befürchtet. Sie war Heilerin, keine Mörderin!
Und es musste sehr bald geschehen. Die Kälte des Wassers machte ihre Muskeln steif und jede Sekunde konnte sie entdeckt werden oder Geräusche aus dem Tunnel konnten die Aufmerksamkeit der Wachen auf den Hallerausgang lenken. Sie zog den Dolch und schlich sich entschlossen die Böschung hinauf. Jetzt sah sie den Soldaten mit dem Rücken zu ihr. Auch er redete mit einer Frau. Evalina erhob sich und rannte die letzten fünf Meter mit erhobenem Messer auf den Mann zu. Im letzten Augenblick wandte er sich um. Doch es war zu spät. Evalina rammte ihm das Messer in den Hals und gleich darauf noch einmal in die Brust, knapp oberhalb seines Brustpanzers. Blut spritzte aus der zerfetzten Halsarterie auf ihren Arm. Die Frau hielt eine Hand an den Mund und starrte sie voller Schrecken an. Evalina wartete nicht ab, bis der Mann, der sie mit aufgerissenen Augen ansah, umfiel, sondern lief gebückt nach links in Richtung Wald.
Das südliche Stadttor befand sich nur etwa 100 Meter hinter ihr. Von dort waren jetzt auch Pferdegetrappel und laute Rufe zu hören. Evalina wusste, dass ihre Chance zu entkommen immer geringer wurde und lief trotzdem weiter. Sie kämpfte sich durch das Unterholz und überlegte verzweifelt, was sie tun sollte. Sich hier zu verstecken war völlig sinnlos. Die Jägerin würde sie mit Sicherheit finden.
Sie lief tiefer in den Wald hinein. Dann brach sie schließlich durch eine Wand von Sträuchern und vor ihr öffnete sich eine Lichtung. In deren Mitte schwebte ein seltsames, metallisch glänzendes Gebilde einen halben Meter über dem Boden. An der ihr zugewandten Seite öffnete sich gerade eine Tür. Evalina war unvermittelt stehengeblieben und zückte erneut ihren Dolch. Sie trat mit gespannter Aufmerksamkeit auf die Öffnung zu und spähte hinein. Bis auf zwei Sitze war der Raum aber leer. Im Hintergrund konnte sie schon Männer und Pferde durch das Unterholz brechen hören. Sie hatte keine Wahl. Hier zu bleiben bedeutete den sicheren Tod. Sie zuckte mit den Schultern und stieg ein.
Drei Humvees fuhren in Kolonne über die staubigen Pisten nördlich von Kabul durch die Nacht. Daniel saß am Steuer des letzten und folgte mit 30 Metern Abstand. Er selbst und seine drei Begleiter hatten die sonst übliche Militärkleidung gegen dunkle Anzüge getauscht, weil sie ihren Schützling Abdul Zaraman bei einem offiziellen Termin im Präsidentenpalast in Kabul begleitet hatten. Martialisches Auftreten wäre dort unangemessen gewesen. Unter dem weißen Hemd trug er allerdings, wie alle seine Begleiter, eine leichte ballistische Schutzweste und darüber den Schulterhalfter mit seiner bevorzugten Waffe, der HK USP.
Die nachlassende Anspannung nach dem Einsatz machte sich bei allen bemerkbar und brachte zunehmend Müdigkeit mit sich. Auch Daniel hatte zunächst damit zu kämpfen gehabt, doch seit ein paar Minuten spürte er dieses wohlbekannte Gefühl der Unwirklichkeit, so als würde er neben sich stehen und das Geschehen von außen betrachten. Er hatte durch leidvolle Erfahrung gelernt, diesem Gefühl nachzugeben und es keinesfalls zu ignorieren. Es war oft genug ein Warnzeichen drohender Gefahr.
Unwillkürlich ließ er den Abstand zum zweiten Fahrzeug etwas größer werden und spähte aufmerksam nach vorn. Alles schien jedoch normal. Auch eine Viertelstunde später sah alles noch nach Routine aus. Was Daniel jedoch etwas beunruhigte, war die Tatsache, dass die Straße nun links von einem tiefen Graben und auf beiden Seiten von Gestrüpp und einzelnen Bäumen eingegrenzt war. Im Zweifelsfall saß man also mit dem Wagen in der Falle.
Auf die plötzliche, heftige Explosion folgte ein Moment der Desorientierung. Daniel konnte nichts mehr hören außer einem lauten Piepen. Trotzdem erfolgten die nächsten Schritte mehr oder weniger automatisch. Er zog seine Waffe und stellte gleichzeitig fest, dass er bis auf ein paar Kratzer im Gesicht unverletzt war. Der Wagen stand schräg über dem Graben. Er konnte ihn unter seiner Tür erkennen. Ein Blick nach vorn zeigte ihm, dass der mittlere Wagen mit Zaraman an Bord vollständig zerstört war und lichterloh brannte. Er lag zusätzlich unter Maschinengewehrfeuer. Nach seiner Einschätzung gab es dort keine Überlebenden. Vom führenden Fahrzeug war wegen der Rauchentwicklung nichts zu sehen.
Als nächstes schaltete er die Scheinwerfer ab, von denen erstaunlicherweise noch einer brannte und sah sich im Wageninneren um. Die Explosion hatte vor allem die rechte Seite schwer getroffen und alle Fensterscheiben zerstört. Mike, der australische Spaßvogel auf dem Beifahrersitz, sah übel aus. Ein Schrapnell hatte ihm einen Teil des Halses weggerissen. Überall klebte sein Blut. Auf der Rückbank rechts kam für Blake ebenfalls jede Hilfe zu spät. Ihm fehlte der halbe Kopf. Daniel spürte reflexartig Übelkeit aufkommen. Er drehte sich mühsam auf seinem Sitz, um direkt hinter sich zu schauen. Der riesige Ire Ian McDonavan lebte und war bei Bewusstsein. Er hatte scheinbar nur eine Verletzung am rechten Oberarm abbekommen, die jedoch pulsförmig blutete. Daniel machte ihm das Zeichen zum Aussteigen. Im gleichen Augenblick begannen die Angreifer auch schon, seinen Wagen unter Beschuss zu nehmen und das laute Scheppern von Geschossen auf Metall drang sogar durch seine momentane Taubheit hindurch. Er öffnete die Tür und ließ sich fallen.
Im Graben hatten sie beide zunächst gute Deckung. Daniel griff sich das Erste-Hilfe-Paket aus der offenstehenden Fahrertür und versorgte den Arm seines Kameraden in aller Eile mit einem Druckverband. Sein Gehör kehrte langsam zurück.
„Ian, wir müssen hier weg!“
„Was ist mit den anderen?“, fragte der zurück.
„Der zweite Wagen ist komplett zerstört. Dort lebt sicher niemand mehr. Was mit dem ersten Wagen ist, weiß ich nicht“, antwortete Daniel. „Versuche du hinter dem Wagen die Maschinengewehrstellung auszumachen. Ich schau mich vorn um.“
„Okay.“
Daniel spähte vor seinem Wagen über den Grabenrand. Er hatte Glück gehabt. Die größere Distanz zum mittleren Wagen hatte ihm auch etwas mehr Abstand zu den vergrabenen Minen verschafft. Jetzt konnte er auch das völlig zerstörte Führungsfahrzeug sehen. Dort wurde wenigstens noch vereinzelt zurückgefeuert. Allerdings lag er mitten auf der Straße auf der Seite und es gab keine weitere Deckung.
Daniel konnte zwei Stellungen des Gegners ausmachen. Eine auf der anderen Straßenseite in 30 Metern Entfernung. An dieser Stelle bildeten das Buschwerk und der Palmenwald eine Lichtung, so dass freies Schussfeld herrschte. Eine weitere Stellung befand sich noch weiter vorn. Er tauchte zurück in den Graben, um sich mit Ian zu beraten. Ian hatte eine weitere Stellung hinter der aktuellen Position ausgemacht. Also gab es drei Stellungen auf der anderen Straßenseite. Durch die leichte Kurve der Straße noch dazu in klassischer L-Form. Auf ihrer Seite der Straße befand sich augenscheinlich niemand. Das machte auch Sinn, wenn man nicht Gefahr laufen wollte auf eigene Leute zu schießen. Andererseits eröffnete sich dadurch auch eine gewisse Chance zur Flucht.
„Ian, lass uns in diese Richtung verschwinden. Und zwar so, dass uns der Humvee vor der mittleren Stellung Deckung gibt.“ Daniel zeigte in die entsprechende Richtung.
„Siehst du den Baumstamm in 50 Metern Entfernung? Wir gehen dort in Deckung!“
„Aye“, war die zustimmende Antwort des großen Iren.
„Also los!“
Beide sprangen aus dem Graben und sprinteten in die angegebene Richtung. Kurz vor dem Ziel wurden sie jedoch entdeckt und Kugel pfiffen ihnen um die Ohren. Beide warfen sich hinter dem Baumstamm in Deckung. Der Feuerschein war hier schon deutlich geringer. Noch 50 Meter weiter und sie hätten in der Dunkelheit verschwinden können.
„Shit, Daniel, mich hat ´s erwischt!“, stöhnte Ian.
„Wo?“
„Oberschenkel.“
Während weitere Geschosse in den Baumstamm einschlugen, band Daniel ihm schnell den Oberschenkel ab, um den Blutverlust zu stoppen. Mehr konnte er nicht für ihn tun. Er spähte über den Baum und überlegte, wie es weitergehen sollte. Hier saßen sie in der Falle.
„Daniel, lauf du alleine weiter“, sagte Ian, der die Situation wohl ähnlich einschätzte. „Ich halte hier die Stellung und versuche, sie so lange wie möglich aufzuhalten.“
Daniel dachte kurz nach und musste dem Iren recht geben. Ihn aus der Gefahrenzone zu schleppen, kam nicht infrage, jedenfalls nicht unter Beschuss. Er nickte.
„Wie viel Munition hast du noch?“, fragte Daniel
„Noch zwei volle Magazine.“
„Ich habe noch vier. Ich gebe dir eines ab.“
„Okay.“
Ian hob gezwungen lächelnd seine Hand. Daniel ergriff sie und sie sahen sich kurz in die Augen. Sie wussten, dass dies ein Abschied für immer sein würde.
„Viel Glück, Daniel! Du schaffst es.“
Daniel nickte, wandte sich um und lief geduckt weiter in das Unterholz.
Am Anfang schlug er noch Haken und versuchte mögliche Deckung auszunutzen. Später lief er geradeaus. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und er durchquerte den lichten Wald. Als er sich dessen Ende näherte, wurde er vorsichtiger. Er hockte sich hin und zwang sich zu mindestens zwei Minuten Ruhe. Er lauschte. Er würde hier Wachposten aufgestellt haben, wenn er das Kommando gehabt hätte. Tatsächlich sah er einen schwachen Lichtschein am Waldrand. Ein Bewaffneter steckte sich gerade eine Zigarette an. Daniel blieb noch eine Weile hocken, um das Gelände weiter abzusuchen, doch er konnte nicht mehr lange zögern. Die Verfolger waren auf dem Weg. Gerade war Ians Waffe verstummt und er konnte Taschenlampen zwischen den Bäumen ausmachen. Daniel zog erneut seine Waffe und schlich sich geräuschlos hinter den rauchenden Wachposten. In zehn Metern Entfernung stoppte er, zielte und schoss ihm in den Kopf.
Nur Sekunden später stand er selbst unter Feuer. Er hatte den zweiten Mann nicht gesehen. Daniel spürte Einschläge in seine Schutzweste und wurde davon umgerissen. Auch seine rechte Schulter wurde getroffen. Er versuchte den Schmerz auszublenden, aber sein rechter Arm war nicht mehr zu gebrauchen. Er wechselte seine HK in die linke Hand, mit der er nahezu genauso gut schießen konnte wie mit rechts. Er sah den zweiten Mann in 30 Metern Entfernung auf sich zukommen. Er feuerte dabei weiter in seine Richtung, allerdings ziemlich ungenau. Holzsplitter spritzten ihm um die Ohren. Daniel sprang hinter eine Palme in Deckung, rollte sich ab, hob sofort seine Waffe und drückte zweimal ab. Der erste Schuss traf den Gegner in die Brust, der zweite in den Kopf.
Daniel blieb einen Augenblick mit erhobener Waffe hocken, für den Fall, dass weitere Gegner auftauchten. Doch es blieb ruhig und er unterzog seinen Körper einem kurzen Checkup. Die Schulter sah wirklich übel aus und schmerzte stark. Sie blutete aber nicht besonders. Die Hauptarterie war also unverletzt. Seine Schutzweste hatte zwar die anderen Kugeln abgefangen, aber die Prellungen im Brustkorb schmerzten. Zu allem Überfluss bemerkte er jetzt auch noch eine leichte Schussverletzung an seiner linken Wade. Nichts Schlimmes, aber an eine schnelle Fortsetzung seiner Flucht war nicht zu denken. Trotzdem musste er diesen Schauplatz so schnell wie möglich verlassen. Das kurze Feuergefecht war ja deutlich genug zu hören gewesen.
Nur wohin? Seine Verfolger würden eventuell vermuten, dass er sich im Wald verstecken würde. Dieser Gedanke gab den Ausschlag. Er wandte sich der baumlosen Ebene zu und begann mit einem ziemlich unrunden Galopp. Trotz der Schmerzen fand er einen relativ kräftesparenden Laufstil, den er, wie er hoffte, sicher eine Weile würde durchhalten können.
Nur zehn Minuten später bemerkte er weit vor sich eine Reihe von schwankenden Lichtern. Wieder Taschenlampen, und zwar mehr als ein Dutzend. Jetzt saß er eindeutig in der Falle. Seine Gegner trieben offensichtlich einen hohen Aufwand, um jeden Zeugen zu beseitigen. Daniel hielt an und sah sich mit wenig Zuversicht um.
Da bemerkte er ein metallisches Schimmern etwa zwanzig Meter zu seiner Rechten. Er ging vorsichtig, mit erhobener Waffe darauf zu. Das Schimmern verschwand und wurde durch ein stumpfes Anthrazit ersetzt. Ein merkwürdiges Objekt tauchte vor ihm auf. Es sah im Grunde so ähnlich aus wie ein Porsche, nur ohne Räder und größer, etwa sechs Meter lang. Und es schwebte einen halben Meter über dem Boden! An der ihm zugewandten Seite wurde eine Öffnung sichtbar, fast wie eine Einladung einzusteigen. Er ging darauf zu und schaute hinein. Viel gab es nicht zu sehen. Das Innere war gerade groß genug für zwei nebeneinanderstehende Sitze.
Daniel überlegte nicht lange. Er steckte seine Waffe weg, stieg ein und setzte sich. Sofort schloss sich die Tür. Die Seitenflächen auf Kopfhöhe wurden transparent. Das Vehikel erhob sich, ohne dass irgendwelche Beschleunigungskräfte spürbar wurden. Es wurde rasch schneller und strebte dem Himmel entgegen. Die Geschwindigkeit stieg stark an. Bei fehlender Krafteinwirkung war dies sehr irritierend. Daniel sah die Erde unter sich immer kleiner werden. Innerhalb von Sekunden waren Erde und Sonne nur noch Lichtpunkte im Weltraum. Nun war die Geschwindigkeit schwerer abzuschätzen. Da sich der Himmelshintergrund nicht mehr sichtbar änderte, hätte er auch in der Unendlichkeit des Alls stillstehen können.
Alle Schüler- und Lehrerinnen waren im Versammlungsraum der Abtei versammelt, bewacht von schwerbewaffneten Soldaten des Königs. Kirsten Wallendorf stand zwischen zwei Soldaten auf der erhöhten Plattform und blickte besorgt auf ihre Schützlinge, die eng zusammengedrängt unten zwischen der Bestuhlung standen.
Johann Steiner stand etwas abseits im Gespräch mit zweien seiner Offiziere. Er war stocksauer über die bisherige Entwicklung der Mission. Trotzdem versuchte er gegenüber seinen Leuten ruhig zu bleiben.
„Stevan, wir müssen zunächst alle Töchter von Vasallen des Königs von den übrigen trennen. Wir können es nicht riskieren, wertvolle Verbündete zu verlieren. Nimm den Alten mit, er kennt die Familien!“
„Aye, ich kümmere mich darum.“
„Und dann sorge dafür, dass diese Mädchen in ihre Unterkünfte gebracht werden und dortbleiben. Stelle so viele Männer zur Bewachung ab, wie du für richtig hältst und komm dann zurück.“
„Michael, besorge du schon mal Seile und eine Peitsche! Ich schätze, wir werden sie brauchen“
„Ja, Hauptmann.“
Johann beobachtete die Dekanin mit wachsendem Zorn. Er wartete ab, bis Stevan zusammen mit dem Alten die Mädchen aufgeteilt hatte und ging dann zu ihr auf die Bühne. Wütend platzte es aus ihm heraus.
„Das Miststück hat einen meiner Leute umgebracht!“
Kirsten sah ihn verächtlich an.
„Wovon reden Sie, Steiner?“
„Davon, dass Sie Huren auf meine Leute angesetzt haben, um ihr zur Flucht zu verhelfen!“
Johann konnte immer noch nicht begreifen, wie zwei seiner Elitesoldaten auf einen so einfachen Trick hereingefallen waren.
„Von wem genau sprechen Sie?“, fragte die Dekanin jetzt scheinheilig.
„Sie wissen genau, von wem ich rede. Evalina, Haralds Tochter! Wo will sie hin?“
„Evalina von Greifenstein, die Königstochter? Ich dachte sie ist seit zehn Jahren tot.“
Johann merkte, dass er langsam die Beherrschung verlor. Wollte sie ihn für dumm verkaufen? Auf diese Spielchen hatte er keine Lust.
„Wir haben die Huren verhört. Sie beschuldigen ihre Assistentin, Ihnen den Auftrag gegeben zu haben, für Ablenkung am Hallerausgang zu sorgen.“
„Was Sie nicht sagen. Und das glauben Sie? Ich kann mir gut vorstellen, wie ihr sogenanntes Verhör abgelaufen ist. In welchem Zustand sind denn die Frauen jetzt?“
„Sie sind tot“, sagte Johann gefährlich leise.
„Tot!?“
Kirsten war jetzt sichtlich schockiert.
„Ja und wenn wir Ihre Assistentin erwischen, dann wird sie das gleiche Schicksal ereilen. So geht es allen Verrätern. Und ich frage Sie noch einmal. Wo will sie hin?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen“, sagte Kirsten und blickte zur Seite.
Die Dekanin hatte sichtlich einen Großteil ihres zur Schau gestellten Selbstbewusstseins eingebüßt.
„Wir werden ja sehen“, sagte Johann und drehte sich um. Er sah, dass Stevan bereits einen Teil der Mädchen hinausführte.
Bruno, der Alte, stand dabei und fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Er war bereits Berater des alten Königs, Harald, gewesen und konnte den Methoden des neuen Herrschers offensichtlich wenig abgewinnen. Und vor ihm, Steiner, hatte er schlichtweg Angst.
Johann ließ die konsternierte Kirsten stehen, ging die kurze Treppe hinunter und dann langsam vor den übrigen Mädchen entlang. Die meisten senkten ängstlich den Blick. Nur wenige sahen ihm trotzig entgegen. Ein Mädchen fiel ihm besonders ins Auge. Hübsch, etwas größer als die anderen, schlank und mit schönen Rundungen an den richtigen Stellen, wie er fand. Auch sie hatte nur Verachtung in ihrem Blick. Er hielt vor ihr an.
„Wie ist dein Name?“
Sie blickte ihm feindselig in die Augen, entschied sich aber dann, zu antworten.
„Hellen“, sagte sie ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„Michael!“, rief er. „Nehmt diese hier und bereitet sie vor!“
In ihren blauen Augen sah er Furcht aufflackern. Johann nahm es mit Genugtuung zur Kenntnis.
Zwei Soldaten packten das Mädchen an den Oberarmen und zerrten sie zwischen zwei der schlanken Säulen, die die Decke des Saales stützten. An den oberen Enden befanden sich Figuren, die aus dem Granit herausgemeißelt worden waren. Über diese wurden die beiden Seile geworfen. Hellen wehrte sich jetzt heftiger, aber ihre Handgelenke wurden schnell und routiniert festgebunden. Die Seile wurden straffgezogen und nach wenigen Sekunden stand sie mit nach oben gespreizten Armen zwischen den beiden Säulen. Sie stand mit dem Rücken zur Bühne.
Sofort begannen zwei Soldaten ihr das Kleid vom Körper zu reißen. Sie nahmen dabei ihre Messer zu Hilfe. Hellen zerrte verzweifelt an ihren Fesseln.
„Nein! Aufhören!“
Es dauerte nicht lange und sie stand, nur noch mit ihrem Unterrock bekleidet, in der Mitte des Raumes.
Johann ging einmal prüfend um sie herum und war unfreiwillig beeindruckt. Trotz ihrer verzweifelten Lage sah sie ihm weiterhin tapfer in die Augen. Insgeheim bewunderte er sie dafür. Und für ihre Schönheit. Er merkte, dass es totenstill im Raum geworden war. Die anderen Schülerinnen sahen ängstlich in seine Richtung. Viele hatten die Hände vors Gesicht geschlagen. Auch seine Männer blickten gespannt auf die Gefangene. Aus ihm unerklärlichen Gründen fühlte er sich nicht wohl dabei. Er schüttelte das Gefühl bewusst ab und ging langsam auf die Bühne.
Kirsten Wallendorf war jetzt außer sich vor hilfloser Wut. Gut so, dachte sich Johann.
„Was fällt Ihnen ein? Das dürfen Sie nicht!“, rief sie.
„Ich kann noch viel mehr!“
Er ahnte, dass sie nicht lange durchhalten würde, wenn es um ihre Schützlinge ging. Er hielt drei Finger hoch ohne die Dekanin aus den Augen zu lassen.
Einer seiner Männer postierte sich mit der Peitsche hinter Hellen, die verzweifelt links und rechts über ihre Schulter blickte. Ihr schulterlanges, haselnussbraunes Haar flog dabei um ihren Kopf. Sie wusste, was jetzt kommen würde.
Der erste Schlag traf sie diagonal über den nackten Rücken und sie schrie laut auf. Verzweifelt wand sie sich in ihren Fesseln.
„Aufhören!“, rief Kirsten und ballte die Fäuste.
Inzwischen musste die Dekanin von ihren Bewachern festgehalten werden. Der zweite Schlag traf Hellen um die Taille herum. Das Mädchen schrie erneut auf. Auf ihrem Rücken und der Taille waren rote Striemen sichtbar. Der Mann mit der Peitsche wartete geduldig ab, bis sein Opfer wieder ruhig vor ihm stand und mit hängendem Kopf auf den nächsten Hieb wartete. Da es der vorerst letzte war, holte er besonders weit aus und schlug mit aller Kraft zu, so dass sich sofort eine blutige Linie auf dem Rücken des Mädchens zeigte. Hellen schrie schluchzend auf und warf den Kopf zurück.
„Aufhören!“, rief Kirsten. „Hören Sie auf! Ich sage Ihnen, was ich weiß.“
Zu Johanns Überraschung meldete sich plötzlich das Mädchen zu Wort.
„Nein!“, rief Hellen. „Sagen Sie ihm nichts!“
Das Mädchen hatte wirklich Mut. Aber somit war auch klar, dass er auf der richtigen Spur war. Die Tochter des früheren Königs war hier versteckt worden und hatte offensichtlich Freunde gewonnen.
Er ging hinunter und stellte sich vor das Mädchen. Er hob ihr Kinn an und sah ihr in die Augen.
„Kind, was meinst du, wie lange du das aushältst?“
Sie entriss ihm ihr Kinn, blickte zur Seite und schwieg ansonsten.
„Wir können sehr lange so weitermachen. Ich kann dich auch zwischendurch meinen Männern überlassen. Möchtest du das?“
Von oben rief Kirsten herunter:
„Das ist nicht nötig. Ich sage Ihnen, was ich weiß.“
Johann blieb vor seiner Gefangenen stehen und rief nach oben: „Woher weiß ich, dass Sie die Wahrheit sagen?“
„Das wissen Sie nicht, aber Sie werden mich ja ohnehin als Geisel nehmen, denke ich“, antwortete Kirsten. Johann ließ seinen Blick noch einmal über den Körper des Mädchens gleiten und schien zu einem Entschluss zu kommen.
„In Ordnung.“
Kirsten verriet ihm, was er wissen wollte, vor allem Evalinas Ziel, die Hütte in den Bergen. Nun mussten Entscheidungen getroffen werden. Er gab Stevan, der inzwischen zurückgekehrt war, den Auftrag mit drei Männern in die Berge zu reiten und schärfte ihm ein:
„Nähert euch der Hütte von der Rückseite. Haltet die Pferde weit genug entfernt versteckt und legt euch auf die Lauer! Wenn sie dort erscheint, bringt sie mir. Tot oder lebendig! Wartet nicht länger als zwei Tage und kommt dann zurück.“
Als Stevan abtrat, wandte er sich an Michael:
„Sperrt die Dekanin ein! Wir nehmen sie mit zum König. Geht vorher mit ihr in ihre Unterkunft und lasst sie eine Reisetasche für sich packen.“
Johann zeigte auf Hellen, die noch immer in ihren Fesseln hing.
„Die da bringt in meine Unterkunft und sorgt dafür, dass sie nicht abhaut.“
Zuletzt sprach er mit dem Alten.
„Bruno, nach ihrer Kleidung zu urteilen, ist sie Wahrheitsseherin. Schaue trotzdem in den Büchern nach, ob und über welche Gaben das Mädchen sonst noch verfügt und lass es mich wissen. Befrage die Schülerinnen, aber einzeln, wie das Verhältnis zwischen ihr und Evalina war“
Der alte Mann nickte mit undurchsichtiger Miene und zog sich wortlos zurück.
Die Aussicht aus dem Raumschiff änderte sich. Ein Stern direkt voraus wurde heller, erst langsam und dann immer schneller. Das Vehikel zielte auf einen Punkt etwas seitlich des Sterns. Ein blauer Planet wurde schließlich sichtbar und näherte sich schnell. Sein Fluggerät trat in die Atmosphäre ein. Daniel sah noch kurz einen gewaltigen Ozean unter sich aber keine einzige größere Landmasse. Plötzlich tauchte eine Insel unter ihm auf. Sie war nicht besonders groß und wurde durch ein steiles Felsmassiv in zwei Hälften geteilt. Sie verschwand hinter ihm. Dann wendete das Vehikel um 180 Grad, sank tiefer und hielt direkt auf die Insel zu. An der Stirnseite des Felsmassivs öffneten sich Tore, sein Fluggerät hielt darauf zu und verschwand darin. Die Tore schlossen sich und Licht flammte auf. In der Konsole vor ihm öffnete sich ein Fach und eine kleine Schublade fuhr heraus. Darin befand sich eine Halskette aus einem weichen Material mit einem kreisförmigen schwarzen Anhänger. Daniel überlegte nicht lange und legte sich die Kette um den Hals. Die Tür an seiner Seite öffnete sich.
Daniel ließ seine Waffe stecken. Wenn man ihn hätte töten wollen, so hatte es bereits mehr als genug Gelegenheiten dazu gegeben. Die einfachste wäre gewesen, ihn einfach auf der Erde zu lassen. Stöhnend schob er sich aus dem Sitz. An der Seite des Hangars befand sich eine Tür. Er humpelte darauf zu.
Plötzlich und ohne Vorwarnung senkte sich der Fußboden, auf dem sein Fluggerät stand, und verschwand im Boden. Ebenso schnell schloss sich das Loch wieder. Daniel konnte inzwischen gar nichts mehr aus der Ruhe bringen. Die Ereignisse des Tages hatten zu einer Adrenalin-Sättigung geführt. Außerdem forderten seine Verletzungen ihren Tribut. Er trat aus dem Hangar in den hellen Sonnenschein und in die Wärme einer tropischen Insel. Weißer Sand und türkisfarbenes Meer bestimmten den Ausblick. Es gab einige große Granitblöcke, Palmen und weiter draußen die leichte Gischt an einem Korallenriff. Daniel fühlte sich an die Seychellen erinnert, die er vor einigen Jahren im Rahmen einer Rekonvaleszenz nach einem misslungenen KSK-Einsatz besucht hatte.
Das auffälligste Merkmal der Insel war die steile Wand des Felsmassivs, an dessen Fuß Daniel jetzt stand. Es teilte sie in zwei Hälften. An der Steilwand klebte in etwa 30 Metern Höhe ein zweistöckiges Holzhaus, fast wie ein Schwalbennest. Ein erstaunlicher Anblick. Auf den zweiten Blick waren deutlich Abspannseile erkennbar, die die ganze Konstruktion in Position hielten und sicherten. Auf der ihm zugewandten Seite des Schwalbennestes erstreckte sich zudem eine Art Terrasse mit ungefähr der gleichen Grundfläche wie der des Hauses. Am Ende der Terrasse gab es einen Ausleger, an dem eine kleine kreisrunde Plattform an einem Seil hing, offensichtlich eine Art Fahrstuhl, allerdings ohne Kabine oder Geländer.
In Anbetracht fehlender Alternativen entschloss er sich, das am Felsen hängende Haus zu erreichen. Vielleicht konnte man den Fahrstuhl ja irgendwie herunterlassen und mit etwas Glück gab es im Haus Verbandszeug und Medikamente. Nicht dass er viel Hoffnung hatte, dass seine Schulter jemals wieder ganz in Ordnung kommen würde. Selbst ein guter Chirurg würde die volle Funktion nicht wiederherstellen können.
Daniel hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, als ein Lichtreflex am Himmel ihn wieder stoppen ließ. Ja eindeutig, ein zweites Raumschiff war im Anflug. Aufmerksam verfolgte er die Flugbahn. Genau wie vorher bei ihm flog der Gleiter in großer Höhe parallel über den Felsen und entfernte sich, bevor er schließlich wendete und den Endanflug begann. Kein Zweifel, das Ziel des Fluggerätes war hier diese Insel. Daniel suchte sich eine Stelle, wo er Deckung und gleichzeitig ein gutes Schussfeld haben würde. Er entschloss sich jedoch seine Pistole im Schulterhalfter zu belassen. Solange keine unmittelbare Bedrohung vom Neuankömmling ausging, würde er selbst keinen Anlass für Aggressionen bieten. Außerdem schmerzte seine Schulter und er brauchte dringend eine Pause und eine anständige Mahlzeit.
Zwei Minuten später erreichte das Raumschiff den Hangar und verschwand darin. Wenig später trat eine schlanke, junge Frau an den Strand. Sie trug ein weißes, knielanges Kleid mit seltsamen, länglichen, grün-glänzenden Applikationen, die wie eine Art Panzerung wirkten, fast so wie bei einer römischen Rüstung. Obwohl das Kleid mit Schmutzflecken bedeckt und scheinbar auch feucht war, stand es ihr wirklich sehr gut, dachte Daniel. Auch sie hatte das seltsame Halsband angelegt.
Im selben Augenblick als sie ihn erblickte, zog sie in einer schnellen fließenden Bewegung einen Dolch aus einer Scheide an ihrem Unterarm und nahm eine geduckte, kampfbereite Haltung ein. Soviel zur Deeskalation, dachte sich Daniel. Jetzt bemerkte er auch Blut auf der Klinge und ihrem Unterarm. Sie kann also damit umgehen, war sein nächster Gedanke. Unwillkürlich arbeitete ein Teil seines Gehirns bereits an Nahkampfoptionen, die mit seinen Verletzungen verträglich waren. Er war sich ziemlich sicher, das Mädchen notfalls auf Abstand halten zu können. Also blieb er ruhig stehen und zeigte seine leeren Hände.
„Ich tue dir nichts. Du kannst das Messer ruhig wieder wegstecken.“
Noch während er den Satz aussprach, begann ihr Halsband Töne von sich zu geben. Offensichtlich übersetzte es seine Worte in eine weiche melodische Sprache. Nicht, dass dies irgendetwas an ihrem Verhalten änderte.
„Warum soll ich dir das glauben?“, war ihre Antwort, wie ihm sein eigenes Halsband kundtat. Sie sah ihn weiterhin argwöhnisch an und strich dabei mit der linken Hand eine Strähne ihres langen blonden Haares hinter die Schulter.
„Nun ja, ähm“, begann Daniel. „Ich bin ein paar Minuten vor dir hier angekommen und weiß auch nicht, was das Ganze bedeuten soll.“
Sie rührte sich nicht und starrte ihn weiter an.
„Außerdem wirst du vielleicht bemerkt haben, dass ich verletzt bin.“
Daniel war sich nicht sicher, ob das Halsband Ironie richtig übersetzen konnte. Jedenfalls nahm das Mädchen eine etwas aufrechtere Haltung ein und ihre Augenbrauen hoben sich ein wenig. Daniel nahm das als ermutigendes Zeichen. Er zeigte mit seinem unverletzten linken Arm zum Schwalbennest hinauf.
„Ich war gerade dabei, zu versuchen, dort hinauf zu kommen.“
Sie wandte den Kopf in diese Richtung und Überraschung blitzte kurz in ihrem Gesicht auf.
„Vielleicht finde ich dort auch Verbandszeug und Medizin.“
Sie sah ihn mit völligem Unglauben an, beinahe so als hätte er etwas völlig Absurdes gesagt. Jedenfalls senkte sie endlich das Messer, ohne es jedoch zurück in die Scheide zu stecken.
„Na gut. Ich komme mit. Aber du gehst vor!“
Schnell streifte sie ihre Schuhe ab und folgte ihm mit ein paar Metern Abstand. Als Daniel den Bereich unterhalb des Fahrstuhls erreichte, setzte sich dieser plötzlich von allein nach unten in Bewegung und stoppte schließlich auf dem Sand. Er trat sofort auf die Plattform und hielt sich mit links an der zentralen Stange fest. Er sah die junge Frau einladend und mit einem breiten Lächeln an.
„Du kannst dich unbesorgt hier mit hinstellen. Ich muss mich schließlich festhalten und ich habe nur einen gesunden Arm!“
Nach ein paar Sekunden des Zögerns trat sie ebenfalls auf die Plattform, hielt ihm jedoch sofort ihren blutigen Dolch an den Hals. Mit den baumelnden Schuhen in der linken, hielt sie sich ebenfalls an der Stange fest.
„Keine Dummheiten!“, sagte sie drohend.
Der Fahrstuhl setzte sich nach oben in Bewegung.
„Ich heiße übrigens Daniel“.
Er sah sie neugierig an. Als weiter keine Reaktion erfolgte, ergänzte er:
„Das ist üblicherweise der Moment, wo der zivilisierte Zeitgenosse ebenfalls seinen Namen nennt. So schwierig ist das doch nicht. Immerhin sind wir so etwas wie Leidensgenossen auf einer einsamen Insel, oder?“
Der Fahrstuhl kam mit einem Ruck zum Stehen. Daniel trat als erster auf die Terrasse und setzte sich humpelnd auf das Haus zu in Bewegung.
„Evalina.“
„Bitte?“
„Na, mein Name!“
„Ach so, danke.“
Daniel begann sofort, systematisch das Haus zu durchsuchen und nahm dabei seine Waffe in die linke Hand. Im Erdgeschoss befand sich eine Art Wohnraum mit Tisch und Sitzgelegenheiten und auf der anderen Seite des Treppenhauses eine Küche. Viel Holz und Licht, große, offene Fenster ohne Glasscheiben, alles funktional aber gemütlich. In der Küche hoffte er fündig zu werden. Fehlanzeige. Immerhin war der Kühlschrank gut gefüllt.
Oben gab es zwei Schlafräume beiderseits der Treppe mit jeweils einem eigenen Badezimmer. Verbandszeug fand er nirgendwo.
Als er wieder unten auftauchte, saß Evalina entspannt in einem Sessel auf der Terrasse. Ihren Dolch hatte sie weggesteckt.
„Kein Verbandszeug!“, zeigte sich Daniel enttäuscht. „Auch keine Medikamente oder Alkohol zum Desinfizieren.“
„Was ist das für ein Ding?“.
Sie deutete auf seinen Schulterholster, wo seine Waffe inzwischen wieder verstaut war.
„Meine Pistole“, sagte Daniel und sah sie erstaunt an. Wie konnte man nicht wissen, was eine Pistole ist? Er überlegte kurz, ob er sie besser im Unklaren lassen sollte, entschied sich aber dagegen.
„Damit kann man einen Feind aus größerer Entfernung bekämpfen.“
Sie sah ihn sekundenlang aufmerksam an.
„Du hättest mich jederzeit töten können, nicht wahr?“
„Ja, das stimmt.“
Er setzte sich stöhnend in den zweiten Sessel und versuchte den Schmerz in der Schulter zu ignorieren. Evalina sah stumm aufs Meer hinaus und schien zu einer Entscheidung zu gelangen. Sie drehte den Kopf und sah ihn direkt an. Wunderschöne grüne Augen, dachte Daniel bei sich.
„Du hast keine Ahnung, was ich bin, nicht wahr?“, fragte sie.
„Doch!“, grinste er, „ziemlich hübsch, aber völlig humorlos und gefährlich“
Als sie nicht darauf einging und ihn weiter intensiv ansah, ergänzte er.
„Äh nein, ich weiß nicht, worauf du hinauswillst. Aber andererseits, du weißt auch nichts von meiner Waffe, was schon sehr eigenartig ist.“
„Warte hier!“
Sie erhob sich und betrat das Haus.
„Ich bin gleich wieder da“, sagte sie über die Schulter hinweg.
Als sie wieder erschien, stellte sie eine Flasche Fruchtsaft und eine Banane in die Mitte der Terrasse auf die Holzbohlen. Daneben breitete sie eine Decke und Kissen aus.
„Leg dich dort hin! Ich kann dir helfen.“
„Okay?! Von mir aus.“
Daniel machte es sich auf der Decke bequem. Evalina kniete sich neben seine verletzte Schulter.
„Jetzt hör mir genau zu. Wenn ich anfange zu zittern, musst du mich von dir wegstoßen. Das ist sehr wichtig! Hast du mich verstanden?“
„Ja, verstanden“, sagte Daniel verwirrt. „Ich stoße dich weg, wenn du anfängst zu zittern.“
„Danach musst du mir sofort etwas zu trinken geben. Und dann möglichst auch etwas von der Banane.“
Daniel nickte ihr zu.
„Okay.“
„Lass mich nicht aus den Augen, egal was passiert!“
Er nickte wieder. Langsam wurde sie ihm unheimlich.
Evalina schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Dann legte sie beide Hände auf die Wunde. Zuerst spürte Daniel nur eine Verstärkung des Schmerzes. Doch dann ließ er rasch nach und eine angenehme Wärme begann sich in der Schulter auszubreiten. Mit Erstaunen spürte er, wie zerfetztes Gewebe sich neu zusammenfügte. Trotz seiner Überraschung, beobachtete er sie genau wie versprochen. Im gleichen Maße wie es ihm besser ging, schien sie in sich zusammenzusinken. Das war geradezu beängstigend. Obwohl der Heilungsprozess noch nicht komplett abgeschlossen war, drückte er entschlossen ihre Arme weg und sie sank langsam und mit geschlossenen Augen auf die Kissen.
„Verdammter Mist!“, rief er und sprang auf. Er nahm sie auf seine Arme, die jetzt beide tadellos funktionierten und legte sie im Sessel ab. Er griff sich die Flasche und kniete sich neben sie. Sie war kreidebleich.
„Was machst du denn da? Willst du dich umbringen?“
Langsam, Schluck für Schluck, flößte er ihr den Fruchtsaft ein. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug sie wenigstens die Augen wieder auf. Sofort griff er nach der Banane und schälte sie in Windeseile.
„Hier, nimm ein Stück!“
Sie biss ein winziges Stückchen ab und langsam kam wieder etwas Farbe in ihr Gesicht.
Nachdem die Banane Minuten später geschafft war, nahm er ihre Hand.
„Kann ich dich ein paar Minuten allein lassen?“
Evalina nickte müde.
„Hier ist der Saft. Ich geh mal eben in die Küche und koche uns etwas.“
Daniel durchsuchte den Kühlschrank und bereitet dann mit Zwiebeln und Speck eine riesige Portion Rührei vor. Gleichzeitig steckte er immer wieder Toastscheiben in den Toaster. Es war alles vorhanden. Dann füllte er noch zwei Gläser mit Apfelschorle und brachte alles mitsamt Tellern und Besteck nach draußen.
Am Tisch füllte er zunächst den Teller des Mädchens und dann seinen eigenen mit einem Berg der Rühreimasse. Evalina schaute ihm mit einem leichten Lächeln zu. Daniel setzte sich und sagte.
„Guten Appetit! Ich habe einen Riesenhunger.“
„Ich auch“, antwortete sie.
Sie machten sich über das Essen her. Lange sprach niemand ein Wort. Sie warfen sich nur gelegentlich neugierige Blicke zu.
„Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie du kochen kann“, sagte Evalina schließlich als ihr Teller leer war.
„Na ja, ich habe nur nicht oft Gelegenheit dazu. Es freut mich, wenn es dir geschmeckt hat.“
Daniel legte seine linke Hand an seine geheilte Schulter.
„Und ich hätte nicht gedacht, dass so etwas möglich ist. Das war unglaublich! Möchtest du noch etwas aus der Pfanne?“
„Nein danke.“
Daniel nahm sich den Rest des Rühreis und sagte dabei:
„Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo wir hier sind und was das alles zu bedeuten hat, oder?“
„Nein, als ich abgeholt wurde, steckte ich gerade in ziemlich großen Schwierigkeiten. Deshalb habe ich nicht lange gezögert und bin eingestiegen. So wie es aussieht, ist dies auch nicht Galea“
„Was meinst du mit Galea?“, fragte Daniel.
„Na ja, meine Heimatwelt. Ich weiß, dass du nicht von dort kommst, sonst hättest du mich an meiner Kleidung zweifelsfrei als Heilerin erkannt.“
„Dann bist du also so eine Art Alien, noch dazu mit eigenartigen Kräften ausgestattet.“
Daniel sah sie aufmerksam an und staunte zum wiederholten Male über ihre intensiv grünen Augen. Er senkte den Blick.
„Die habe ich mir immer ganz anders vorgestellt. Ich war übrigens auch gerade in gewaltigen Schwierigkeiten, als das Raumschiff auftauchte. Du hast ja gesehen, in welchem Zustand ich war.“
Er sah wieder hoch und ertappte sie dabei, wie ihr Blick über seinen Oberkörper wanderte. Lächelnd schlug sie die Augen nieder.
„Meine Heimatwelt nennen wir übrigens die Erde.“
Ohne Vorwarnung legte Evalina sanft eine Hand an sein Gesicht und die Schrammen an seiner rechten Gesichtshälfte verschwanden spurlos. Dieses Kunststück schien ihr keine große Mühe zu bereiten.
„Danke“, sagte Daniel.
Sie nahm ihre Hand zurück, was er mit leichtem Bedauern zur Kenntnis nahm.
„Um deine Wade kümmere ich mich morgen, ich muss mich erst erholen.“
Evalina blickte ihm über die Schulter.
„Schau mal, was für ein schöner Sonnenuntergang.“
Daniel drehte sich um und konnte nur zustimmen. Die Sonne stand tief im Westen und die leichte Bewölkung leuchtete in orange und rot.
„Ja, wunderschön! „
Er musste wieder an die Seychellen denken.
„Es erinnert mich an einen ebenso schönen Ort auf der Erde.“
Eine leichte Änderung des Meeresrauschens ließ ihn aufhorchen. Im rötlichen Licht des Sonnenuntergangs bemerkte er, wie sich das Wasser am Ufer rasch zurückzog. Innerhalb weniger Sekunden lagen die Korallenbänke trocken und das Wasser sank noch weiter. Auch Evalina blickte jetzt nach unten.
Das Meeresrauschen war verschwunden. Es war jetzt sehr still.
„Ein Tsunami!“
Daniel stellte sich an das Geländer und blickte aufmerksam aufs Meer hinaus. Das Mädchen stellte sich neben ihn.
„Was ist das, ein Tsunami?“, fragte sie.
„Das Wasser wird gleich zurückkommen, mit großer Gewalt, und alles überschwemmen. Das ist wohl auch der Grund, warum das Haus hier oben errichtet wurde.“
Tatsächlich konnte man in der Ferne ein leichtes Anschwellen des Wasserspiegels erahnen. Scheinbar harmlos floss das Meereswasser nun zurück, nur dass es immer weiter anstieg und sich am Korallenriff brach. Der Strand wurde überschwemmt und am Ende stand das Wasser mehrere Meter hoch, bevor es langsam wieder abfloss.
Evalina und Daniel standen staunend am Geländer und verfolgten das Schauspiel. Schließlich stellten sie ihre Sessel nebeneinander, setzten sich hinein und schauten dem Sonnenuntergang und den anlaufenden weiteren Wellen des Tsunamis zu, die nach und nach immer kleiner wurden.
Irgendwann brach Evalina das Schweigen.
„Was meinst du, wie lange wir hierbleiben müssen?“
„Ich weiß es nicht. Aber immerhin hat man einen Riesenaufwand getrieben, um uns herzuholen. Das tut man nicht ohne Grund. Ich würde vorschlagen, wir schlafen uns erst einmal richtig aus. Morgen können wir die Insel erkunden und irgendwann wird man uns schon einweihen, oder?“
Evalina legte eine Hand auf seinen Unterarm.
„Du hast recht. Ich mache mir nur Sorgen um meine Freunde zu Hause.“
Daniel fand ihre Hand sehr angenehm, dort wo sie war. Leider zog sie sie gleich wieder zurück.
„Ich glaube“, sagte er, „wir werden sehr bald erfahren, wie es weitergehen soll.“
Beide schwiegen wieder, jeder in seine Gedanken vertieft. Die ersten Sterne wurden sichtbar. Zwei Monde hingen am Himmel, sehr dicht zusammen. Einer verdeckte den anderen zur Hälfte. Daniel konnte keine bekannten Sternbilder ausmachen. Jetzt, gesättigt und schmerzfrei, traf ihn die Erschöpfung und Müdigkeit gleich doppelt. Er hätte auf der Stelle einschlafen können.
„Ich gehe dann mal schlafen“, sagte er und erhob sich.
Evalina schien es genauso zu gehen, denn sie begleitete ihn. Am oberen Ende der Treppe wünschten sie sich noch eine gute Nacht und jeder verschwand in einem der beiden Schlafzimmer.