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Beschreibung

Die Predigt spielt im Christentum bereits seit seinen Ursprüngen eine besondere Rolle. In ihr wird seit jeher das Wort Gottes verkündet und sie ist ein zentrales Element in der Liturgie. In einer einzigartigen Auswahl legt dieser Band die wichtigsten Predigten aus 2000 Jahren Kirchengeschichte vor. Über 30 Texte von der Bergpredigt über die berühmte Predigt von Galens gegen den Nationalsozialismus bis hin zu Papst Johannes Paul II. machen die Predigttradition in ihrer historischen Entwicklung fassbar und zeigen Konstanten und Wandel. Dabei werden zahlreiche christliche Strömungen berücksichtigt, so dass sich anhand der Auswahl die bewegte Geschichte des Christentums verfolgen lässt. Jede Predigt wird zum besseren Verständnis von einem renommierten Experten eingeleitet und erläutert. Ein einzigartiges Lesebuch zur Kirchengeschichte!

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Seitenzahl: 673

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|3|Große Predigten

2000 Jahre Gottes Wort und christlicher Protest

Herausgegeben vonJohann Hinrich Claussenund Martin Rössler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

|4|Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG

© 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitgliederder WBG ermöglicht.Einbandabbildung: Martin Luther © akg-images, Dr. Martin Luther © akg-images,Papst Johannes Paul II. © akg-images/picture-alliance/dpaEinbandgestaltung: Peter Lohse, HeppenheimSatz: SatzWeise GmbH, TrierGedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem PapierPrinted in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-650-40071-0

 

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-650-40124-3eBook (epub): 978-3-650-40125-0

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zu den Herausgebern

Impressum

|5|Inhaltsverzeichnis

Einleitung

 

  1 Jesus von Nazareth: Die Bergpredigt Mt 5–7

  2 Gregor von Nazianz: Über das Sprechen von Gott

  3 Aurelius Augustinus: Die Geburt des Herrn

  4 Hildegard von Bingen: Auslegung des Evangeliums Lk 21,25–33

  5 Antonio de Montesinos OP: Predigt für die Rechte der Indios

  6 Martin Luther: Predigt zur Einweihung der Schlosskirche in Torgau

  7 Heinrich Bullinger: Von rechter Hilfe und Errettung in Nöten.

  8 Georg Scherer: Predigt zur Weihe einer Kirche

  9 John Wesley: Der biblische Weg des Heils

10 Johann Joachim Spalding: Die Beruhigung auf dem Krankenbett

11 Johann Gottfried Herder: Über die Seligpreisungen Jesu

12 Johann Michael Sailer: Von einem denkwürdigen Unterschiede zwischen Andacht und Andacht

13 Charles Simeon: Evangelikaler Glaube

14 Friedrich Schleiermacher: Christi Auferstehung ein Bild unseres neuen Lebens

15 Frederick William Robertson: Das Ringen Jakobs

16 Wilhelm von Ketteler: Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zu Religion und Sittlichkeit

17 Bruno Doehring: Furchtlos und treu

18 Nathan Söderblom: Die beiden Götter

19 Albert Schweitzer: Ehrfurcht vor dem Leben

20 Albert Schmidt: Predigt über Apg 10,42–43 im Fürbitten- und Bekenntnisgottesdienst

21 George Bell: Gott über der Nation

22 Clemens August von Galen: Predigt über Lk 19,41–47

23 Otto Spülbeck: Predigt auf dem Katholikentag

24 Paul Tillich: Die Gegenwärtigkeit des göttlichen Geistes

|6|25 Martin Luther King: Ich habe einen Traum

26 Oscar Romero: Die Kirche im Dienst der persönlichen, gemeinschaftlichen und transzendenten Befreiung

27 Johannes Paul II.: Predigt anlässlich seines Pastoralbesuchs in der Schweiz

28 Klaus-Peter Hertzsch: Der Wind der Veränderung

29 Dorothee Sölle: Das Land ist voll Götzen

30 Desmond Tutu: Gottes unglaublicher Humor. Predigt bei der Trauerfeier für Christiaan Frederik Beyers Naudé

Anmerkungen

Quellen und Literaturhinweise

Abbildungshinweise

Autorenverzeichnis

|7|Einleitung

I.

Von der Predigt wird noch etwas erwartet. Das zeigt sich auch daran, dass so schlecht über sie gesprochen wird. Selten ist es, dass jemand in der Öffentlichkeit, im Gespräch in größerer Runde preisgibt, eine gute Predigt gehört zu haben, letztens erst oder in einem besonderen Moment seines Lebens von einer Predigt angesprochen worden zu sein, von ihr eine neue Lebensrichtung oder zumindest einen neuen Blick auf das eigene Leben erhalten zu haben. Üblich ist es, wenn überhaupt, mit ironisch gekräuselten Lippen darüber zu sprechen – so als sei „der Prediger“ grundsätzlich eine lächerliche, wenn nicht verdächtige Person, so als sei „die Predigt“ ein längst untergegangenes Kulturgut, komisches Relikt einer verlorenen Zeit. So hält man sie sich auf Abstand, verhindert, dass man unter ihren Einfluss gerät: „Halt mir keine Predigt!“ Für diese Haltung, diese spöttisch-heitere, aber doch bestimmte Distanzwahrung gibt es viele gute Gründe. Der beste Grund sind die ungezählt vielen schlechten, dummen, dumm machenden, abgründigen oder langweiligen, übergriffigen, herrschsüchtigen Predigten der Vergangenheit und Gegenwart.

Doch wer genau zuhört und eine Neugier auf Zwischentöne und Hintergrundgeräusche besitzt, der kann in diesem allgemeinen Schlechtreden der Predigt zumindest manchmal ein leises Interesse heraushören. Bei einigen formuliert sich in der Kritik ein zartes Bewusstsein dafür, dass es in der Predigt doch tatsächlich um etwas gehen könnte, dass sie eine Chance – häufig nicht genutzt, zugegeben, aber dennoch – ist, etwas ansonsten Unerhörtes zu Gehör zu bringen. Bei ihnen kann man eine geheime Faszination, wenn auch geschickt unter der Maske der Ironie versteckt, für den in der Tat sehr seltsamen Beruf des Predigers entdecken. Manchmal fragen sie einen dann ganz direkt: „Schreibst du deine Predigten wirklich immer selbst? Wie lange brauchst du denn dafür? Wie kommst du auf deine Ideen? Wo schreibst du deine Predigten?“ In solchen kleinen Fragen äußert sich gelegentlich ein Staunen über diese große Aufgabe und darüber, dass ein ansonsten ganz normal erscheinender Mensch sich ihr stellt: allein und ungeschützt, vor einer nur zum Teil persönlich bekannten Menschengruppe über Gott, Welt und Seele zu sprechen, also darüber etwas öffentlich zu sagen, was auch dem eigenen Leben dadurch Grund und |8|Richtung geben könnte, dass es diese kleine, endliche und gefährdete Existenz unendlich über sich hinausführt. Dass man über Gott öffentlich reden kann, sehr erstaunlich ist das. Von der Predigt wird also auch heute durchaus noch etwas erwartet – gerade von denjenigen, die schon seit Längerem keine mehr gehört haben.

II.

Predigen ist ein sehr anspruchsvoller Beruf. Das zeigt sich schon daran, dass man so leicht und schnell beschreiben sowie umstandslos viele Beispiele dafür anführen kann, was eine schlechte Predigt ist. Langweilige Predigen in schlechtem Deutsch, kirchentheologisch richtiges, aber innerlich hohles Gerede ohne erkennbaren Bezug zu irgendjemandes Leben, eingetrocknete Bibelexegese, pastoralpathetisches Gedröhn, das die Leere zu übertönen versucht, dadurch aber umso lauter zum Ausdruck bringt. Hilflose Versuche, sich von woandersher Bedeutung zu borgen, indem man zum Beispiel vermeintliche Aktualitäten benennt, politische Problemlagen mehr schlecht als recht beschreibt und moralische Lösungen vorschlägt, von denen jeder im Raum jedoch weiß, dass sie nicht taugen. Oder indem man Allerweltsweisheiten zu allen möglichen individuellen Lebensnöten vorträgt, die man in jedem Ratgeberbuch besser und bequemer nachlesen könnte, für die man also sonntags nicht so früh aufstehen müsste, oder gut gemeinte, aber sehr schlecht gemachte Klimmzüge ins Spirituell-Poetische, die irgendein Gefühl hervorrufen sollen, von dem jedoch keiner zu sagen wüsste, wofür es denn gut wäre. Diese Liste ließe sich leicht lang und breit ausführen. Aber das ist ein ganz unfruchtbares Geschäft. Predigen ist eine geistige Tätigkeit, die nicht dem Grundgesetz der Naturwissenschaften gehorcht, dass Wissensfortschritte vornehmlich durch Falsifikationen zustande kommen: Indem man eine ältere Theorie als falsch erweist, hat man schon die Grundlage für eine neue, bessere, wahrere Theorie geschaffen. So funktioniert das Predigen leider nicht. Das wäre ja schön einfach, wenn man die Ursachen für schlechtes Predigen sammeln und so analysieren könnte, so dass man dann in einem flinken Umkehrschluss folgern könnte, wie es denn richtig ginge. Deshalb sollte man sich mit schlechten Predigten nicht allzu lange aufhalten. Man kann nichts aus ihnen lernen. Sie werden zum Glück auch sehr schnell vergessen.

|9|Allerdings – auch mit dieser Möglichkeit ist zu rechnen – hat es auch schon Predigten gegeben, die objektiv und mit Blick auf alle Kunstregeln schlecht waren, unbeholfen und missraten, und die doch ihre Zuhörer gefunden und ihnen etwas Gutes gegeben haben. Man darf nicht vergessen: Manchmal ist das Predigthören ein aktiverer, konstruktiverer Vorgang als das Predigthalten, in dem die Hörer dem Gesagten etwas entnehmen, was dort gar nicht explizit enthalten war (dies ist besonders häufig bei den sogenannten „Amtshandlungen“ der Fall, den Gottesdiensten zu Taufe, Trauung und Beerdigung, die – hoffentlich – deutlich persönlicher ausfallen als der „amtliche“ Sonntagsgottesdienst). Selbst wenn man also gutbegründet sagen kann, was eine schlechte Predigt ist, kann man sich dabei nie ganz sicher sein, ob sie nicht doch etwas Sinnvolles bewirkt. Auch deshalb ist es besser, sich weniger mit den schlechten Predigten zu befassen, sondern sich der viel schwierigeren Aufgabe zu stellen, nämlich zu klären, was denn eine gute Predigt ist. Ja, was für ein Ding ist das und wie kriegt man es zustande?

III.

Wie man richtig zu predigen habe, welche Inhalte man vermitteln und welche Methoden man dabei verwenden sollte, dazu gibt es viele theologischen Theorien. Klug sind sie oft, scharfsinnig und tiefgründig. Aber ob sie einem bei der wöchentlichen Aufgabe des Predigtmachens und der sonntäglichen Pflicht des Predigthaltens wirklich helfen, darf bezweifelt werden. Hilfreicher wäre es, wenn ein erfahrener, kritisch-genauer, dabei aber freundlich zugeneigter Mitmensch regelmäßig die eigenen Predigten anhörte und einem davon berichtete, was und wie er es gehört habe. Denn eine Predigt ist ja nicht die Durchführung eines Theorieprogramms, sondern Teil eines Gesprächs: des eigenen inneren Gesprächs und des Gesprächs mit anderen über das, was einen unbedingt angeht. Deshalb kann man für das eigene Predigen am meisten aus ehrlichen Gesprächen nachher und vorher gewinnen. Doch lässt sich das häufig nicht gut organisieren.

Für die eigene Urteilsbildung, die Arbeitskontrolle, das Besserwerden sind ersatzweise Kriterien hilfreich; Merkposten, Wegweiser, Grenzmarkierungen. Kürzlich wurde in der Schweiz ein reformierter Predigtpreis ausgerufen. Die Jury hatte sich für die Beurteilung auf eine Liste von Kriterien geeinigt, die den klassischen Stichworten der antiken Rhetorik „delectare“, |10|„movere“ und „docere“ folgt. Eine Predigt soll erstens Vergnügen bereiten, indem sie spannend zu hören ist, die Aufmerksamkeit gleich zu Anfang weckt und bis zum Ende wach hält. Sie soll zweitens bewegen, indem sie existentiell anspricht, das Leben des Einzelnen, der Gemeinde und Gesellschaft in ein neues Licht stellt. Sie soll drittens lehrreich sein, indem sie Informationen und Gedanken vermittelt, die es wert sind, dass man sie weiß. Zusätzlich über diese drei antiken Kriterien hinaus hat die Jury drei Kriterien benannt, die besonders für die evangelische Predigt wichtig sind. Die Predigt soll sich viertens mit dem Bibeltext ernsthaft auseinandersetzen, so dass er als eigene Stimme laut wird. Sie soll fünftens eine theologische Botschaft formulieren, die durchdacht und stimmig ist. Sie soll sechstens persönlich sein, so dass der Mensch, der diese Predigt hält, als Individuum und in seiner Rolle sichtbar wird. Das ist ein anspruchsvolles Programm, zugegeben. Aber billiger ist eine gute Predigt nicht zu haben.

Hilfreich aber ist noch etwas anderes. Eine gute Predigt ist ja nicht nur ein Werkstück theologischer und rhetorischer Arbeit, das eine Fülle von Kriterien erfüllt. Ob eine Predigt wirklich gut ist, so dass man sie gern hört, man sich von ihr ansprechen lässt, sie zu einem vordringt, sie einen durchdringt, das hat oft genug nicht allein mit dem Inhalt, den tatsächlich gesprochenen Worten zu tun, sondern mit der Art des Predigers: wie er da steht, wie er sich hält, wie er einen anschaut oder auch nicht, wie man ihn vorher oder nachher auf der Straße erlebt. Dafür gibt es erst recht keine Theorie – aber ein schönes und hilfreiches Wort. Es stammt von Johann Joachim Spalding, dem Meister der aufgeklärten Predigt. Er sagte von sich, dass er seiner Gemeinde als „ein ehrlicher, weiser, heiterer, menschenfreundlicher Mann“ begegnen wolle, und hat damit auf beiläufige Weise das vielleicht Wichtigste dazu gesagt, welche Haltung ein Prediger einnehmen muss: 1. Er sollte ehrlich sein, also nichts sagen, was er nicht wirklich sagen kann, aber auch nichts zurückhalten, von dem er glaubt, dass er es sagen muss; 2. er sollte weise sein, also wissen und selbst erfahren haben, wie das Leben ist und was ihm dient; 3. er sollte heiter sein, d.h. nicht lustig, kein beifallssüchtiger Spaßmacher, aber auch kein Miesmacher und Niederdrücker, sondern einer, der so spricht, dass es seinen Zuhörern am Ende leichter wird; 4. er sollte menschenfreundlich sein, also dem Menschen in all seiner Schwäche nicht feindlich gesonnen, sondern ein Zeuge der Menschenfreundlichkeit Gottes sein. Vier kleine Adjektive – wer regelmäßig an sie denkt, wird nicht alles falsch machen.

|11|IV.

Sehr viel aber lernt man über und für das Predigen zudem, wenn man gute Predigten hört – oder, wenn das nicht möglich ist, zumindest liest. Dem dient dieses Buch. Es stellt beispielhaft gute und bedeutende Predigten vor. Damit will es einen Beitrag dazu leisten, dass wieder stärker bewusst wird, was für ein Kulturgut die Predigt ist, was sie geleistet hat und immer noch leisten kann, wie viel man von ihr erwarten sollte. Damit könnte das Interesse der Hörenden geweckt und die Moral der Predigenden gefördert werden. Die Predigt war wichtig für die Geschichte unserer Religion und darüber hinaus für unsere Kultur. Die Predigt ist heute noch wichtig in der Kirche und darüber hinaus in einer Gesellschaft, in der es die öffentliche Rede allgemein schwer hat. So wie die Kirche einer der letzten Orte ist, in denen Menschen öffentlich und gemeinsam singen, ist sie auch einer der letzten Orte, in denen regelmäßig Reden über Bedeutsames gehalten werden. Auch wenn man zugeben muss, dass viele davon misslingen, sollte man sich die Bedeutung der Predigt nicht wegreden lassen. Die Erinnerung an große Predigten der Vergangenheit mag dabei hilfreich sein.

Diese Sammlung bietet einen langen Gang durch die Geschichte der Predigt: mit Jesus als dem Urbild des Predigers, mit dem fernen Reichtum antiker und mittelalterlicher Theologie und Rhetorik, mit den Reformationen der Predigt in der frühen Neuzeit sowie den großen Umwälzungen in all den auf sie folgenden Modernisierungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Fast die ganze Geschichte des Christentums, aber auch der westlichen Welt lässt sich an den großen Predigten dieser Epochen ablesen. Das bietet eine erstaunliche, Staunen erregende Lektüre. Man staunt über die Klugheit, die Kunst, den Mut, die Sensibilität, die Originalität vieler dieser Predigten. Man staunt über den Glauben, der sich darin äußert. In diesem Staunen steckt jedoch zweierlei: eine Bewunderung, aber auch ein Befremden. So stark haben diese Menschen glauben und von ihrem Glauben Zeugnis ablegen können – das möchte man auch können. Zugleich aber sind viele Sicherheiten, die die großen Prediger der Vergangenheit bestimmt und gestützt haben, schwächer geworden oder abhanden gekommen – so kann man heute deshalb nicht mehr predigen. Doch muss das nicht heißen, dass man deshalb das Predigen sein ließe. Man sollte sich von den Vorbildern der Geschichte viel eher anregen lassen, es weiterhin zu versuchen – allerdings auf eine eigene Weise. Denn das ist immer noch das wichtigste Kriterium einer guten Predigt: dass sie |12|– wie schlau, gebildet, kunstvoll, dramatisch gelungen oder auch nicht – ein eigener Versuch ist.

Eins noch, auch auf diesen Gedanken kann man beim Lesen dieses Buches kommen – und dieser Gedanke kann einen verunsichern oder bestärken: So bedeutsam, großartig und bewundernswürdig viele der hier gebotenen Predigten auch sein mögen, sie waren im letzten alle wirkungslos. In einem direkten, handgreiflichen Sinne haben sie allesamt nichts ausgerichtet: die Sünde nicht ausgerottet, die Gottesferne nicht überbrückt, die Zweifel nicht besiegt, die Gewalt nicht beendet, die Ungerechtigkeit nicht aufgehoben, der Zerstörung nicht gewehrt. Auch die besten Predigten bleiben machtlose Worte, wehrlos, nackt und ungeschützt. Man mag das tragisch finden. Man könnte aber auch gerade darin ein Zeugnis für den Gott erkennen, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist.

Johann Hinrich Claussen

|13|Jesus von NazarethDie Bergpredigt Mt 5–7

 

|14|Einführung

Die im Matthäusevangelium in Kapitel 5 bis 7 überlieferte „Bergpredigt“ Jesu hat über die Jahrhunderte eine reiche Wirkungsgeschichte entwickelt: Armutsbewegungen wie die des Franz von Assisi, Friedenskirchen wie die Mennoniten oder Quäker und auch die politische Friedensbewegung der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bezogen sich besonders auf diesen Bibeltext. Auch unser Sprichwortschatz ist durch die Bergpredigt bereichert: Das Licht, das man nicht unter den Scheffel stellt (vgl. 5,15), dass man nicht zwei Herren dienen kann (6,24), die Rede vom „Balken im eigenen Auge“ (7,3), vom Haus, das auf Sand gebaut ist (7,26), die „Lilien auf dem Felde“ (6,28) und die „Wölfe im Schafspelz“ (7,15) – all das ist über die Lutherübersetzung des griechischen Textes in unseren Sprachschatz eingegangen. Auch das die weltweite Christenheit verbindende Gebet „Vater unser“ ist uns durch die Bergpredigt überkommen (6,9–13).

Die so genannte Bergpredigt ist allerdings nicht eigentlich eine „Predigt“ und geht auch nicht in dieser Form auf Jesus zurück, den jüdischen Lehrer, der gegen 30 n.Chr. in Jerusalem gekreuzigt wurde. Es ist vielmehr eine Rede, die etwa fünfzig Jahre später aus Worten Jesu, die durch seine Anhängerinnen und Anhänger überliefert wurden, sorgfältig komponiert wurde. Verfasser ist ein uns unbekannter, jüdisch geprägter Schriftgelehrter, den wir mit der Tradition Matthäus nennen; vielleicht war es auch eine Gruppe von Theologinnen und Theologen. Jedenfalls spiegelt das Evangelium die Erfahrungen von Christusgläubigen etwa 80 n.Chr., die Verfolgung um ihres Glaubens willen erlebten (vgl. 5,10), vermutlich in Syrien.

Auch wenn „Matthäus“ als Verfasser gilt, nimmt man an, dass die meisten dieser Worte auf Jesus selbst zurückgehen und bei verschiedenen Gelegenheiten seiner Wanderschaft durch Israel als Reaktion auf konkrete Situationen für die Menschen seiner Welt formuliert wurden. Es waren einfache, durch das agrarische Leben geprägte Menschen, die in der seit 100 Jahren von den Römern besetzten und von jüdischen Klientelkönigen regierten Region Palästina, vor allem in Galiläa, ein Leben in Armut und ohne die Möglichkeit politischer Einflussnahme führten. Jesu in der aramäischen Volkssprache geäußerten Lebensweisheiten, Aphorismen und Gleichnisse wurden zunächst mündlich tradiert, dann ins Griechische übersetzt, gesammelt und dabei auch immer wieder aktualisiert.

Die „Bergpredigt“ ist also nicht wie Predigten sonst Auslegung eines Textes oder Kommentierung einer aktuellen Problematik. Vielmehr hat der |15|Evangelist Lebensanweisungen und Verheißungen der Jesustradition ringförmig um das Vaterunser gelegt, die die Situation der Jesusrede transzendieren. Ihr gemeinsames Anliegen ist es zu zeigen, wie der Mensch diejenige Gerechtigkeit im Leben umsetzt, die Gott und seinem Willen entspricht. Schlüsselworte sind „Gerechtigkeit“ (dikaiosyne; 5,6.10.20; 6,1.33) und „Reich Gottes“ bzw. „Himmelreich“ (basileia ton ouranon; 5,3.10.19.20.; 6,33; 7,21). Unter ihnen verbinden sich die Zusage, an diesem Reich Gottes teilzuhaben, und hohe Forderungen an ein gerechtes Ethos, das zur Teilhabe an Gottes Reich Voraussetzung ist. Die Spannung zwischen Zusagen und Forderungen eröffnet verschiedene Lektüren des Textes und macht ihn so reich, dass er immer wieder religiöse Aufbrüche inspirieren konnte.

Matthäus hat diesen Jesusworten in der Komposition seines Evangeliums eine besondere Bedeutung gegeben: Er situiert die Rede auf einem Berg in Galiläa (5,1). Berge sind Orte besonderer Gottesoffenbarung, wie schon die Gabe der Tora an Mose auf dem Berg Sinai geschah. Nach dem Matthäusevangelium ist es die erste, umfassende Lehre Jesu, die maßgeblich wird auch für alles, was die späteren Missionarinnen und Missionare „alle Völker“ lehren sollen (28,19f.). So betont Mt 7,28f. den großen Eindruck, den die Rede gemacht hat. Und er gibt dem Geforderten Nachdruck, indem er scharfe Gerichtsworte ans Ende stellt (7,13–27), die wohl nicht auf Jesus zurückgehen. Sie sollen einschärfen, dass es nicht reicht, diese Worte nur zu hören oder Jesus als „Herrn“ anzurufen. Man muss diese Worte auch tun, weil sie den Willen Gottes darstellen. Sonst ist man wie ein törichter Mensch, dessen auf Sand gebautes Haus im Sturm des Gottesgerichts weggeschwemmt wird (7,24–27).

Die Rede beginnt mit neun Seligpreisungen, die auf paradoxe Weise gerade die Menschen glückselig preisen, denen es im jetzigen Leben schlecht geht (5,3–12): Die „geistlich Armen“ (der Ausdruck ist unterschiedlich verstehbar, meint aber nicht, wie oft angenommen, die „geistig Behinderten“), die Leid Tragenden und die um der Gerechtigkeit willen jetzt Verfolgten. Er preist aber auch die selig, die sich jetzt anderer erbarmen und Frieden stiften. Hier klingt bereits ein zentrales Anliegen der Jesusethik an: Eine Lebensweise, die auf Frieden mit allen anderen ausgerichtet ist, auch mit den „Feinden“, und dies unter Verzicht auf eigene Interessen. Wenn es hier heißt, diese „werden Gottes Kinder heißen“, so wird damit ein Gedanke vorabgebildet, der später expliziert wird: Wie die Kinder im (antiken) Ideal ihrem Vater nacheifern, so gilt es Gott, den Vater, als seine Kinder nachzuahmen. „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute |16|und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ – so motiviert die Bergpredigt mit dem Vorbild Gottes zur Feindesliebe. Mit „lieben“ (agapan) beschreibt das frühe Christentum nicht Emotionen, die man kaum einfordern könnte, sondern tätige Hinwendung.

Die Seligpreisungen mischen so also bereits in die Verheißung einen Anspruch. Auch die anschließenden metaphorischen Prädikationen „Ihr seid das Salz der Erde!“ (5,13) und „Ihr seid das Licht der Welt!“ (5,14) verbinden diesen Zuspruch mit der Forderung nach sichtbarem Wirken in der Welt: „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen“ (5,16).

Der Hauptteil der Bergpredigt (5,17–7,12) beginnt mit den sogenannten „Antithesen“, die durch einen Vorspruch (5,17–20) und eine Summe (5,48) gerahmt sind. Die Bezeichnung als „Antithesen“ nimmt Bezug auf die antithetische Formulierung, die in Variationen sechs Mal wiederkehrt „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist … Ich aber sage euch …“ (5,21f. u.ö.). Sie ist oft so gedeutet worden, als löse Jesus hier das jüdische Gesetz ab durch die Aufrichtung einer neuen Ordnung. Aber das wäre missverstanden, wie schon die Einleitung zu diesen Mahnungen, die wir besser „Kommentarworte“ nennen sollten, bezeugt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (5,17). Der Jesus der Bergpredigt will nicht das Gesetz abschaffen, sondern bekräftigen und auslegen, indem er eine besonders ernsthafte Praxis verlangt. Sie ist letztlich eine Auslegung des Liebesgebots: Nicht erst die physische Auslöschung des anderen Menschen ist Tötung, sondern bereits der Zorn ihm gegenüber (5,22); Ehebruch beginnt bereits bei dem begehrenden Blick (5,28). Besonders eindrücklich ist das fünfte dieser Kommentarworte (5,38–42), das in drei Beispielen aus dem Leben einer bedrängten Minderheit deutlich macht, wie die Gewalt unterbrochen wird. Nicht soll nach der alten Talionsformel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, die bereits die Gewaltspirale begrenzen sollte, Gleiches mit Gleichem vergolten werden. Sondern dem, der auf die eine Wange schlägt, soll man auch die andere darbieten; die, der das Untergewand gepfändet wird, soll auch den Mantel reichen; und wer von Soldaten gezwungen wird, eine Meile Marschbegleitung zu leisten, soll eine weitere mitgehen. Diese offensive Selbstaussetzung, diese überraschende Gastfreundschaft unterbricht nicht nur den Zirkel der Gewalt, sondern zeigt beispielhaft, wie aus unterdrückten Objekten Subjekte werden können. Die paradoxe Intervention entwindet dem physisch Überlegenen die |17|Deutungshoheit und interpretiert die ehedem feindliche Situation neu. Dieses Kommentarwort zeigt beispielhaft, dass vielen der Jesusworte eine besondere Evidenz auch ohne Argumente innewohnt.

In die Forderungen, die Frömmigkeitspraxis (Almosengeben, Beten und Fasten) nicht um des frommen Augenscheins willen, sondern nur im Gedanken an Gott zu üben (6,1–18), ist das Vaterunser eingefügt. Seine je nach Zählung sechs oder sieben Bitten stehen hier als ein Beispiel dafür, wie kurz und vertrauensvoll man zu Gott beten soll. Es bedarf nicht vieler Worte, denn Gott weiß, wessen die Menschen bedürfen.

In diesem Gebet wird das Gottesbild der Bergpredigt besonders deutlich: Gott wird als der fürsorgende Vater verstanden, der das nötige Brot gibt, der denen vergibt, die selbst vergebungsbereit sind, der bewahrt vor der Versuchung, vom Glauben abzufallen. Die Vatermetapher steht für das große Vertrauen, dass sich Gott wie Eltern ihren Kindern gegenüber den Bitten der Menschen öffnet (vgl. 7,7–11). Dieses Vertrauen in Gott als Schöpfer liegt auch der Mahnung zugrunde, nicht zu sorgen (6,25–34). Wenn Gott die Vögel des Himmels, die nicht säen und ernten, und die Lilien auf dem Feld, die nicht spinnen, nährt und kleidet – hier spielt Jesus auf die Arbeitswelt der Männer und Frauen an –, wird er nicht erst recht für die Menschen sorgen?

Wer sich angesichts der Not vieler Menschen zu allen Zeiten fragt, ob das nicht naiv ist oder eine Vertröstung, sollte gewahr sein, dass in der dritten Vaterunserbitte, „dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“, die Menschen gleichermaßen gefordert sind, der gerechten Welt Gottes Wirklichkeit zu verschaffen. Wenn die zweite Bitte „dein Reich komme“ hingegen die drängende Hoffnung ausspricht, dass Gott seine gerechte Welt endgültig durchsetzt, wird deutlich, dass auch die Bergpredigt die Verwirklichung des Himmelreiches nicht Menschen (allein) zutraut.

Lebensweisheit liegt in der scharfen Kritik Jesu am Reichtum und Horten von Schätzen, die sich anschließt (6,19–24). Wer sein Herz an kostbare Stoffe, an Silber hängt, liefert es Motten und Rost aus. Man kann nicht Gott und Besitz, dem „Mammon“, zugleich loyal sein.

Die Aufforderung, auf das Richten über andere zu verzichten (7,1–5), fordert nicht nur zu Barmherzigkeit mit anderen auf, sondern auch zur Selbsterkenntnis. Erst wer sich mit dem „Balken“, der den eigenen Blick verstellt, auseinander gesetzt hat, könnte anderen helfen, den Splitter in ihrem Auge zu ziehen.

|18|Der Hauptteil schließt mit der „Goldenen Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (7,12). Wir kennen dies als Lebensweisheit aus allen Religionen, aber hier steht die Regel nicht zufällig in einer „nach oben hin offenen“ Formulierung: Es gibt kein Genug an Zuwendung zu den anderen. Darin klingt noch einmal das Liebesgebot an, das als Erfüllung von Gesetz und Propheten im Mittelpunkt der Ethik steht.

So wie das Vaterunser zu einem christlichen Identitätstext wurde, so die ganze Bergpredigt in ihrer Wirkungsgeschichte. Umso bemerkenswerter ist, dass das sich hier äußernde Vertrauen in Gott und das hohe ethische Ideal mitnichten spezifisch christlich sind, sondern ganz in der jüdischen Tradition stehen, die Jesu Lehren und Wirken wie die frühchristliche Theologie geprägt haben. Der Vergleich mit den „Pharisäern und Schriftgelehrten“ in 5,20, die in Mt 23 zu Exponenten der Heuchelei werden, hat zu einer antijüdischen Lektüre beigetragen. Doch weder von ihrer Tradition noch von ihrem Inhalt her gibt die Bergpredigt Anlass zu Überlegenheitsgefühlen oder zur Abwertung der Anderen. Vielmehr bleiben die hohen Forderungen der unbegrenzten Liebe zu den Anderen, den Verfolger, die Feindin mit eingeschlossen.

Mit der Bergpredigt könne man nicht „Politik“ machen, soll schon Bismarck gesagt haben. Und in der Tat: Die Forderungen „Richtet nicht!“ (7,1), „Liebt eure Feinde“ (5,44), „Sorgt nicht für morgen“ (6,34) sind keine Maximen für einen Staat, der das Gewaltmonopol hat und die Verantwortung für die kommenden Generationen trägt. Und doch kann die Radikalität der Forderungen wachrütteln, hat die Idee von der Gerechtigkeit des Reiches Gottes (6,33) Menschen immer wieder motiviert, Politik zu machen, um auf gerechte Verhältnisse unter allen Menschen hinzuwirken.

Doch ist die Bergpredigt überhaupt „erfüllbar“? So wird oft gefragt. Im Sinne der Bergpredigt als ganzer geht es nicht darum, perfekt zu sein. Denn im Mittelpunkt der Bergpredigt steht das Vatergebet mit der Zusage der Vergebung für die, die selbst vergeben (6,12.14). „Die Bergpredigt geht also mit ihren Leser/innen einen Weg, der sie von den radikalen Forderungen Gottes hineinführt in den ‚Innenraum‘ des Glaubens, in dem sie die Nähe des Vaters im Gebet erfahren, und von dort wieder zurück in die Praxis des Besitzverzichts und der Liebe“1.

Christine Gerber

|19|

Die Bergpredigt

Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine

Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Selig sind die Friedfertigen;2 denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.

Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.

|20|Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (2. Mose 20,13; 21,12): „Du sollst nicht töten“; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig. Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe. Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14): „Du sollst nicht ehebrechen.“ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Wenn dich deine rechte Hand zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre.

Es ist auch gesagt (5. Mose 24,1): „Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.“ Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.

Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3. Mose 19,12; 4. Mose 30,3): „Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.“ Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs. Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; |21|denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben“ (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen3, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Habt Acht auf eure Frömmigkeit, dass ihr die nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.

Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, damit dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.

Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen.

|22|Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum sollt ihr

so beten:

Unser Vater im Himmel!

Dein Name werde geheiligt.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.4

[Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]5

Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.

Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.

Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!

Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel |23|unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.

Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.

Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete? Oder, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine Schlange biete? Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!

|24|Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden!

Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel. Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!

Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß.

Und es begab sich, als Jesus diese Rede vollendet hatte, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.

|25|Gregor von NazianzÜber das Sprechen von Gott

Konstantinopel, Herbst 380

 

|26|Einführung

1. Biographisches

Noch ist die Sozialgeschichte der christlichen Literatur nicht geschrieben. Wer sich an diese Aufgabe macht, wird die enge Verknüpfung von rhetorischer Bildung und hoher sozialer Herkunft kaum übersehen. Gregor von Nazianz, der bedeutendste Rhetor der griechischen Kirche, ist ein gutes Beispiel für diesen Zusammenhang.

Gregor entstammt einer Familie alteingesessener Großgrundbesitzer im kleinasiatischen Kappadokien, wo er zwischen 325 und 330 als Sohn Gregors des Älteren und dessen Frau Nonna geboren wird. Nach der Kinderzeit auf dem elterlichen Gut mit der älteren Schwester Gorgonia und dem jüngeren Bruder Cäsarius beginnt ein atemberaubender Bildungsweg: Grundschule in Nazianz, weiterführender Unterricht im kappadokischen Cäsarea, Rhetorik im palästinischen Cäsarea, philosophische Studien in Alexandria und in Athen.

Weil das Studium der Rede im spätrömischen Imperium zugleich in sämtliches damals vorhandenes „geisteswissenschaftliches“ Wissen einführt, ist Gregor durch sein über anderthalb Jahrzehnte andauerndes Lernen nicht allein zu einem Redner, sondern auch zu einem Denker gereift. Cäsarea und Alexandria haben ihm das Erbe des christlichen Philosophen Origenes, eine Synthese aus antiker Philosophie und christlicher Religion, nahegebracht. Jahre später wird Gregor seine Verbundenheit mit dem Origenes durch die Kompilation der „Philokalia“, einer Exzerpten-Sammlung aus den Werken des christlichen Philosophen, zum Ausdruck bringen.

Auch die Bildung von Netzwerken, „Freundschaften“ in der Sprache Gregors, erfolgt während der Studienzeit. Lebenslang pflegt Gregor die – standesgemäße – Verbundenheit zur Familie des Basilios aus dem nahen kappadokischen Cäsarea, mit dem er gemeinsam in Athen studiert. Wenngleich Bischof Athanasios von Alexandria (298–373) zum Zeitpunkt des Aufenthaltes Gregors in der ägyptischen Metropole ins Exil verbannt war, so trifft Gregor dort doch auf dessen Anhänger, zu denen u.a. der christliche Lehrer Didymus der Blinde (310–398) zählt. Die theologischen Ansichten des Athanasios und seiner Anhänger hatten sich auf dem ersten ökumenischen Konzil zu Nizäa (325) durchgesetzt. Gregor wird sie nie aufgegeben. Gemeinsam mit Basilios und dessen jüngerem Bruder Gregor von |27|Nyssa wird er die „nizänische“ Theologie verteidigen und zugleich philosophisch begründen.

Kaum weniger prägend ist eine andere Begegnung während der Studien in Athen: An seinen damaligen Kommilitonen Julian (331–363), der später als römischer Kaiser dem christlichen Glauben abschwört („Apostata“) und die Restitution des Heidentums unternimmt, kann Gregor auch nach dessen Tod nur unter Schmähungen denken.

Das vierte Jahrhundert ist die Zeit der Entstehung neuer Lebensformen, der monastischen Kommunen, die das traditionelle Leben in der antiken Stadt infrage stellen. Nach seiner Rückkehr aus Athen probiert Gregor eine Zeit lang gemeinsam mit Basilios diese Lebensform aus und lebt im Kloster Annesi am Fluss Iris in der Provinz Pontus. Auch diese Lebensphase wird Gregor prägen: Zeit seines Lebens pflegt er die Askese.

Um 370 begegnet uns Gregor erstmals als Protagonist der großen Kirchenpolitik. Basilios, der in diesem Jahr zum Bischof von Cäsarea aufgestiegen ist, hat ihn aus taktischen Gründen zum Bischof des Fleckens Sasima in Kappadokien geweiht. Gregor duldet dies, wie jedes ihm aufgetragene Amt, nur mit Widerwillen. Im Jahr 379 erfolgt dann ein Karrieresprung: Gregor wird in die Reichshauptstadt Konstantinopel berufen. Mit dieser Berufung hat Gregor freilich nicht wie noch in Sasima eine Sinecure erhalten. In der Hauptstadt sind sein rhetorisches Talent und sein diplomatisches Geschick gefragt, denn die Christen in Konstantinopel sind untereinander zerstritten. Gregor soll die kleine Gemeinde der „Nizäner“, denen er spätestens seit Studientagen verbunden ist, führen. Zu diesem Zweck hält Gregor die „Theologischen Reden“, die für die nizänische Position werben. Gregors Reden werden über alles Erwarten hinaus begeistert aufgenommen. Ein halbes Jahr später wird die Position Gregors durch ein Konzil, das der Kaiser Theodosius I (†395) nach Konstantinopel einberufen hat, bestätigt. Doch schon im Sommer 381 legt Gregor noch vor dem Abschluss des Konzils sein Amt in der Reichshauptstadt nieder und kehrt – entnervt von den kirchenpolitischen Zwistigkeiten und den Intrigen der Hauptstadt – nach Kappadokien zurück. In seinen letzten Jahren entstehen mehrere Reden, Briefe und eine Autobiographie in jambischen Trimetern. Auf seinem Landsitz im kappadokischen Arianz stirbt Gregor um 390.

|28|2. Die Zweite Theologische Rede

Gregors „Reden“ zählen zu den erfolgreichsten Texten der spätantiken Welt. Nicht allein stilistisch, sondern auch inhaltlich gelten sie über viele Jahrhunderte hinweg als normativ. Ihren Verfasser bezeichnet man noch heute in der Orthodoxen Kirche schlicht als „den Theologen“. Die hier in Auszügen vorgestellte zweite Rede hat Gregor Herbst 380 in Konstantinopel vorgetragen. Mit den übrigen vier Reden steht er im unmittelbaren Vorfeld des zweiten ökumenischen Konzils zu Konstantinopel, auf dessen Entscheidung sie entscheidenden Einfluss genommen haben.

Wie jeder gute Rhetor wächst Gregor an seinem Gegner. Bischof Eunomius von Kyzikos (335–395) wiederholt nicht allein die alten Argumente des Arius (†336), die bereits auf dem ersten ökumenischen Konzil von Nizäa verworfen worden waren, sondern legt einen neuen, rationalistischen Versuch vor, von Gott zu sprechen. Eunomius traut der menschlichen Vernunft zu, Aussagen über das Wesen Gottes machen zu können. Gegen Eunomius betont Gregor die Grenzen der menschlichen Vernunft, oder, wie eine alte syrische Handschrift den Inhalt der zweiten Rede wiedergibt: „Die […] Rede wurde von ihm in Konstantinopel gehalten, um zu zeigen, dass Gott nur von seinen Geschöpfen her und nicht von dem aus, was er ist, erreicht werden kann“. Nach Gregors Ansicht ist es also allein möglich, zu erkennen, dass Gott existiert. Das Wesen Gottes bleibt der menschlichen Erkenntnis dagegen verschlossen. Mit seinen theologischen Reden wird Gregor von Nazianz gemeinsam mit Basilios’ Bruder Gregor von Nyssa zu einem Begründer einer neuen Weise des Sprechens von Gott, der sogenannten „apophatischen“ (d.h. verneinenden) Theologie. Diese Theologie übt sich in Selbstbeschränkung. Sie will allein sagen, was Gott nicht ist. Sein Wesen bleibt „Geheimnis“ und damit unbestimmbar.

Eine solche Positionierung eröffnet Gregor der Theologie neue Möglichkeiten. So ist beispielsweise die Sprache der christlichen Mystik ohne Gregors gedankliche Vorarbeit nicht vorstellbar. Freilich beenden Gregors fulminante Reden auch die Tradition der antiken Debattenkultur, denn Gregors „apophatischer“ Ansatz enthebt ja Gott, als den Gegenstand der theologischen Debatten, seiner Bestimmbarkeit. In diesem doppelten Erbe liegt die geistesgeschichtliche Bedeutung der Theologischen Reden Gregors.

Gregors Rede fließt im breiten „asianischen“ Stil der zeitgenössischen Rhetorik dahin und lässt sich mit ihren langen Satzperioden nicht ohne ästhetische Einbuße ins Deutsche übertragen.

|29|Der Gedankengang der zweiten Rede ist folgendermaßen gegliedert:

Im ersten Abschnitt (1) wird die vorausgegangene erste Theologische Rede kurz in Erinnerung gerufen. Anschließend reißt Gregor kurz die neue Fragestellung an, wie man von Gott sprechen solle. Gregor entfaltet nun (2–3) die Frage nach der Rede von Gott mit einem Hinweis auf die biblische Erfahrung der Unbegreiflichkeit Gottes: Ganz in der Tradition des jüdischen Philosophen Philo von Alexandria (1. Jh. n.Chr.) und in ähnlicher Weise wie sein kappadokischer Bischofskollege Gregor von Nyssa (†398) deutet Gregor den Aufstieg des Mose auf den Berg Sinai (2. Mose 19) als ein Bild für den Aufstieg der gläubigen Seele zu Gott. Im folgenden Abschnitt (4) stellt der Redner eine These auf: Gottes Existenz ist erfassbar, sein Wesen bleibt aber unbegreiflich. Um die These zu belegen beschreibt Gregor zunächst den Weg der möglichen Erkenntnis Gottes und legt die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Vernunft dar (5–7). Die nun folgenden Abschnitte (8–13), die hier ausgelassen sind, untermauern, dass die Möglichkeiten der menschlichen Sprache und die Konzepte der menschlichen Gedanken das Wesen Gottes nur unzureichend beschreiben.

Im Mittelteil seiner Rede nimmt Gregor die Verehrung der Geschöpfe anstelle des Schöpfers ins Visier und weist auf die „natürliche Gotteserkenntnis“, die die Schöpfung zum Ausgangspunkt für die Erhebung zum Schöpfer nimmt, ohne beide miteinander zu verwechseln, als die einzig richtige Zugangsweise zu Gott (13–16). Zahlreiche biblische Belege, die wir hier nicht übersetzen, stützen dieses Argument (17–21). Dann zeigt Gregor die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens am Beispiel des Menschen selbst und der übrigen Schöpfung auf (22–31). Dabei erhebt sich die Rede von der Erde bis zum Himmel und schließt mit einem Blick auf die Natur der „körperlosen Wesen“, also der Engel (31), ab.

In einer Epoche, die keine Trennung von Philosophie und Theologie kannte, bediente sich Gregor sowohl biblischer wie philosophischer „Argumente“. Auch wenn nicht in jedem Fall zu klären ist, ob Gregor unmittelbar antike philosophische Traditionen rezipierte, oder ob ihm diese durch andere mündliche und schriftliche Quellen vermittelt wurden, so erweist sich Gregor in der zweiten Rede doch zweifellos als Kenner Platons, etwa durch das dem berühmten „Höhlengleichnis“ entnommene Bild vom Licht (in Abschnitt 3), das nur in seiner Spiegelung im Wasser für die schwache Sehfähigkeit des Menschen erfassbar ist (s. Plato, Staat, VII, 514a–517a). Ebenfalls den Schriften Platons entstammt das in Abschnitt 5 leicht abgewandelte Bild vom Gitarrenspieler und der Gitarre (Phaidon 73d), und auch |30|die Redewendung von der „Zweiten Fahrt“ in Abschnitt 13, mit der Gregor einen Neuansatz der philosophischen Reflexion einleitet, ist platonisch (Phaidon 99d).

Gregor geht aber noch über solche Anleihen hinaus und versucht in Abschnitt 28 seiner Rede eine echte Synthese antiker Philosophie und christlicher Theologie. Hier postuliert er mit Sokrates, dass die eigentliche Einsicht der philosophischen Spekulation die Erkenntnis des eigenen Unwissens sei (Platon, Apologie 22c–d) – ein Gedanke, den tausend Jahre nach Gregor der spätmittelalterliche Philosoph Nikolaus Cusanus in seinem Buch von der „wissenden Unwissenheit“ erneut verwenden wird.

Gregors Ausführungen zur „natürlichen Theologie“ (Abschnitt 5ff.) und zur Verehrung der Geschöpfe anstelle des Schöpfers folgen der Bibel. Ganz ähnlich argumentiert nämlich der Apostel Paulus im Brief an die Römer (Römer 1,19ff.). Der christliche Rhetor ergänzt die Gedanken des Apostels hier nur durch mancherlei Motive aus der kirchlichen Apologetik.

3. Die Rezeption der Theologischen Reden

Weil Gregor für seine rhetorische Kunst berühmt war, hörten ihn nicht allein seine Anhänger. Auch Neugierige, an der Redekunst des Kappadokiers interessierte Hörer kamen sowie auch die kirchenpolitischen Unterstützer Gregors, falls wir Gregors Autobiographie trauen dürfen: „Die einen führte […] die Verkündigung der Trinität zu mir […] Andere gaben womöglich etwas auf meine Redekunst. Noch andere wollten mich gerne als ihre eigene Kreatur behalten.“

Eine byzantinische Miniatur, der Parisinus Graecus 510, imaginiert die Predigtsituation aus dem Abstand von fünfhundert Jahren. Das Bild mit der Überschrift „die zweite Synode“ entstand zwischen 879 und 882 in Konstantinopel. Gemeint ist die Versammlung des Zweiten Ökumenischen Konzils, das im Jahr 381 in der Residenzstadt Konstantinopel zusammentrat. Im Zentrum des Bildes steht die „Hetoimasia“, der für den in der Endzeit wiederkommenden Christus bereitete Thron, auf dem ein aufgeschlagenes Evangelienbuch liegt. Rechts vom Thron sitzt Kaiser Theodosius I (†395), der das Konzil einberufen hatte. Links, mit zur Rede erhobener Hand ist Gregor von Nazianz, der damalige Erzbischof von Konstantinopel, abgebildet. Auf der unteren Seite sehen wir den erhobenen Arm eines verurteilten Häretikers, vermutlich des Bischofs Eunomius von Kyzikos.

|31|Dass sich die Reden Gregors tatsächlich dem mündlichen Vortrag verdanken, dann wohl zunächst stenographisch festgehalten wurden und erst später vom Autor überarbeitet wurden, zeigen die deutlichen Spuren der Mündlichkeit, wie etwa das Anakoluth in Abschnitt 2.

Die „Theologischen Reden“ sind in zahlreichen byzantinischen Handschriften überliefert. Doch nicht allein in der griechischen Tradition wurden Gregors Reden immer wieder kopiert, kommentiert und imitiert. Vielmehr übertrug man sie auch ins Lateinische, Armenische, Syrische, Georgische, Arabische, Kirchenslawische, Koptische und Äthiopische. Bereits im sechzehnten Jahrhundert erschienen die ersten gedruckten Ausgaben der „Reden“ in Venedig, Straßburg und Basel.

Martin Illert

Zweite Theologische Rede: Über das Sprechen von Gott

(1) In unserer ersten Rede […] haben wir ausgeführt, wie jemand sein soll, wenn er von Gott spricht, wer sich mit solchen philosophischen Fragen beschäftigen soll und wann und in welchem Maße man das tun soll. Wir haben außerdem ausgeführt, dass die Leute, die sich mit philosophischen Fragen beschäftigen, so rein wie möglich sein sollen, damit Licht von Licht erfasst wird, und wir haben dargelegt, dass sie sich möglichst viel Mühe geben sollen, damit kein unfruchtbares Wort auf unfruchtbares Land fällt (vgl. Mt 13,5). […] Jetzt wollen wir uns der Rede über das Sprechen von Gott zuwenden! Wir tun das, indem wir den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist, von denen die Rede ist, als Beschützer vor die Rede stellen. Der Erste soll wohlwollend sein, der Andere soll daran mitwirken und der Dritte soll seinen Geist geben. Oder vielmehr: Eine einzige Erleuchtung soll aus der einen, einzigen Gottheit kommen; eine Erleuchtung, die in sich untergliedert ist, ohne ihre Einheit zu verlieren und die sich zu einer Einheit fügt, ohne ihre innere Untergliederung einzubüßen. Und das ist paradox!

(2) Bereitwillig besteige ich den Berg (vgl. 2. Mose 19,2 u. ö.) oder, um es auf eine Weise zu sagen, die näher an der Wahrheit ist, bereitwillig und |32|zugleich voller Furcht! Bereitwillig bin ich aufgrund meiner Hoffnung, furchtsam aufgrund meiner Schwäche. Ich will in den Nebel gelangen (2. Mose 24,18) und dort Gott treffen. Denn dazu fordert Gott auf (vgl. 2. Mose 24,12) – Wenn aber jemand ein Aaron ist (vgl. 2. Mose 19,24), dann soll er herantreten und sich in der Nähe hinstellen, und auch dies hinnehmen, wenn er außerhalb des Nebels stehen bleiben muss. Wenn aber jemand ein Nadab oder ein Abioud oder einer der Alten ist (vgl. 2. Mose 24,1 u.ö.), soll er hinaufsteigen, aber er soll in einer bestimmten Entfernung stehen bleiben, die dem Grad seiner Reinheit entspricht. Wenn jemand zur Menge gehört, die einer solchen Erhabenheit und Schau unwürdig ist, wenn er ganz und gar unwürdig ist, so soll er sich nicht nähern, denn das ist gefährlich. Wenn er für einen Augenblick geheiligt ist, soll er unten bleiben und allein die Stimme und die Posaune und bloß die frommen Worte hören (vgl. 2. Mose 19,16ff.). Er soll sehen, wie der Berg raucht und blitzt, als Drohung und zugleich, um diejenigen zum Staunen zu bringen, die nicht hinaufgehen können. Wenn aber jemand ein wildes, ungezähmtes Tier ist und nicht in der Lage ist, Gedanken von der Schau und über das Sprechen von Gott zu fassen, dann soll er sich nicht in böser und verschlagener Weise im Unterholz verstecken, um plötzlich hervorzukommen und eine Lehre oder ein Wort zu ergreifen, sondern soll in weiter Entfernung vom Berg bleiben, damit man ihn nicht steinigt und vernichtet und damit er nicht als ein Böser übel zugrunde geht […].

(3) Wie erging es mir, ihr Freunde, Eingeweihte und Liebhaber der Wahrheit? Ich beeilte mich Gott zu ergreifen, stieg so den Berg herauf und trat in die Wolke ein, für mich selbst von der Materie und den materiellen Dinge soweit als möglich abgewandt. Als ich aber nach vorn schaute, da sah ich Gottes Rückseite (vgl. 2. Mose 33,23). Und dies, obwohl ich von einem Felsen verdeckt war, nämlich von dem für uns Fleisch gewordenen Wort. Und ich schaute etwas hervor und sah nicht die erste, unvermischte Natur, die von sich selbst, von der Trinität, erkannt wird, und die innerhalb des Vorhangs bleibt und von den Cherubim bedeckt wird (vgl. 2. Mose 26,31ff.), sondern ich sah nur den letzten Ausläufer, der bis zu uns herab reicht. Das ist, soweit ich das erkennen kann, die Größe Gottes unter seinen Geschöpfen, die „Herrlichkeit“, wie der göttliche David das nennt. Sie ist die Rückseite Gottes. Es handelt sich um die Eindrücke, die Gott hinterlässt. Diese sind wie Spiegelungen der Sonne auf dem Wasser, die dem trüben Blick die Sonne zeigen, weil der menschliche Blick nicht in der Lage |33|ist, die Sonne selbst zu sehen, da das unvermischte Licht unsere sinnliche Wahrnehmungskraft übersteigt. So also sollst du Theologie treiben, selbst wenn du Mose […] bist, selbst wenn du nach Paulus bis zum „dritten Himmel“ (2. Kor 12,2) gelangt bist und „unaussprechliche Worte“ (2. Kor 12,3) gehört hast, selbst wenn du über jenen hinaus gelangt bist, und einen Engels- oder Erzengelsrang und -platz einnimmst. Mag auch jedes himmlische oder überirdische Wesen viel höher sein als unsere Natur, und damit Gott näher sein, so ist es doch viel weiter von Gott und vom vollkommenen Begreifen entfernt als von unserer zusammengesetzten, niedrigen und der Erde zugewandten, gemischten Natur.

(4) Also muss man von neuem anfangen: Es ist schwer, Gott zu begreifen. Es ist aber unmöglich, etwas über ihn auszusagen, wie einer der Theologen bei den Griechen feststellte, als er die Frage philosophisch untersuchte […]. Einen so großen Gegenstand mit dem Intellekt zu erfassen ist völlig unmöglich und nicht zu bewerkstelligen. […] Dies gilt nicht nur für die trägen und der Erde zugewandten Wesen, sondern auch für die sehr erhabenen und Gott liebenden Wesen. Gleichermaßen gilt das für jede gezeugte Natur und für alle, die dieser Nebel umgibt und die diese plumpe fleischliche Natur an der Erkenntnis des Wahren hindert. Ich weiß nicht, ob das nicht auch bei den höheren und geistigeren Naturen so ist. Da sie Gott näher sind und ganz von seinem Licht beschienen werden, könnten sie vielleicht auch erleuchtet sein, wenn auch nicht komplett, doch in einem stärkeren und klareren Maß als wir, die einen mehr, die anderen weniger, jeweils entsprechend dem Rang, den sie innehaben.

(5) Aber das soll hier auf sich beruhen. Was uns betrifft: Ist nicht schon der „Friede Gottes höher als alle Vernunft“ (Phil 4,7) und alles Begreifen? Gilt das nicht auch für alle Dinge, die für die Gerechten in den Verheißungen aufbewahrt werden, die weder für Augen sichtbar, noch für Ohren hörbar, und auch nicht – oder nur ein wenig – für den Verstand schaubar sind? Und gilt das nicht auch für die genaue Kenntnis der Schöpfung? Denn sei überzeugt, dass du von der Schöpfung nur die Schattenbilder erhältst, wenn du hörst „Ich werde den Himmel sehen, die Werke deiner Hände, den Mond und die Sterne.“ (Ps 8,4) […] Aber weit vor diesen befindet sich die Natur, die über diese Dinge hinausgeht und aus der diese Dinge sind, die ungreifbare und unfassbare Natur. Ich sage aber, nicht, dass sie existiert, ist unbegreiflich, sondern was für eine Natur sie ist. […]

|34|(6) Dass nämlich Gott existiert, und dass er als Ursache alle Dinge gemacht und geordnet hat, das lehrt uns das Schauen und das natürliche Gesetz. Das Schauen lehrt das, indem es sich den Dingen zuwendet, die man sehen kann, die in schöner Weise mit einander verbunden sind und zugleich ihre Bahn entlanglaufen und sich so zu sagen in unbewegter Weise bewegen und dahineilen. Darüber hinaus lehrt es die Vernunft, indem sie durch die Dinge, die man sehen kann und die eine Ordnung haben, auf den Urheber schließt. Denn wie sollte wohl das All begründet worden sein, und Bestand haben, wenn nicht Gott ihm sein Wesen gegeben hätte und es zusammenhielte? Denn wenn jemand sieht, wie eine Gitarre schön gespielt wird, wie gut das klingt und wie gut das Stück komponiert ist, und wenn er hört, dass auf der Gitarre gespielt wird, wird ihm dann irgendetwas anderes als der Hersteller der Gitarre und der Spieler der Gitarre in den Sinn kommen, auch wenn er ihn vielleicht nicht sehen kann? So ist also auch für uns die Schöpferkraft erkennbar, die Kraft, die das Gemachte bewegt und bewahrt, auch wenn sie nicht mit dem Verstand erfasst wird. […] Niemand ist ja zur letzten Stufe der Weisheit gelangt. Niemand wurde je einer so großen Gnade gewürdigt. Niemand öffnete den Mund seines Verstandes so weit und nahm den Geist in sich auf (Ps 119,131), dass er durch ihn, den Geist, der alles erforscht und erkennt, selbst die Tiefen der Gottheit, Gott, erfasst hätte, und nicht mehr weiter voran muss, weil er schon das äußerste hat, was erstrebenswert ist, und zu dem alles Leben und alle Überlegung strebt. (7) Denn wie wirst du jemals das Göttliche ergreifen, wenn du ganz den vernünftigen Zugängen vertraust? Oder wohin wird dich die Vernunft führen bei deiner Prüfung, du allergrößter Philosoph und Theologe, der du dich maßlos rühmst? […]