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Im Nationalpark Jasmund auf Rügen verschwindet die junge Lehrerin Lena Engelmann. Auf dem Parkplatz findet man in ihrem Wagen Blutspuren. Was geschah mit Lena? Hauptkommissarin Gretchen Larssen und ihr Team starten eine groß angelegte Suchaktion. Für Gretchen stellt sich die Frage: Ist Lena einem Verbrechen zum Opfer gefallen oder hat sie ihr Verschwinden nur vorgetäuscht? Und welches Geheimnis verbindet Lena mit ihrer besten Freundin Bea, die bei Nacht ein Doppelleben zu führen scheint? Als nahe einer verlassenen Strandhütte eine männliche Leiche gefunden wird, stellt sich der Fall plötzlich in einem gänzlich anderen Licht dar, und dunkle Abgründe tun sich auf … In Gretchens Privatleben stehen die Zeichen auf Veränderung. Ihre Jugendliebe Finn möchte mit ihr zusammenziehen, doch ist Gretchen jetzt schon bereit dafür? Denn noch immer steht die Suche nach ihrem verschwundenen Sohn Niki zwischen ihnen. Die neue Küstenkrimi-Reihe von B.C. Schiller ist nicht nur spannend, sondern besticht auch durch liebevoll gezeichnete Charaktere. Jeder Krimi ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig von den anderen Bänden gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Anmerkung
Über die Autoren B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
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Bücher von B.C. Schiller
Bücher von B.C. Schiller
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Zwei Wochen später
Danksagung
Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von den Autoren nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Blue Velvet Management e.U. urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
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A – 4020, Linz, Derfflingerstrasse 14, August 2023, August 2025
Lektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Korrektorat: textwerk-koeln.de
Covergestaltung: Chris Gilcher, buchcoverdesign.de
Foto credits: Adobe Stock: ID 276838953, ID 177733062
Wir haben uns erlaubt, einige Namen und Örtlichkeiten aus Spannungsgründen neu zu erfinden, anders zu benennen und auch zu verlegen. Sie als LeserInnen werden uns diese Freiheiten sicher nachsehen.
Barbara und Christian Schiller leben und arbeiten in Wien und auf Mallorca mit ihren beiden Ridgebacks Calisto & Emilio. Gemeinsam waren sie über 20 Jahren in der Marketing- und Werbebranche tätig und haben ein totales Faible für spannende Krimis und packende Thriller.
B.C. Schiller gehören zu den erfolgreichsten Spannungs-Autoren im deutschsprachigen Raum. Bisher haben sie mit ihren Krimis über 3.500.000 Leser begeistert.
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Aus der Gretchen-Larssen-Reihe bisher erschienen:
GRETCHEN LARSSEN UND DAS OSTSEEMÄDCHEN: der erste Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DAS DÜNENOPFER: der zweite Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DER OSTSEEZORN: der dritte Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DIE OSTSEESCHULD: der vierte Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DER KÜSTENMÖRDER: der fünfte Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DER OSTSEEMORD: der sechste Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DIE OSTSEETRÄNEN: der siebte Band mit Gretchen Larssen
GRETCHEN LARSSEN UND DAS OSTSEEHERZ: der achte Band mit Gretchen Larssen
MALLORCA-INSELKRIMI:
MÄDCHENSCHULD – ist der erste Band der neuen spannenden Mallorca-Inselkrimi-Reihe mit der Inspectora Ana Ortega und dem Europol-Ermittler Lars Brückner. Die Krimis sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
SCHÖNE TOTE – der zweite Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
FAMILIENBLUT – der dritte Band mit Ana Ortega und Lars Brückner.
NORDTOD - KÜSTENTHRILLER:
NORDTOD - DIE KOLIBRIMÄDCHEN: der erste spannende Cold-Case-Fall mit der schwedischen Ermittlerin Signe Nord.
NORDTOD – DAS ELCHBLUT: der zweite Cold-Case-Fall mit Signe Nord.
DUNKELSTEIG – Trilogie:
DUNKELSTEIG – RACHE: der erste Band mit Felicitas Laudon
DUNKELSTEIG – SCHULD –der zweite Band mit Felicitas Laudon
DUNKELSTEIG – BÖSE: der dritte und letzte Band mit Felicitas Laudon
Psychothriller:
DIE FOTOGRAFIN
DIE SCHWESTER
DIE EINSAME BRAUT
TONY-BRAUN-THRILLER:
TOTES SOMMERMÄDCHEN – der erste Tony-Braun–Thriller –
»Wie alles begann«
TÖTEN IST GANZ EINFACH – der zweite Tony-Braun-Thriller
FREUNDE MÜSSEN TÖTEN – der dritte Tony-Braun-Thriller
ALLE MÜSSEN STERBEN – der vierte Tony-Braun-Thriller
DER STILLE DUFT DES TODES – der fünfte Tony-Braun-Thriller
RATTENKINDER – der sechste Tony-Braun-Thriller
RABENSCHWESTER – der siebte Tony-Braun-Thriller
STILLER BEOBACHTER – der achte Tony-Braun-Thriller
STRANDMÄDCHENTOD – der neunte Tony-Braun-Thriller
STILLES GRABESKIND – der zehnte Tony-Braun-Thriller
Alle Tony-Braun-Thriller waren monatelang Bestseller in den Charts. Die Thriller sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
Die TARGA-HENDRICKS-Thriller:
DER MOMENT, BEVOR DU STIRBST – der erste Fall mit Targa Hendricks
IMMER WENN DU TÖTEST – der zweite Fall mit Targa Hendricks
DUNKELTOT, WIE DEINE SEELE – der dritte Fall mit Targa Hendricks
Die DAVID-STEIN-Thriller:
DER HUNDEFLÜSTERER – David Steins erster Auftrag
SCHWARZER SKOPRION – David Steins zweiter Auftrag
ROTE WÜSTENBLUME – David Steins dritter Auftrag
RUSSISCHES MÄDCHEN – David Steins vierter Auftrag
FREMDE GELIEBTE – David Steins fünfter Auftrag
EISIGE GEDANKEN – David Steins sechster Auftrag
TODESFALTER – David Steins siebter Auftrag
LEVI-KANT-Krimi:
BÖSES GEHEIMNIS – der erste Cold Case
BÖSE TRÄNEN – der zweite Cold Case
BÖSES SCHWEIGEN – der dritte Cold Case
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In ein paar Wochen werde ich dreißig Jahre alt, das ist eine Zäsur. Bis dahin muss ich eine Entscheidung treffen. Ob das wohl richtig war, was ich gemacht habe? Oder bin ich zu weit gegangen? Wen habe ich verletzt? Ich wollte doch bloß helfen. War das vielleicht ein Verbrechen? So viele Fragen, auf die ich keine Antworten weiß. Aber vielleicht ist jetzt endlich die Zeit gekommen, abzutauchen und zu verschwinden.
Am besten wäre, ich würde mich einfach auflösen wie eine Seifenblase, die am Boden zerplatzt. Nur ein dunkler Fleck bleibt übrig, doch der wird bald von der Sonne getrocknet sein, und nichts erinnert mehr an mich.
Die Nacht hatte die Welt noch fest im Griff und in der Dunkelheit konnten sich die Schatten der Vergangenheit frei entfalten. Mit einem Mal durchbrach ein kurzes Knacken die Stille im Bauernhof. Es war, als würde jemand auf leisen Sohlen über den Holzboden tappen, nackte Füße, die nicht zu einem Erwachsenen gehörten, sondern zu einem Kind.
Gretchen Larssen schreckte aus den Kissen hoch und strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Hatte sie nur geträumt oder hatte sie wirklich gerade ein Geräusch gehört? Sie warf einen raschen Blick auf den Mann, der neben ihr im Bett lag und tief schlief.
Wieder hörte Gretchen dieses seltsame Geräusch. Sie kniff die Augen zusammen und spähte zur Treppe. Das Schlafzimmer befand sich auf einer Galerie über dem Wohnzimmer. Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick hinaus auf die Ostsee bis zum endlosen Horizont. Doch im Moment herrschte nur Finsternis, und der Silberstreif weit draußen am Ende der See war beinahe verblasst. Die Terrassentür war einen Spalt weit geöffnet, der Vorhang bauschte sich im Wind und das Rauschen der Wellen drang in den Hof. Dazwischen vernahm sie das Knarren der Bodendielen, sah einen Schatten leichtfüßig durch den Türspalt nach draußen schlüpfen.
Gretchen schlug die Decke zurück und schwang sich aus dem Bett. Hastig schlüpfte sie in ihre Shorts, zog ein Tanktop über und stieg die schmale Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch standen noch die leeren Bierflaschen vom Vorabend. Plötzlich hörte sie ganz deutlich eine zarte Stimme flüstern:
»Mama, wo bist du?«
»Niki?« Gretchens Herz pochte so schnell, dass sie dachte, es würde zerspringen. Kein Zweifel, das war die Stimme ihres Sohnes. ›Aber wie kann das sein? Niki ist doch seit über einem Jahr verschwunden.‹ Gretchens Mann John hatte auf dem Weg ins Dino-Land mit Niki einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt, als Gretchen auf dem Weg zu ihrer Jugendliebe Finn gewesen war. An diesem Tag wollte sie ihren kontrollsüchtigen Mann verlassen, um mit Finn und Niki ein neues Leben zu beginnen. Doch dann kam alles anders, wie so oft im Leben. In dem zerstörten Fahrzeug fand die Polizei nur Johns Leiche, aber keine Spur von Niki. Seit jener Zeit war Gretchen auf der Suche nach ihrem Sohn und hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
»Niki, warte auf mich!« Gretchen eilte zur Tür und spähte in die finstere Landschaft hinaus.
»Ich bin hier, Mama.« Der Wind trug Nikis Stimme von den Dünen hinauf bis zu ihr, und seine Worte drangen tief in Gretchens Inneres. Hastig ging sie hinaus auf die Terrasse und eine verblasste Erinnerung tauchte auf:
Gretchen war mit ihrem Sohn am Strand und döste vor sich hin, als Niki sich näherte und ihr einen Kübel voll mit kaltem Wasser über den Rücken kippte. Mit einem Schrei sprang Gretchen auf und schüttelte sich.
»Na warte, wenn ich dich erwische«, lachte sie.
»Such mich!«, rief ihr Sohn und flitzte geschickt zwischen den Strandkörben hindurch, kroch dann über den Boden und Gretchen verlor ihn aus den Augen.
»Niki, wo bist du?«, rief sie und lief am Strand auf und ab. Plötzlich bemerkte Gretchen einen Schatten neben einem umgedrehten Boot. Vorsichtig schlich sie sich an und sprang dann mit einem Satz auf das Boot zu.
»Hab dich gefunden!« Gretchen hob Niki hoch und drehte sich mit ihm im Kreis.
»Mama, du entdeckst einfach jedes Versteck«, sagte Niki bewundernd und legte seine kleinen Arme um Gretchens Hals.
»Aber diesmal hast du dich so geschickt versteckt, dass ich dich gar nicht mehr finden kann«, flüsterte Gretchen und eilte über den Weg aus Holzbohlen zwischen den Dünen hinunter zum Strand. In der Ferne erblickte sie plötzlich einen Schatten und lief blindlings darauf zu. Doch zu ihrer Enttäuschung war es nur ein Strauch, der seine kahlen Äste wie Hände in die Luft streckte. »Da ist niemand«, murmelte sie ernüchtert. Gretchen atmete tief durch und machte sich auf den Rückweg. Das sanfte Plätschern der Wellen beruhigte sie, und langsam setzte sich wieder ihr rationales Denken durch.
Als Gretchen in Gedanken versunken zurück ins Haus ging, legte sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter.
»Was machst du denn hier draußen?«, vernahm sie Finns zärtliche Stimme.
»Ich habe vorhin ein Geräusch gehört«, erwiderte Gretchen. »Das war Freya. Sie läuft manchmal nachts hinunter zum Strand.«
»Nein, es waren die Schritte eines Kindes und nicht dein Hund.«
»Wahrscheinlich hattest du einen Albtraum, Gretchen. Du musst loslassen und endlich wieder ein normales Leben führen«, sagte Finn mit besorgter Stimme.
»Was ist schon normal?«, entgegnete Gretchen aufgewühlt. »Dass ich die Suche nach meinem Sohn aufgebe? Das kann ich noch nicht.«
»Okay, du hast ja recht«, lenkte Finn ein und hob die Hände. »Lass uns heute Abend darüber reden.«
»Wie du willst.« Gretchen blickte nachdenklich hinaus auf die See, wo sich am Horizont ein heller Streifen ausdehnte und den Beginn des neuen Tages ankündigte. ›Finn Petersen‹, dachte sie zweifelnd, ›ob das mit uns funktionieren kann?‹
»Was geht dir gerade durch den Kopf?«, fragte Finn, der ihre Miene nicht deuten konnte.
»Ach, nichts.« Abwesend strich Gretchen mit der Hand über Finns Dreitagebart und küsste ihn auf den Mund. Sie war über den Schatten der Vergangenheit gesprungen und hatte die Nacht wieder bei Finn, ihrer Jugendliebe, verbracht. Zu Beginn hatte Gretchen gezögert, doch dann hörte sie auf die Stimme ihres Herzens. Sie hatten sich geliebt und waren dann erschöpft eingeschlafen. Zum ersten Mal seit Langem hatte Gretchen wieder eine ruhige Nacht, ohne die ständigen Albträume. Bis jetzt.
Als Finn fürsorglich seinen Arm um ihre Schulter legte, besserte sich ihre Laune schlagartig. Sie fühlte sich in Finns Gegenwart glücklich und die Erinnerung verblasste.
»Soll ich uns Frühstück machen?«, fragte Finn. »Es ist Wochenende, wir könnten gemeinsam etwas unternehmen.«
»Lieb von dir, Finn, vielleicht am Nachmittag«, erwiderte Gretchen. »Aber jetzt muss ich zu Oma, sie wartet sicher schon auf mich.« Den Morgenkaffee mit ihrer Großmutter Edda zu trinken, war ein Ritual, das Gretchen auf keinen Fall verändern wollte, denn Eddas weiß getünchtes Kapitänshaus war ihr Zuhause.
Nachdem sich Gretchen von Finn mit einem Kuss verabschiedet hatte, fuhr sie die Küstenstraße entlang nach Binz. Es war ein strahlender Sommertag im Juli und die Atmosphäre war vollgepackt mit den Gerüchen, die aus dem funkelnden Meer emporstiegen. Gretchen hatte das Verdeck ihres alten Golf Cabrios zurückgeschlagen und genoss die salzerfüllte Luft der Ostsee in vollen Zügen. Die finsteren Gedanken, die sie im Morgengrauen noch geplagt hatten, wurden vom Wind weit hinaus aufs Meer getrieben, wo sie sich am Horizont im Sonnenlicht auflösten. Gretchen fühlte sich energiegeladen und begann mit lauter Stimme ›Più bella cosa‹ zu trällern.
Kurz nachdem sie das pittoreske Küstenstädtchen Binz passiert hatte, tauchte das weiße Kapitänshaus von Edda Schulze, ihrer Großmutter, auf. Jedes Mal, wenn Gretchen darauf zufuhr, begann ihr Herz vor Freude heftig zu pochen. In diesem Haus war sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgewachsen, hier hatte sie eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht und hierher war sie auch wieder zurückgekehrt, als ihr Leben nach Nikis Verschwinden in Scherben lag.
Im Gegensatz zu den anderen Häusern war das Gebäude von Gretchens Oma weiß gestrichen. Dabei handelte es sich um ein Relikt aus einer alten Zeit, als nur die Häuser von Schiffskapitänen weiß bemalt werden durften. Von dem Kapitänshaus führte ein Bohlenweg zwischen den Dünen entlang zu ›Oma Schulzes Paradies‹. Das war der Campingplatz, den Edda trotz ihres Alters noch immer betrieb.
Gretchen parkte ihr Auto unweit des reetgedeckten Hauses und stieg aus. Auf einer Bank, die an der Mauer stand, dösten Eddas Haustiere, Kater Kapitän und Dackel Otto, gemütlich in der Sonne.
»Na, ihr beiden, euch geht’s gut«, sagte Gretchen und strich über das Fell von Kapitän, der vor Vergnügen laut schnurrte. Otto warf sich sofort auf den Rücken und ließ sich genüsslich den Bauch kraulen. »Diese Streicheleinheiten müssen genügen«, schmunzelte sie und betrat das Haus.
»Deine Augen leuchten, Gretchen.« Oma Schulze begrüßte ihre Enkelin mit einem Kuss auf die Wangen und musterte sie eingehend. Edda war eine rüstige Frau Mitte siebzig mit schlohweißen Haaren und grauen Augen, die von Lachfältchen wie Sonnenstrahlen umgeben waren. »Seit Langem siehst du wieder glücklich aus. Finn tut dir gut.« Edda drückte Gretchen fest an sich. »Ich habe Kaffee und Frühstück für uns zubereitet. Du magst deinen Kaffee doch wie immer mit viel Milch und Zucker, nicht wahr?«
»Ach Oma, du weißt doch, dass ich meinen Kaffee nur schwarz trinke«, seufzte Gretchen. Schon an die hundert Mal hatte Gretchen Edda darauf hingewiesen, dass sie nur starken schwarzen Kaffee mochte, aber es war hoffnungslos.
»Ach, wirklich?«, erwiderte Edda erstaunt.
»Halb so schlimm.« Demonstrativ nahm Gretchen einen großen Schluck. »Ja, der schmeckt ausgezeichnet.« Sie wusste natürlich, dass Edda in der letzten Zeit immer wieder Dinge vergaß, wollte sie aber nicht täglich darauf aufmerksam machen. Zumindest hatte Gretchen Edda davon überzeugt, ihren alten Hausarzt Hildebrand aufzusuchen, um sich auf ihre Vergesslichkeit hin untersuchen zu lassen.
»Was machst du denn da, Oma?«, fragte Gretchen und biss herzhaft in ein Krabbenbrötchen.
»Ach, nichts weiter«, wich Edda aus und schlug das Kassenbuch zu. »Hab nur die Kosten durchgesehen.«
»Zeig mal her.« Gretchen griff nach der Kladde und schlug sie auf. In ihrer zierlichen Handschrift hatte Edda sämtliche Kosten und Erträge fein säuberlich notiert. Gretchen erkannte auf den ersten Blick, dass Ausgaben und Einnahmen sich die Waage hielten.
»Oma, da bleibt dir aber zum Leben nicht viel übrig.«
»Das genügt mir schon. Hauptsache, meine Gäste können schöne Tage auf meinem Campingplatz verbringen und den anstrengenden Alltag etwas vergessen. Das Leben ist ziemlich hart geworden.«
Der Campingplatz ›Oma Schulzes Paradies‹ war einzigartig auf der Insel. Knapp hinter den Dünen standen dort ein Dutzend Zirkuswagen, die Edda von der Lebensversicherung ihres verstorbenen Mannes, des Kapitäns Holger Schulze, gekauft hatte. Sie hatte die Wagen von dem letzten aktiven Schildermaler auf Rügen gestalten lassen, und jeder von ihnen war nach einem auf die Tür gemalten Tier oder Fabelwesen benannt. So gab es den ›Delfin‹, die ›Nixe‹ oder den ›Seeadler‹. Das war ein im Grunde erfolgversprechendes Konzept, doch leider war der Platz mit den Mietflächen zu klein. Und die in den letzten Jahren rapide gestiegenen Fixkosten fraßen den kleinen Gewinn auf.
»Vielleicht sollte ich den Preis für das Mittagsmenü etwas erhöhen, was meinst du?« Ihre Großmutter blickte Gretchen fragend an.
»Das ist doch viel zu wenig, um die Einkünfte zu steigern.« Gretchen schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich denke, wir müssen uns da eine andere Einnahmequelle überlegen. Vielleicht finden wir Sponsoren für deine schönen Campingwagen.«
Gretchen wollte etwas ausholen, als von der Terrasse eine laute Stimme ertönte: »Einen wunderschönen guten Morgen, die hübschen Damen!«
»Erwartest du so früh Besuch?«, fragte Gretchen überrascht.
»Nicht, dass ich wüsste.« Edda zuckte mit den Schultern.
Ein Mann stand auf der Terrasse. Er hatte brünettes Haar und trug einen legeren Leinenblazer. Mit einem gewinnenden Lächeln winkte er Gretchen und Edda zu.
»Wer ist das?«, wunderte sich Edda, während Otto verhalten zu knurren begann.
»Irgendwie kommt mir der Typ bekannt vor«, erwiderte Gretchen leise. »Hallo!«, sagte sie dann und hob grüßend die Hand.
»Rolf Westphal«, stellte sich der Mann vor. »Wir besichtigen gerade das traumhafte Nachbargrundstück.« Er wies auf die unberührte Naturlandschaft, die sich neben ›Oma Schulzes Paradies‹ bis zu den Dünen hin ausbreitete. »Ich besitze eine der erfolgreichsten Baufirmen und habe schon viele Projekte auf der schönen Insel Rügen realisiert.« Westphal zog eine dicke Imagebroschüre hervor und reichte sie Edda.
»Und was wollen Sie von uns?«, fragte Edda unwirsch. »Ich habe nicht ewig Zeit.«
Gretchen bemerkte, dass Westphals Lächeln für den Bruchteil einer Sekunde einfror, doch er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle.
»Wir planen neben Ihrem Grundstück eine luxuriöse Seniorenresidenz mit einem eigenen Ärzte- und Wellnesscenter. Wir …«
»Das wird mit Sicherheit nicht möglich sein«, unterbrach ihre Großmutter den Mann und zeigte hinüber zu den hohen Bäumen, die sich sanft im Wind wiegten. »Das ist ein Naturschutzgebiet, das Hunderten von seltenen Vögeln, Pflanzen und Insekten einen natürlichen Lebensraum bietet.«
»Selbstverständlich nehmen wir bei unserem Bauvorhaben auf die Pflanzen- und Tierwelt Rücksicht, wenn das Grundstück umgewidmet wird.«
»Eine Umwidmung kann ich mir nicht vorstellen«, widersprach Edda aufgebracht. »Nach der Wende wurde das Land hier sofort unter besonderen Schutz gestellt. Dafür hat sich mein verstorbener Mann, der Kapitän, mit seiner ganzen Autorität eingesetzt.«
»Ich weiß, Ihr Mann war eine Berühmtheit auf der Insel. Er hat einigen Seeleuten das Leben gerettet«, lenkte Westphal sofort ein. »Eigentlich wollte ich nur zum Ausdruck bringen, dass wir natürlich auch großes Interesse an Ihrem Grundstück haben. Den Campingplatz werden Sie in Ihrem hohen Alter sicher nicht mehr lange führen können.«
»Hören Sie sofort auf mit diesem Gewäsch, was soll dieser Unsinn!« Eddas Gesicht lief puterrot an und sie atmete hektisch aus und ein. »Papperlapapp, den Campingplatz bekommt eh meine Enkelin.«
Edda ging auf Westphal zu und stemmte resolut die Fäuste in die Hüften. »Ich habe hier schon gelebt, als Sie noch in den Windeln lagen. Da wird nichts gebaut!« Gretchens Großmutter wies zum Nachbargrund. »Und jetzt verlassen Sie sofort mein Grundstück!«
»Selbstverständlich. Noch einen schönen Tag«, stammelte Westphal und wich überrascht zurück. Hastig eilte der Mann über den Strand, warf noch einen letzten Blick zurück auf Edda, die vor ihrem Haus stand und ihm finster hinterherblickte.
»Dieser Lackaffe kommt mir kein zweites Mal hierher. Was für ein unverschämter Mensch«, ärgerte sich Edda. Sie setzte sich auf die Hausbank und ordnete ihre weißen Haare. »Ich führe den Campingplatz noch hundert Jahre. So, und jetzt könnte ich einen ›Pfeffi‹ vertragen.«
»Ich bring dir einen.« Gretchen lief in die Küche und kam kurz darauf mit einem Glas zurück, das einen Finger breit mit Pfefferminzlikör gefüllt war.
»Danke.« Edda nahm das Glas und trank es auf ex. »Jetzt geht’s mir gleich besser. Weißt du was? Wir werden gegen den Bau protestieren.«
»Reg dich nicht auf, Oma.« Gretchen drückte Edda ganz fest an sich, als plötzlich ihr Handy klingelte. Sie blickte verwundert auf das Display. Es war ihr Kollege Kommissar Henry Bülow, und Gretchen wunderte sich, dass er sie an einem Samstagmorgen anrief.
»Henry, was ist los?«
»Ich brauche deine Hilfe, Gretchen.«
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Gretchen den kleinen Ort Neuendorf erreichte. Das malerische Fischerdorf befand sich unweit von Putbus und lag direkt am Strand. In der Morgensonne wirkte das Dorf mit seinen roten Klinkerbauten und reetgedeckten Häusern unschuldig und war das perfekte Postkartenmotiv.
Als Gretchen die Uferstraße entlangfuhr, sah sie bereits Henrys racinggrünen MG vor einem kleinen Fischerhaus stehen. Sie parkte ihr Golf Cabrio direkt dahinter, band sich ihre dunkelblonden Haare zu einem Zopf zusammen und stieg aus. Beim Eingang wurde sie bereits von ihrem jüngeren Kollegen erwartet.
»Cool, dass du so schnell gekommen bist«, begrüßte Henry sie. Wie immer trug er Jeans und ein knappes T-Shirt, das seinen durchtrainierten Körper zur Geltung brachte. »Was ist dein Geheimnis, dass du bereits am Morgen so gut aussiehst?«, machte Henry ein Kompliment und streckte Gretchen einen Pappbecher mit Kaffee entgegen.
»Das ist Amore und natürlich deine Anwesenheit«, scherzte Gretchen zurück. Seit über einem Jahr arbeitete sie jetzt schon mit ihrem Kollegen zusammen, der sie oft mit einem Caffè Doppio und seiner positiven Art aus so manchem Stimmungstief geholt hatte. »Was ist denn genau passiert?«, fragte sie nach einem Schluck Kaffee.
»Lena Engelmann, die Frau meines Freundes Andreas, ist seit gestern Abend spurlos verschwunden«, antwortete Henry mit ernstem Gesicht. »Wir drei kennen uns seit der Schulzeit.« Henry öffnete die Eingangstür und winkte Gretchen herein.
Wie bei den meisten Fischerhäuschen gelangte man sofort in die Küche, die seit jeher das Zentrum des Hauses war. Als routinierte Polizistin scannte Gretchen sofort den Raum. Ein antiker gusseiserner Ofen war das Herzstück der Küche, deren Wände bis zur Hälfte mit blau-weißen Keramikfliesen verkleidet waren. In den offenen Regalen stand buntes Porzellangeschirr, und neben der steinernen Spüle hing in einem geschnitzten Rahmen das Foto eines lachenden Paares an der Wand. Es herrschte eine eigenartige Stille, nur aus dem Nebenraum hörte sie das fröhliche Gezwitscher von Kanarienvögeln. Am großen Küchentisch aus abgebeiztem Holz saß ein Mann, der sein Handy zur Seite legte, als Gretchen mit ihrem Kollegen den Raum betrat.
»Das ist Andreas Engelmann. Wir trafen uns früher öfter zum Speed-Climbing bei den Kreidefelsen«, sagte Henry.
»Hallo!«, begrüßte sie Andreas. Er war ein gut aussehender Mann mit dunklen lockigen Haaren und einem schmalen blassen Gesicht.
»Erzählen Sie mir doch, was genau geschehen ist«, sagte Gretchen, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
»Ich bin freiberuflicher Architekt und arbeite von zu Hause aus. Das letzte Mal habe ich Lena gestern Morgen gesehen, als sie in die Schule gefahren ist«, antwortete Andreas und strich sich nervös durch seine Haare.
»Ist Ihre Frau Lehrerin?«, fragte Gretchen.
»Ja, Lena unterrichtet kreatives Zeichnen und ganzheitliches Sozialverhalten an der Rügenwald-Schule in Putbus. In ihrer Freizeit verbringt sie viel Zeit mit Zeichnen in der Natur, so wie gestern. Sie gibt auch Seminare und ist ehrenamtlich in einigen Vereinen tätig.«
»Ihre Frau ist ja ziemlich umtriebig«, konstatierte Gretchen.
»Ja, das stimmt. Lena ist sehr aktiv und die meiste Zeit unterwegs.«
»Sie haben sich nicht um Ihre Frau gesorgt, als sie abends nicht nach Hause kam?«, wunderte sich Gretchen und hob skeptisch die Augenbrauen.
»Nein, Lena war im Sommer manchmal bis spät in die Nacht zum Zeichnen draußen. Es wird ja in dieser Jahreszeit nie richtig dunkel. Gegen dreiundzwanzig Uhr habe ich ihr gestern noch eine WhatsApp-Nachricht geschrieben. ›Wann kommst du nach Hause?‹«
»Und hat sie geantwortet?«
»Ja. Kurz darauf kam die Antwort: ›Brauchst nicht auf mich zu warten. XXX.‹« Andreas streckte Gretchen das Handydisplay mit der Nachricht entgegen. »Ich war todmüde, hab noch ein wenig ferngesehen und mich dann ins Bett schlafen gelegt. Und heute Morgen bin ich aufgewacht und da war Lena noch immer nicht hier«, antwortete Andreas niedergeschlagen und räusperte sich kurz. »Ich habe es bereits mehrmals auf ihrem Handy probiert, aber das Gerät ist ausgeschaltet.«
»Schaltet sie ihr Handy öfter aus?«, fragte Gretchen.
»Lena würde ihr Handy nie abschalten oder irgendwo vergessen. Es ist ja ziemlich auffällig mit einer rosa Hülle und dem ›L‹ aus glitzernden Strasssteinen.«
»Wissen Sie, wo Ihre Frau gestern abends unterwegs war?«, fragte Gretchen.
»Lena war im Nationalpark Jasmund, mit ihrem Block und den Stiften.«
»Gab es gestern vielleicht einen Streit zwischen Ihnen und Ihrer Frau?«, wechselte Gretchen das Thema. Unauffällig beobachtete sie die Reaktion des Ehemannes. In Berlin hatte sie mit einer amerikanischen Verhörspezialistin zusammengearbeitet, die anhand der Pupillengröße feststellen konnte, ob jemand die Wahrheit sprach oder log. Bei einer Lüge erweiterten sich die Pupillen. Diese Erkenntnis machte sich Gretchen auch bei Befragungen zunutze.
»Nein, wo denken Sie hin? Wir hatten keinen Streit«, wiegelte Andreas ab und senkte dabei den Blick, deshalb konnte Gretchen seinen Reflex nicht abchecken.
»Vielleicht hat Lena kurzfristig bei einer Freundin übernachtet?«, warf Henry ein, der bisher schweigend zugehört hatte.
»Nein, ich habe auch bereits bei Bea angerufen, aber Lena war gestern Nachmittag nur kurz zu Besuch in ihrem Laden.«
»Wer ist Bea?«, wollte Gretchen wissen.
»Bea Brandt, sie hat einen Frisiersalon in Binz und ist Lenas beste Freundin.«
»Gibst du mir die Adresse?« Henry notierte die Anschrift in seinem Notizbuch.
»Was ist mit den Eltern Ihrer Frau? Könnte Lena nicht dort sein?«, ging Gretchen alle Möglichkeiten durch, denn in vielen Fällen handelte es sich bei verschwundenen Personen um falschen Alarm.
»Bei Käthe und Rüdiger ist sie auch nicht«, meinte Andreas. »Ich habe die beiden natürlich heute Morgen sofort angerufen.«
»War Ihre Frau in der letzten Zeit vielleicht deprimiert und wirkte niedergeschlagen?», fragte Gretchen, die natürlich wusste, dass neben einem potenziellen Verbrechen auch immer ein Suizid in Betracht gezogen werden musste.
»Nein, Lena war wie immer voller Tatendrang und guter Laune. Sie hat sich um mich gekümmert und mich oft mit ihrer positiven Stimmung mitgerissen. Die letzten Jahre waren eine finanzielle Durststrecke für mich.«
»An welchen Projekten arbeiten Sie im Moment?«, fragte Gretchen, die seine Äußerung etwas eigenartig fand.
»Ich plane gerade eine Anlage mit Luxuswohnungen und direktem Strandzugang hier auf Rügen«, erwiderte Andreas etwas vage.
»Ist das heutzutage wegen der Umweltauflagen noch gestattet?«, wollte Gretchen wissen.
»Andreas arbeitet sehr umweltbewusst mit nachhaltigem Material«, sprang Henry seinem Freund bei. »Stimmt’s?«
»Ja, es wird ein ganzheitliches Öko-Projekt mit erneuerbarer Energie«, ergänzte Andreas.
»Klingt interessant. Kann ich mir ein Wasser nehmen?«
»Klar doch.«
Gretchen ging zur Spüle und füllte ein Glas mit Wasser. In einer Box unter der Arbeitsplatte entdeckte sie einen abgegriffenen Reiseführer über Syrien. Sie blätterte ihn durch, dabei fiel ein kleiner Zettel auf den Boden. Sie bückte sich und las den Satz laut vor, der darauf geschrieben stand: ›Das Seil einer Lüge ist kurz.‹
»Wollte Lena nach Syrien verreisen? Kennen Sie das Buch oder sagt Ihnen dieser Spruch etwas?«, fragte Gretchen und blickte Andreas interessiert an.
»Bedaure. Lena hat sich immer schon für krisengeschüttelte Länder interessiert und Sprüche hat sie viele gesammelt«, antwortete Andreas.
»Darf ich mir einmal die Zeichnungen Ihrer Frau ansehen?«, fragte Gretchen, die ihrer Strategie treu blieb und abrupt das Thema wechselte.
»Natürlich«, antwortete Andreas. Er öffnete eine Kommode und holte mehrere Mappen hervor.
Gretchen öffnete die erste davon und betrachtete die Bilder. Es waren Kohlezeichnungen von Blättern, Farnen und Bäumen. Und dann gab es noch eine ganze Mappe mit Porträts. Sie blätterte die verschiedenen Zeichnungen durch und stoppte plötzlich. Ein Bild erregte ihre Aufmerksamkeit: Es war das Porträt einer Frau in einem langen wallenden Kleid. Das blonde Haar reichte ihr bis zur Hüfte und ihre Augen waren durchdringend. ›Dein Blick tötet meine Seele‹ stand in roten Blockbuchstaben quer über den Oberkörper. Obwohl Gretchen mit Kunst nicht viel am Hut hatte, erkannte sie sofort, dass diese Zeichnung anders war. Das Bild zeugte von großem Talent und verströmte Tiefe. Die Frau auf der Zeichnung war Lena, das wusste sie von dem Foto neben der Spüle. Doch es war kein Selbstporträt, eindeutig hatte ein anderer Künstler Lena gemalt. Gretchen drehte die Zeichnung um, konnte aber nirgends eine Signatur entdecken. »Wer hat dieses Porträt von Ihrer Frau gemacht?«, fragte sie Andreas.
»Keine Ahnung, ich sehe das Bild zum ersten Mal. Mit Kunst habe ich es nicht so.« Mit starrem Gesichtsausdruck betrachtete Andreas die Zeichnung und seine Kiefermuskeln zuckten.
Doch auf Gretchen machte Lenas Mann den Eindruck, als habe er eine Ahnung, von wem die Zeichnung stammen könnte.
»Denken Sie noch einmal scharf nach, vielleicht hat Ihre Frau einmal den Künstler erwähnt«, ließ sie deshalb nicht locker.
»Lena kennt so viele Menschen, schon möglich, dass sie da mal über einen Künstler geredet hat. Leider fällt mir dazu nichts weiter ein.«
»Na gut.« Gretchen beließ es dabei. Doch sie kam immer mehr zu dem Schluss, dass zwischen den Eheleuten Geheimnisse bestanden.
»Wissen Sie vielleicht, wo Ihre Frau im Nationalpark genau geparkt hat?«, fragte Gretchen.
»Ja, immer am gleichen Platz, beim Rügener Ring. Lena fährt einen Toyota Land Cruiser.«
»Besser, wir schicken jetzt gleich eine Streife hin. Die sollen nachsehen, ob Lenas Wagen noch dort steht«, schlug Henry vor. Er zückte sein Handy und instruierte den zuständigen Beamten. Dann trennte er die Verbindung und blickte zu Gretchen, die am Küchentresen lehnte.
»Warten wir ab, was die Streife herausfindet«, sagte sie und ging von der Küche hinüber ins Wohnzimmer. Auch dieser Raum war mit hellen Holzmöbeln geschmackvoll eingerichtet. Zwei gelbe Kanarienvögel zwitscherten in einem Käfig um die Wette und hackten mit ihren Schnäbeln in die leeren Futterschüsseln.
»Kriegen die nichts zu fressen?«, fragte Gretchen.
»Hab’s vergessen. Sie gehören meiner Frau.«
Gretchen wollte noch etwas dazu sagen, als Henrys Telefon klingelte. Eine Streife war vor Ort und Henry stellte sein Handy auf laut.
»Ein Toyota-Geländewagen steht auf dem Parkplatz«, hörte Gretchen eine Stimme, vermischt mit dem Rauschen des Windes. »Die Fahrertür ist nicht abgeschlossen, ich überprüfe jetzt das Wageninnere«, knisterten die Worte aus dem Lautsprecher. »Auf dem Beifahrersitz sind ein paar dunkle Flecke, die sehen aus wie Blut.«
Mit einem Mal verdüsterte sich die Stimmung und legte sich wie eine dunkle Wolke über die Anwesenden.
Andreas blickte seinen Freund Henry fragend an. »Ist Lena etwas passiert?«
»Noch ist es zu früh für eine präzise Aussage«, antwortete Henry ausweichend.
»Können Sie sich die Flecken im Wagen Ihrer Frau erklären?«, fragte Gretchen argwöhnisch.
»Ich habe keine Ahnung.« Andreas spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
»Das muss nichts bedeuten«, beruhigte ihn Henry. »Wir fahren sofort zu dem angegebenen Parkplatz und überprüfen die Situation.«
»Ich bleibe hier. Vielleicht ruft jemand an oder Lena taucht doch noch auf«, sagte Andreas nervös, obwohl er das nicht glaubte. Doch er wollte auf keinen Fall mit den beiden Polizisten in einem Wagen sitzen und sich ausfragen lassen.
»Wer sollte denn anrufen?«, hakte Gretchen Larssen sofort nach, und Andreas hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie ihm misstraute.
»Na ja, vielleicht Lenas Eltern, sie sind sicher in Sorge«, druckste Andreas herum und rieb sich mit der Hand den angespannten Nacken.
»Geht in Ordnung, Andreas.« Henry klopfte ihm auf die Schulter. »Gib uns sofort Bescheid, wenn sich Lena bei dir meldet.«
»Natürlich.« Andreas begleitete die beiden Beamten nach draußen. Als sie mit ihrem Wagen verschwunden waren, schloss er die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Nach einigen Minuten tappte er ins Badezimmer, öffnete den Toilettenschrank, suchte bei Lenas homöopathischen Mitteln nach Beruhigungstabletten. Er klopfte zwei Stück aus dem Blister und schluckte sie schnell herunter. Dann wusch er sein Gesicht mit eiskaltem Wasser und frisierte seine Haare mit Gel streng zurück. Das verlieh ihm einen frischen Gesichtsausdruck, den Lena immer an ihm geliebt hatte. Dabei dachte er an ihr erstes Treffen auf der Veranstaltung im Kulturverein vor einigen Jahren.
Dynamisch schritt Andreas zum Podium und schaltete den Beamer ein. Er wies auf das Foto eines schmucklosen Hauses aus hellem Holz. »Das ist ein Passivhaus«, sagte er und erklärte, wie viel Energie man bei einer derartigen Konstruktion sparen könnte. In seiner Tasche hatte Andreas die fertigen Pläne für das Haus, falls jemand der Zuhörer sich dafür interessieren sollte. Aber nach dem Vortrag wollte niemand etwas über sein Projekt wissen. Frustriert packte Andreas seine Unterlagen zusammen. Plötzlich hörte er eine bekannte Stimme.
»Hallo, Andreas!« Eine junge attraktive Frau stand vor ihm. Es war Lena Kralowitz, die er von der Schule her kannte. Vor Jahren hatten er und sein Freund Henry gemeinsam mit Lena ein unzertrennliches Trio gebildet. Das ›Triumvirat‹ nannten sie sich. Auf ihren Fahrrädern waren sie bis nach Rostock geradelt oder an heißen Sommertagen die Kreidefelsen hochgeklettert, während Lena unten stand, den Schiedsrichter spielte und sie anfeuerte. Nie wusste er, wen Lena wirklich liebte, ihn oder Henry. Manchmal küsste sie Andreas, doch Stunden später lag sie eng umschlungen mit Henry auf einer Luftmatratze auf der Ostsee.
Und jetzt stand Lena vor ihm. Sie war noch schöner als früher, wirkte wie ein Wesen aus einer anderen Welt mit ihren langen blonden Haaren und den blauen Augen. Noch immer umgab sie eine unschuldige Aura.
»Ist Henry nicht da?« Lena blickte suchend umher.
»Ich glaube, Henry absolviert im Moment eine Polizeiausbildung auf dem Festland.«
»Ach so.« Lena machte ein enttäuschtes Gesicht. »Das wusste ich nicht.«
»Wie hat dir mein Vortrag gefallen?«, fragte Andreas, um Lena auf andere Gedanken zu bringen.
»Deine Überlegungen sind interessant«, waren Lenas erste Worte, die sich an ihn richteten. »Es müsste mehr Architekten wie dich geben, dann wäre die Welt lebenswerter. Das ist ein tolles Projekt, ich glaube an dich.«
Noch nie hatte jemand in seinem Leben an ihn geglaubt. Im Gegenteil, sein Vater hielt ihn für einen Versager, weil er nach dem Studium nicht in einem schicken Architekturbüro in Berlin arbeitete, sondern sich auf Rügen als Einzelkämpfer durchschlug. Und seine Mutter hätte immer lieber ein Mädchen gehabt und konnte nichts mit ihm anfangen. Aber als er Lena wiedertraf, änderte sich sein ganzes Leben. Sie unterstützte ihn und verschaffte ihm kleinere Aufträge. Doch dann war Westphal ins Spiel gekommen, und sie hatten zu streiten begonnen. Die Auseinandersetzungen steigerten sich immer weiter, bis gestern Morgen. Da war der Streit mit Lena eskaliert.
»Wie soll es jetzt weitergehen? Warum musste es so weit kommen?«, machte sich Andreas Vorwürfe. Niedergeschlagen ging er ins Wohnzimmer, wo Lenas Kanarienvögel aufgeregt in ihrem Käfig herumflatterten und um die Wette tirilierten. Er hatte sie vorhin gefüttert und jetzt waren sie in Zwitscherlaune.
»Dieser Lärm ist ja nicht zum Aushalten.« Andreas hielt sich die Ohren zu, doch das Trällern drang weiterhin schrill in seinen Schädel, erinnerte ihn ständig an Lena und an die Querelen mit ihr. Schließlich riss er ein Tischtuch aus einer Lade und warf es über den Käfig. In der plötzlichen Stille hörte er überdeutlich das Pochen seines Herzens.
»Ich hätte das nicht tun dürfen«, flüsterte Andreas und zuckte zusammen, als plötzlich die Türglocke schrillte.
»Andreas, bist du zu Hause?«, hörte er eine barsche Männerstimme.
»Ich komm ja schon.« Andreas atmete tief durch und öffnete die Tür. »Wie schön, dass ihr da seid«, sagte er mit einem falschen Lächeln zu seinen Schwiegereltern Käthe und Rüdiger.
»Mein armer Andreas, wie schlecht musst du dich fühlen?« Lenas Mutter trug eine helle Leinenhose zu einem dunkelblauen Wollblazer und ihre kurzen grauen Haare waren zu einer flotten Frisur geschnitten. »Du musst uns erzählen, was genau passiert ist.«
»Wir haben uns Sorgen gemacht.« Sein Schwiegervater Rüdiger trug eine Schirmmütze und hielt eine Kuchenform in Händen. »Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«
»Die Polizei war bei mir«, erwiderte Andreas. Seine Schwiegereltern betrieben ein Romantik- und Wellnesshotel im Norden der Insel am Tetzitzer See und hätten natürlich gerne gesehen, wenn ihre ältere Tochter das Hotel übernommen hätte. Aber Lena wollte weder ihren Lehrerposten noch ihre ganzen anderen Aktivitäten aufgeben, sie liebte ihre Freiheit.
»Wo kann Lena denn nur stecken?«, seufzte Käthe, als sie ins Wohnzimmer traten. »Mein armes Kind.« Noch immer nannte sie ihre Tochter ›Kind‹, obwohl diese bald dreißig Jahre alt war. »Ich mache uns jetzt einen starken Kaffee. Du kannst in der Zwischenzeit den Kuchen aufschneiden. Es ist Lenas Lieblingskuchen.« Käthes Augen füllten sich mit Tränen, und Rüdiger drückte seine Frau an sich.
»Alles wird gut«, redete Rüdiger beruhigend auf Käthe ein. »Lena kommt bestimmt zurück. Habt ihr euch gestritten?«, fragte er Andreas inquisitorisch, während Käthe in der Küche verschwand.
»Nein, wie kommst du darauf?«
»Es wäre ja nicht das erste Mal«, erwiderte Rüdiger und zog gedankenverloren eine Pfeife aus seiner Jacke. Gemächlich fingerte er einen Lederbeutel mit Tabak aus einer Tasche und begann, seine Pfeife zu stopfen.
»Rüdiger, du weißt doch, dass du im Haus nicht rauchen sollst«, ermahnte ihn Käthe, die gerade mit einem Tablett aus der Küche kam. »Lena mag den Geruch im Haus nicht.«
»Das habe ich vergessen«, entschuldigte sich Rüdiger und verstaute Pfeife und Tabakbeutel rasch wieder in seiner Jacke.
Schweigend saßen dann alle drei bei Tisch, tranken Kaffee und aßen Kuchen. Die Stimmung war angespannt, und Andreas spürte, dass Rüdiger ihm die Schuld an Lenas Verschwinden gab. In seinen Augen war Andreas nicht der Schwiegersohn, den er sich erträumt hatte, sondern ein erbärmlicher Schwächling.
»Hoffentlich ist meinem Kind nichts Schlimmes passiert«, murmelte Käthe und unterdrückte ein Schluchzen.
»Gibt es etwas Neues von deinem Freund bei der Polizei?«, fragte Rüdiger.
»Ein Beamter hat Lenas Wagen im Nationalpark gefunden. Die Polizei überprüft jetzt die Situation vor Ort«, erwiderte Andreas. Dabei vermied er den Blutfleck auf dem Sitz zu erwähnen, um die beiden nicht unnötig aufzuregen.
»Und du sitzt hier herum, anstatt zu helfen?«, fragte Rüdiger barsch.
»Mein Freund Henry meint, es ist besser, wenn ich zu Hause bleibe. Falls Lena zurückkommt.«
»Deine Frau ist vielleicht einfach bloß untergetaucht«, rätselte Rüdiger und fixierte Andreas mit seinen wasserblauen Augen. »Was meinst du? Hat sie dich endlich verlassen?«
»Warum sollte sie das denn tun?«, erwiderte Andreas und drehte seine Kaffeetasse in den Händen. Er dachte an das Porträt, das der junge Typ von Lena gezeichnet hatte. Zorn brodelte in ihm auf und er warf einen Blick aus dem gekippten Fenster. Es war ein sonniger Sommertag, und der Himmel war blau. Die Gräser vor dem Haus wiegten sich in einer warmen Brise. Doch im Haus war die Atmosphäre eisig geworden und die Stimmung auf dem Tiefpunkt.
»Das fragst du? Ihr habt euch doch wegen des Grundstücks gestritten. Lena war hoffentlich so klug und hat es nicht verkauft«, ereiferte sich Lenas Vater.
»Rüdiger, bitte, hör endlich auf damit!« Käthe legte die Hand auf den Arm ihres Mannes. »Andreas hat ein gutes Angebot bekommen, da kann man doch über alles reden.«
»Das Grundstück befindet sich seit vier Generationen in unserer Familie und war unser Geschenk für Lena zur Hochzeit«, murrte Rüdiger und schüttelte die Hand seiner Frau ab. »Damit ihr zwei ein Häuschen für euch und eure Kinder darauf bauen könnt. Ihr wohnt hier doch schon ewig zur Miete.«
»Mann, jetzt reicht es!«, konnte sich Andreas nicht länger zurückhalten. »Kein Mensch kann sich heutzutage das Bauen noch leisten. Schon gar nicht hier an der Ostseeküste.«
»Dann such dir endlich einen Job als Bauzeichner bei einer renommierten Firma. Aber dafür ist sich der Herr Architekt ja zu fein. Ich habe mich in letzter Zeit schon gefragt, wieso Lena dich nicht einfach hinauswirft«, fauchte Rüdiger. »Aber das ist wahrscheinlich ihr Helfersyndrom.«
Damit hatte Rüdiger ins Schwarze getroffen. Lena hatte ein ausgeprägtes Helfersyndrom, und das hatte Andreas für seine Zwecke ausgenutzt.
Der Parkplatz Rügener Ring am Rande des Nationalparks Jasmund lag versteckt an einem schmalen Bach und war für Ortsunkundige nur schwer zu finden. Gretchen hatte während der Fahrt zum Nationalpark ihren Chef Konstantin Kampe, den Polizeidirektor von Rügen, über das Verschwinden der jungen Lehrerin informiert und die Bewilligung für den Start einer Suchaktion erhalten.
Als Gretchen und Henry auf dem Parkplatz eintrafen, wartete ein Streifenpolizist bereits neben dem alten Toyota Land Cruiser.
»Danke, dass Sie den Wagen kontrolliert haben, Kollege.« Gretchen holte ein paar Latexhandschuhe aus ihrer Jeansjacke und ging zu dem Toyota.
»Das Auto war unversperrt«, sagte der Beamte. »Ich habe natürlich mit einem Tuch geöffnet, um keine Fingerabdrücke zu verwischen.«
»Sehr gut.« Gretchen öffnete die Beifahrertür und bemerkte sofort die dunklen Flecke auf dem Sitz. Der rotbraunen Färbung nach zu schließen, war es tatsächlich Blut. Vorsichtig tippte sie mit dem Zeigefinger darauf. »Das Blut ist nicht mehr frisch, könnte durchaus vom Vortag stammen.«
»Hier drinnen befindet sich nichts Besonderes.« Henry hatte in der Zwischenzeit das Handschuhfach geöffnet und den Inhalt durchgesehen. Doch außer einem Plan von den Forstwegen im Nationalpark, auf dem eine Stelle mit drei kleinen ›x‹ markiert war, konnte Gretchen nichts Interessantes entdecken.
»Hast du vielleicht Lenas Handy gefunden?«, fragte sie den Streifenpolizisten, der verneinend den Kopf schüttelte.
›Lena hat ihr Handy also mitgenommen, aber abgeschaltet. Das ist ungewöhnlich‹, dachte Gretchen. Sie ließ den Blick durch den Wagen schweifen. Die Sonnenblende auf der Fahrerseite war heruntergeklappt und eine halb volle Wasserflasche steckte in dem Seitenfach. Auf der Rückbank lagen eine kleine Staffelei, mehrere Zeichenblöcke und Kohlestifte. Das alles würde die Spurensicherung mitnehmen und genauestens auf Fingerabdrücke untersuchen, wenn sich der Verdacht bestätigte, dass Lena Engelmann tatsächlich verschwunden war.
»Warum hat Lena die Autotür nicht abgeschlossen?«, überlegte Henry.
»Vielleicht hat sie es einfach vergessen«, antwortete Gretchen. Sie blickte umher und entdeckte eine Reifenspur knapp neben dem Toyota. »Henry, mach eine Aufnahme von diesem Profil«, sagte sie zu ihrem Kollegen.
»Der Abdruck stammt von einem Motorrad«, stellte Henry nach kurzer Prüfung fest und schoss mehrere Fotos mit seinem Smartphone.