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Hoffnung und Fortschritt, Schuld und Schicksal …
Ein berührender historischer Roman über eine unkonventionelle Frau und den Mut, für das eigene Glück zu kämpfen
Berlin, 1901: Sieben Jahre nach dem tragischen Verlust ihrer Eltern hat Grete Brückner nur ein Ziel vor Augen – ihrem entstellten Bruder Johann ein Leben ohne Scham zu ermöglichen. Als angehende Krankenschwester begegnet sie dem jüdischen Chirurgen Dr. Joseph Abbel, der für seine bahnbrechenden, aber umstrittenen Methoden in der Schönheitschirurgie bekannt ist. Entschlossen und voller Mut sichert sich Grete eine Anstellung in seiner Praxis, doch schnell erkennt sie, dass Fortschritt seinen Preis hat …
Zwischen riskanten Operationen entdeckt Grete, dass nicht nur die Medizin, sondern auch die Liebe Grenzen überwinden kann. Denn inmitten all der Herausforderungen und der Sorge um Johann entdeckt sie eine unerwartete Zuneigung zu der freien und unerschrockenen Valerie, die ihre Welt völlig auf den Kopf stellt. Grete steht vor der Wahl: Soll sie den gesellschaftlichen Konventionen folgen oder den Mut aufbringen, ihren eigenen Weg zu gehen?
Erste Leser:innenstimmen
„Gretes Entschlossenheit und ihr Mut, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, sind so mitreißend - dieser historische Roman hat mich komplett in seinen Bann gezogen.“
„Die Anfänge der Schönheitschirurgie in Deutschland und das Thema Modedesign verleihen dieser historischen Geschichte eine ganz besondere Note.“
„Sophie Brahms' bewegender Roman schafft es meisterhaft, die Grenzen von Medizin und Gesellschaft zu hinterfragen und dabei eine mutige Heldin ins Zentrum zu stellen.“
„Ein fesselnder Roman über Schuld, Hoffnung und die Kraft einer Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist.“
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Berlin, 1901: Sieben Jahre nach dem tragischen Verlust ihrer Eltern hat Grete Brückner nur ein Ziel vor Augen – ihrem entstellten Bruder Johann ein Leben ohne Scham zu ermöglichen. Als angehende Krankenschwester begegnet sie dem jüdischen Chirurgen Dr. Joseph Abbel, der für seine bahnbrechenden, aber umstrittenen Methoden in der Schönheitschirurgie bekannt ist. Entschlossen und voller Mut sichert sich Grete eine Anstellung in seiner Praxis, doch schnell erkennt sie, dass Fortschritt seinen Preis hat …
Zwischen riskanten Operationen entdeckt Grete, dass nicht nur die Medizin, sondern auch die Liebe Grenzen überwinden kann. Denn inmitten all der Herausforderungen und der Sorge um Johann entdeckt sie eine unerwartete Zuneigung zu der freien und unerschrockenen Valerie, die ihre Welt völlig auf den Kopf stellt. Grete steht vor der Wahl: Soll sie den gesellschaftlichen Konventionen folgen oder den Mut aufbringen, ihren eigenen Weg zu gehen?
Erstausgabe Februar 2025
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-644-2 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-921-4
Covergestaltung: Jasmin Kreilmann unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Nature Peaceful, © frank_peters, © Third key, © Trakadas Ilias, © KathySG Lektorat: Manuela Tengler
E-Book-Version 13.08.2025, 13:56:17.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Schönheit wird die Welt erretten.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski
WERNEUCHEN/PROVINZ BRANDENBURG, 1894
Mucksmäuschenstill spähte Grete durch einen kleinen Spalt im Heuschober auf die sommerliche Hochzeit. Sie war schön, pompös, einfach romantisch! Überall waren Blumengestecke aufgestellt und kein einziges Wölkchen stand am strahlend blauen Himmel, als hätte der Bräutigam Petrus bestochen. Selbst Kätzchen Schnurr, das hinter dem Pastor auf einem Heuballen saß, schien sich noch herauszuputzen, indem es sich ausgiebig sein Pfötchen leckte. Grete schämte sich etwas für ihr schmuddeliges Kleid.
Der Pfarrer blickte in das wohlsituierte Publikum und erhob seine Stimme: »Bis dass der Tod euch scheidet.«
Obwohl sie erst Zwölf war, lösten die Worte des Pfarrers eine Sehnsucht in ihr aus. Eine Träne der Rührung kullerte ihre Wange herunter.
Grete blickte zu Therese nach hinten in den Schober. In ihrem eng geschnürten Korsett erinnerte sie an eine Wespe. Neben ihr im Stroh saß Johann, Gretes Bruder. Er hatte Grete gebeten, aufzupassen, damit er bei seinem allerersten Kuss ungestört war, für den ihn ausgerechnet eine Baroness auserkoren hatte.
Grete schaute schnell wieder nach vorn zur Hochzeit. Dort standen Magda von Callenberg, Thereses ältere Schwester und Wilhelm Freiherr von Raussendorf.
Das weiße Hochzeitskleid der Braut glänzte in der Sonne. Sie sah vornehm aus mit ihrer Hochsteckfrisur und dem ausladenden Hut. Der Freiherr hatte längst graues Haar und selbst auf diese Entfernung sah Grete, dass seine Uniform über seinem Bauch spannte.
»Ja, ich will, so wahr mir Gott helfe!«, posaunte der Freiherr. Er legte seiner Angetrauten einen Goldring an und alle applaudierten.
Grete hätte es auch gerne getan, durfte ihr Versteck aber keinesfalls preisgeben. Schließlich waren Johann und sie nicht zur Hochzeit eingeladen.
Und was Therese gerade mit Johann tat, dafür würde ihn der Baron sicherlich peinigen. Aber der bestimmte ohnehin viel zu viel, fand Grete.
Hinter sich hörte es Grete schmatzen, umzudrehen traute sie sich aber nicht. Es war ihr peinlich. Starr schielte sie weiterhin zur Hochzeit.
Das Brautpaar posierte bewegungslos, dann schoss ein kleines Feuer neben dem Fotografen hervor. Wahrscheinlich eines dieser neuen Magnesium-Blitzlichtgeräte, von denen ihr Vater immer erzählt hatte.
Kaum dachte sie an ihn, spürte Grete, wie die Tränen in ihr aufstiegen. Sie musste an das Hochzeitsfoto ihrer Eltern denken, zusammen mit ihrem Onkel und ihrer Tante. So wollte sie später ebenfalls heiraten, eine Doppelhochzeit mit ihrem Bruder.
Ob Johann gerade auf dem rechten Weg dazu war, wusste Grete nicht. Er war zwar drei Jahre älter als sie und behauptete mit fünfzehn bereits ein richtiger Mann zu sein, aber die zwei Jahre ältere Therese war nicht die Richtige für ihren Bruder. Außerdem hatte sie gehört, dass es ausgeschlossen war, dass Adelige einfache Menschen wie sie heiraten würden.
Manchmal jedenfalls glaubte Grete, dass es selbst den Milchkühen der von Callenbergs besser ging als Johann und ihr.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein ängstliches Maunzen und etwas schlug an die Wand der Scheune. Sie blickte zu Johann und Therese, die sich noch immer küssten, als würde man davon irgendwie satt werden.
Grete lief aus dem Heuschober und sah an dessen Wand den dicken Albert von Callenberg, der jüngste Spross der Familie. Er hatte sich ebenfalls von der Zeremonie davongeschlichen, trug Anzug mit Fliege und stand zusammen mit seinem Cousin Wilhelm vor einem hölzernen Regenfass.
Wilhelm hielt Schnurr in seinen Armen.
»Traust du dich etwa nicht?«, fragte der dicke Albert.
»Natürlich!«, konterte Wilhelm.
Der dicke Albert grinste.
Wilhelm ging einen Schritt näher an das Fass und hob das Kätzchen empor, dessen Augen im Sonnenschein grün blitzten. Mit ausgefahrenen Krallen fauchte Schnurr.
Grete trat einen Schritt näher. »Wilhelm, lass Schnurr los!«
Albert lachte höhnisch und wies auf das Fass, das randvoll mit trübem Wasser gefüllt war. »Macht er, aber erst wenn er ertränkt ist.« Er zeigte auf Grete. »Die vermehren sich wie die Ratten. Genauso ein Gesindel wie dein Bruder und du.«
Gretes Wangen wurden rot. »Wilhelm, das wirst du nicht tun!«
Albert gab Wilhelm einen Schubs. »Los, mach! Angsthase, Pfeffernase!«
Kurzentschlossen tauchte Wilhelm den Kater kopfüber in das Fass, dass Wasser auf den Boden schwappte. Eine Pfote fuhr aus dem Fass und kratzte über Wilhelms Arm. Ein paar Tropfen Blut fielen in die aufgebrachte Wasseroberfläche.
Grete schnaubte und trat Wilhelm mit voller Wucht in seine rechte Kniekehle. Die Beine des Jungen knickten ein und er fiel schreiend zu Boden. Sogleich ließ er Schnurr los und das Tier sprang davon, als sei der Teufel hinter ihm her.
»Was fällt dir ein, du dumme Göre?«, schrie Albert. »Jetzt ist er abgehauen!«
Grete rannte davon. Am liebsten wäre sie zu Johann gerannt. Aber wenn sie jetzt in den Heuschober lief, würde Albert ihn und Therese entdecken und an seinen Vater verraten. »Lasst mich in Ruhe!«, rief sie. »Sonst hole ich Johann!«
»Der ist doch auch ein Mädchen!«, brüllte der dicke Albert ihr rennend hinterher. Da er längst außer Atem war, tapste er nur noch ein paar Schritte, dann blieb er keuchend stehen.
Grete rannte weiter aufs Feld. Sie suchte nach Schnurr, lief dabei kreuz und quer durch das Korn. Unter dem Ahornbaum hörte sie es verzweifelt Miauen. Sie schaute sich um, entdeckte den Kater aber nicht.
Über ihr erklang ein Maunzen. Grete blickte nach oben.
Dort, fast in der Krone saß Schnurr. Das nasse Kätzchen war so weit geflüchtet, so hochgeklettert, dass es jetzt nicht wieder hinunter kam.
Grete lief schnell zurück zum Heuschober und riss die Tür auf. Sie erblickte Johann ohne Hemd, die Schnüren von Thereses Korsett in seinen Händen.
»Johann!«, rief sie. »Du musst mitkommen!«
Er schaute sie verärgert an, als wäre er aus einem schönen Traum gerissen worden.
»Schnell jetzt!«, drängte Grete. Die Panik in ihrer Stimme ließ Johann aufhorchen.
Er seufzte, zog sich hastig sein Hemd wieder an, flüsterte Therese etwas zu und folgte Grete.
Grete sah gerade noch, wie Therese wütend ihren Hut anlegte, und wie immer, wenn die Baroness sich aufregte, lief ihre spitze Nase mit dem kleinen Höcker rot an.
Grete und Johann rannten auf den Ahornbaum zu. Außer Atem kamen sie dort an.
»Hat uns jemand gesehen?«, fragte Johann.
Grete schüttelte den Kopf.
»Warum hast du uns dann gewarnt?« Er knöpfte sich das Hemd zu.
Grete zeigte nach oben. »Wir müssen Schnurr retten!« Sie sah Johann zermürbt an. »Du weißt doch, ich traue mich nicht mal auf den Schober zu klettern. Da werden meine Knie immer ganz wackelig.«
»Deswegen hast du mich gerufen?« Johann schüttelte den Kopf. »Ich war so kurz davor …« Er biss sich auf die Lippe. »… ein echter Mann zu werden.« Er drehte sich weg.
»Du hast Schnurr doch auch gern.«
Johann atmete tief aus und sah Grete an, wie er seine kleine Schwester häufiger anschaute. »Die von Callenbergs mögen es nicht, wenn man auf ihre Bäume klettert.«
»Das ist nur ein Ahorn, kein Apfelbaum. Und du sollst
ja keine Äpfel stehlen, sondern Schnurrs Leben retten«, antwortete Grete. »Außerdem sind die noch auf der Hochzeit.«
Johann sah sich um, als suche er Therese.
»Zudem habe ich dich vor einer großen Dummheit bewahrt«, sagte Grete trotzig.
Johann blickte starrsinnig zu ihr. »Was weißt du schon!«
Grete schaute ihn flehend an. »Bitte, mach es für mich.«
Johann blinzelte ihr zu und kratzte seine spitze Nase. »Aber nur, wenn du das nächste Mal wieder aufpasst und nicht davonläufst!«
Grete nickte. Sie hätte alles getan, um Schnurr zu retten, ohne selbst auf den Baum klettern zu müssen.
Johann ging barfuß um den Stamm herum und suchte einen Einstieg. Schließlich sprang er hoch zu einem dicken Ast und zog sich daran hinauf. Ein bräunlicher Ahornsamen fiel vom Baum und rotierte dabei mit seinen Flügeln wie ein Windmühlenrad. Johann stieg ein Stück den Stamm hinauf und blickte zu Grete hinunter. »Pass auf, dass niemand kommt.«
Grete nickte ihm zu und spürte ein warmes Kribbeln in ihrem Herzen.
Johann kletterte weiter nach oben und schien kurz im Geäst verschwunden zu sein, tauchte aber wieder auf, als er auf Schnurrs Höhe angelangt war. Er umklammerte einen Seitenast, der unter seiner Last etwas nachgab.
Grete stockte der Atem. »Pass bloß auf!«
Ihr Bruder hielt inne und klopfte mit einer Hand auf den Ast. »Der hält.« Zögerlich krabbelte er weiter und stoppte, als er sich wenige Zentimeter vor Schnurr befand. Der kleine Kater fauchte. Sachte streckte Johann seine Hand zu ihm hin.
Der verängstigte Kater fuhr seine scharfen Krallen aus und erwischte Johanns Finger.
Johann zog sie schnell zurück, der Ast wackelte. Schnurr hechtete tiefer in das Gestrüpp. Da knirschte der Seitenast, den Johann nach wie vor umklammerte, und durchbrach samt Johann die Blätter. Ihr Bruder drehte sich dabei nicht wie zuvor der Ahornsamen, sondern fiel hinab wie ein Stein.
Laut krachend landete er bäuchlings auf dem Boden.
Es ging alles so schnell. Grete sah, wie Schnurr vom Baum sprang und davonrannte, sie schrie auf und hastete zu ihrem Bruder.
Er lag flach und regungslos auf der Erde. Unter Johanns Gesicht wuchs eine rote Pfütze auf dem Grün des vermoosten Bodens.
»Johann, Johann. Du darfst nicht gehen!« Gretes Herz hämmerte wie der Hufschmied mit dem Hammer. Hilflos rieb sie Johanns Rücken, doch ihr Bruder blieb schlaff und völlig regungslos liegen. Sie nahm seinen Kopf, drehte ihn behutsam um und erschrak zutiefst. Sein Gesicht war rot verschmiert und mit Moos befleckt, die Augen und sein Mund geschlossen. Wo einst seine Nase keck hervorgelugt hatte, klaffte nun ein Loch, in das sich ein Ast gebohrt hatte.
»Was habe ich getan?«, flüsterte Grete. Die Tränen schossen aus ihr heraus. Sie nahm seine Hand und spürte erleichtert, dass er noch lebte.
Grete sah auf. Sie erblickte Therese von Callenberg, die angelaufen kam. Grete winkte ihr panisch zu.
Therese lief schneller, hielt ihren Hut fest. Atemlos kam die Baroness an, schaute auf Johann und presste erschrocken die Hände vor ihr Gesicht. »Wie ekelerregend!« Sie wandte sich mit einer Grimasse ab, hob ihren Rock und rannte davon.
»Du musst Hilfe holen!«, rief Grete ihr hinterher, aber sie ahnte, dass Therese von Callenberg der Bitte nicht nachkommen würde.
Also rannte sie selbst los und schwor sich, dass sie alles tun würde, um Johann zu retten. Damit sie und Johann genauso glücklich heiraten könnten wie ihre Eltern auf dem Hochzeitsfoto.
BERLIN 1901
Heute, das hatte Grete sich fest vorgenommen, wollte sie bei Oberschwester Bernadette nicht in Ungnade fallen.
Sorgfältig strich sie die Schürze ihrer Schwesterntracht glatt und richtete sich das Häubchen.
Für die strenge Oberschwester waren drei Dinge wichtig: perfekte Arbeitskleidung, Pünktlichkeit und Unterwürfigkeit.
Deshalb war Grete extra früher aus dem Viktoriahaus losgelaufen, einem fünfgeschossigen Backsteingebäude mit Ziertürmchen – und ihr Schwesternheim.
Ihr Dienstort, das Krankenhaus Friedrichshain, lag direkt gegenüber. Trotzdem schlang Grete die Arme um sich, denn die herbstlichen Temperaturen ließen sie unter dem Stoff ihrer Tracht frösteln.
Grete war gerade neunzehn Jahre geworden und in drei Wochen wartete ihr Abschluss als Viktoriaschwester.
Es war eine große Ehre, eine Viktoriaschwester zu sein, denn diese genossen die erste weltliche Ausbildung in Deutschland zur Krankenpflegerin. Und das Krankenhaus Friedrichshain war das modernste des Abendlandes.
Das Spital mit dem schlechtesten Ruf in Berlin hingegen war die Charité, die aufgrund der hohen Patientensterblichkeit zeitweise von den Krankenkassenverbänden für Behandlungen ausgeschlossen worden war.
Ganz anders das Krankenhaus Friedrichshain, das die Architekten Martin Gropius und Heino Schmieden nach neuesten Erkenntnissen entworfen hatten. Jede Abteilung war in einem eigenen, frei stehenden Pavillon untergebracht, um Übertragungen von Krankheitserregern von vornherein abzuwenden. Zudem verfügte jedes Gebäude über ein ausgeklügeltes Lüftungssystem, das verhinderte, dass die gefürchteten Miasmen, also Ausdünstungen des Bodens, die Patienten im Krankenhaus infizierten.
Vielleicht war es aber auch etwas anderes, womit sich die Leidenden ansteckten. Jedenfalls war erwiesen, dass man im Umfeld von Kranken schneller erkrankte.
Grete lief auf die Klinik zu. Die vergoldeten Jahreszahlen 1870 und 1874 auf dem backsteinernen Torbogen schimmerten im Licht der Herbstsonne.
Dank ihrer guten Leistungen war Grete der chirurgischen Abteilung von Dr. Friedrich Trendelenburg zugeteilt worden. Damit war sie ihrem Ziel ein Stück weit nähergekommen und würde endlich die Schuld am Unfall ihres Bruders Johann begleichen können.
Grete stand vor dem Eingang des Gebäudes der Chirurgie, als sie von hinten eine Stimme hörte.
»Greeete!«
Sie erkannte Sieglinde sofort. Die zierliche Küchenhilfe zerrte zwei schwere Säcke Kartoffeln hinter sich her und sah Grete hilfesuchend an.
Kurzentschlossen half Grete ihr, die beiden Säcke in die Hospitalküche zu schleppen.
Als Grete kurz darauf die Spuren der Kartoffelsäcke auf ihrer Schürze entdeckte, verriet ihr ein Blick auf die Standuhr, dass für deren Entfernung keine Zeit blieb. Wenn sie nicht zu spät zu ihrem Dienst kommen wollte, musste sie jetzt sofort los.
Und was war wohl schlimmer: Kartoffelstaub auf der Schürze oder Zuspätkommen?
Grete hastete davon und schlüpfte als Letzte zwischen die Schwestern, die parat für den Dienstbeginn nebeneinander in zwei Reihen standen.
Oberschwester Bernadette, eine hochgewachsene Frau mit strengem Dutt, schritt zwischen ihnen entlang.
Schnell bedeckte Grete die Flecken auf ihrer Schürze mit ihren Händen.
Die Dienstherrin warf Grete einen missbilligenden Blick zu. »Einmal Gosse, immer Gosse«, zischte sie.
Grete biss sich auf die Lippe, wollte entgegnen, dass ihre Eltern eine Apotheke geführt hatten. Doch die Unterwürfigkeit, welche die Oberschwester von ihr verlangte und die sie schönfärberisch Disziplin nannte, verbot es Grete zu reden, sofern sie nicht gefragt wurde.
Ebenso hatte sie lernen müssen, dass ihre Kenntnisse nur von Belang waren, wenn sie dazu aufgefordert wurde, diese kundzutun.
Anfangs war Oberschwester Bernadette von Grete begeistert gewesen, aber das Blatt hatte sich schnell gewendet. Grete vermutete, dass die Leiterin eine Gefahr in ihr sah, weil Grete manches besser wusste.
Das lag daran, dass Grete als Kind gern bei ihren Eltern in der Apotheke in der Provinz Brandenburg gewesen war. Sie hatte die vielen kleinen Fläschchen und Gläschen bestaunt und ihren Eltern bei der Arbeit über die Schultern geschaut. Sie hatte sich dabei trotz ihres jungen Alters allerlei Wissen über Kräuter, Wirkstoffe und das Zubereiten von Salben und Tinkturen angeeignet. Heute noch mochte sie den eigentümlichen Geruch von Apotheken und fühlte sich sofort in die ihrer Eltern versetzt, sobald sie eine betrat.
Doch die Apotheke war abgebrannt, samt Vater, Mutter, Onkel und Tante. Nur Johann und Grete hatten überlebt, weil sie zum Zeitpunkt des Feuers Kräuter im Wald gesammelt hatten.
Die von Callenbergs hatten das Grundstück für einen Appel und ein Ei gekauft und später eine neue Apotheke errichtet. Aufgrund der Bitten der Bevölkerung, wie sie nicht müde wurden zu betonen. Dass sie die Preise standesgemäß erhöht und sich eine goldene Nase verdient hatten, das verschwiegen sie jedoch gerne.
Das war jetzt über zehn Jahre her, aber es ließ Grete nicht los. Dass sie im Krankenhaus Friedrichshain heilen und pflegen sollte, aber nichts von ihrem Wissen anwenden durfte, ließ steten Groll in ihr wachsen.
Und so hatten sich die Vorfälle gehäuft, in denen sie nicht immer stoisch Bernadettes Befehle befolgt, sondern ihre Ansicht kundgetan hatte, wenn sie anderer Meinung war.
Jetzt stand die Oberschwester vor ihr und schüttelte den Kopf. Wie immer, wenn sie drauf und dran war, eine Strafe auszusprechen.
Grete schaute zu Boden und verbarg ihre zitternden Hände auf dem Rücken.
»Viktoriaschwester in Ausbildung Grete!«, bellte Oberschwester Bernadette.
Grete blickte auf und schaute die Oberschwester an, weil das von ihr verlangt wurde.
»Sie sind heute Viktoriaschwester Henriette zugeteilt!«, befahl Bernadette mit schneidendem Ton.
Grete war überrascht, ja erleichtert. Obwohl Henriette die stellvertretende Stationsschwester war, schien sie Grete wohlgesonnen.
War das eine versteckte Strafe? Eine, die Grete erst nicht erkennen sollte?
Sie nahm sich vor, wachsam zu sein, verbeugte sich vor Viktoriaschwester Henriette und lief mit ihr in den großen Bettensaal, angeführt von Oberschwester Bernadette.
Als sie zu dem Patienten traten, der ihnen zugeteilt war, musste Grete schlucken. Schamesröte zog sich über ihr Gesicht und sie hätte am liebsten wieder auf den Boden geblickt.
Das Gesicht des Patienten war über und über mit entzündeten Abszessen, Knoten und Bläschen übersäht. Grete kämpfte mit einem beklemmenden Gefühl, das sie gut kannte.
Das empfand sie auch, wenn sie ihren Bruder ansah und sie verachtete sich dafür.
Es war eine Mischung aus Mitleid und Scham.
Denn Grete meinte zu wissen, dass nur ein schöner Mensch glücklich sein konnte. War ihr doch mit ihrem zarten, traurigen Bruder Johann das Gegenbeispiel allgegenwärtig.
Grete glaubte zudem, dass Gott allein für die reichen Bürger dieses Landes da war. Den Reichen gab Gott schließlich alles – und den anderen nichts.
Deswegen war sie so stolz auf ihre weltliche Ausbildung als Krankenschwester im Viktoriahaus, wo sie inzwischen fast drei Jahre lang im Namen der Medizin und der Kronprinzessin Viktoria ausgebildet worden war.
Schwester Henriette räusperte sich und Grete nickte entschuldigend, dass sie in Gedanken woanders gewesen war. Sie sah, dass Oberschwester Bernadette bereits mit einem anderen Patienten vier Betten weiter hinten beschäftigt war. Sie atmete erleichtert aus und wechselte mit gekonnten Handgriffen den Verband des Kranken am rechten Unterarm. »Seit wann haben Sie Ihr Leiden?«, fragte sie flüsternd und deutete auf sein Gesicht.
Bevor der Mann antworten konnte, betrat eine Schar Ärzte den Saal und reihte sich vor dem Bett ihres Patienten auf. Grete und Schwester Henriette stellten sich ein Stück abseits, damit die Mediziner den Patienten besser begutachten konnten.
Inmitten der Ärzte stand ein großgewachsener Chirurg.
Grete sah ihn heute zum ersten Mal. Das musste der neue Doktor sein, dessen Ankunft ihre Mitschwestern bereits herbeigesehnt hatten.
Grete schob ihren Kopf nach vorn und linste auf den aufgestickten Namen auf seinem Kittel. Dr. Franz Lichte stand dort. Ihr Blick wanderte zu seinem jungenhaften Gesicht, das von einer großen Brille geziert wurde. Er sah gepflegt aus, aber sie verstand trotzdem nicht, warum die anderen Schwestern seine Ankunft so herbeigesehnt hatten.
Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie sich derlei Gedanken verbot, solange Johann nicht ebenso leben und sich verlieben konnte.
»Der Patient …«, sagte Dr. Lichte und blickte auf eine Kladde Papier, die er in den Händen hielt. »Der Patient Krause kam nach einem Unfall mit schweren Quetschungen und Brüchen im rechten Unterarm zu uns.«
Sein Assistent deutete auf den Arm des Patienten. »Der Knochen war regelrecht zertrümmert.«
Dr. Lichte nickte. »Dank aufwendiger Operationen haben wir es geschafft, eine Amputation zu umgehen.«
Der Patient hielt seinen geschienten Arm in die Höhe und bewegte ihn leicht.
Die Ärzteschar warf Dr. Lichte anerkennende Blicke zu und applaudierte. Grete konnte ihre Bewunderung für diesen medizinischen Fortschritt ebenfalls nicht verbergen und klatschte mit.
Sofort erntete sie quer durch den Raum einen mahnenden Blick von Oberschwester Bernadette, die in Richtung der vollen Bettpfanne des Patienten nickte.
Grete duckte sich ergeben, nahm die Pfanne und schritt zur Tür.
Ein Student hob seine Hand. »Was hat es mit dem Exanthem auf sich?«
Grete, die mit der vollen Bettpfanne in der Tür stand, wurde hellhörig und stoppte. Oberschwester Bernadette scheuchte sie mit einer fliegenden Handbewegung aus dem Raum.
Grete beeilte sich, die Pfanne zu säubern, denn sie hätte zu gern gehört, was die Mediziner als Ursache für den Ausschlag vermuteten.
Als sie in den Krankensaal zurückkam, schnappte sie ein paar Wortfetzen auf, aus denen hervorging, dass die Weißkittel eine medikamentöse Unverträglichkeit annahmen.
Grete steckte die Bettpfanne wieder an deren Platz. Es kostete sie größte Überwindung, nichts zu sagen. Eine Schwester steht dem behandelnden Arzt lediglich als unterstützende Pflegerin zu Seite. Sie hält sich im Hintergrund und unterbricht niemals das Gespräch eines Obrigen, erinnerte Grete sich der Worte von Oberschwester Bernadette, die diese mindestens dreimal täglich wiederholte.
Als sich die Ärzte zum Gehen wandten und den Patienten seinem Schicksal überließen, hielt Grete es nicht mehr aus. Sie holte Luft, um etwas zu sagen, bemerkte aber den eindringlichen Blick von Henriette, der ihr Stillschweigen signalisierte.
Grete schaute zu Oberschwester Bernadette, die jetzt gar sechs Betten entfernt einen beleibten Patienten umbettete.
Die ist weit genug weg, dachte Grete und holte abermals tief Luft.
»Ich würde …«, sagte Grete mit gesenktem Blick. Trotzdem vernahm sie aus dem Augenwinkel, wie Henriette bedeutsam mit dem Kopf schüttelte.
»Fräuleins haben nichts zu wollen«, zischte ein großgewachsener, blonder Medizinstudent und hatte die Lacher auf seiner Seite. Nun wurde auch Oberschwester Bernadette aufmerksam. Schließlich wurde in diesem Saal nicht allzu oft gelacht.
Die Worte des Studenten trafen Grete, als hätte er sie direkt ins Gesicht geschlagen. Trotzig hob sie ihren Blick und ließ diesen über die Herren in den weißen Kitteln gleiten.
»Was würden Sie?« Dr. Lichte drehte sich zu ihr und lugte unter seiner Brille hervor. Seine Anhängerschaft folgte ihm auf dem Fuße.
Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ Oberschwester Bernadette ihren Patienten los und kam ebenso auf sie zu. Schwester Henriette zog ihren Kopf ein.
Grete setzte zu einem versöhnlichen Kopfschütteln an, denn es wäre eindeutig die bessere Wahl gewesen, zu schweigen, aber ihre Zunge war wieder einmal schneller.
»Ich würde gern von Patient Krause wissen, in welcher Art von Betrieb er arbeitet?« Sie strich nervös die Schürze ihrer Schwesterntracht glatt und schaute Dr. Lichte direkt in die Augen.
»Schwesternschülerin Grete«, setzte die Oberschwester mit heiserem Ton an, bis der Doktor seine Hand auf die Schulter der Oberschwester legte und ihr mit einem Blick zu verstehen gab, dass sie ihre junge Pflegerin gewähren lassen sollte.
Bernadette war sichtlich angefasst.
»Weshalb meinen Sie, dass dies von solcher Wichtigkeit wäre, dass Sie dafür unseren Ablauf aufhalten?« Der Chirurg wandte sich nun direkt an Grete und musterte sie mit wachen Augen.
»Es könnte noch eine andere Ursache geben.« Grete ergriff die Hand von Herrn Krause. »Wo arbeiten Sie?«
»Ich arbeite in der Fabrik für Anilinfabrikation in Rummelsburg.« Herr Krause stierte verunsichert in die Runde. »Wir produzieren Produkte für die Fotografie«, schob er hinterher, als er all die fragenden Gesichter auf sich gerichtet sah.
»Arbeiten Sie dort auch mit chlorhaltigen Substanzen?« Grete versuchte, die stechenden Blicke der Anwesenden auszublenden.
Der Mann mit dem pockigen Antlitz rang sich ein gequältes Nicken ab.
Nun gab es für Grete kein Zurück. Selbst die Tatsache, dass dies der letzte Satz sein könnte, den sie in diesen Mauern sagte, konnte sie nicht aufhalten. Schließlich hatte sie sich als angehende Viktoriaschwester dem Wohle der Menschen verschrieben. Das stand sogar auf den Lampenschirmen der Abteilung. Den Menschen ein Wohlgefallen.
Die Anhängerschaft des neuen Chirurgen tuschelte und räusperte sich. Grete vernahm Sätze wie, was die sich erlaube und warum Dr. Lichte nicht längst eingreife. Nur der wachsame und keineswegs unfreundliche Blick des Arztes ließ sie fortfahren.
»Ich vermute, der Patient leidet an Chlorarylakne«, hörte sich Grete sagen.
Schlagartig wurde es still im Raum. Jetzt oder nie, dachte Grete. Sie schloss ihre Augen, straffte die Schultern und drückte die Hand von Herrn Krause. »Ich würde dem Patienten eine entzündungshemmende Salbe verabreichen. Zudem sollten wir zur Linderung der Schmerzen und Vorbeugung der Narbenbildung die Hautstellen kühlen.«
»Wir befinden uns in einer chirurgischen Abteilung«, ergriff einer der Medizinstudenten das Wort.
Grete sah, wie sich Pflegerin Henriette noch ein Stück tiefer duckte und Oberschwester Bernadette geräuschvoll ausatmete. Ihre Augen schossen Blitze auf Grete ab.
Nachdem der neue Arzt seiner Gefolgschaft ein paar Sekunden des Tuschelns zugestanden hatte, ergriff er wieder das Wort. »Verraten Sie uns auch, woher Sie meinen, die Berechtigung und das Wissen für derlei Diagnosen zu haben?« Er trat einen Schritt auf Grete zu.
Herr Krause zog die Decke seines Bettes näher zum Kinn, als könne er dem drohenden Donnerwetter neben ihm dadurch entfliehen.
»Meine Eltern waren Apotheker und ich lese viel in der Fachpresse«, erklärte Grete mit immer leiser werdender Stimme.
»Ihr Einsatz in allen Ehren, aber wir befinden uns nicht in einer Apotheke, sondern in einem Krankenhaus«, sagte Dr. Lichte und eilte kopfschüttelnd mit den anderen Ärzten aus dem Saal.
Grete schaute ihm einen Moment lang nach. So sehr sie eben das Gefühl hatte, dass der Doktor sie zumindest ernst genommen hatte, so unsicher war sie nun, was seine letzte Aussage für sie bedeuten konnte.
Unwirsch wurde sie von Oberschwester Bernadette aus ihren Gedanken gerissen. »Ich werde mit der Klinikleitung sprechen, wie wir nach diesem Vorfall mit Ihnen verfahren.« Die Oberschwester starrte Grete feindselig an. »Bis dahin helfen Sie zusätzlich in der Nachtschicht aus und ich will kein einziges Wort mehr von Ihnen hören. Haben wir uns verstanden?«
Am nächsten Nachmittag stand Grete mit gesenktem Kopf neben den Schwesternschülerinnen und wartete auf die öffentliche Rüge, die Oberschwester Bernadette zu Dienstbeginn gern zu verteilen pflegte.
Grete hatte nach der Nachtschicht kaum ein Auge zugetan und sich Vorwürfe für ihr loses Mundwerk gemacht. So sehr sie versuchte, sich in solchen Momenten aus der Situation auszublenden und ruhig zu bleiben, es gelang ihr nicht. Sie hatte hin und her überlegt, was sie Oberschwester Bernadette sagen konnte, vermutete allerdings, dass jedes weitere Wort es lediglich verschlimmerte.
Außerdem hatte ihr die leitende Schwester ausdrücklich das Sprechen verboten. Wenigstens dieses Mal wollte es Grete schaffen, der Anweisung ihrer Vorgesetzten zu folgen.
Die Oberschwester blieb musternd vor ihr stehen. »Schwester Grete, Sie kommen mit mir zu Patient Krause.«
Grete sah erstaunt zu ihrer Vorgesetzten auf, die keine Miene verzog. Das konnte nur bedeuten, dass das Gespräch der Oberschwester mit der Klinikleitung nicht in ihrem Sinne verlaufen war. Dass sie eine Anweisung erhalten hatte, die sie nun befolgte. Denn Oberschwester Bernadette leistete jedem Befehl Folge.
Kaum, dass Grete in dem großen Bettensaal an das Bett von Herrn Krause getreten war, kamen Dr. Lichte, seine Studentengefolgschaft sowie ein Weißkittel, den Grete nicht kannte.
Grete wusste nicht recht, was von ihr erwartet wurde. Also führte sie ihre Arbeit fort und schüttelte das Bett des Patienten auf.
Dr. Lichte stoppte Grete in ihrer Bewegung und bedeutete ihr einen Moment damit zu warten. Grete schaute hilfesuchend zu Oberschwester Bernadette, die ihrem Blick auswich.
Grete straffte ihre Schultern. Wollte Bernadette oder dieser Dr. Lichte sie vor versammelter Ärzteschaft rügen?
»Darf ich vorstellen, Dr. Hinrich Eberkus, seines Zeichens Dermatologe unseres Hauses. Ich habe beschlossen, ihn hinzuzuziehen«, erklärte Dr. Lichte der Runde.
Dr. Eberkus neigte sich in alle Richtungen und nickte den Medizinstudenten zu. Die jungen Mediziner musterten ihn. Gespannt reckte auch Grete ihren Kopf und ihre Augen blitzten, wie sie es oft taten, wenn sie angespannt war.
Grete trat einen Schritt beiseite, sodass Dr. Eberkus näher an den Patienten herantreten konnte. Ein strenger Geruch nach Moschus wehte in ihre Nase und sie hatte Mühe zu atmen.
»Sie arbeiten in einer Farbenfabrik?«, fragte Dr. Eberkus den pockigen Patienten.
Herr Krause nickte und sah aus wie ein Eichhörnchen auf der Flucht. Grete wusste von ihrem Bruder Johann, wie schrecklich es war, wenn alle einen anstarrten.
Der Dermatologe betrachtete den Ausschlag des Patienten unter einem Vergrößerungsglas, drehte seinen Kopf dafür gemächlich von rechts nach links und wieder zurück. »Ich denke, wir haben es mit einer chlorbasierten Kohlenwasserstoff-Vergiftung zu tun. Einer sogenannten Chlorarylakne.«
Kaum dass der Dermatologe die Diagnose gestellt hatte, richteten sich alle Augenpaare auf Grete, die nach wie vor wie erstarrt hinter den beiden Medizinern stand.
Ich habe mich nicht getäuscht, dachte Grete und unterdrückte ein triumphierendes Lächeln.
Der blonde Medizinstudent, der das letzte Mal durch seine Bemerkung Oberschwester Bernadette auf sie aufmerksam gemacht hatte, hob seine Augenbraue.
Gretes Hochgefühl verflog jäh, denn dem hitzigen Getuschel der Männer entnahm sie, dass ihr Wissen kein Grund zur Freude war. Eine Frau hatte derartige Kenntnisse nicht. Selbst nicht als Schwesternschülerin.
Grete verfolgte den Rest der Visite mit vor ihrer Schürze gefalteten Händen und gesenktem Blick.
Der Hautarzt unterwies die Anwesenden, dass der Giftstoff durch direkten Hautkontakt in den menschlichen Organismus gelange oder auf oralem Wege wie beispielsweise durch Inhalation giftiger Dämpfe. Deshalb träten die Hautreaktionen vor allen im Gesicht der Betroffenen auf. Anschließend ordnete er die Gabe entzündungshemmender Arzneimittel an.
»Das aufgetragene Medikament verbindet sich mit dem Wundsekret und bildet Schorf. Dieser löst sich nach acht bis zehn Tagen, eine vollständige Heilung tritt erst nach sehr langer Zeit ein«, erklärte er.
Der blonde Student mit den agilen Augenbrauen hob seinen Finger.
Der Dermatologe nickte ihm wohlwollend zu. »Nur zu, fragen Sie.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass es nur in den seltensten Fällen zu einer vollständigen Heilung kommt? Immerhin werden Giftstoffe im Fettgewebe extrem langsam abgebaut«, tat sich der Großgewachsene hervor.
»Ganz richtig, Herr Student. Wollen Sie nicht in meine Abteilung wechseln?« Der Dermatologe lachte schallend. Während alle anderen in sein Lachen einstimmten, lag Herr Krause mit erschrocken aufgerissenen Augen da.
Grete nahm seine Hand, drückte sie und nickte ihm zu. Sie hätte dem armen Mann gern etwas Tröstendes gesagt, aber sie würde heute nicht reden.
Nachdem das Gelächter verebbt war, fingerte der Hautarzt einen Zettel aus seiner Kitteltasche und begann etwas darauf zu kritzeln. Damit wandte er sich an Oberschwester Bernadette. »Lassen Sie Ihre Pflegeschülerin die entsprechenden Medikamente aus der Apotheke holen.« Grete würdigte er keines Blickes.
Schwester Bernadette nickte demütig.
»Zudem öffnen und entleeren Sie die Zysten. Achten Sie dabei auf Asepsis«, ordnete der Hautarzt weiterhin an.
Ein angewidertes Raunen durchzuckte die Studierenden der Medizin.
Gretes Blick wanderte über die Anwesenden und blieb an ihrer Vorgesetzten hängen. Ihr sonst stets versteinertes Gesicht zeigte eine Regung. Sie ekelte sich.
Dr. Eberkus verließ erhobenen Hauptes den Raum und Dr. Lichte nickte Grete kaum sichtbar zu. »Und kühlen Sie die Hautpartien, damit der Patient ein wenig Linderung erfährt.«
Grete sah dem Chirurgen dankbar nach.
Gerade als sie sich wieder dem Bett des Kranken widmen wollte, trat Oberschwester Bernadette neben sie.
»Sie werden dem Patienten die Zysten öffnen. Erst danach besorgen Sie seine Medikamente.« Bernadette reichte ihr den Zettel und machte auf dem Absatz kehrt.
Grete wusste genau, warum ihre Vorgesetzte ihr diese Aufgabe übertragen hatte, obwohl Grete als Schwesternschülerin gar nicht dazu bevollmächtigt war. Der Ekel in Oberschwester Bernadettes Blick hatte sie verraten.
Es war bereits dunkel, als Grete das Viktoriahaus verließ.
Grete mochte weder die Jahreszeit noch diese Finsternis. Es nieselte leicht und ein kalter Wind zog durch die Gassen. Sie stellte den Kragen ihres Mantels auf. Dem Herbst in Berlin haftete unlängst etwas vom Winter an.
Wenigstens ging sie einen Weg, den sie bereits oft gegangen war. Und der Mond, noch fast voll, wies ihn ihr.
Grete nahm ihren Korb fester in die Hand, als sie in die Fröbelstraße einbog und an hohen Häuserschluchten vorbeieilte. Schornsteine pufften schwarze Wölkchen in die Luft. Eine Pferdekutsche ratterte an ihr vorbei und blieb fast im Schlamm stecken.
Unwillkürlich musste Grete wieder an Patient Krause denken, wenigstens hatte sie ihm Linderung verschaffen können.
Müde bog Grete in den Diesterweg ein. Die Nähe zur Prenzlauer Allee und die umliegenden Wohngebiete sorgten für eine lebhafte Atmosphäre. Trotzdem schreckte Grete zurück, als ihr ein paar Burschen in Uniform strammen Schrittes entgegenmarschierten.
Die jungen Männer, die fast noch Kinder waren, leisteten stolz den Dienst an ihrem Vaterland.
Was, wenn es aber ein Bärendienst ist, dachte Grete. Wenigstens ist Johann dem entgangen.Das einzig Gute, was der Unfall mit seiner Nase gebracht hat.
Um den Soldaten nicht im Weg zu stehen, drückte sich Grete mit dem Rücken gegen die Hauswand. Über ihr öffnete sich ein Fenster und der Kopf eines kleinen Jungen erschien. Er bestaunte die Burschen mit leuchtenden Augen, bis ihn seine Mutter unsanft von seinem Ausguck wegzog.
Als die Parade an ihr vorbeigezogen war, setzte Grete ihren Weg fort. Bevor sie das Städtische Obdach erreicht hatte, in dem ihr Bruder untergekommen war, griff eine Hand nach ihrem Arm. Das Heim für Bedürftige war im Volksmund als Die Palme bekannt wegen der Kübelpalme am Eingang.
»Bitte, etwas Brot?«, bettelte eine dunkle Gestalt, dessen Umrisse Grete in dem Hauseingang kaum ausmachen konnte. Grete umklammerte ihren Korb. Müde schüttelte sie den Kopf und eilte weiter.
Endlich erreichte sie das Heim an der Ecke Fröbelstraße/Diesterweg. Die Fröbelstraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg war zu einem bedeutenden Zentrum sozialer Einrichtungen geworden, nachdem die Stadt Berlin zwischen 1886 und 1889 hier nach Plänen des Architekten Hermann Blankenstein das Friedrich-Wilhelm-Hospital errichten ließ, ein zentrales Hospital und Siechenhaus. Das Städtische Obdach lag in derselben Straße und war für etwa 5000 Personen pro Nacht ausgelegt, besonders in den kalten Wintermonaten. Die Schlafsäle waren ursprünglich für 50 Personen pro Raum geplant, wurden jedoch oft mit bis zu 100 Obdachlosen belegt, was zu extremen Bedingungen führte. Seit Jahren warteten drei gesplitterte und undichte Fenster darauf, repariert zu werden. Von den Fensterläden ganz zu schweigen.
Schnell schlüpfte Grete durch das hölzerne Tor ins Innere des Hauses und zündete eine Öllampe an, die funzeliges Licht spendete. Im feuchten Treppenhaus bröckelte der Putz von den Wänden.
Mit der Lampe in der rechten und dem Korb in der linken Hand, schlich Grete leise den Gang im zweiten Stockwerk entlang. Vor einer großen schweren Tür machte sie halt, spähte abermals nach rechts und links. Der Flur war verwaist.
Zurückhaltend drückte Grete die Klinke herunter und linste in den trostlosen Bettensaal. Es mussten an die dreißig Pritschen sein, die in dem Saal standen.
Sie sah sofort, dass das Bett ihres Bruders am rechten Rand des Saals leer war.
Grete verkniff sich ein Seufzen und ging hinab in den Speisesaal. Der Mond spendete nur ein schwaches Licht durch die Fenster. Dort, auf einer Sitzbank erblickte Grete den gebeugten Rücken ihres Bruders. Er schien in Gedanken vertieft und er war allein.
Grete schlich zu ihm. »Johann«, flüsterte sie, erhielt aber keine Antwort. Stattdessen hörte sie das Kratzen eines Stiftes auf Papier.
Er zeichnete.
Das hatte er lange nicht getan. Was nicht allein seinem Befinden zuzuschreiben war, sondern vor allem der Schwierigkeit, an Künstlerbedarf wie Stifte und Papier zu kommen. Dabei liebte er das Zeichnen seit Kindertagen. Er hatte sich in seinen Tagträumen mit leuchtenden Augen ausgemalt, wie er später an der Kunsthochschule studieren und ein großer Künstler werden würde. Die Leute hatten ihn in diesen Momenten immer belächelt. Bis sie seine Bilder gesehen hatten.
Johann hatte Talent. Nein, er hatte mehr als das. Nur leider stand er sich und seiner Kunst selbst im Wege.
Erst als Grete ihre Hand auf seine Schulter legte, bemerkte er ihre Anwesenheit. Erschrocken fuhr er zusammen und schob die Skizze unter den Tisch.
»Johann, ich bin es«, flüsterte Grete.
Ruhig drehte sich Johann zu ihr um, und obwohl er wie üblich ein Tuch vor Mund und Nase trug, traf Grete das Schuldgefühl wie ein Blitz.
Beschämt sah Grete in die dunklen, wässrigen Augen ihres Bruders. Die kleinen Augenfältchen, die sich augenblicklich bildeten, verrieten ihr, dass er sich unter dem Tuch ein Lächeln für sie abrang.
Er lachte viel zu selten.
Gretes Herz erfasste eine bleierne Schwere. Und da war wieder diese Wut. Wut auf die von Callenbergs, weil sie Johann damals nicht die notwendige medizinische Hilfe hatten zukommen lassen. Das kannst du in hundert Jahren nicht bei mir abarbeiten, hatte Herr von Callenberg gesagt. Als Grete ihn daraufhin wild beschimpft hatte, hatte er sie rausgeschmissen. Alle beide. Weil man einen Auswürfling wie ihren Bruder Johann lediglich als Vogelscheuche würde einsetzen können und davon habe er genug. Und noch dazu welche, die ihm nicht die Haare vom Kopf fraßen.
Grete erschauderte bei dem Gedanken daran und zog ihren Bruder zu sich in die Arme.
»Ich dachte, du kommst nicht mehr«, brachte Johann hervor und klammerte sich an seine Schwester.
Grete überlegte kurz, ob sie ihm von den Vorfällen im Spital und damit den Grund für ihr Zuspätkommen erzählen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Johann hatte genug eigene Sorgen. Sogar an diesem Ort hänselte man ihn wegen seines Aussehens.
Nicht selten steckte er Prügel ein, da die anderen Männer im Obdach viel stärker waren als ihr schmaler Bruder und nach oben buckelten und nach unten traten.
Wie gern hätte sie ihren Bruder verteidigt, wie er sie damals in Kindertagen mit seinen kleinen Fäusten. Leider ziemte sich das nicht für eine Frau, für eine Pflegerin erst recht nicht. Obendrein dürfte sie nicht einmal hier sein.
Grete drückte ihren Bruder noch fester an sich. Sie konnte jede seiner Rippen spüren. Er war immer zart gewesen, aber in einer Einrichtung wie dieser bekam er eindeutig zu wenig Nahrung. Und er war der Sensiblere von ihnen beiden, trotz seiner drei Jahre Vorsprung.
Seit seinem Unfall war Johann ein Schatten seiner selbst und mit den Jahren hatte er sich zunehmend in sich zurückgezogen. Es war schwer, ihn überhaupt auf die Straße zu bekommen. Denn seine kaum vorhandene Nase fiel jedem sofort auf und machte ihn zu einem Aussätzigen. Manche meinten gar, er wäre ein Monster.
»Erzähl, wie ist es dir ergangen?« Grete schielte um Johann herum zu der Bleistiftskizze, die er vorhin versucht hatte zu verstecken. »Du malst wieder«, übernahm sie das Antworten selbst und betrachtete Johanns Zeichnung, als handele es sich dabei um einen kostbaren Schatz.
Sie erschrak fast, als sie erkannte, was Johann gemalt hatte: eine Engelsfigur ganz in Schwarz, der ein Flügel fehlte.
Ihr Blick wanderte von seinen Augen zur Mitte seines Gesichts.
»Darf ich?«, fragte sie. Sanft legte sie die Zeichnung zurück und deutete auf das Tuch, das ihr Bruder am Hinterkopf zusammengebunden hatte.
Johann nickte zögerlich und Grete löste den Knoten. Der Anblick dessen, was sich darunter verbarg, raubte Grete die Luft zum Atmen.
Dort, wo seine kecke, spitze Nase sitzen sollte, befand sich ein schwulstiger, nässender, unförmiger Klumpen. Es kostete Grete jedes Mal all ihre Beherrschung, um ihrem Bruder nicht zu zeigen, wie sehr sie der Anblick selbst nach den Jahren erschütterte.
Grete biss die Zähne zusammen. »Aber Johann, du sollst mir doch sagen, wenn sie wieder nässt.«
Johann ergriff Gretes Hände, führte sie weg von seinem Nasenstummel und band sich sein Tuch abermals vor Mund und Nase. »Grete, wir haben Herbst. Die Temperaturen. Die Nässe«, nuschelte er unter dem Stoff hervor.
Grete nickte. Ja, sie wusste, dass Kälte und Feuchtigkeit Gift für die Überreste der Nase ihres Bruders waren. Und sie war sich darüber im Klaren, dass er allerhöchstens bei einem Notfall im Viktoriahaus aufgetaucht wäre.
»Ich hab dir etwas mitgebracht.« Grete nahm ihren Korb, holte ein Stück Brot und einen Apfel heraus und legte sie auf den Tisch.
»Danke.« Johann biss genüsslich in den Apfel.
Grete ließ ihn essen. Als er fertig war, zeigte sie auf die Zeichnung und schmiegte sich an seine Schulter. »Darf ich dir dabei zusehen? Nur ein bisschen.«
Anstatt zu antworten, begann Johann zu zeichnen. Grete verfolgte jede seiner Handbewegungen.
Schnell verschwammen die Striche auf dem Papier in ihrem Kopf und Grete sackte neben ihrem Bruder zusammen und schlief vor Erschöpfung ein.
Grete kam aus dem Viktoriahaus. Müde, abgekämpft, den Kopf voller Rezepturen und Behandlungsmethoden. Vor dem Krankenhaus Friedrichshain gegenüber stand der großgewachsene, blonde Medizinstudent, der ihr bereits bei der Visite unangenehm aufgefallen war.
Grete wollte einen Umweg gehen, sah aber, dass er vor der Pforte Handzettel verteilte. Es schien jedoch nicht jeder einen zu bekommen, was Gretes Interesse weckte. Sie trat näher heran, stellte sich an die hölzerne Verkaufsbude neben der Pforte des Krankenhauses und betrachtete die Schlagzeilen der dort ausgehängten Zeitungen. Glanzvolle Premiere im Theater des Westens mit Tausendundeine Nacht. Ehrung für Rudolf Virchow: Marmorbüste zum 80. Geburtstag enthüllt. Berliner Elektricitäts-Werke erweitern Versorgung auf Rixdorf.
Einer der Ärzte lief in Richtung Pforte. Grete wendete sich schnell ab, hörte aber genau hin.
Der Medizinstudent reichte dem Doktor einen Handzettel. »Werden Sie Mitglied in der Berliner Medizinischen Gesellschaft. Vorsitzender ist der weltbekannte Mediziner, Pathologe und Politiker Professor Rudolf Virchow.«
Der Arzt nickte anerkennend.
»Als Mitglied können Sie gleich morgen bei diversen Vorträgen die neuesten Heilmethoden und Operationstechniken der Chirurgie und Orthopädie kennenlernen.«
Jetzt war Gretes Interesse endgültig geweckt. Kurzerhand lief sie zur Pforte und hielt dem Studenten die offene Hand hin, damit er ihr einen Zettel reichte.
Der sah sie irritiert an. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Grete nickte in Richtung des Stapels Blätter. »Der Vortrag morgen interessiert mich. Ich bin Viktoriaschwester in Ausbildung.«
Der Student lächelte mokant. »Sie kenne ich doch. Nicht auf den Mund gefallen, hm?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Aber selbst für erfahrene Krankenpflegerinnen wäre das nichts«, sagte er belehrend. »Die Berliner Medizinische Gesellschaft steht nur Medizinern und Studenten der Medizin offen.«
»Und der Vortrag?«
Der Hochschüler schüttelte den Kopf. »Auch der ist wissenschaftlicher Natur und nur für studierte Mediziner.« Er beugte sich zu Grete herab. »Selbst manche Ärzte der Charité werden nicht alles verstehen.«
Grete zwang sich interessiert zu nicken. »Könnte ich trotzdem einen Handzettel bekommen? Ich müsste mir ein Rezept notieren.«
Der Student hielt das Blättchen in die Höhe. »Ein Kochrezept oder ein medizinisches?«
»Eines zum Kochen natürlich.« Grete setzte ein Lächeln auf.
Der Student hielt den Zettel ein wenig näher zu Grete, aber immer noch außerhalb ihrer Reichweite. »Und ich werde zur Verkostung eingeladen?«
»Nur, wenn mir das Menü perfekt gelingt«, antwortete Grete. »Aber dafür brauche ich den Handzettel.«
Der Student reichte ihr diesen. »Ich hoffe, Sie halten Ihr Versprechen. Denn ich vergesse niemals ein apartes Fräulein.«
»Und ich niemals einen arroganten Studenten der Medizin«, entgegnete Grete, wedelte mit dem Handzettel und ließ den jungen Mann stehen.
Grete ging über die Ebertbrücke, das Spreeufer entlang und vorbei an der Königlich Chirurgischen Klinik. Hinter deren ausladendem Hof stand das Langenbeck-Haus, ein dreigeschossiges Backsteingebäude, in dem die Berliner Medizinische Gesellschaft residierte.
Grete hatte überlegt, ob sie ihre Schwesterntracht anziehen sollte, sich schlussendlich aber dagegen entschieden. Wenn ausschließlich die Herren Mediziner dem Vortrag beiwohnen durften, würde sie in diesem Aufzug nicht einmal in das Gebäude hineingelangen.
Frauen waren im Medizinstudium im Deutschen Reich lediglich als Gasthörerinnen zugelassen, promovieren durften sie nur in absoluten Ausnahmefällen.
Allerdings konnte sie sich schlecht als Mann verkleiden. Wenn man sie dabei entdecken würde, hätte das einen Skandal allererster Güte zur Folge.
Zudem wurde sie in zwei Stunden wieder im Viktoriahaus erwartet. Mehr noch, eine der finalen Prüfungen zur Viktoriaschwester stand an.
Eine unglückliche Konstellation, die für Grete zusätzliche Motivation war, den Stoff rechtzeitig zu lernen, sodass sie glaubte, sich diesen Ausflug erlauben zu können.
Grete sah, dass am Eingang des Langenbeck-Hauses Männer in Frack und Zylinder in das Gebäude hereinströmten. Ein älterer Hausangestellter kontrollierte den Zugang.
Schnellen Schrittes folgte sie den Herren. Je heftiger der Ansturm am Eingang, desto besser für sie. Sie hielt sich dicht hinter einem großen Schwarzhaarigen im Frack.
»Entschuldigung Fräulein?« Der Hausangestellte hielt seine Hand an ihre Schulter. »Das ist eine geschlossene Gesellschaft.«
Sie nahm den Handzettel hervor und deutete darauf. »Doktor Müller hat mir gesagt, dass er hier ist. Ich habe eine dringende Nachricht für ihn, die ich ihm persönlich überbringen muss.« Grete blickte betroffen drein. »Ein Trauerfall in der Familie.« Sie nahm ein Taschentuch und tupfte sich die Augen.
Der Hausangestellte nickte betreten und ließ sie ein.
Grete betrat staunend eine imposante Flurhalle, einen solch opulenten Kronleuchter an der Stuckdecke hatte sie noch nie gesehen. An der rechten Längsseite der mit dunkler Holzvertäfelung verzierten Halle befand sich die Garderobe und dahinter bemerkte sie die einzigen Frauen weit und breit.
In kleinen Grüppchen unterhielten sich gut situierte Männer in edelster Kleidung. Nur wenige standen so verloren herum, wie sie sich fühlte.
Links sah sie einen Tisch mit Tabletts, auf denen sich gefüllte Wasserkaraffen und leere Gläser befanden.
Ein Gong ertönte und die Männer gingen eine steinerne Treppe zur Wandelhalle im ersten Obergeschoß empor. Wenn die Angaben auf dem Handzettel stimmten, begann der Vortrag gleich. Männer drängten sich an ihr vorbei und Grete bemerkte, wie einige Blicke auf ihr haften blieben.
Sie schaute schnell auf den Boden.
Keiner der Ärzte hatte eine weibliche Begleitung mitgenommen, Ordensschwestern oder Oberinnen waren ebenfalls nicht zu sehen. Ihr Plan war gescheitert.
Wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie einfach wieder ging und niemandem davon erzählte. Rasch lief sie in Richtung Ausgang.
»Entschuldigung, würden Sie mir bitte ein Wasser reichen?«
Grete sah auf. Vor ihr stand ein älterer Mann, der auf die kleine Anrichte mit den Gläsern deutete. Offensichtlich hielt er sie wegen ihres grauschwarzen, einfachen Kleides für eine Hausangestellte.
»Natürlich«, antwortete Grete schnell, schenkte dem Mann aus einer der Karaffen Wasser ein und reichte ihm das Glas.
Er bedankte sich und lief die Treppe nach oben. Sofort nahm Grete eines der Tabletts, füllte ein gutes Dutzend Gläser mit Wasser und stellte sie darauf. Das Servierbrett vorsichtig auf ihren Armen balancierend, stieg sie die Treppe hinauf.
Zum Glück hatte sie bereits während der Ausbildung zur Pflegerin stets eine ruhige Hand bewiesen.
Oben in der Wandelhalle fiel ihr Blick als Erstes auf eine Büste der ehemaligen Kaiserin Augusta, die verstorbene Gemahlin von Wilhelm I.
In der Halle fanden sich weitere Büsten. Laut der Anschrift darunter allesamt Chirurgen, die Grete nicht kannte.
Durch drei offene Flügeltüren strömten die letzten Mediziner in das Auditorium. Grete lief ihnen hinterher, das Tablett immer noch auf ihren Händen tragend.
Im Auditorium blieb ihr beinah der Atem stehen.
Unter ihr lagen mindestens fünfhundert Sitzplätze, die sich über drei Geschosse erstreckten. Tageslicht strömte durch eine gläserne Kuppel in den Raum.
Außerdem beleuchteten vier Bogenlampen und zusätzliche Glühlichter den Saal. Hinter dem Rednerpult hingen die in Gold gerahmten Porträts bekannter Mediziner. Seitlich unter dem Pult saß ein Schreiberling, der alles protokollierte und rechts und links davon in den Bänken ein knappes Dutzend gesetzter Herren. Vermutlich der Vorstand der Medizinischen Gesellschaft.
Es war alles unendlich viel größer, als Grete es sich vorgestellt hatte. Sie war derart beeindruckt, dass sie beinah ihr Tablett hätte fallen lassen.
Staunend blieb sie am oberen Rand des Auditoriums neben den Flügeltüren stehen. Jetzt, da sie wie eine Hausangestellte agierte, hoffte sie, dass niemand Notiz von ihr nahm.
Leider kam nach wenigen Sekunden ein schwarzhaariger Mann Anfang dreißig mit einem Notizblock in der linken Hand auf sie zu. Er nahm sich ein Glas Wasser und trank es in einem Schluck aus.
»Sie sind meine Rettung«, sagte er, stellte das leere Glas wieder auf ihr Tablett und nickte ihr freundlich zu.
Grete zuckte unbeholfen mit den Schultern und lächelte schüchtern zurück.
Der Mann musterte sie ein paar Augenblicke zu lang, dann nahm er eine Visitenkarte aus seiner Manteltasche und legte sie auf ihr Tablett. »Eine Frau in diesen Kreisen … Sie müssen etwas ganz Besonderes sein.« Er beugte sich näher zu ihr und flüsterte. »Wenn Sie mir erzählen wollen, wie Sie es hier rein geschafft haben, wissen Sie jetzt, wo Sie mich finden.« Er deutete auf die Visitenkarte, zwinkerte ihr zu und setzte sich auf einen Platz drei Reihen unter ihr.
Grete lief rot an. Sie wusste nicht, was sie von der Situation halten sollte. Auch wenn der Mann durchaus charmant und gepflegt war, war es ihr unangenehm. Sie sah sich unauffällig um. Zum Glück schien niemand seine Bemerkung registriert zu haben, noch sich an ihrer Anwesenheit zu stören.
Dann schaute sie auf die Visitenkarte. Er hatte sie mit der Beschriftung nach unten auf ihr Tablett gelegt, sodass sie diese nicht lesen konnte. Umdrehen konnte sie die kleine Karte ebenso wenig, denn sie durfte keinesfalls das Servierbrett ablegen, wenn sie nicht auffallen wollte.
Im Grunde hatte er recht. Sie hatte es geschafft, zu diesem edlen Zirkel Zutritt zu erlangen.
Weil sie etwas Besonderes war.
Das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt.
Grete strahlte innerlich, riss sie sich aber zusammen und ihre Gedanken wanderten zu dem Anlass zurück, der sie hierhergeführt hatte. Sie würde heute aus erster Hand Dinge erfahren, die nicht einmal alle Ärzte wussten.
Deshalb hoffte sie, dass sie an diesem Ort jemanden fand, der eine Idee hatte, wie man Johann helfen konnte. Nein, mehr noch: wie man ihn und seine verunstaltete Nase retten konnte.
Jemand klopfte wie ein Richter mit einem Hammer auf das Rednerpult und alle im Saal verstummten. Jetzt erst erkannte Grete, wer dort am Pult stand. Professor Virchow, der bekannteste Mediziner des Landes. Er war vor kurzem achtzig Jahre alt geworden. Er hatte kurze, graue Haare, einen ebenso melierten Vollbart und trug eine schmale Rundbrille.
Auf seine Initiative hin war das Viktoriahaus gegründet worden, weil er eine Professionalisierung der Krankenpflege für notwendig erachtet hatte, auch abseits der kirchlichen Institutionen. Er hatte zudem mit dem Krankenhaus Friedrichshain das erste städtische Hospital aufgebaut, aber auch weitere Spitäler sowie Spielplätze und Parks errichten lassen.
Über den strengen, aber liberalen Virchow kursierten viele Geschichten. Eine war Grete besonders im Gedächtnis geblieben. Virchow habe sich im Reichstag mit dem damaligen Reichskanzler Bismarck zerstritten und diesen der Lüge bezichtigt. Bismarck habe daraufhin ein Duell gefordert, was Virchow mit den Worten ablehnte, dass dies keine zeitgemäße Art der Diskussion sei.
Allerdings gab es auch das Gerücht, Virchow habe dem Duell zugestimmt und da ihm die Wahl der Waffen zufiel, habe er zwei identisch aussehende Würste präsentiert, von denen eine mit Trichinen belastet war. Also Wurmparasiten, die durchaus tödlich sein konnten. Virchow schlug vor, dass Bismarck eine der beiden Würste essen sollte, woraufhin Virchow die andere verspeisen würde.
Bismarck hatte abgelehnt.
Grete wusste nicht, ob die Geschichte stimmte, aber es stand außer Zweifel, dass Professor Virchow so viel für das deutsche Gesundheitswesen getan hatte wie kaum jemand vor ihm.
»Meine Herren Mediziner, verehrte Studenten«, begann Professor Virchow. »Ich freue mich, dass Sie so zahlreich zum heutigen Medizinischen Kongress erschienen sind. Ich möchte mich nicht lange mit einer Vorrede aufhalten, der Zeitplan ist straff und die Erkenntnisse sind viele, über die wir heute berichten wollen.« Professor Virchow schaute ins Publikum, das gebannt an seinen Lippen hing.
»Wir beginnen mit einem Vortrag von …« Professor Virchow nahm die Tagesordnung und las offensichtlich den Namen ab. »…von Dr. Joseph Abbel, der an der Universitätspoliklinik für orthopädische Chirurgie des geschätzten Kollegen Professor Wolff praktiziert.«
Zustimmendes Murmeln war im Saal zu hören.
Professor Virchow sah mit strenger Miene auf, als verbitte er sich die Störung. »Dr. Abbel hat ein Demonstrationsobjekt mitgebracht. Deswegen findet sein Vortrag als Erstes statt.« Professor Virchow bat Dr. Abbel mit einer Handbewegung nach vorn zu kommen.
Grete war überrascht, wie jung dieser Arzt war. Knappe dreißig, schlank, schwarzes, schütteres Haar, ein buschiger Schnauzbart zierte dessen Oberlippe.
Noch erstaunlicher war der vielleicht achtjährige Junge, den er an seiner Hand nach oben zum Rednerpult führte.
Wieder erhob sich Gemurmel im Publikum und Dr. Abbel räusperte sich. »Vielen Dank, dass mir die Gelegenheit zu Teil wird, meine neuesten Forschungserkenntnisse vor so einem illustren Kreis vorzustellen.« Dr. Abbel strich sich nervös über die Stirn, obwohl Grete gar keinen Schweiß dort hatte erkennen können.
»Ich habe diesen Jungen mitgebracht«, sagte Dr. Abbel und wandte sich an den Vorstand der Medizinischen Gesellschaft. »Schauen Sie ihn sich an. Er sieht aus wie jeder andere normale Junge, hat ein hübsches Gesicht, oder?«
Die Herren vom Vorstand standen auf und musterten den Jungen. »Ich kann keine Auffälligkeiten erkennen«, sagte einer von ihnen. »Ich hoffe, Sie wollen uns nicht nur die Zeit stehlen.«
»Keineswegs«, entgegnete Dr. Abbel. »Ich darf mir erlauben, Ihnen eine Fotografie zu zeigen, auf der zu sehen ist, wie der Junge vor meinem Eingriff ausgesehen hat.« Er reichte unter den Vorstandsmitgliedern ein Foto herum, die diese interessiert studierten.
Sogleich zog Dr. Abbel neben sich einen Vorhang auf. Dahinter kam eine mindestens zwei auf drei Meter große Zeichnung zum Vorschein. Ein Porträt des Jungen mit abstehenden Ohren. »Sie sehen darauf eine realistische Nachbildung der Fotografie, die ich dem Vorstand gereicht habe.« Er nahm einen Zeigestab und deutete auf die Ohren auf der überdimensionalen Zeichnung. »Sehen Sie die furchtbar abstehenden und großen Ohren, unter denen der Junge vor dem Eingriff gelitten hat?« Dr. Abbel schaute ins Publikum. »Seine Mutter hat mich bekniet, ihm zu helfen. Der Junge litt sehr unter der Situation und wollte nicht mehr zur Schule gehen.«
Während Dr. Abbel mit seinen Erklärungen fortfuhr, in denen er die Details der Operation schilderte, kam ein Vorstandsmitglied nach dem anderen zu dem Jungen und begutachtete meist ungläubig kopfschüttelnd dessen Ohren.
Grete beobachtete alles fasziniert. Kurz sah sie zu dem geheimnisvollen Mann, der ihr seine Visitenkarte gereicht hatte und sich nun eifrig Notizen machte.
Schließlich trat sogar Professor Virchow zu dem Jungen und musterte dessen Ohren. »Einwandfreie Arbeit.« Er schüttelte Dr. Abbel die Hand. »Von Ihnen wird man noch hören.«
Im Publikum brandete spontan Applaus auf.
Dr. Abbel deutete eine Verbeugung an und stellte sich danach kerzengerade hin. »Ich habe eine Vision.« Stolz schwang in seiner Stimme mit. Die Zuhörer verstummten und blickten ihn gespannt an. »Ich denke, wir alle sind uns einig, dass Menschen nicht länger unter Krankheiten und anderen Gebrechen leiden sollten. Aber ich finde auch, dass Menschen keine Qualen wegen ihres Äußeren erfahren sollten.«
»Hört, hört!«, riefen einige, während anderen vor Erstaunen der Mund offen stehen blieb.
Grete spürte, wie ihr bei diesen Worten das Herz aufging. Endlich gab es jemanden, der verstand, wie es Personen wie Johann ging. Der wusste, was all die Krüppel und Verunstalteten ertragen mussten.
»Und um diesen Menschen helfen zu können, rege ich an, eine plastische Chirurgie aufzubauen, die sich solcher Behandlungen mit der notwendigen medizinischen Expertise annimmt.«
Vereinzeltes Klatschen war zu hören. Grete hätte auch gerne geklatscht, aber mit dem Tablett in ihren Händen ging das nicht. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und trat einen Schritt nach vorn. »Können Sie auch andere Körperteile operieren, verunstaltete Nasen beispielsweise?« Grete merkte sofort, wie sich alle Blicke auf sie richteten.
Dr. Abbel setzte zu einer Antwort an, doch Professor Virchow schnellte von seinem Platz auf den Bänken neben dem Podium nach oben, als sei er keine achtzig, sondern allenfalls dreißig. »Wie üblich werden Fragen erst im Anschluss an den Vortrag beantwortet.« Er blickte Grete tadelnd an. »Im Übrigen, Fräulein, was um alles auf der Welt haben Sie hier zu suchen?«
Nun waren erst recht alle Blicke auf Grete gerichtet. Sie schluckte und wünschte sich, sie hätte nicht gefragt. »Ich bin eine Viktoriaschwester«, sagte sie schnell.
Das Publikum im Auditorium lachte. Professor Virchow winkte unwirsch ab. »Selbst wenn Sie Victoria, die Königin von Großbritannien wären, hätten Sie hier nichts zu suchen. Diese Veranstaltung ist ausschließlich den Mitgliedern der Medizinischen Gesellschaft vorbehalten.«
»Aber mein Bruder …«
»Verlassen Sie bitte augenblicklich den Saal, sonst lasse ich Sie entfernen.«
Grete nickte und wandte sich der verschlossenen Flügeltür zu.
Der Unbekannte mit dem Notizblock sprang von seinem Platz auf und öffnete ihr die Tür. Er sah sie mitfühlend an. »Ein kleiner Rat von mir, nie die Deckung aufgeben«, flüsterte er. »Das gilt im Krieg genauso wie beim Skatspiel, aber vor allem, wenn man inkognito unterwegs ist.« Er zwinkerte ihr zu.
Grete trat hinaus in die Wandelhalle.
Der Mann nickte ihr noch einmal zu, führte seinen Zeigefinger zum Mund und ließ die Tür angelehnt. Sie blieb einen kleinen Spalt weit offen. Er verschwand dahinter, bevor sie sich bedanken konnte.
Grete schaute sich um. Die Wandelhalle war verwaist. Alle Angestellten schienen sich in anderen Räumlichkeiten aufzuhalten.
Grete stellte das Tablett auf einer Anrichte ab und legte behutsam ihren Kopf an die angelehnte Tür des Auditoriums. Ihre Angst, dass sich die Tür bewegen und sie auffliegen würde, war jedoch so groß, dass sie den Blick wieder hob und stattdessen durch den Türspalt linste.
Sie beobachtete Dr. Abbel, der noch immer die Details der Operation erklärte und mit seinem Zeigestock auf dem Bild herumfuhr.
Plötzlich sah sie, wie ein Mann aus dem Auditorium mit schnellen Schritten auf die Tür zukam. Grete schaute genauer hin und erkannte Dr. Lichte, den Chirurg aus dem Krankenhaus Friedrichshain. Wenn er sie verriet, war alles verloren.
Andererseits konnte es gut sein, dass er sie in dem großen Auditorium nicht erkannt hatte.
Schnell stellte sich Grete an die Wand hinter der Flügeltür, sodass sie von dieser verdeckt wurde, sobald sie sich öffnete.
Dr. Lichte trat hinaus in die Wandelhalle, sah sich um, als suche er sie. Er seufzte, nahm seine Taschenuhr, schaute darauf und verließ das Gebäude.
Schnell schloss Grete die Tür wieder bis auf einen Spalt und wagte sich erst nicht, noch einmal hindurchzusehen.
Gedämpft hörte sie von dahinter die Stimme von Dr. Abbel.
Als sie wieder hinter den Türspalt trat, sprach der Arzt gerade ein paar Dankesworte und erneuerte seine Vision, dass in Zukunft niemand wegen seines Aussehens leiden sollte.
Im Publikum brandete Beifall auf, vereinzelt hörte Grete jedoch auch Unmutsbekundungen.
Nun trat wieder Professor Virchow an das Rednerpult. »Dr. Abbel, vielen Dank für den spannenden Vortrag. Ich bin beeindruckt, wenngleich die ethischen Implikationen sicherlich Diskussionen auslösen werden.« Er räusperte sich. »Nun können Sie Dr. Abbel Ihre Fragen stellen, aber aufgrund des strengen Zeitplans halten Sie sich bitte kurz.«
Ein älterer Mann erhob sich. »Gab es eine medizinische Notwendigkeit für den Eingriff?«
»Nun, es gab eine seelische Notwendigkeit«, antwortete Dr. Abbel. »Und damit indirekt auch eine Medizinische.«
»Haben Sie zwischenzeitlich weitere Operationen vorgenommen?«, fragte ein anderer.
»Nein, ich wollte erst Ihre geschätzte Meinung einholen, ob wir uns diesen Zweig der Medizin erschließen sollen.«
Irgendwo schlug eine Glocke elf Uhr und Grete schluckte. Sie hätte längst unterwegs sein müssen, wenn sie nicht zur spät zu ihrer Prüfung erscheinen wollte.
Sie drehte sich gerade um, da erhob sich im Auditorium der Unbekannte. »Ich möchte kurz die Frage der jungen Dame aufgreifen. Wäre eine solche Operation auch an anderen Körperteilen möglich, beispielsweise der Nase?«
Dr. Abbel lupfte eine Augenbraue. »Nun, das müssen weitere Forschungen zeigen. Ich habe mich für den Moment ganz auf diese eine Operation konzentriert, aber grundsätzlich wäre ein Eingriff an der Nase vorstellbar. Gerade wenn man an die Herren denkt, deren Riechorgan von Syphilis entstellt ist.«
»Unerhört!«, rief jemand dazwischen. »Die sind doch selbst an ihrem Leid schuld!«
»Ich darf um Ruhe bitten!« Professor Virchow klopfte mit dem Hammer auf sein Pult. »Ich denke, weitere Fragen können Sie im Einzelgespräch mit Dr. Abbel klären. Fahren wir mit unserem nächsten Vortrag fort.«
Grete drehte sich hastig um, nahm das Tablett und brachte es geschwind die Treppe hinunter an seinen Platz. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie in all der Aufregung noch gar nicht auf die Visitenkarte des Unbekannten geschaut hatte.
Schnell nahm sie diese an sich, verließ das Gebäude und lief ein paar Meter.
Nachdem sie gestoppt hatte, drehte sie die Karte um und las: Arthur Kessler, der rasende Reporter.
Mit gehetzten Schritten betrat Grete das Viktoriahaus. Das Kärtchen des Journalisten hielt sie fest umklammert in ihrer Hand, in Gedanken war sie bereits ganz bei der Prüfung.
Grete eilte in ihr Zimmer, zog hastig ihr Kleid aus und schlüpfte in ihre Schwesterntracht.
Ohne die Dienstkleidung brauchte sie die Prüfung gar nicht erst antreten. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, dass es ihr kaum gelang, die Knöpfe ihrer Tracht ordentlich zu schließen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie es endlich geschafft. Sie griff ihre Schürze und ihr Häubchen und verließ das Zimmer.
Mit wehendem Schwesternkleid hastete Grete durch die Eingangstür auf die Straße. Dort raffte sie ihren Rock und rannte los. Wenngleich sie sich dessen bewusst war, dass sie nun zum zweiten Mal an diesem Tage alle Blicke auf sich zog. Denn es ziemte sich nicht für eine Dame, ihren Rock zu lupfen und zu rennen.
Atemlos erreichte Grete die Chirurgie. Ihre Lunge brannte, als hätte man darin ein Feuer entfacht, aber sie verlangsamte ihren Schritt nicht.
