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Ralf Ehrlich ist Offiziersschüler der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR. Er trifft in seinem zweiten Studienjahr - am Ende der 80er - auf Sybilla Wegener, eine Kommilitonin. Der wortkarge und strebsame Student, von dem überzeugt, was er tut, ist sofort gefesselt von der lebensfrohen, aufgeschlossenen und widersprüchlichen Frau. Sorgen und Gedanken sind weit entfernt von den dramatischen Ereignissen der kommenden Jahre, kreisen um ihr Studium und die eigene Zukunft. Aber die bevorstehenden Veränderungen werfen im Herbst '87 bereits lange Schatten voraus. Jener Herbst ist es, in dem sich die beiden Offiziersschüler unüberlegt und blauäugig in eine gemeinsame Prüfung stürzen, einen Test, bei dem eigentlich nichts schiefgehen kann - eigentlich. Nur ist in den letzten Jahren des rostigen eisernen Vorhangs nicht alles so friedlich, wie es scheint. Nicht nur im nicht sozialistischen Ausland, wie der Westen 1987 noch heisst, gibt es Verbrechen. Was als ihr erstes gemeinsames Abenteuer beginnt, wird plötzlich ein Kampf um Alles. Und Fehler können tödlich sein… erster Ralf-Ehrlich-Roman
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Seitenzahl: 606
Veröffentlichungsjahr: 2022
Walter R. Gerlach
Grenzgänger:
Die Wölfin
Ein Ralf-Ehrlich-Roman
© 2022 Walter R. Gerlach
Covergrafik von iStock LP (www.istockphoto.com)
Bearbeitung W. R. Gerlach (www.gerlach-diewölfin.de)
ISBN Softcover: 978-3-347-57771-8
ISBN Hardcover: 978-3-347-57772-5
ISBN E-Book: 978-3-347-57773-2
ISBN Großschrift: 978-3-347-57774-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Alle Ähnlichkeiten mit realen Handlungen oder handelnder Charaktere mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Erster Teil
Ich bin in Hitze schon seit Tagen.
So werd' ich mir ein Kahlwild jagen.
Und bis zum Morgen sitz' ich an,
damit ich Blattschuss geben kann.
Auf dem Lande, auf dem Meer
lauert das Verderben
Die Kreatur muss sterben!
(Rammstein – aus "Waidmanns Heil")
Der Keiler
Er hatte noch nie einen so grossen wütenden Klumpen lebendes Fleisch und Muskeln gesehen. Genau genommen hatte er überhaupt noch nie einen Keiler gesehen. Das Tier war aus dem Nichts aufgetaucht. Jetzt rannte Ralf vor ihm um sein Leben. Wie hatte das alles nur so aus dem Ruder laufen können?
Wenige Minuten zuvor war er aus dem Gebäude des Munitionslagers auf den Postenweg getreten. Die Nacht roch noch frisch, nach Kiefern, unschuldig und doch regenschwanger. Ein leichter Dunst lag auf dem Hügel, wie eine Decke aus Watte, kalter Watte. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Die Kälte kroch in seine Uniform und war doch wohltuend nach dem überheizten Aufenthaltsraum und dem dominant männlichen Geruch von vier mässig motivierten Offiziersschülern. Der Wachwechsel mit der frischen Luft und der Ruhe kamen wie gerufen. Er war gern hier draussen. Hier konnte er seinen in den letzten Wochen seltsam bewegten Gedanken nachhängen und seine überaus detaillierten Träume sortieren, leise dabei mit sich selbst reden und sein Notizheft, dessen Deckel es fälschlich als "Notizen Führungslehre, Ralf Ehrlich" auswies, mit Kritzeleien füllen. Den Befehl hatte er vom Militärpsychologen bekommen. Eigentlich war das alles nicht sein Ding, die Träume nicht, der Psychologe nicht und seine intimsten Gedanken aufzuschreiben und vom Seelenklempner Neubauer sezieren zu lassen schon gar nicht. Aber Befehl war Befehl.
Jemand rief seinen Namen. "Ralf, warte!" Das war Alex‘ Stimme. Er drehte sich langsam zum Rufer um. Sein Freund war sein Partner in dieser Nacht. Der stolperte gerade aus der Wachbaracke. Sein Sturmgewehr hing locker über der rechten Schulter, Jacke und Koppel waren noch offen. Eigentlich hätte er Alex jetzt ordentlich anscheissen sollen. Schliesslich war er der Vorgesetzte seines Freundes. Aber er mochte Alex und dessen verkitscht poppige und zuweilen nachlässige Art. Er beneidete ihn manchmal darum. Alex war ein Bild von einem Mann, dunkelhaarig, auch ohne Training gut gebaut, braun gebrannt und natürlich ein Frauenschwarm. Das waren gleich mehrere Punkte auf der Hätte-ich-auch-gerne-Liste. Aber er war auch eine gute Seele, verlässlich, verschwiegen - ein Freund eben.
Ralf ging den eingezäunten Postenweg langsam nach links und bedeutete Alex, nach rechts zu gehen. Sie würden sich auf der Mitte der Strecke treffen und hätten so die erste Runde in der halben Zeit erledigt. Das war ihr Ding, alles ein klein wenig anders zu machen, wenn keiner zusah. Alex nahm die Finger der rechten Hand kurz an das Käppi zum Zeichen, dass er verstanden hatte und wandte sich pfeifend zum Gehen.
Alles war so im Einklang mit der fast liebkosenden Stille der Nacht. Ralf schlenderte los und war in Gedanken bei dem Traum der vergangenen Nacht. Manchmal fühlten sich seine Träume derart real an, dass er morgens, wenn der UvD ihn vor dem Rest des Zuges weckte, nicht wusste, wo er war, die Traumbilder suchte und schweissgebadet unter der dünnen Decke lag. Nun war die ärztliche Anordnung, ein Traumbuch zu führen. Direkt nach dem Aufwachen sollte er Notizen machen. Da er meist unsanft geweckt wurde, verflüchtigten sich die Bilder oft rasch. Ratlos sass er dann vor dem Notizheft und kritzelte. Aber hier in der Nacht stellten sich häufig wieder lose Erinnerungen ein. Es war, als würden neblige Schemen aus den Träumen seinen Weg kreuzen. Wortfetzen säuselten sie ihm zu. Scheinbar zusammenhanglose Trugbilder warfen sie ihm vor die Füsse. Er musste seine Augen dazu nur schliessen. Also stellte er sich nach etwa der Hälfte seines Weges mit dem Rücken zum anderen Teil des Postenweges, schulterte seine Kalaschnikow, nahm das Notizheft, knipste die vor der Brust baumelnde Taschenlampe an und zückte den Bleistift, als er ein Geräusch vernahm. Das war kein übliches Waldgeräusch. Ausserdem roch irgendetwas anders als sonst. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er wahrnahm, dass das Rascheln direkt hinter ihm war. Ralf erstarrte, steckte mit der Linken das Heft weg, liess den Bleistift fallen und drehte sich mit einem Ruck um, wollte seine Waffe nach vorn ziehen, verfehlte ihren Griff und wäre fast der Länge nach hingeschlagen, als er mit dem Fuss an eine Wurzel stiess. "Scheisse!" Sein Kontrahent war nicht Alex, der sich auch nahezu lautlos anschleichen konnte, sondern ein Schwarzkittel, der ihn aus dunklen Knopfaugen zu mustern schien. Das imposante Tier stand keine drei Meter vor ihm. Seine Kontur schien nun im Schein der Taschenlampe gespenstisch zu zittern. Der Keiler schnaubte kleine Dampfwölkchen. Offensichtlich war er nicht bester Laune. Ralf war das schlagartig auch nicht mehr und merkte, dass nicht das wuchtige Tier zitterte, sondern er selbst. Im Lichtschein seiner Lampe, die das Zittern auf den Keiler übertrug, wirkte dessen Schatten wie ein zappeliger Luftballon. Den Versuch, langsam die Waffe von der Schulter zu nehmen, quittierte das Tier mit einem erneuten, diesmal heftigeren Schnauben. Eigentlich – so hatte er gehört – würden Wildschweine ja ihr Heil in der Flucht suchen. Dieser Nonsens war dem Keiler offensichtlich unbekannt. Der stand nur stur, ignorant und unheimlich einschüchternd und bedrohlich vor ihm. Klar, wo sollte er auch hin? Der Postenweg war geschlossen und eingezäunt. Wieso, dachte Ralf, können sich diese blöden Schweine nicht einfach an militärische Absperrungen halten. Verflucht, war dieses Ding riesig. Also er hatte freilich schon viel grössere Tiere gesehen. Auch aggressivere hatte er erlebt. Nur waren die in aller Regel nicht im selben Käfig mit ihm.
Und genau das war es hier - ein Käfig. Der Zaun war aus stabilem Draht und umschloss bis auf das stählerne Doppeltor die Anlage nach aussen komplett. Nach innen war der Postenweg auch bis auf den Eingangsbereich komplett eingezäunt. Ralf trat auf der Wurzel von eben und wog seine Optionen ab. Würde er den Keiler in Richtung seines Freundes Alex treiben können, konnte er mit einem sicheren Fang rechnen. Dann würde der Fleischberg vielleicht an der Stelle versuchen zu fliehen, wo er die Arena betreten hatte. Wenn der allerdings einfach nur im Kreis rennen würde, würde er für Alex zur Gefahr. Dann müsste Ralf schnell Alarm schlagen und der Freund müsste genauso schnell reagieren. Ausserdem bestand die Gefahr, dass er selbst in die Schusslinie kam. Das Schwein selbst war auch nicht ohne. Die Eckzähne im Ober- und Unterkiefer sind ernst zu nehmende Waffen. Und Wildschweine sollen ja angeblich auch sehr schnell sein.
Die andere Option war das Tier kurz abzulenken und selbst zu laufen. Die Frage war nur, wohin? Ralf versuchte einen Schritt Abstand zu gewinnen und setzte langsam einen Fuss nach hinten. Der Keiler schnaubte erneut. Mit einem "Ach Scheiss drauf" entschied sich Ralfs Reptilienhirn nach reiflicher Überlegung für Angriff. Das erschien ihm als beste Option. Fünfhundert Millionen Jahre Evolution im ältesten Teil seiner grauen Zellen konnten sich schliesslich nicht irren. Ralf starrte den Keiler an, hob den linken Arm, zeigte theatralisch nach vorn und bellte "Du blöde Sau, hau ab!" Der Schwarzkittel wirkte absolut nicht beeindruckt. Er grunzte und scharrte, als wolle er jeden Moment zum Angriff blasen. Ralfs Gehirn notierte noch 'falsche Entscheidung', dann gab er Fersengeld. In einem irren Moment dachte er daran, den Keiler einfach hinter sich her zu jagen. So schnell konnten die Viecher schliesslich doch nicht sein. Und er selbst war ein recht passabler Läufer. Am Ende würde die fette Wildsau vielleicht einfach vor Schwäche umfallen. Was die wohl wiegen würde? Einhundert Kilo? Er dachte kurz an Geschwindigkeit, Masse, Beschleunigung und daran, dass er nur auf zwei Beinen lief, während sein Verfolger vier hatte und entschied sich, nicht den Langläufer zu mimen. Gegen den Koloss hatte er in diesem kleinen Käfig keine Chance. Sein grosses Glück war, dass der Keiler nicht sofort hinter ihm her war. Ralf rannte weiter, versuchte noch ein paar Meter zu gewinnen. Das Unterholz krachte bei jedem Schritt. Farne und Gestrüpp am Rand des Zaunes griffen nach seinen Füssen. Jetzt nur nicht stolpern, dachte er, als die Bäume an ihm vorbeiflogen, frisch geschnittene Äste an seiner Strichtarn-Jacke schrammten und Spuren in sein Gesicht rissen. Ausser Atem wandte er den Kopf. Dieses kapitale Wildschwein war keine fünfzehn Meter hinter ihm und hatte anscheinend keine Lust auf halbe Sachen.
Er lud im Lauf das Sturmgewehr durch und versuchte erfolglos, einigermassen ruhig zu atmen. Völlig ohne Sinn stammelte er "Halt"- "Halt, stehen…"- "stehenbleiben"- "Bleib verdammt noch mal stehen, oder ich"- "…oder ich schiesse", sackte auf die Knie, während er sich umdrehte, riss die Waffe nach oben und schickte einen kurzen Feuerstoss in die Umrisse des Paarhufers, rollte aus dem Weg und versuchte dem lebenden Geschoss zu entgehen. Das Schwein rammte ihn am rechten Bein, schoss orientierungslos an ihm vorbei und blieb im Flechtzaun eingeklemmt liegen. Es keuchte und blutete. Er hatte getroffen. Ralf war von der Wucht des Zusammenpralls leicht benommen, rappelte sich schnell auf, blieb im Kniestand und richtete die Kalaschnikow auf das sterbende Tier. Doch der würde nicht mehr auf die Läufe kommen. Im Schein der Taschenlampe waren die Eintrittswunden deutlich zu sehen. Das Blut hatte den Waldboden rot gefärbt. Das waren die letzten Meter für den imposanten Kerl gewesen. Ralf stand auf, wischte sich den Dreck aus dem Gesicht und von der Uniform und näherte sich seinem Opfer.
Die Schüsse, die die ruhige herbstliche Atmosphäre zerrissen hatten, lösten sofortigen Alarm aus. Auch Alex war mit Gewehr im Anschlag sofort in Richtung Ralfs Standort losgerannt und bog gerade um die Kurve, sah einen blutigen Haufen am Boden und brüllte "Eindringling am Boden!". Die Scheinwerfer am gesamten Zaun flammten auf und tauchten die Szenerie in kaltes, weisses, totes, gleichgültiges Licht. Zwei weitere Kameraden waren auf den Weg getreten und liefen zu ihm, sicherten die Umgebung und warteten. Die Nacht war verschwunden, verdrängt, durch gnadenloses Kunst-Tageslicht. Es entfärbte jeden Grünton des Waldes, liess das Blut wie einen Kaffeefleck aussehen, machte Ralf nahezu blind. Was für ein Bild. Er dachte an Hieronymus Bosch und rief "Schaltet das verdammte Licht aus! Entwarnung! Entwarnung!" Die Scheinwerfer verloschen, wie sie vorher zum Leben erwacht waren, mit einem Schlag. Die Dunkelheit war sein Freund. Er blinzelte schnell, um sich an die schlagartige Dunkelheit zu gewöhnen und zitterte wieder leicht. Das war das Adrenalin. Es würde gleich vergehen. Er sammelte sich, sicherte das Sturmgewehr und stellte es angewidert ab. Er hatte das Schwein nicht töten wollen. Es war einfach passiert, passiert, weil er Angst gehabt, falsch reagiert und den Sicherheitszaun nicht vor der ersten Runde kontrollieren lassen hatte. Es war im doppelten Sinne seine Schuld, fahrlässig, unsinnig. Er legte die Hand auf den Hals des Tieres und murmelte eine Entschuldigung. Derweil floss das Leben aus seinem Gegner. Ein letztes Zucken, ein Röcheln, eher ein Rülpsen, dann war es vorbei. Wenigstens ging es schnell. Das war nicht das letzte Leben, das er auf der Seele tragen sollte. Aber das wusste er damals noch nicht.
Alex stand jetzt neben ihm. "Sau tot!" Er ahmte mit dem Mund ein Jagdhorn nach. Er legte Ralf die Hand auf die Schulter, während der Rest der Menage auftauchte. "Mann, es ist nur ein Schwein. Das war ein Unfall. Lass uns Meldung machen und das Loch im Zaun suchen. Irgendwo muss es ja hier reingekommen sein und durchs Tor wird man es nicht gelassen haben oder!". Ralf hielt noch immer die Hand auf das tote Tier. "Ja, ich rufe an." Er streichelte den Keiler ein letztes Mal. Was für ein Scheisstag. "Ich muss auch noch die Patronen melden, die ich verschossen habe." Alex lächelte ihn verschmitzt an. "Was denkst du? Was kriegen wir für die Sau? Immerhin haben wir ja kein Schrot verschossen. Das war eine saubere Sache oder?" Ralf musterte seinen Partner und schüttelte langsam den Kopf. "Na ja, nicht für die Sau."
Tatsächlich gab es kein Geld; Kompaniechef Oberstleutnant Heinz Rüdiger belohnte beide zwei Tage später mit dem bösesten Blick, den er aufbieten konnte. "Ich habe Ihren Bericht gelesen, Genossen Offiziersschüler. Nichts daran hat mir gefallen. Wenigstens sind Sie ehrlich." Er schaute Ralf an und lachte kurz und trocken. Ralf dachte daran, wie oft er diesen blöden Wortwitz noch ertragen wollte. Er hatte jetzt schon genug von diesem Gespräch. Früher hatten ihn die anderen Kinder in der Schule wegen seines Namens oft genug gehänselt. 'Mit dem kannst Du nie eine Bank ausrauben, weil der Ralf immer 'Ehrlich' ist!' Hahaha, wie lustig. Er würde einfach versuchen, die ganze Zeit hier im Dienstzimmer an schöne Dinge zu denken. Er stellte sich Mirjam, die Tochter des Vorgesetzten, vor. Er könnte sie ja mal ansprechen - einfach so, nur um seinen KC zu ärgern. Vielleicht würde das ja sogar klappen, notfalls konnte er Alex mitnehmen. Der würde sie bestimmt rumkriegen. Ralf würde sie dann nur abends bei ihm zuhause abgeben und sich auf das Gesicht seines Chefs freuen. Das gäbe zwar eine kurze Eiszeit in den Beziehungen zum Chef, wäre es aber wert. Die Temperaturen im Vorgesetztenzimmer waren ohnehin meistens kaum über dem Gefrierpunkt. Er lächelte.
"Wenn sie mich fragen", setzte Rüdiger fort, "ist gar nichts passiert. Die Sau gab es nicht. Die verschossene Munition haben Sie in der kommenden Woche beim regulären Schiessen mit auf der Liste. Der Zaun ist bereits repariert. Ich habe die Sau fachmännisch entsorgen lassen. Dafür habe ich das hier bekommen." Er zeigte auf eine Flasche mit einer goldgelben Flüssigkeit. "Und da Sie nicht unerheblichen Anteil hatten, stossen wir jetzt auf Ihr Jagdglück an. Rühren Genossen! Setzen Sie sich hin. Hier kommt heute sowieso keiner mehr. Und für den erfolgreichen Jäger OS Ehrlich habe ich noch das hier." Er holte ein in Papier eingeschlagenes kleines Irgendetwas aus dem Schreibtisch. Ralf hoffte inständig, dass es kein Schinken oder etwas in der Art war. Rüdiger wickelte es andächtig und feierlich aus. Zum Vorschein kam ein Brett mit vier Zähnen, wohl den Eckzähnen der Wildsau. "Das hier…" Er präsentierte das Holzbrett mit völlig unpassendem Pathos"… ist Ihre erste Trophäe. Für einen Orden reicht es nicht. Aber der Jäger meinte, es sei sauber erlegt. Man nennt das das Gewaff des Keilers, die Haderer und Hauer. Es gehört Ihnen." Er überreichte es Ralf, der es zögerlich annahm. Dann fuhr er fort. "Und das hier …" Er zeigte auf eine Flasche "… gehört uns Dreien als kleiner Dank des Empfängers." Sprach's und öffnete eine Flasche Remy Martin. Das war guter Stoff und nicht leicht zu bekommen. Ralf fragte sich, an welchen Bekannten er die Sau wohl weitergereicht haben mochte.
Eine ganze Flasche und eine spürbare Benommenheit später entliess der Oberstleutnant Alex und hielt Ralf noch fest. "Bleib mal noch sitzen, Junge. Wir haben noch was zu besprechen." Seltsamerweise lallte er kein bisschen, während Ralf versuchte, einfach die Klappe zu halten und nicht vom Stuhl zu fallen. "Ich will Sie als Zugführer behalten. Jemand anderes möchte Sie aber auch haben. Mehr kann ich nicht sagen. Sie melden sich morgen 21:00 Uhr an folgender Adresse! Offiziell weiss ich nichts von dem Treffen." Er reichte Ralf einen Zettel. "Wie Sie verfahren, OS Ehrlich, entscheiden Sie nach eigenem Ermessen. Schaden wird es Ihnen aber sicherlich nicht. So, und jetzt schlafen Sie gut!" Damit war alles gesagt. Ralf erreichte sein Zimmer, riss sich die Kleider vom Leib, legte alles für den Morgen bereit, schlurfte in den Waschraum und putzte halbherzig Zähne. Er fand sein Bett und schlief sofort ein.
Am kommenden Morgen weckte ihn der Unteroffizier vom Dienst 05:25 Uhr. Das war mindestens fünf Stunden zu früh. Er schwang sich aus dem Bett und bereute es sofort. Da er normalerweise keinen Alkohol trank, fühlte sich die Vortagesdosis absolut todbringend an. Er würde nach dem Frühsport eiskalt duschen müssen. 'Oh Scheisse' fuhr es ihm durch den Kopf. Er war diensthabender Zugführer und an der Reihe mit der Leitung des Frühsports - was für ein Mist. Seine Zunge schien ausserhalb seines Körpers eine Parallelexistenz zu führen. Er hatte das Gefühl, sie verloren zu haben. Reden war Krächzen. Schlucken war unmöglich. Jemand hatte seinen Mund mit einem trockenen pelzigen, stinkenden Fussbodenbelag ausgelegt. Er trank gierig kaltes Wasser aus dem Hahn, bis sein Mund nicht mehr wie eine Mülltonne mitten in seinem Gesicht roch und die Stimme einigermassen gehorchte. Und auch das bereute er sofort. Er schaffte es bis zur Toilette und übergab sich, wusch sich erneut und liess die beiden Züge der Kompanie antreten. Er startete in der kalten Morgenluft drei Minuten zu spät mit seinem Lieblingsprogramm und lief um den Exerzierplatz. Laufen war eine simple Koordinationsfrage. Man musste sich einfach fallen lassen und bevor man mit der Visage auf dem kalten Kopfsteinpflaster aufschlug, den Fuss aufsetzen. Das ging ganz gut, kein Ding. Das konnte er schaffen. Die erste Runde um den Exerzierplatz lag hinter ihm. Zwei würden noch folgen. Ralf wurde schlagartig speiübel. Hunderte Offiziersschüler aller Dienstjahre drehten Runden. Keinem würde auffallen, wenn er kurz…. Er scherte aus und übergab sich zum zweiten Mal an diesem Morgen, diesmal in die Buchsbäume am Kontrolldurchlass. Hier konnte ihn jetzt noch keiner gesehen haben. Und wenn schon, dachte er, seine Gesichtsfarbe war nur Nuancen heller als die der Hecke. Das Grün war identisch. Er fiel definitiv nicht auf. Den hinter ihm stehenden Diensthabenden am Kontrolldurchlass bemerkte er erst, als er sich aufrichtete. Der junge Gefreite starrte ihn an und verlangte völlig teilnahmslos "Name und Zug, aber dalli!" Dieser Tag wurde besser und besser.
Er machte sich noch keine Gedanken über den abendlichen Termin. Einen Hauptmann Hauser kannte er nicht. Die Zimmernummer auf dem Zettel gehörte zum Stabsgebäude, dem 'Sitz der Götter', wie man ihn hier nannte. Auf dem Weg dorthin traf er eine der Offiziersschülerinnen. Seit 1984 studierten in Kamenz auch Frauen an der Offiziershochschule. Das schien ihm ein angenehmer Umstand. OS Sybilla Wegener kannte er vom Sehen, vom Begegnen im grossen Speisesaal, der häufig nur U-Boot genannt wurde und von den gemeinsamen Vorlesungen. Hatte man sie jedoch einmal gesehen, war es schwer sie zu vergessen. Sie war schlank, fast athletisch, einen halben Kopf kleiner als er, hatte blondes langes Haar, das sie meist offen trug, blaugrüne Augen und Polster nur an den Stellen, wo sie hingehörten. Kurzum – jeder, den er kannte, wollte ihr an die Wäsche. Angeblich hatte sie einen Freund oder Verlobten bei der Armee. Ring trug sie jedenfalls keinen. Er ging ein Stück des Weges wie zufällig gemeinsam mit ihr und versuchte, sich auf alles andere, nur nicht auf sie zu konzentrieren. Selbst in der FDU, der Felddienstuniform, sah sie umwerfend weiblich aus. Und Mannomann, sie roch einfach gut. Aus einem Meter Entfernung nahm er das frische Bergamotte-Bouquet ihres Parfüms war. Sie trug es wie einen unsichtbaren Schleier, der sie vollständig umgab. War man erst einmal in der Reichweite ihres Duftes, ihres Charmes oder ihrer Augen, hatte die Vernunft nicht mehr lange zu leben. Wie konnte man in dieser Uniform nur so rattenscharf aussehen, sinnierte er. Ihr NVA-Koppel schnürte die Wespentaille nicht ein, liess aber gleichzeitig keinen Zweifel daran, dass sich genau diese darunter befand. Er hatte keine Ahnung, wie er das wieder aus dem Schädel kriegen sollte.
"Du bist aus dem 218 oder?" sprach sie ihn plötzlich an. Er errötete leicht – was seiner immer noch blassen Gesichtsfarbe an sich recht gut tat - und sah sie an. "Ja, und du gehörst zum 327, richtig? Du hast gemeinsam mit uns Vorlesung gehabt. Freut mich, ich bin Ralf Ehrlich". Sie lächelte, sagte aber nichts. Das lief doch soweit ganz gut. "Ich heisse Sybilla, Sybilla Wegener". Sie reichte ihm die Hand. Er nahm sie und sie gefiel ihm. Sie war warm, weich und doch fest. Sybilla lächelte ihm offen ins Gesicht. Alles, was er sah gefiel ihm.
"Du musst zum Stab." Das war keine Frage. Sie stellte es einfach fest. "Ich muss auch da hin. Ich nehm' dich mit." Ralf stutzte. Wie bitte, SIE nahm ihn mit? Wer war sie, seine Mutter? Oh verflixt, Mutter hatte er ganz vergessen. Er hatte ihr versprochen, jeden Mittwochabend anzurufen. Heute war Mittwoch. Es war Abend. Angerufen hatte er nicht. Vielleicht war es ja jetzt nicht mehr so schlimm, jetzt wo er eine "Ersatzmutter" hatte. Bei allem unterschwelligem Groll schmunzelte er.
Fehlte eigentlich nur noch, dass sie ihn an der Hand nahm und ihn auf ein Taschentuch spucken liess, um ihm danach die Wangen zu putzen. Trotzdem gefiel ihm diese seltsame Fürsorglichkeit. Dann nahm sie ihn tatsächlich an der Hand und seine Welt stand kurz still. Alles um ihn herum bewegte sich wie in Zeitlupe: der entgegenkommende Offizier, den er nicht grüssen konnte, weil sie seine Hand hielt und er sie nicht loslassen wollte, ihr Haar, das sanft wogte und auch die Tauben, die sie umkreisten. Halt, stopp, welche Tauben? Er kam zu sich und Sybilla zog ihn mit einer Sorglosigkeit hinter sich her, die ihn fast entsetzte. "Komm, die Zeit wird knapp." Sie liefen im leichten Trab die letzten Meter bis zur Treppe und dem Doppelportal des imposanten Ziegelbaus. Dieses Haus war in den 1890er Jahren für das 13. Infanterie-Regiment Nr. 178 gebaut worden. Diese Mauern atmeten den Jahrhundertwind und flössten jedem Besucher Ehrfurcht ein. Das war wohl auch ihr Ziel gewesen - nun ja, Ziel erreicht.
Der Posten am Eingang nahm kaum Notiz von ihnen. Scheinbar erwartete man ihn oder sie bereits. Die Frage beantwortete sich von selbst, als der Posten an der Innentreppe "OS Wegener, Sie werden bereits erwartet" entgegnete, ohne dass einer von ihnen beiden irgendetwas gesagt hätte. Entweder war sie auch dem Posten aufgefallen oder sie war hier Stammgast. Völlig irrationale Eifersucht schlich sich kalt und dunkel in seinen Bauch. Wer war sie? Das Püppchen, für das man sie halten konnte, war sie offensichtlich nicht. Das stand verdammt fest.
Sie tippelte vor ihm schnell und sicher die Stufen nach oben, als wäre sie hier zuhause. Er gewann den Eindruck, dass sie öfter so sorglos die Treppen empor lief, sah ihr kurz nach und nahm sich vor, sie später danach zu fragen. Vor dem Zimmer 204 hielten sie inne. Sie klopfte kurz und trat sofort ein. Wow, was für eine Frau!
"Waidmanns Heil, Genosse Ehrlich! Da haben Sie ja einen kapitalen Bock geschossen. Kommt rein! Ich bin Hauptmann Hauser." Der Mann lächelte und bot beiden einen Stuhl an. Es gab kein 'Rühren! Stehen Sie bequem!', keine Allüren. Ralf entgegnete "Na ja, es war ein Keiler. Und ich habe ihn ja nicht gejagt, Genosse Hauptmann." "Ach, Tinnef! Es war Ihr Abschuss. Kaffee oder Cognac?"
Neuen Träumen, neuen Zielen,
neuen Wegen öffnet sich der Tag.
Jetzt, da ich hier strauch'le, zög're,
doch Verlangen in mir brennt.
War das Zaudern nur ein Anker,
den ich nicht mehr weiter trag.
Bin bereit für Abenteuer,
jag' den Zweifel, bis er rennt!
Der Keller
Ralf wurde wie jeden Wochentag 05:25 Uhr geweckt, quälte sich aus dem Bett, übernahm den Frühsport, verschwand im Waschraum, kam gewaschen und rasiert zurück und bereitete sich auf das Abrücken zum Frühstück vor. Im Radio war die Markierung – jeder Sender musste deutlich mit einer Markierung ausgezeichnet sein – auf DT64. Er schaltete ein. Die Sendung "Morgenrock" ab halb fünf Uhr früh brachte ihn auf andere Gedanken. Nach AC/DC's "You Shook Me All Night Long" sang Wolfgang Ziegler "Verdammt, und dann stehst du im Regen…". Deutsche Texte waren, egal wie abgefahren, einfach leichter mitzugrölen. Alex stolperte laut und falsch mitsingend herein. Irgendwie lief derselbe Sender in der ganzen Kompanie. Es war schon merkwürdig, wie aus dem Takt geraten und gleichzeitig melodiös dieser Text aus fast sechzig Kehlen klang. Musik befeuert unsere Neuronen und kann Schmerzen lindern. Sie macht uns leistungsfähiger und glücklicher. Das Geheimnis ist respiratorische Arhythmie. Unser Herz schlägt schneller beim Ein- und langsamer beim Ausatmen. Musik und Rhythmus kann uns anfeuern oder beruhigen. Ralf regte sie gerade einfach nur auf. Er würde dieses Lied wohl dank der Kantate seiner Kameraden den ganzen Tag in Gedanken mitsingen. Mit dem letzten Ton des Liedes stellte Ralf das Radio ab und trat auf den Flur: "Zug 218 fertigmachen zum Frühstück, Zeit fünf Minuten!", schlüpfte in seine Stiefel und wartete bis zum Abrücken. Frühstück, dann drei Unterrichtseinheiten bis Mittag – ein ganz normaler Tag.
Zwei Tage waren seit seinem ersten Gespräch mit Hauptmann Hauser vergangen. Im Moment kam ihm das alles noch recht seltsam vor. Hauser hatte ihn ermutigt, MNK - den Militärischen Nahkampf - weiter zu betreiben, sich Gjogsul zu widmen. Frank Pelny, ein Ausbilder der Fallschirmjäger- und Aufklärungskräfte, hatte den nordkoreanischen Nahkampf in der Nationalen Volksarmee eingeführt und seit diesem Jahr trainierte man das auch hier an der Hochschule. Ralf hatte zwar ohnehin vorgehabt, sein Training zu vertiefen, aber mit offiziellem Auftrag war das natürlich nochmal eine ganz andere Sache. Er hatte eine neue Bekanntschaft unter den koreanischen Gaststudenten im Haus gemacht. Das konnte helfen. Er traf sich mit Taehyung, so hiess der junge Mann, meist kurz vor dem MNK-Training an der Halle. Die Verständigung war ein wenig hakelig gewesen. Sie hatten es mit Russisch versucht und waren dann auf Englisch umgestiegen. Taehyung war ein Jahr älter als Ralf und hatte ihm Fotos von seiner Frau und seiner Heimat gezeigt. Ralf hatte sich revanchiert, indem er ihn heimlich mit dem Motorrad mit nach Karl-Marx-Stadt genommen hatte und ihm seine Heimat gezeigt hatte. Er hatte mit Taehyung Fotos vor dem Roten Turm, dem "Nischel" und der Oper gemacht. Der Karl-Marx-Kopf mit seinen über sieben Metern Höhe war eine fotografische Herausforderung gewesen. Entweder waren sie selbst nicht zu sehen oder der Rest des Vierzig-Tonnen-Kopfes war einfach nicht auf dem Bild. Sie hatten einen Mann, der aus dem Gebäude dahinter auf den Platz trat und offenbar zur Bezirksleitung der SED gehörte, gebeten zu fotografieren. Aus den sechsunddreissig Bildern des Filmes waren schliesslich vier brauchbare entstanden und Ralf hatte seinen eigenen Gjogsul-Partner für die Freizeit. Er mochte Taehyung. Und der Koreaner mochte ihn. Beide genossen die geheimen Ausritte mit Ralfs Motorrad ins Kamenzer Umland, um im Wald zu trainieren, über Politik und Frauen zu diskutieren und erfolglos Koreanisch an Ralf weiterzugeben.
Sybilla, seine neue Bekanntschaft, hatte sich ebenfalls als echte Hilfe in den vergangenen beiden Tagen erwiesen. Sie hielt Kontakt zu ihm, suchte in den Vorlesungen und den Pausen, die sie gemeinsam hatten, seine Nähe. Ihre Motive blieben ihm allerdings vorerst unklar. Er wünschte sich natürlich, dass das nicht nur mit dem neuen Auftrag zu tun hatte, war aber nicht eitel genug, sich einzubilden, dass diese Traumfrau sich für ihn interessierte. Also versuchte er, nicht an sie zu denken, sich keine Hoffnungen zu machen. Hauser hatte angeregt, dass sich Sybilla und Ralf häufiger gemeinsam sehen lassen sollten. Damit würde kein Verdacht aufkommen, wenn sie gemeinsam unterwegs sein würden. Wohin sie unterwegs sein würden, hatte er nicht gesagt.
Es war Montag, Mittagspause. Sybilla wartete vor dem "U-Boot" auf ihn, sah wie immer anziehend und geheimnisvoll aus, lächelte ihn an und zog ihn am Arm zu sich heran. Sie tat geheimnisvoll und flüsterte ihm zu, dass er heute Abend einen ersten Auftrag erhalten würde, eine Art Prüfung. Er würde 21:00 Uhr bei Hauser erwartet. Dabei berührten ihre Lippen fast sein Ohr. Er nahm den Duft ihres Parfüms in sich auf, spürte ihren Atem an seinem Hals, ihre Hand an seinem Arm und vernahm einen nicht unangenehmen Schauer. Er wartete die ganze Zeit auf diese Prüfung und freute sich sogar ein wenig darauf. Und ja, er war aufgeregt. Aber er freute sich im Moment weit mehr auf das Mittagessen mit Sybilla. Sie ging vorneweg und übernahm souverän die Einfädelung in den Strom der Wartenden an der Essenausgabe. Es gab eine Quarkspeise und das unvermeidliche Montagsessen. Diesmal freute sich der Chefkoch bekanntgeben zu dürfen, dass es Gräupchensuppe war. Eigentlich war ihm egal, was es gab. Alles schmeckte wunderbar, wenn sie vor ihm sass und mit ihm sprach. Alles um ihn herum verschwamm zu grauem Rauschen. Er betrachtete sie einfach gerne. Sie war der Farbtupfer in dem ansonsten trüben Montag. Alex, der sich zu ihnen gesellte, holte ihn aus seinen Träumen. "Hallo Sybilla, belästigt dich der Typ?" er zeigte auf Ralf und grinste. "Nein lass mal. Ich stimme mich gerade mit deinem Zugführer wegen des Computer-Kabinetts ab. Ich muss an meiner Belegarbeit werkeln. Und ich habe gelesen, dass ihr morgen dort seid. Ralf hat mir seine Zeit angeboten." Diese Frau war einfach der Hammer. Sie sah nicht nur umwerfend aus, nein, sie log auch wie gedruckt, ohne mit einer ihrer blonden Wimpern zu zucken. Sie wandte sich an Ralf: "Ich lass euch Männer mal allein und Männersachen klären. Ach ja, danke!". "Gern geschehen!" warf Ralf ihr hinterher. Ihr schlanker Körper verschwand in der Menge. Alex beobachtete den Freund und bemerkte anerkennend: "Ich hab' ja keinen Schimmer, wie du das gemacht hast. Aber ich glaube, der Schwarm aller Offiziere am Standort scheint auf dich abzufahr'n. Verrätst du mir deinen Trick?" Dabei zeigte er lachend seine weissen Zähne. Ralf errötete leicht und gab kleinlaut zurück: "Nein, da täuschst du dich. Wir studieren nur manchmal zusammen." "Ja, klar. Dann pass auf, dass du nicht im Regen stehenbleibst, mein lieber Genosse Zugführer. Sonst führt dieser Feger dich!" Sie schaufelten die Gräupchen ein, stritten wie kleine Kinder um die grössere Quarkspeise und schlenderten dann zur Unterkunft. Der Tag war schön, aber herbstlich kühl. Die bald hundertjährigen Linden, die die Kasernenwege seit der Anpflanzung zu Zeiten des 13. Kaiserlichen Infanterie-Regiments No. 178 säumten, wiegten ihre bereits gelben Blätter in einer sanften Brise. Gleich begannen die Vorlesung und heute Abend das erste Abenteuer.
Fünf Minuten vor 21:00 Uhr stand er vor dem Stabsgebäude und schaute die Ziegelfassade empor. Ihn fröstelte. 'Bringen wir es hinter uns', dachte er. In zwei Räumen brannte immer noch Licht. Hausers war das linke der beiden Fenster. Er ging zum Haupteingang und der Wachhabende nickte nur, würdigte ihn ansonsten aber keines Blickes. Er stand vor Hausers Büro, fasste sich ein Herz und wollte gerade klopfen und eintreten, als er Gelächter aus dem Raum vernahm. Es war eine männliche und eine weibliche Stimme, kein Zweifel. Das waren Sybilla und Hauser. Die Tür schwang unvermittelt auf und Sybilla liess ihn ein. "Ich wusste, dass du davorstehst und Maulaffen feilhältst." Sie lächelte und bot ihm einen Stuhl am Tisch vor Hauser an. Ralf salutierte kurz und setzte sich. Der Hauptmann kam sofort zur Sache. "Genosse Ehrlich, Ihr erster Auftrag ist auch eine Probe für die generelle Eignung bei uns. Betrachten Sie es als erste Zwischenprüfung. Danach sehen wir weiter. Ich habe mir Ihre Akte kommen lassen. Sie sollten das hinkriegen." Er zwinkerte Ralf an und fuhr fort. "Sie haben keine gesundheitlichen Auffälligkeiten, Flugtauglichkeit, keine Westverwandtschaft, sind ledig, haben Judo gemacht, sprechen passabel russisch und englisch und können gut mit Zahlen. Hab' ich was vergessen?" Er schaute Ralf prüfend an. "Nein, ich denke nicht", begann der zögernd. "Mehr gibt es zu mir nicht zu sagen." "Irgendwelche Freizeitaktivitäten?" grub Hauser nach. "Ich lese gern, höre klassische Musik, zeichne gern. Ich treibe Sport. Aber das wissen Sie bereits, Genosse Hauptmann." Ralf war unschlüssig, was der hören wollte. "Gut, kommen wir zur Sache", begann Hauser, "am Freitag gehen Sie in den verlängerten Kurzurlaub bis Montag früh zum Dienst. Das ist, was Ihre Zugkameraden erfahren werden. In dieser Zeit werden Sie von einem Punkt in der Republik zu uns zurückfinden und am Montagmorgen pünktlich Ihren Dienst antreten. Die Regeln werden die folgenden sein." Er blickte ernst drein, schürzte die Lippen und begann. "Erstens: kein Kontakt zu Ihrer Familie, Ihren Kameraden oder den bewaffneten Organen im Allgemeinen, zweitens: keinen Wehrdienstausweis, Führerschein oder andere Dokumente oder Fotos oder irgendetwas, das Rückschlüsse auf Ihre Identität zulässt, drittens: keine Hilfe von Dritten, kein Fahren per Anhalter oder Ähnliches, viertens: Ihre Ausrüstung sind eine Fünfzig-Pfennig-Münze für das Notfalltelefon, dessen Nummer ich Ihnen dann geben werde und die sie sich merken müssen, Wasserentkeimungstabletten, zivile Kleidung, die wir Ihnen stellen werden." Er machte eine dramaturgisch offenbar wichtige Pause, sog hörbar Luft ein und setzte nach: "Alles verstanden?" Ralf dachte nach. Verstanden hatte er alles. Er fragte sich nur, ob das Hausers Ernst war. Und er fragte sich ausserdem, wie Hauser die Einhaltung dieser Regeln prüfen wollte. Das war unmöglich. Er würde allein durch die Republik reisen. Das war wie Urlaub. Irgendwo musste ein Haken sein. "Ja, Genosse Hauptmann, verstanden. Was ist also mein Auftrag?" hakte er vorsichtig nach. Hauser gluckste. "Na, hier heil anzukommen und die Regeln einzuhalten, Genosse Offiziersschüler. Das ist Ihr Auftrag." Ralf lächelte. Der Vorgesetzte wartete keine Antwort ab. "Gut Genosse, Sie empfangen die Zivilkleidung am Freitag nach Dienst direkt am Parkplatz bei Ihrem Motorrad. Der diensthabende Unteroffizier erwartet Sie dort. Ihre Konfektionsgrössen sind bekannt. Haben Sie ziviles Schuhwerk?" "Ja, hab' ich, Genosse Hauptmann." Ralf fragte sich, welche Zivilkleidung besser als seine eigene sein sollte. Als ob Hauser die Frage erahnt hätte, erklärte er: "Ihre eigene Zivilkleidung ist nicht geeignet. Ich will nicht, dass Sie irgendjemand erkennt bzw. beschreiben kann. Sie bekommen die Zivilkleidung erst am Freitag, damit niemand in Ihrer Kompanie Verdacht schöpft. Ihre eigene Kleidung geben Sie dem Fahrer wieder mit. Die erwartet Sie nach der Ankunft bei Ihrem KC. Den Einsatzbefehl bekommen Sie per Boten am Donnerstag. Hier ist die Telefonnummer. Prägen Sie sich diese Nummer ein." Ralf sah auf den Zettel. Die Nummer war hier am Standort. Er merkte sich die letzten vier Ziffern und nickte. Hauser nahm den Zettel und zückte sein Feuerzug. "Das ist vorerst alles. Danke, Genosse Offiziersschüler! Wegtreten!"
Donnerstag um 21:00 Uhr kam der Einsatzbefehl für Freitag 06:00 Uhr. Der Bote war ein unscheinbarer Gefreiter, den Ralf nicht kannte. Ralf sollte mit dem Motorrad eine Runde um den Block drehen und Punkt sechs am KDL, dem Kontrolldurchlass 1, stehen. Ein Feldwebel mit einem Kleidersack wartete auf dem Parkplatz. Der Feldwebel grinste ihn wissend an, verlor aber kein Wort. Im Kleidersack war die versprochene Zivilkleidung. Umziehen sollte er sich auf dem Bahnhof, seine eigene Kleidung im Kleidersack verpacken, das Motorrad beim Bahnhof parken und auf einen Dienst-Lada warten. Ralf hatte gerade das Motorrad am Ende des kleinen Parkplatzes geparkt, als der Lada bereits mit quietschenden Bremsen neben ihm hielt. "Zügig, zielstrebig!" Plärrte der Fahrer in Zivil gut gelaunt aus dem Seitenfenster. Ralf verstaute das Gepäck im Kofferraum und schwang sich auf den Beifahrersitz. Der Fahrer reichte ihm eine Thermosflasche mit aufgeschraubtem Becher. "Trink langsam. Der ist frisch." Eine knappe Stunde und einen Pinkelhalt im Wald später stieg er erneut um. Diesmal stand am Strassenrand, kurz vor der Auffahrt zur Autobahn, ein LKW, ein neutraler W50. Ralf verabschiedete sich von seinem Chauffeur, schwang sich auf die Ladefläche und erstarrte. Vier weitere Männer sassen hier, jeweils zwei auf den seitlichen Sitzbänken. Alle in Zivil, alle in seinem Alter, alle mit verräterischem Kurzhaarschnitt. Das war nicht weiter überraschend. Aber rechts ganz hinten, direkt an der Rückseite der Fahrerkabine sass eine Frau, die er kannte. Sybilla zwinkerte und bedeutete ihm, sich auf den freien Platz neben ihr zu setzen. Ralf nickte allen Männern kurz zu und begann sich zu fragen, ob das alles hier eine gute Idee gewesen war. Hoffentlich würde das hier keine Gruppenreise. Er wollte keine Gruppenreise. Er wollte allein sein. Er wollte allein und unabhängig zurück zum Standort finden. Darauf war er vorbereitet. Dabei konnte niemand ihn kontrollieren, niemand merken, wenn er per Anhalter durch die halbe Republik fuhr.
Die Plane fiel zu und wurde von aussen befestigt. Sie waren plötzlich in Halbdunkel gehüllt. Ralf sass noch nicht, als der W50 losrollte. Was machte Sybilla hier. Offenbar kannte sie das Spiel bereits. Wurde sie an einer anderen Stelle ausgesetzt und hatte sie einen anderen Auftrag? Allzu vertraut war ihr Umgang mit Hauser. Eine seltsame Mischung aus beissender Eifersucht und aufkeimendem Misstrauen durchwogte ihn. Er liess sich neben sie auf die Bank fallen und schaute ihr fragend in die wunderschönen grünen Augen. "Was machst du hier?" Sybilla setzte ein scheinbar beleidigtes Gesicht auf und konterte: "Ist dir meine Begleitung etwa nicht genehm? Wir machen das zusammen. Ich bin dein Kontrollposten. Also verdirb es dir lieber nicht mit mir!" Sie lächelte, liess aber sonst keine Regung erkennen. "Und frag mich nicht, wohin wir fahren. Das weiss ich nämlich auch nicht." Diese Frau würde ihm immer ein Rätsel bleiben. Er hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen, schaute sich um und musterte die anderen vier Kerle. Sybilla erklärte "… nein, nicht ALLE zusammen – nur wir zwei". Das beruhigte ihn kein bisschen. In seinem Kopf wetteiferten die unterschiedlichen Horror-Szenarien um den Sieg. Wenn Sybilla alles kannte und ihn kontrollierte, war er "am Arsch". Er kannte sie nur vom Sehen. Einschätzen konnte er seine Begleiterin absolut nicht. Er empfand ihre Gegenwart als angenehm – eigentlich. Ihre Zivilkleidung war sicherlich ebenso wie seine aus einem Fundus. Sie sah selbst in diesen Sachen umwerfend aus. Sie hätte einen Jutesack tragen können. Das hätte keinen Unterschied gemacht. Sie hätte auch darin umwerfend ausgesehen. Ohne ihn würde sie noch umwerfender aussehen, schoss es ihm durch den Kopf. Er wischte den Gedanken weg und versuchte sich an einer Lageeinschätzung. Egal, wo sie ausstiegen, er hatte sie am Hacken. Wie ernst sie das Ganze nehmen würde, konnte er wahrscheinlich erst in zwei Tagen wissen. Das war nicht sein Wochenende. Das stand mal fest.
Die Fahrt dauerte gut vier Stunden und endete in einem Kaff. Kurz vor der Ortseinfahrt stoppte die kleine Gruppe und Sybilla und er wurden entlassen. Er schwang sich umständlich von der Pritsche und half Sybilla beim Abstieg. Kaum waren sie beide abgesessen, gab der Fahrer Gas und fuhr an. Ralf hatte den Eindruck, dass der Fahrer nicht schnell genug aus der Einöde verschwinden konnte. Er las das Ortsschild: Wollup, Landkreis Seelow - na Klasse. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er bis Sonntagnacht zurückkommen sollte. Er hätte sich eine Karte besorgt, wäre getrampt. Jetzt hatte er eine Aufpasserin.
Sybilla fing seinen unentschlossenen Blick auf und grinste ihn breit an. "Sei ehrlich, OS Ehrlich, du hast nicht geglaubt, dass Hauser dich kontrollieren würde oder? Mit mir hast du nicht gerechnet, oder? Was würdest du jetzt tun, wenn ich nicht hier wäre und du frei entscheiden müssest?" Ralf sah sie ein wenig entsetzt und ein klein wenig beeindruckt, hauptsächlich aber ertappt, an und entgegnete: "Quatsch keinen Unfug! Ich freue mich natürlich immer über charmante Begleitung." Sie ging ihm gerade etwas auf die Nerven. "So fallen wir weniger auf. Schon mal daran gedacht, holde Parteisekretärin? Lass uns den Ort erkunden. Wir sehen uns um und finden einen Weg von hier in Richtung Süden, versuchen, soweit wie möglich zu kommen und sehen dann weiter." "Einverstanden Chefchen!" Sie salutierte unbewusst und zeigte zu einer Gebäudegruppe. "Das sieht nach einer LPG aus. Dort hinten ist ein Werk. Hier muss es irgendwo auch Lieferverkehr geben." Sie schlenderten los, nicht zu langsam, nicht zu schnell. Niemand sollte einen Verdacht hegen können. Hier wohnten vielleicht drei- oder vierhundert Menschen, nicht mehr. Hier kannte jeder jeden. Einsame Wanderer fielen hier bestimmt auf. Also zeigten sie auf das eine oder andere im Dorf und hatten nach nicht mal einer Stunde alles Wesentliche gesehen. Es gab eine Zuckerfabrik im Westen, die reichlich Verkehr bot, eine LPG, das Gartenbaukombinat, die Berufsschule, eine Art Wohnheim, Eigenheime und typische LPG-Wohnblöcke. Es roch nach Landwirtschaft und nach der Zuckerfabrik. Er wog noch ab, welcher Geruch ihn gerade mehr am Nachdenken hinderte und kam zu keinem Schluss. Vor dem Wohnheim standen Motorräder und Pkw‘s mit Kennzeichen aus der ganzen Republik. Diebstahl kam nicht in Frage, Trampen und der Bus auch nicht. Also brauchten sie eine möglichst unauffällige Mitfahrgelegenheit. Entgegen seiner Befürchtung nahm hier kein Mensch von ihnen Notiz. Einzig am Wohnheim glotzten einige Kerle – anscheinend gab es hier nur Männer - Sybilla hinterher. Sie wurde natürlich wahrgenommen. Trotz unauffälliger Jeans und lässig-legerem, fast nachlässig wirkendem Blouson fiel sie auf. Sie zog offensichtlich überall Blicke auf sich. Er dagegen war nahezu unsichtbar neben ihr. Sybilla entschied sich, ihre Karten auszuspielen und machte sich auf zum Wohnheim. "Lass uns nach einer Karte oder einem Lageplan suchen." Mehrere Kerle pfiffen fast synchron nach ihr oder bemühten sich anderweitig ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ohne gefragt zu werden, bot einer der Kerle mit schwerem sächsischem Akzent Sybilla seine Hilfe - wobei auch immer - an. Er musste sie für einen Neuzugang halten. Sie verschwand mit ihm im Treppenhaus. Ralf sah ihr mit gemischten Gefühlen nach. Wenn sie in einer halben Stunde nicht wieder da war, würde er hinterhergehen, nahm er sich vor. Die verbliebenen vier völlig unterschiedlichen Typen musterten ihn kurz, ordneten ihn offenbar als nicht bedrohlich ein und wandten sich wieder ihren Geschäften zu. Ralf nutzte die Zeit, um sich die Gebäude genau anzusehen. Es gab auch Frauen hier. Er konnte nicht feststellen, ob alle hier zur Gärtnerei oder zur Zuckerfabrik gehörten.
Sybilla kam fröhlich lächelnd mit ihrem Begleiter wieder. Obwohl sie ihm gerade auf die Nerven ging, versetzte ihm ihr Lächeln und das Grinsen des braungebrannten Kerls, der sichtliches Interesse an ihr hatte, einen leichten Stich. Sybilla lief heran, nahm ihn bei der Hand und warf der Gruppe ein "Entschuldigung, mein Freund ist maulfaul.
Tschüssi!" zu und zog ihn mit sich. Sie trug die nun folgenden Bemerkungen zu ihrem Begleiter und die recht derben Anmachsprüche mit Fassung, sammelte Komplimente ein und konterte einfach mit ihrem unvergleichlichen Lächeln. Ralf missfiel immer mehr, wie sie einfach die Führung übernahm. Wenn sie ihn gut beurteilen sollte, musste er die Initiative zurückbekommen, sie sich zurückholen. Bislang fühlte er sich wie an die Leine genommen. Nicht, dass es eine hässliche Leine gewesen wäre. Aber eine Leine bleibt eine Leine. Er war der zaghafte und vorsichtige Teil des Duos. In ihrer Gegenwart veränderte er sich. Das war ihm bei ihrer ersten Begegnung bereits passiert. Es war, als würde er die Rüstung des zu allem entschlossenen Draufgängers an die Garderobe hängen, wenn Sybilla in der Nähe war und die Mönchskutte überziehen. Sie verunsicherte ihn, schüchterte ihn ein klein wenig zu sehr ein. Er mochte ihre Begleitung. Er war sich nur nicht sicher, ob er auch seine Begleiterin mochte. Sie war wie ein überdrehter Teenager, die zu viel Eis und Kakao bekommen hatte. Als sie ausser Sicht waren, liess ihr gespielter Zuckerschock nach und sie zog eine Karte unter dem Pullover hervor. Es war eine Umgebungskarte. Sie breitete sie jetzt vor ihnen beiden auf einem Mauerstück aus. Die Karte zeigte zwar nur den Bezirk, war aber eine gute Orientierung. Ausserdem hatte einer der Kerle ihr etwas von einem Barkas erzählt, der heute noch nach Frankfurt fahren sollte, ergänzte sie beiläufig. Vor dem VEB Zuckerfabrik sollte er stehen. Ralf platzte der Kragen. "Was ist los mit dir? Ich dachte, du sollst mich kontrollieren, meine …" er rang um Worte "… meine Arbeit bewerten und so eine Art Rapport schreiben, ob ich mich - wozu auch immer - eigne. Du behandelst mich wie deinen kleinen Bruder, der in den Zirkus darf, aber nichts anfassen soll. Das ist MEIN Test, nicht DEINER." Er spuckte die Worte beinahe aus, fuchtelte mit den Händen in der Luft, sah sie unverändert lächeln und merkte im selben Moment, dass er ihr schon wieder auf den Leim gegangen war. Er funkelte sie an. "Das war ein Test, richtig?! Das war ein Test! Du hast mich absichtlich provoziert. Du wolltest sehen, ob ich mich wehre oder nicht. Du wolltest sehen, ob ich mir die Führung zurückhole. Hab' ich nicht Recht?! Los, sag was!" Er wartete nicht ab, bis sie antworten konnte, nahm die Karte und warf sie ungeschickt weg, beobachtete, wie sie eine Armlänge weit vom Mauersims segelte, am Boden liegenblieb und ihn damit zu verhöhnen schien. "Du wusstest, dass ich keine Karte brauche, dass ich allein weiss, wo Süden und Norden ist. Meine Güte, du bist so eine hinterhältige, verlogene, kleine …" Ihm fiel nichts Passendes ein. Er schlug sich mit der rechten Faust in die offene linke Handfläche. "Egal … " begann er wieder "ich bin dran! Das ist meine Tour! Ich werde mir die Lkw‘s in der Zuckerfabrik und bei der Gärtnerei ansehen. Es wird spät, wenn wir noch einen bekommen wollen und ich habe keine Lust, hier Wurzeln zu schlagen. Du kannst mir gerne folgen, wenn du Schritt halten kannst." Er starrte sie ernsthaft aufgebracht an und wandte sich zum Gehen.
"Bist du jetzt fertig?" setze sie ihm nach. "Dass ihr Kerle immer oben sein müsst!" Er drehte sich zu ihr. Das Blut schoss ihm in die Wangen. "Das hat doch nichts damit zu tun, wer … oben …" Er stockte, wandte sich ab und stiefelte los. Er konnte förmlich hören, wie sie sich in Gedanken über ihn lustig machte. "Also, grosser Führer, wohin zuerst? Willst du, dass ich immer exakt hinter dir gehe? Oder soll ich vielleicht ein bisschen Sicherheitsabstand halten?"
Ihre beiden Schädel waren etwa gleich dick. Das wurde ihm auf den zweihundert Metern Weg schnell klar. Er musste die Initiative behalten, wenn er diesen Kampf gewinnen wollte. Ihre Versuche, ihn aus der Reserve zu locken und ihn mit ihrem Sexappeal zu ködern, würden fruchtlos bleiben. Das würde er ihr schon zeigen. Er würde sie einfach ignorieren, das Wochenende überstehen und sich immer wieder sagen, dass diese hübsche Hülle keinen hübschen Inhalt hatte. Genau das würde er tun. Er hatte sie sich nur eingetreten. Sie war wie Hundescheisse am Stiefel. Man wurde sie gerade eben nicht los. Aber am Montag konnte man die Stiefel ja putzen.
Er schritt schneller aus. Am Zuckerwerk wurde er langsamer und versuchte, so unscheinbar wie möglich zu sein. Zwischen den anderen Mitarbeitern und Passanten fiel er nicht weiter auf. Auf der Bank gegenüber dem Eingang sass ein älterer Mann. Neben ihm lagen Beutel und ein Blaumann. Der Mann rauchte und beobachtete einen Punkt in der Ferne, schien zu dösen. Ralf schlenderte auf dem Weg hinter dem Mann vorbei, griff sich wie selbstverständlich den Kittel und ging über die Strasse. Sybillas anerkennende Blicke folgten ihm. Hinter dem Tor stand in der Tat ein Barkas, ein B1000 Kastenwagen mit EJ-Kennzeichen. Das war ein Anfang. Er sah noch vier Lkw‘s mit Berliner, Dresdner und Hallenser Kennzeichen, ging wieder durch das Tor zurück, winkte Sybilla zu sich und bog nach links ab.
Sie lehnten in vielleicht einhundert Metern Entfernung an einem Mast und beobachteten das Treiben um den Barkas. Keiner belud ihn, niemand kam auch nur in die Nähe. Der Wagen stand einfach dort mit offener Hecktür auf dem Parkplatz gleich hinter dem Doppelstahltor unweit der Mauer. Im Inneren sah man nur wenige Kartons mit unklarem Inhalt. Sybilla machte Anstalten loszugehen. Ralf hielt sie am Arm. "Was hast du vor?" Sie blickte zu ihm auf. "Na ja, ich bringe uns hier weg. Was hast du vor? Du willst doch nicht bis morgen warten. Der Barkas ist unsere Chance. Also?" Er nickte. Sie lief los. Sie tat es schon wieder, übernahm schon wieder das Ruder. Vielleicht konnte sie nicht anders. Er hasste und mochte dieses verrückte Huhn zugleich und lief ihr nach. Durch das Tor gingen sie wie alle anderen, ohne jemandem aufzufallen - Schichtwechsel. So verrückt war Sybilla wohl doch nicht. Beim Barkas, der ein Fahrzeug des Kombinats war, angekommen, schauten sie sich kurz um, öffneten langsam die Hecktür ganz und sahen ins Innere. Da gab es keine Gelegenheit, sich zu verstecken, Sie würden sofort auffallen. Das war eine Sackgasse. Ralf nahm das Ruder in die Hand. "Das ist keine Lösung. Da hinten sind vier Lkw‘s. Drei stehen mit der Front zum Tor. Ich denke, dass die abfahrtbereit sind. Die Planen sind geschlossen. Wenn alles gut geht, nehmen wir den Dresdner. Ich gehe davon aus, dass er heute noch fährt. Wie weit das genau ist, weiss ich nicht, aber die Richtung stimmt. Mindestens bis zur Autobahn bringt er uns. Im besten Fall kommen wir mindestens bis Freienhufen. Irgendwo wird der pinkeln müssen. Los komm!" Sybilla zögerte. "Wo Du das gerade sagst." Sie wirkte plötzlich verletzbar und klein. "Ich muss dringend." "Okay, lenkte er ein. Wir teilen uns. Du suchst dir einen Busch und ich einen Lkw. Ich warte dort auf dich." Er ging los, fühlte sich männlich und voller Tatendrang. Der jedoch am Parkplatz verebbte. Der Platz war offen und von allen Seiten einzusehen. Das würde ein Glücksspiel werden. Tatsächlich war er mit dem Kittel nicht weiter auffällig. Vorsichtig war er trotzdem. Als eine Gruppe Arbeiter an ihm vorbei zur Parkfläche ging, reihte er sich ein, scherte hinter dem ersten Lkw aus und verbarg sich zwischen den Fahrzeugen. Er untersuchte die Fahrerkabinen. Alle waren verschlossen. Die Planen waren lose verschlossen. Es gab keine Plomben. Das war die gute Nachricht. An Bord zu kommen war schon herausfordernder. Er schaute sich um, öffnete die Plane des Dresdner Lkw‘s leicht, setzte den Fuss über den Blinker und zog sich mit der linken Hand am Spiegel nach oben. Er schaute über die Ladekante der Pritsche und verschwand auf der Ladefläche. Das war leichter als gedacht. Die Ladung war relativ gleichmässig auf drei Viertel der Ladefläche verteilt. Sie bestand nur aus Säcken mit Zucker und einer Kiste mit unklarem Inhalt. Verstecken konnte man sich nur am Ende der etwa dreieinhalb Meter langen Ladefläche. Bequem würde das nicht werden. Aber es würde gehen. Bei der ersten Gelegenheit würden sie absteigen und verschwinden. Er stemmte einige der Säcke als Sichtbarriere vor dem Ende der Fläche als zweite Lage auf die davorliegenden und sicherte sie, indem er sie vorsichtig auf Lücke legte. Der so entstandene Raum war etwa einen Meter in der Breite und zwei Meter in der Länge. Das musste ausreichen. Für ihn und Sybilla war genug Platz. Verdammt! Sybilla hatte er ganz vergessen. Er stieg über die Ladung zum Ende der Pritsche und steckte den Kopf vorsichtig nach draussen. Sie sah ihn sofort und lief leichtfüssig wie ein Reh und als ob es das Normalste der Welt wäre, zum Ende des Lkw‘s und hielt Ralf die Hand entgegen. Sie wog vielleicht fünfzig Kilogramm. Das war keine Herausforderung. Er zog sie zu sich nach oben und vergewisserte sich, dass niemand zugesehen hatte. Draussen war alles wie vorher. Er wies Sybilla an, den Riemen an der Plane wieder so weit wie möglich durch die Krampen zu fädeln und locker nach unten zu schliessen. Schliesslich wollten sie nicht auffallen. Während sie das tat, plapperte sie fröhlich los "Dieser Lkw wird einen kleinen Umweg über Frankfurt machen und soll morgen früh in Dresden sein." Ralf sah sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen an: "Woher weisst du das? Mit wem hast du gesprochen?" "Ich war in der Frauenumkleide auf dem Klo und habe mich durchgefragt. Ich habe gesagt, dass ich aus dem Wohnheim und neu bin und den Betriebsrundgang verpasst habe, weil ich später angefangen habe. Ich war krank und komme aus Dresden und so weiter und so weiter." Sie lächelte ihn an: "Und ja, du hattest Recht. Der Lkw wird heute noch fahren. Jeder Lkw lädt ungefähr drei Tonnen. Deshalb ist die Ladefläche nicht voll. Und hier sind wir wohl am besten aufgehoben." Er stieg kopfschüttelnd zu der von ihm geschaffenen Sitzkuhle. Ralf dachte nach. Wenn der Lkw heute noch losfuhr und über Frankfurt nach Dresden, wieso war er dann erst am nächsten Morgen in Dresden. Womöglich schlief der Fahrer in Frankfurt oder hatte dort eine kleine Lastkraftwagenfahrerfreundin. Er hatte keine Ahnung. Aber schlecht und langsam gefahren war immer noch besser als gut gelaufen. Er knüllte seine Jacke zusammen und lehnte sich gegen die Rückwand. "Weisst du auch, wann der Fahrer losmacht?" flüsterte er ihr zu. Die geschlossene Plane verwischte die Geräusche der Aussenwelt zu einem Rauschen. Sybilla kroch über die Ladung zu ihm. "Nein, das weiss ich nicht. Aber es muss ja noch vor …" Stimmen und schwere Schritte näherten sich. Er bedeutete Sybilla, leise zu sein. Die drückte sich an die Säcke verstummte augenblicklich. Zwei Männer waren zu hören, unterhielten sich unmittelbar neben ihnen, nur durch die Plane von ihnen getrennt.
"Gehst du morgen mit?", fragte der eine mit tiefem warmem Bass. "Nee, ick will am Sonntag mit'm Klaufix uffe Kolchose. Andermal…" säuselte der andere der beiden und entfernte sich. "Mir soll‘s recht sein. Bleibt mehr für meine Mutter ihr'n Sohn!", rief der Bass lachend hinterher, öffnete die Fahrertür und schwang sich nach oben. Der Wagen neigte sich leicht. Fünfzig Kilogramm wog der Typ jedenfalls nicht. Er liess den Motor an, gab Gas, legte krachend einen Gang ein und der Lkw zog an. Sybilla setzte sich zunächst Ralf gegenüber und suchte Halt zwischen den Säcken. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, tat ihr bereits beim Gedanken an die Fahrt der Hintern weh. "Da hast du deine Antwort", flüsterte sie in den Fahrtlärm hinein. Wenigstens würde der Kerl nicht mitbekommen, wenn sie sich unterhielten.
Der Wagen hielt kurz am Tor und rollte zügig los – kein Kontrollieren der Ladung, keine Verzögerung – so weit, so gut. Sie waren auf dem Weg nach Dresden - mit einer insgesamt unbedeutenden Verzögerung in Frankfurt. Vielleicht konnten sie in Frankfurt sogar ein wenig schlafen. Und sie brauchten etwas Essbares. Er lehnte sich zurück und sah zu Sybilla. Sie schmiegte sich mit geschlossenen Augen an die Säcke, die kein bisschen weicher als Beton sein konnten und war eingenickt. Diese Frau machte ihn fertig.
Sie waren jetzt fast drei Stunden unterwegs. Der Laster war nur einmal kurz stehengeblieben. Das war vor einer Stunde. Sie hatten angenommen, Der Fahrer steige aus und liesse den Lkw allein. Das tat er aber nicht. Er blieb in der Kabine, sprach kurz mit jemandem ausserhalb und fuhr sofort wieder an. Auch Ralf war zwischendurch immer wieder eingeschlafen und starrte verwirrt und leicht desorientiert auf seine Armbanduhr, als das Fahrzeug ein Schlagloch mit Vorder- und Hinterachse voll auskostete. Es war mittlerweile dunkel geworden. Sybilla sass ihm gegenüber und musste ihn gerade wachgerüttelt haben. Auch sie wirkte überrascht. "Wir sind schon ewig unterwegs. Wir müssten längst in Frankfurt sein. Ich hoffe, der fährt nicht nach Dresden durch. Ich muss pieseln." Sie schnitt eine Grimasse. Ralf mutmasste "gehen wir davon aus, dass das vorhin schon der kurze Halt in Frankfurt war, scheint er durchzufahren." Sybilla schüttelte den Kopf. "Er soll doch morgen früh erst in Dresden ankommen. Erinnere dich! Wo fährt der also hin?" Durch die Planen war nichts zu erkennen. Die Sicht nach draussen war versperrt, wenn sie nicht während der Fahrt nach hinten klettern und die Riemen wieder lösen wollten. Der Fahrer konnte jeden Moment anhalten und sie dann bemerken. "Pass auf … " begann Ralf, "… sobald er hält, kommen wir erst hier raus. Vorher ist das nicht möglich, richtig?" Sie nickte. Er fuhr fort. "Wenn du vorher pinkeln musst, bleibt dir nur eine Ecke unserer Zuckerlandschaft. Halt noch eine Viertelstunde durch. Danach ist es einfach schade für den Zucker. Aber was sein muss, muss sein. Das Auto hat kurz angehalten und ist weitergefahren. Der Kerl muss irgendwann auch pinkeln. Allem Anschein nach sind wir nicht auf der Autobahn. Irgendwo hier wird er halten. Es ist fast einundzwanzig Uhr." Sie trug es mit Fassung und wollte gerade erwidern, als der Wagen bremste und abbog. Im gleichen Moment musste sie sich an Ralf und er sich am Spiegel festhalten. Der Laster schwankte über einen Feldweg oder etwas Ähnliches. Das war keine Strasse mehr. Die Ladefläche schwankte wie das Oberdeck einer Karavelle auf hoher See. Sie konnten gerade so verhindern, dass sie von einer Seite der Pritsche zur anderen geschleudert wurden. Die Plane schlug gegen den Aufbau und der W50 ächzte. Nach wenigen Minuten bog der Fahrer erneut ab und brachte den Wagen zum Stehen. Sie verbargen sich so gut es eben ging in der Kuhle und hielten den Atem an.
Zunächst geschah nichts. Der Fahrer blieb sitzen, hantierte im Fahrerhaus. Was er tat, war nicht eindeutig zu hören. Sybilla sah gequält aus, versuchte aber, ihre Blase unter Kontrolle zu behalten. Dann öffnete sich die Fahrertür. Der Fahrer wuchtete sich aus dem Sitz und stieg hörbar schnaufend aus. Die Tür wurde zugeworfen und Schritte entfernten sich zunächst von der Fahrerseite und waren wenig später auf der Beifahrerseite zu hören. Die Tür wurde geöffnet und der Kerl zog eine Kiste nach draussen, stellte sie ab und schlug die Tür wieder zu. Dann nahm er die Kiste leise stöhnend wieder auf und trabte davon. Ralf bedeutete Sybilla noch zu warten, stieg über die Säcke zur Ladeseite und lauschte. Er fingerte durch den Spalt, fasste den Riemen und zog ihn langsam durch die untere Krampe, griff nach und löste ihn noch eine Öse weiter. Dann schob er den Kopf vorsichtig nach draussen. Der Kerl stand an einem Schuppen oder einer Art Garage und schloss umständlich das Tor auf. Dann schob er den Riegel beiseite und öffnete einen Flügel gerade soweit, dass er hindurch passte Die Kiste vor dem Bauch stapfte er durch die Öffnung und verschwand im Dunkel. Wenige Sekunden später schaltete er das Licht ein und schloss die Tür von innen. Kurz darauf hörte man aus dem an einen Geräteschuppen für Landmaschinen erinnernden Holzbau Geklapper und Arbeitsgeräusche, gefolgt von Musik, vermutlich Radio.
Ralf öffnete die Plane noch ein Stück, kletterte leise und vorsichtig von der Pritsche, sah sich kurz um und bedeutete Sybilla, dass die Luft rein sei. Er half ihr beim Absteigen und- kaum auf dem Boden - lief sie zügig und ohne sich Gedanken über Beobachter zu machen, zum nächsten Gebüsch. Ralf schlich um den Laster und verschaffte sich einen ersten Eindruck von ihrer Lage. Sie befanden sich auf einem vielleicht zwanzig mal dreissig Meter messenden Hof zwischen fünf erkennbaren Gebäuden. In Fahrtrichtung des W50 war das Wohnhaus. Es hätte an jedem beliebigen Ort stehen können, war nichts Besonderes. Über einem Kellergeschoss mit schmalen Kellerfenstern gab es ein Hauptgeschoss und ein unter dem Satteldach liegendes Dachgeschoss, keine Dachfenster. Links daneben war die Hofzufahrt ohne Tor und weiter links folgte ein Stall oder Schuppen mit Pultdach, eingeschossig und gut in Schuss mit Flügeltor und allerlei Geräten davor. Dahinter schloss sich der Schuppen an, in den der Fahrer verschwunden war. Er war gut drei Meter hoch und bot wahrscheinlich Platz für Zugmaschinen und landwirtschaftliches Gerät. Durch die Fenster an beiden Seiten des Schuppens fielen Fetzen von Licht und tauchten die Szenerie auf dem Hof in mattes warmes Gelb, genug, um sich in der ansonsten stockfinsteren Nacht umzusehen. Ralf ging zum Ende des Lasters. Am hinteren Ende und gegenüber dem Wohnhaus lag ein etwa zwanzig Meter in der Breite und wohl etwa zehn in der Tiefe messender Komplex aus Scheune, Lagerhalle und Maschinenunterstand, nach vorne und hinten teilweise offen. Schliesslich vollendete ein weiterer Schuppen rechts des Wohnhauses das Ensemble.
Sybilla kam zurück. "Das war höchste Eisenbahn. Lange hätte ich das nicht mehr ausgehalten. Da hinten wachsen übrigens Brombeeren." Sie sah ihn an. "…mit Stacheln."
"Oh", entfuhr es ihm "Hat dein Alabasterkörper jetzt ein Relief?"
"Idiot!"
Ralf grinste. "Also, junge Frau…" Er machte mit beiden Händen eine das gesamte Anwesen umfassende Geste. "Das scheint ein Teil eines Bauernhofes zu sein, den unser Fahrer wohl allein bewohnt. Ich tippe auf Ackerbau. Weiter hinten kann ich zwar nicht viel erkennen. Tiere oder weitere Menschen hab' ich aber nicht gehört und bis auf unseren Fahrer in dem Schuppen…", er zeigte mit dem Daumen der rechten Hand lässig über die Schulter, "…ist es hier …" - er breitete die Arme aus und machte eine Pause - "…na? Genau! Es ist totenstill und finster wie im Bärenarsch. Im Wohnhaus brennt kein einziges Licht. Wir sind etwa zehn Minuten von der letzten fühlbaren Strasse, auf der uns zumindest meiner Meinung nach niemand entgegenkam, hierhergefahren. Jetzt wissen wir aber, warum er erst morgen früh in Dresden ist. Weil er nämlich in dieser Einöde mitten im Wasweissichwo-Land wohnt und erst morgen früh weiterfährt. Ich schlage also vor, dass wir uns