Große Werke der Literatur XIV -  - E-Book

Große Werke der Literatur XIV E-Book

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Beschreibung

Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen, US-amerikanischen, kubanischen, hebräischen und japanisch-kanadischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 18., 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Der Band enthält Beiträge von Freimut Löser (Mechthild von Magdeburg, "Das Fließende Licht der Gottheit"), Gerhard Kurz (Friedrich Hölderlin, "Andenken"), Jürgen Hillesheim (Wilhelm Müller und Franz Schubert, "Winterreise"), Kaspar H. Spinner (Annette von Droste-Hülshoff, "Meersburger Gedichte"), Hubert Zapf (Walt Whitman, "Leaves of Grass"), Hans-Vilmar Geppert (Theodor Fontane, "Schach von Wuthenow"), Günter Butzer (Edouard Dujardin, "Les lauriers sont coupés"), Martin Middeke (Joseph Conrad, "Lord Jim"), Timo Müller (Ernest Hemingway, "The Snows of Kilimanjaro"), Christian Wehr (Alejo Carpentier, "El reino de este mundo"), Bettina Bannasch (S.Y. Agnon, "Schira") und Katja Sarkowsky (Joy Kogawa, "Obasan").

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Große Werke der Literatur XIV

Günter Butzer / Hubert Zapf

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0001-0

Inhalt

VorwortMechthild von Magdeburg Das Fließende Licht der Gottheit1. Mystik2. Mechthild von Magdeburg3. Das Fließende Licht der Gottheit3.1 Textgeschichte3.2 Texttyp3.3 Inhalt und BedeutungLiteraturverzeichnisFriedrich Hölderlin AndenkenI.II.III.LiteraturverzeichnisWilhelm Müller und Franz Schubert WinterreiseLiteraturverzeichnisPrimärliteraturForschungsliteraturAnnette von Droste-Hülshoff Meersburger GedichteMeersburg I (1841–1842)Meersburg II: 1843–1844Meersburg III: 1846–1848SchlussLiteraturverzeichnisWalt Whitman Leaves of Grass1. Einflüsse und Biographie2. Der amerikanische Transzendentalismus und Walt Whitman3. Die Triade von Self, Nature und Oversoul3.1. Self3.2. Nature3.3. Oversoul4. DeutungsansätzeKulturökologische DeutungLiteraturverzeichnisTheodor Fontane Schach von WuthenowEine klassische Erzählstrategie„Dame“ schlägt „Ritt[meist]er“1806–1882–1914 – und dann?LiteraturverzeichnisÉdouard Dujardin Les lauriers sont coupésI.II.III.IV.V.LiteraturverzeichnisJoseph Conrad Lord Jim (1900)I.II.III.IV.V.LiteraturverzeichnisErnest Hemingway Schnee auf dem Kilimandscharo/The Snows of KilimanjaroLiteraturverzeichnisPrimärliteraturSekundärliteraturAlejo Carpentier Das Reich von dieser Welt / El reino de este mundo (1949)1. Einleitung: Alejo Carpentier und der Boom der lateinamerikanischen Literatur2. Autochthone Romanpoetik: Zur Programmatik des real maravilloso3. Narration und Erinnerung: Der Autor als moderner Simonides4. Romaneske Fiktion und koloniale Chronik5. Erzählverfahren: auktoriale und außerokzidentale Perspektive6. Neobarocker Stil: Synkretismus und Historismus7. Biblische Symbolik: Antiker Mythos und christliche Figura8. Transkulturation und Postkolonialismus in El reino de este mundo9. Kultureller Synkretismus und die Utopie des mestizajeLiteraturverzeichnisS.Y. Agnon SchiraI.II.III.IV.V.VI.VII.VIII.IX.LiteraturverzeichnisJoy Kogawa ObasanObasan und historische ErinnerungDie Aufzeichnungen der Muriel Kitagawa und das Memorandum des Co-operative Committee on Japanese CanadiansGruppenerfahrung und individuelle ErinnerungLiteraturverzeichnisDie Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort

Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen, amerikanischen, kubanischen, hebräischen und japanisch-kanadischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 18., 19. und 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg.

Der Titel „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literatur- auf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst – so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht.

Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d.h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen.

Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise aktivierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historisch-kulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebensprozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zur Geltung zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden, die diese Auswahl dann in ihrem Beitrag begründen. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden.

In allen im Buch besprochenen Werken wird die literarische Imagination in ganz unterschiedlicher Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfahrungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in besonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die beständige kulturelle Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind.

Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Herrn Bub vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Nina Blagojevic, Jessica Friedline, Laura Fritz, Beate Greisel, Theresa Schwaiger und Andreas Tschierse für die Einsatzbereitschaft und Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben.

 

 

Augsburg, im Januar 2017Günter Butzer und Hubert Zapf

Mechthild von Magdeburg Das Fließende Licht der Gottheit

Freimut Löser

Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg gilt als herausragendes Werk der ‚deutschen Mystik‘. Es werden also Antworten auf folgende Fragen zu suchen sein: 1. Was ist ‚Mystik‘? 2. Wer war Mechthild von Magdeburg? 3. Was ist das ‚Fließende Licht der Gottheit‘?

1.Mystik1

Es kommt nicht von ungefähr, dass zurzeit – wenn man etwa an den Namen Kurt Flasch2 denkt – eine heftige Debatte stattfindet, z.B. ob Meister Eckhart, der große deutsche Prediger, Philosoph und Sprachschöpfer des Mittelalters, der gemeinhin als Mystiker geführt wurde und wird, überhaupt als Mystiker zu bezeichnen ist. Dabei zeigt sich auch und vor allem: Der Begriff ‚Mystik‘ ist schwer zu definieren. Hier kann nur ein vorsichtiger Definitionsversuch unternommen werden. Sicher ist: Er ist abgeleitet vom griech. mystikós‚ ‚geheimnisvoll, geheim‘, und dieser Begriff wiederum hat etwas mit der Vorstellung geschlossener Augen zu tun. Man kann dem zweierlei entnehmen: Mystische Lehren können – vor den Blicken verborgen – Geheimlehren sein, und es geht der Mystik um die Durchdringung des Geheimen, Geheimnisvollen und Verborgenen. Dies geschieht – bildlich gesprochen – mit geschlossenen Augen, also in höchster Konzentration auf das Innere. Mystik wird weiter gemeinhin als unmittelbare und erlebnishafte Erfahrung des Göttlichen oder Transzendenten definiert. Dabei werden in der Regel das gewöhnliche Bewusstsein und die verstandesmäßige Erkenntnis überstiegen. Ziel der Mystik ist die Vereinigung, christlich als unio mystica gefasst, mit dem absoluten Seinsgrund. Mittel sind häufig Askese, Meditation und Kontemplation. Für den christlichen Bereich des Mittelalters kann Mystik etwa mit Thomas von Aquin oder Bonaventura als cognitio dei experimentalis definiert werden, d.h. also als erfahrungshafte Gotteserkenntnis. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Zu dem Phänomen, das man gemeinhin als mystisch zu fassen versucht, gehören einerseits unmittelbar erlebte oder von Gott gnadenhaft geschenkte Visionen, Auditionen, sensuelle Wahrnehmungen einerseits, auf der anderen Seite aber auch häufig die theoretisch-philosophische Reflexion entweder über Phänomene der Mystik oder über die Einung mit Gott. Man kann deshalb von verschiedenen Textsorten ausgehen, die sich in zwei Richtungen einteilen lassen, einmal in die praktische, sogenannte Erlebensmystik und andererseits in die spekulative, theoretisch-philosophisch-orientierte Mystik (so bei Eckhart). Als Literatur- und Textwissenschaftler haben wir es zudem immer mit Texten zu tun, d.h. mit inszenierter Wirklichkeit, die literaturimmanenten Gesetzen folgt.

Wenn man von erfahrungshafter Gotteserkenntnis redet, werden in diesem Bereich autobiographische oder pseudo-autobiographische Erlebnisberichte dominieren, auf der anderen Seite theologisch-philosophische theoretische Reflexionen, die man als Mystologie bezeichnen kann, und Lehrschriften über den mystischen Weg (Mystagogie). Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit wäre besonders dem Erlebnisbereich zuzuordnen, wobei auch Tendenzen zum Lehrhaften erkennbar und Literarisierungsstrategien unübersehbar sind.

2.Mechthild von Magdeburg1

Es ist wie häufig im Mittelalter: Mechthild ist nur aus ihren Texten greifbar. Ihre Lebensumstände müssen aus den wenigen autobiographischen Hinweisen in ihrem Werk, das aus insgesamt sieben einzelnen Büchern mit unterschiedlich langen Kapiteln besteht, erschlossen werden. Weitere Informationen finden sich im kurzen lateinischen Vorwort (von einem anderen Autor), im längeren lateinischen Prolog vor der lateinischen Übersetzung der Bücher I–VI und in einigen weiteren Zusätzen zum Text dieser Übersetzung. Mechthild scheint um 1207 in eine ritterlichen Burgmannenfamilie der westlichen Mittelmark geboren worden und höfisch erzogen worden zu sein. Ihre Beschreibungen deuten darauf hin, dass sie im zwölften Lebensjahr, wie sie es ausdrückt, den „Gruß des Heiligen Geistes“ empfing und dass dieser ihr über Jahre zuteilwurde. Mechthild beschreibt dieses visionäre Erlebnis, das ihr in jungen Jahren geschah, sehr eindringlich:

Alle mine lebtage e ich dis bůches began und eb sin von gotte ein einig wort in min sele kam, do was ich der einvaltigosten menschen eines, (53r) das ie in geistlichem lebende erschein. Von des túfels bosheit wiste ich nit, der welte krancheit kante ich nit, geistlicher lúte valscheit was mir oͮch unkúndig. Ich můs sprechen got ze eren und oͮch durch des bůches lere: Ich unwirdigú súnderin wart gegruͤsset von dem heligen geiste in minem zwoͤlften jare also vliessende sere, do ich was alleine […]. Do lies mich got niergen eine und brachte mich in so minnenkliche suͤssekeit, in so helige bekantheit und in so unbegriflich wunder, das ich irdenscher dingen wenig gebruchen konde. Do wart erst min geist us minem gebette bracht zwúschent den himmel und den lufte. Do sach ich mit miner selen oͮgen in himmelscher wunne die schoͤnen menscheit (53v) únsers herren Jhesu Christi, und ich bekante an sinem heren antlútte die heligen drivaltekeit, des vatter ewekeit, des sunes arbeit, des heligen geistes suͤssekeit.2

Mechthilds Werk ist aber keine Autobiographie, schon gar nicht chronologisch geordnet. Es wirkt sprunghaft und verdankt seine Ordnung in Bücher und Kapitel – mindestens zum großen Teil – überhaupt erst einer späteren Redaktion. Einen Lebensweg zu beschreiben ist nie Ziel des Werkes gewesen und dementsprechend schwierig ist es, ihn zu rekonstruieren: Mechthild scheint um 1230 aus dem Elternhaus zunächst nach Magdeburg – oder, wie man heute auch wahrscheinlich zu machen sucht, nach Erfurt – in ein Beginenhaus geflohen zu sein, wo sie sich anderen Beginen anschloss, d.h. Frauen, die in gemeinsamen Häusern ein klosterähnliches Leben führten, ohne jedoch der Regel eines bestimmten geistlichen Ordens zu folgen. In diesem Beginenhaus lebte sie in Askese, in selbst gewählter Armut und vermutlich auch, wie es üblich war, unter körperlichen Kasteiungen, die sie sich selbst zufügte. Mechthild dürfte, wenn man ihren Aufzeichnungen glaubt – und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln –, häufig krank gewesen sein. Die visionären Erlebnisse, die ihr erstmals in ihrem zwölften Lebensjahr begegnet waren, hörten nicht auf, und nach zeitweiliger Unterbrechung dieser Unio-Erfahrungen begann sie sie um 1250 aufzuzeichnen; dies tat sie auf Geheiß ihres dominikanischen Beichtvaters Heinrich von Halle, der sie aufforderte, das Buch Fließendes Licht der Gottheit als Offenbarungszeugnis eigenhändig zu schreiben. Wann genau Heinrich von Halle als Seelenführer ins Leben Mechthilds eintrat, lässt sich nicht bestimmen. Die Spiritualität der Beginen, der Mechthild in diesem Beginenhaus begegnete, war zuvor im brabantisch-lüttichen Raum und im Rheinland geprägt worden, wo in zahlreichen Städten Beginengemeinschaften entstanden waren. Die Spiritualität der Beginen war – soweit man das heute noch sagen kann, weil ihre Bibliotheken und ihre schriftlichen Aufzeichnungen kaum noch existieren – von einer intensiven, personalen Gottesliebe gekennzeichnet. Die großartigen mystischen Texte der niederländischen Begine Hadewijch im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts und der französischen Begine Margarete Porete, die 1310 als Ketzerin in Paris verbrannt wurde, sind aber ebenso wie Mechthilds Fließendes Licht der Gottheit herausragende Einzelzeugnisse, die nicht als repräsentativ für die gesamte Literatur- und Geistes- sowie Glaubenswelt der Beginen verstanden werden dürfen.3 Sehr anschaulich beschreibt das Leben der Beginen im Erfurt der Jahre 1282–1284, also nur kurz nach der Zeit Mechthilds, der Erfurter Nicolaus von Bibra in seinem lateinischen Gedicht „Occultus Erfordensis“. Dabei kommen eingangs die Vorurteile der städtischen Bevölkerung ebenso zur Sprache wie die fromme und rechtschaffen-fleißige Lebensart der Beginen, dazu ihre emotional-gefühlsbetonte Frömmigkeit und die Entzückung im mystischen jubilus. Hier die deutsche Übersetzung:

Beginen gibt es dort in unendlicher Zahl; einige leben schlecht, andere von sich aus gut. Von diesen interessieren sich einige überhaupt nicht für schändliche und schmutzige Dinge, sondern sie ziehen es vor, zur Kirche zu gehen, Messen zu hören und reinen Herzens nach dem Ende der Messe zurückzukehren. So leben sie mit ruhigem Sinn wie Klosterfrauen; allerdings sind sie – wie ich sie einschätze – noch mehr zu rühmen als diejenigen, die hinter einem Schloß eingeschlossen werden, obwohl sie ohne sichtbares Zeichen und ohne viel Aufhebens Christus ihre Gelübde ablegen; mit Glaube, Liebe und Hoffnung im Herzen machen sie größere geistliche Fortschritte, als wenn sie dauernd irgendwo herumständen, laut sängen und dabei nur wenig Gutes im Sinn hätten. Jeden Tag geben sie nämlich reinen Herzens und zur Ehre Marias den Armen ein willkommenes Almosen. Sie fasten, wachen, spinnen Wolle zu Fäden und beweinen ihre Sünden. So arbeiten sie bei Tag und Nacht, vermeiden den Müßiggang und wirken Gutes. Gestern, heute und morgen hören sie nicht auf, den Beichtbrüdern ihre Sünden zu bekennen, und mit schlichten Worten und einem reichen Tränenstrom erzählen sie die Träume der Nacht und die Taten des Tages. Zwar nur selten, aber dennoch kommt es vor, daß einige von ihnen außer sich geführt oder entrissen werden, so daß sie Christus sehen; das Volk nennt dies ‚Jubel‘.4

Während ihrer Béguinage, die man sich etwa ähnlich vorzustellen hat, wie sie Nicolaus beschreibt, scheint Mechthild das Gesamtwerk, das eine lange Entstehungsgeschichte hat, in einer ersten Version bis zum Jahr 1260 bis zum Ende des Buches V geschrieben zu haben. Zwischen 1260 und 1270/71 dürfte dann das VI. Buch des Gesamtwerks entstanden sein, das wir nur in einer redigierten Form besitzen. Um 1270 wurde Mechthild dann als bereits alte, vermutlich auch (mindestens zum Teil) erblindete Frau in das Zisterzienserinnenkloster Helfta (Helpede) bei Eisleben aufgenommen, wo dann das VII. und letzte Buch ihres Werks entstand.

Damit ist zugleich e i n Höhepunkt, oder vielleicht d e r Höhepunkt, der sogenannten deutschen Frauenmystik markiert, der ins späte 13. Jahrhundert zu datieren ist und auf einen Ort, eben Helfta, konzentriert ist. Denn im sächsischen Zisterzienserinnenkloster Helfta begegnete Mechthild von Magdeburg in der Zeit um 1270 bis zu ihrem Tod um 1282 den beiden Visionärinnen Gertrud von Helfta (1256–1301/02) und Mechthild von Hackeborn (1241–1298), der Äbtissin des Klosters. Ihr neues unmittelbares Umfeld war literarisch außergewöhnlich fruchtbar. Dabei besonders hervorzuheben ist der Liber specialis gratiae Mechthilds von Hackeborn und der Legatus divinae pietatis Gertruds, der als botte der götlichen miltekeit auch ins Deutsche übersetzt wurde. Getrud von Helfta, die seit 1674 bei den Benediktinern und seit 1738 allgemein in der katholischen Kirche den Status einer Heiligen erhielt, hat gar als eine der wenigen Frauen in der Geschichte den Beinamen ‚die Große‘ erhalten. Gertruds Erfahrungen sind intensiv brautmystischer Natur: Jesusminne und klösterliche Liturgie dominieren bei ihr ähnlich wie bei Mechthild von Hackeborn in deren Liber specialis gratiae. Bei den beiden zisterziensischen Mystikerinnen in Helfta kann man von einer starken Herz-Jesu-Verehrung sprechen. Als Sitz des Gefühls steht das Herz für die allumfassende Liebe und Gnade Gottes.

Das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg freilich ist – stärker als die Werke ihrer Mitschwestern – von hoher poetischer Kraft. Es wechselt zwischen Visionen, Meditationen, Gebeten, Allegorien und Lehrreden. Die bildhafte Sprache Mechthilds ist primär von Gefühlen und inneren Erlebnissen geprägt. Sie ist aber ohne Einbindung in die literarische Tradition nicht denkbar.

Diese gemeinsame literarische Tradition wurde in Helfta gebildet durch die allgemeine monastische und biblische Tradition, etwa Bernhards von Clairvaux oder der Hochzeitsmetaphorik des Hohen Liedes und des Neuen Testaments, wobei speziell der Psalter eine große Ausstrahlungskraft besitzt. „Mechthilds von Magdeburg Werk ist“, wie Alois Haas dies beschrieben hat,

um eine ganze Dimension reicher als die Werke ihrer Helftaer Mitschwestern. Diese betten nämlich ihre zahlreichen Visionen eigentlich erzählend in den klösterlichen Alltag, besonders in den liturgisch vorgegebenen Kontext ein, während bei Mechthild gerade das Episodenhafte in die direkte Konfrontation mit Gott übertritt. Das Moment der Erfahrung dominiert in jedem Fall über das erzählerischer Vergegenwärtigung und Relativität, so dass bei ihr die Kategorie des Lyrischen mit ihrer Faszination unmittelbarer Erfahrung die absolute Verbindlichkeit unreduzierbarer Sprache erhält.5

Mechthild genießt in dieser Zeit, zwischen 1270 bis zu ihrem Tod, jedenfalls auch eine gewisse Schutzfunktion des Klosters. Dort ist sie äußeren Anfeindungen nicht mehr so ausgesetzt wie sie es als Begine war. Nach neuester Forschung6 dürfte Mechthild von Magdeburg vermutlich um 1282, nach älterer Forschungsmeinung um 1294, in Helfta gestorben sein. Gertrud von Helfta hat im Legatus divinae pietatis das Sterben Mechthilds von Magdeburg in üblicher hagiographischer Überhöhung geschildert. In Gertruds Verbildlichung zeigt der Herr der sterbenden Mechthild das von ihr verfasste Buch als Trost.

3.Das Fließende Licht der Gottheit

3.1Textgeschichte

Wie schon gesagt, ist die Textgeschichte des aus einzelnen Büchern bestehenden Werkes einigermaßen komplex. Kurt Ruh geht von drei verschiedenen Arbeitsphasen aus:11) Buch I–V: zwischen 1250 und 1259; 2) Buch VI: zwischen 1260 und 1270/71; 3) Buch VII: zwischen 1271 und 1282 in Helfta. Für Buch I–V nämlich gibt es eine eigene lateinische Vorrede, die stark auf den Anteil des Dominikanerordens an diesem Werk abhebt. Von Mechthild wird in dieser lateinischen Vorrede gesagt, sie sei in vollkommener Weise den Fußstapfen des Predigerordens gefolgt, und ein Bruder dieses Ordens der Dominikaner, Heinrich von Halle, habe dieses Buch geradezu mitgeschrieben. Nach Abschluss von Buch VI fand dann offensichtlich eine zweite, geradezu ,offizielle‘ Redaktion des Gesamtwerkes statt, für die dann wiederum der Betreuer Mechthilds, eben Heinrich von Halle, einen eigenen Schluss formulierte, der klar als solcher konzipiert ist und die Einheit der Bücher I–VI als neugefasste, sekundäre Redaktion deutlich macht. Die Aufzeichnungen der Nonne Mechthild von Magdeburg in Helfta (Buch VII) heben sich von Inhalt und Diktion her gesehen markant von den Büchern I–V ab, weniger erheblich von Buch VI, das auf eine Übergangsphase hinzuweisen scheint. Von diesen Büchern I–VI wurde eine lateinische Übertragung, die sog. Revelationes, hergestellt, die textkritisch deshalb bedeutsam ist, weil sie auf einer früheren Textstufe beruht (der Textstufe, die nur aus sechs Büchern bestand). Man sieht daran, dass man von der Seite des Ordens sehr um das Werk bemüht war; besonders darum, die volkssprachliche Offenbarung Mechthilds dem lateinischen Bereich zugänglich zu machen. Interessanterweise gibt es von diesen Revelationes wiederum eine eigenständige Rückübersetzung ins Deutsche. Was aber von diesem Werk überhaupt überliefert ist, ist die lateinische Übersetzung der Bücher I–VI, wohl im Dominikanerkloster Halle nicht lange nach Mechthilds Tod entstanden, und eine deutsche Fassung der Bücher I–VII. Diese ist erst etwa um 1343/45 (also mehr als 50 Jahre nach Mechthilds Tod) in Basel entstanden und ist schreibsprachgeographisch gesehen oberrheinisch. Mechthild aber schrieb, so war aus einzelnen Sprachspuren zu erschließen und so postulierten die Spezialisten, u.a. Kurt Ruh, „die Sprache ihrer Heimat, ein elbostfälisches Niederdeutsch mit mitteldeutschen Einschlägen. Von diesem niederdeutschen Original gibt es auch nicht den spärlichsten Textzeugen“.2 Das war der Stand der Forschung und die Lage der Dinge, bis ein Handschriftenfund in geradezu sensationeller Weise Veränderung brachte. Denn die beiden russischen Forscherinnen Squires und Ganina haben ein Fragment eines Textes aus ursprünglich Halberstädter Beständen, das in den Kriegswirren nach Moskau kam, vorgestellt.3 Dieses Fragment bietet jetzt nichts weniger, so zuletzt Nigel Palmer,4 als eine Version des 13. Jahrhunderts, die mit ihrer niederdeutsch gefärbten, ostmitteldeutschen Schreibsprache zeitlich und räumlich der Originalversion des Werkes nahesteht. Es gibt also inzwischen einen Beweis für die frühere Vermutung von der ursprünglichen Fassung. Das Moskau/Halberstädter Fragment ist aber freilich eben nur ein Fragment, und um den ganzen Text lesen zu können, ist man nach wie vor auf die Ausgabe auf der Basis der oberrheinischen Umschrift angewiesen. „Diese alemannische Umschrift in die Basler Schreibsprache“, so Ruh, „verdankt ihre Existenz dem Kreis der Gottesfreunde um Heinrich von Nördlingen, dem auch der bekannte Mystiker Johannes Tauler während der Zeit des Interdikts angehörte.“5 Ruh zufolge ist die Mystik in dieser Zeit „gesellschaftsfähig“ geworden. Sie hat eine gesellschaftliche Komponente in der elitären Basler Gesellschaft gefunden und ist damit auch literarisch geworden. Man ließ mystische Texte abschreiben und verbreiten. Dies kann in zwei sehr sorgfältig geschriebenen Pergamenthandschriften gezeigt werden, die von einer „halbgeistlich“ lebenden aus einer vornehmen Basler Familie stammenden jungen Frau, Margarete vom Goldenen Ring, den Waldschwestern im Einsiedler Hochtal testamentarisch vermacht wurden: Das sind heute die Codices 277 und 278 der Einsiedler Stiftsbibliothek. Sie enthalten vor allem Predigten Meister Eckharts (278) und eben Mechthilds Fließendes Licht (277). Auf das Begleitschreiben, mit dem Heinrich von Nördlingen Mechthilds Fließendes Licht verschickt hat, wird noch genauer einzugehen sein. Soweit die, komplizierte, Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte. Was aber ist eigentlich das Fließende Licht der Gottheit?

3.2Texttyp

Den Typus des Werkes versucht Ruh mit dem Terminus ‚Bekenntnisbuch‘ zu fassen; er würde „am liebsten […] im Anschluß an Goethes Wilhelm Meister, sagen: Es sind ‚Bekenntnisse einer minnenden Seele‘.“ Auch Alois Haas denke in erster Linie an die Tradition der ‚Soliloquia‘ und ‚Confessiones‘, namentlich Augustins Gespräch mit dem göttlichen Partner, an Gotteslob und Gebet. Mit ‚Bekenntnissen‘ sei im Übrigen auch der Meditationscharakter von Mechthilds Buch mitbestimmt. „‚Meditationen‘, heute ein Universalbegriff mit einer schillernden Vielfalt von Bedeutungen“, bezeichne seit der Väterzeit die intensive Versenkung in die Schrift, im Mittelalter mit Anselm von Canterbury zusätzlich aber auch einen literarischen Typus, der „Reflexionen christlicher Wahrheiten und persönlicher Erfahrungen“ festhalte. Endlich umschließe die Bezeichnung ‚Bekenntnisse‘ auch den Tagebuch-Begriff.1 Damit ließe sich der Typus des Werkes – weit gefasst und schillernd genug – in etwa bestimmen. Der Titel vom Fließenden Licht der Gottheit bleibt merkwürdig und erklärungsbedürftig. Hans Neumann, Herausgeber des Werks2 und verantwortlich auch für den Artikel im Verfasserlexikon, fasst ihn so:

Gewiß steht hinter der Metaphorik des Fließens, sich Ergießens, des Wassers, des Brunnens neben den biblischen ‚Vor-Bildern‘ auch der Emanatismus des Pseudo-Dionysius Areopagita sowie die neuplatonische Lichtmetaphysik neben den jüdisch-christlichen Vorstellungen vom göttlichen Brunnen, Licht und Feuer.3

Alois Haas hat, wegweisend, Mechthilds Titel so interpretiert:

Die Einsicht, daß Gott Licht ist, ist so traditionell neuplatonisch wie christlich. Für die mittelalterliche Ästhetik ist die Lichtmetaphysik schlechterdings grundlegend, […] Gott ist in einem unmetaphorischen Sinne Licht; er ist Licht, er erscheint nicht nur so. Theophanien ereignen sich daher stereotyp in Form von Lichtphänomenen. Auch bei Mechthild. Aber – und hierin wendet sie sich gegen die gesamte Tradition – sie setzt den Akzent nicht auf das zum Licht triebhaft emporhastende Geschöpf, sondern das Licht wird in seiner Qualität des Verströmens gefaßt; es ist ein vliessende lieht miner gotheit, in allú die herzen die da lebent ane valscheit (Einleitung). Die Figur des Aufstiegs wird in die des göttlichen Abstiegs verkehrt: […] die Selbstvernichtigung Gottes in der Menschwerdung wird zur Erscheinung herabfließenden Lichts.4

Auf die Metapher des Fließens wird noch einzugehen sein. Hier stellt sich zunächst die Frage, woher Mechthild über diese Metaphorik – auch wenn sie nach Haas gar keine ist – verfügte. Für Neumann, Ruh und andere war klar, dass Mechthild aus verschiedenen Quellen, wahrscheinlich unterwiesen durch Ordenspriester wie ihren Beichtiger Heinrich von Halle, auf diese Terminologie und diese Topoi gestoßen war und dass sie auf diese Weise Dinge und Texte kennengelernt hatte, die sie in ihren Visionen und Betrachtungen, Dialogen und gedanklichen Erörterungen frei verwerten konnte. Anders als bei Hadewijch aber sei für Mechthild, so Neumann, wegen ihrer mangelnden Lateinkenntnisse und ihrer mangelnden theologischen Bildung eine Vermittlung durch Bücher in der lateinischen Kirchensprache ausgeschlossen. Es sei dagegen nicht unwahrscheinlich, dass Mechthild Anregungen aus Schriften der älteren mittelniederländischen Frauenmystik erhalten habe.5 So gesehen passt ihre Béguinage und ihre spätere Tätigkeit im Kloster Helfta in dieses Bild, denn schon im Beginenhaus kann sie mit Texten in Berührung gekommen sein, die diese mittelniederländische Frauenmystik rezipiert und vermittelt haben könnten.

3.3Inhalt und Bedeutung

Das Werk lässt sich mit Neumann grob so gliedern:1

In den ersten beiden Büchern treten besonders die „Wechselgesänge zwischen der Seele und Gott“ und die „Dialoge über Wesen und Wirkung der Minne“ hervor. Dabei stehen „brautmystische Vorstellungen und Minneklagen im Vordergrund, oft im Anklang an das Hohelied, an den frühen Minnesang oder an volkstümliche Lieddichtung.“ Seit dem dritten Buch werden einfache Visionsberichte über Himmel, Fegefeuer und Hölle sowie verschiedene Lehrdialoge mit Gott und verschiedene Minnebetrachtungen häufiger. Im siebten Buch ist dann die wieder stärker hervortretende Brautmystik kein Ausdruck der Minneekstase mehr, sondern Zeugnis der Unioerwartung nach dem Tod.

Alois Haas hat einen etwas anderen Gliederungsansatz versucht und dargestellt, wie sich die Mechthild’sche Mystik in insgesamt drei Aspekten gliedern lasse: Der erste Aspekt betreffe die Unmittelbarkeit der mystischen Vereinigung der Seele mit Gott; der zweite die Entfremdung der Seele zu Gott; der dritte die dialektische Versöhnung beider im Konzept der sinkenden Demut und Liebe.2

Zum ersten dieser Aspekte (Vereinigung) hält Haas fest: „Mechthilds Mystik ist affektive Liebesmystik, in der die gnadenhafte Vereinigung von Gott und Seele durch das Personal von Bräutigam und Braut und entsprechende erotische Symbolik vergegenwärtigt wird.“3 Dafür gibt Haas ein anschauliches Beispiel aus Mechthilds Werk:

1

Herre, nu bin ich ein nakent sele,

Und du in dir selben ein wolgezieret got.

Únser zweiger gemeinschaft

Ist der ewige lip ane tot.

5

So geschihet da ein selig stilli

Nach ir beider willen.

Er gibet sich ir und si git sich ime.

Was ir nu geschehe, das weis si,

Und des getroeste ich mich.4

Auf den ersten Blick verwirrend ist der Gebrauch der Pronomina, wenn in den Zeilen 1–4 die Seele zu Gott spricht und in den Zeilen 5–9 ‚Mechthild‘ über ihre Seele und Gott. Auf den zweiten Blick erkennt man, dass gerade so – im Sinn einer Einheitsmystik – Differenzen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Person, Seele und Gott verwischt werden.

Der zweite von Haas benannte Aspekt besteht in einer Entfremdung oder in einer Gottesferne, die freilich bewusst angenommen wird; etwa wenn die Seele gerade die Leiderfahrung in der Gottesferne überschwänglich begrüßt:

Siest willekomen, vil selig vroemedunge! Wol mir, das ich ie geboren wart, da du, vrouwe, nu min kamererin solt sin, wan du bringest mir ungewone vroede und unbegriffenlich wunder und darzuo untreglich suessekeit! Aber, herre, die suessekeit solt du von mir legen und la mich din vroemedunge han!5

Eya, selige gotzvroemedunge, wie minnenklich bin ich mir dir gebunden? Du stetigest minen willen in der pine und liebest mir die sweren, langen beitunge in disem armen libe. Swa mitte ie ich mich zuo dir geselle, got ie grossor und wunderlichor uf mich vallet. O herre, ich kan in der tieffi der ungemischeten diemuetikeit nit entsinken.

Ouwe, ich dir in dem homuote lihte entwenke.

Mere: ie ich tieffer sinke,

ie ich suessor trinke.6

Die Bewegung der Einheit erfolgt dabei, wie Haas betont, weniger vom Individuum zu Gott als vielmehr von Gott zur menschlichen Seele hin. Notwendig dafür ist der dritte, von Haas benannte Aspekt, der Aspekt der sinkenden Liebe. Damit die Liebe Gottes in den Menschen sinken oder hinabfließen kann, bedarf es freilich sowohl der göttlichen als auch der menschlichen Demut. Mechthild bringt dies im Buch II ins Wort, wenn sie Gott so sprechen hört:

Wa ich je sunderliche gnade gap, da sůchte ich je zů die nidersten, minsten, heimlichosten stat; die irdenschen hohsten berge moegent nit enpfan die offenbarunge miner gnaden, wan die vluot mines heligen geistes vlússet von nature ze tal.7

Susanne Köbele hat für Mechthilds Kennzeichnung dieses Bild des Flusses gewählt, ist aber dessen Fließrichtung von oben nach unten gefolgt und hat damit auch die Bedeutung der Demut erfasst;8 das wird besonders an dem von Köbele gewählten Textausschnitt evident, wo Gott Mechthild verkündet, er wähle sich für seine Offenbarung die niederste und geringste Stätte:

[…] wan die vlůt mines heligen geistes vlússet von nature ze tal. Man vindet manigen wisen meister an der schrift, der an im selber vor minen oͮgen ein tore ist. Und ich sage dir noch me: Das ist mir vor inen ein gros ere und sterket die heligen cristanheit an in vil sere, das der ungelerte munt die gelerte zungen von minem heligen geiste leret.

Hier, so Köbele, werde ein „ungelehrtes Charisma“ beschworen, und damit liege hier eine „Schlüsselstelle für das Selbstverständnis der Autorin“ vor. Mechthild setze „ihr Nicht-Wissen […] der schulwissenschaftlichen Theologie selbstbewusst gegenüber“. Dem Meister der – lateinischen – Schrift trete mit Mechthild die ‚Laienautorin‘ gegenüber. „Die Niedrigkeit der Volkssprache qualifiziert diese […] in besonderer Weise für die mystische Offenbarung.“9

Halten wir also noch einmal die drei von Haas benannten Aspekte Mechthilds fest: Einerseits die Unmittelbarkeit der mystischen Vereinigung der Seele mit Gott, andererseits die Entfremdung der Seele zu Gott, und schließlich die dialektische Versöhnung beider im Konzept der sinkenden Demut und Liebe.

Ruh hat diese drei Aspekte durch Umrisse einer theologischen Konzeption ergänzt, die sich weniger am mystischen Gehalt als vielmehr an der Theologie Mechthilds orientieren. Ruh geht davon aus, dass dabei erstens der trinitarische Gott und die Sicht darüber hinaus, zweitens die Heilsgeschichte und drittens die Betrachtung und Erwartung der Endzeit eine Rolle spielten.

So lässt sich mit Ruh zeigen, wie Mechthilds Gedanken vielfach um den dreieinigen Gott kreisen und wie dies zumeist in der bei ihr relativ selten vorkommenden direkten Vision geschieht.10 Entscheidend ist, dass Mechthild, wie etwas später dann auch Meister Eckhart, letztlich über die trinitarische Vorstellung hinausweist:

„Dem Bild der Engel vom dreieinigen Gott vor der Menschwerdung Christi geht nach Mechthilds Vorstellung ein anderes voran: die Gottheit vor der Schöpfung (VI31, 26–31): ‚Wo war Gott, bevor er etwas geschaffen hat? Er war in sich selber, und ihm waren alle Dinge (im Geiste) gegenwärtig und offenkundig, so wie sie heute (geschaffen) sind. Welche Gestalt hatte damals unser Herrgott? Ganz so wie eine Kugel, und alle Dinge waren in Gott beschlossen ohne Schloß und ohne Tür. Der unterste Teil der Kugel ist die grundlose Festung über allen Abgründen, der oberste Teil ist eine Höhe, über die nichts hinausgeht, der Umfang der Kugel ist ein nicht zu umgreifender Kreis (cirkel).‘ Ruh deutet dies so: „Das Bild dieser intelligiblen Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist, das immer wieder in der platonisierenden Tradition auftaucht und bis auf Empedokles zurückgeführt wird, ist sicher ein theologischer Bildungssplitter. Das Erstaunliche ist, wie immer bei Mechthild, die Umformung ins Eigene. Die implizierte Offenheit der Kugel wird mit ‚ohne Schloß und Tür‘ konkretisiert, zum ‚nicht zu umgreifenden‘ Umfang tritt die Vorstellung eines ‚unten‘ und ‚oben‘: hier reicht sie ins Unendliche, dort ist sie Materie, organisierter Stoff der Welt.“

Dem besonders im dritten Buch geschilderten Ablauf der Heilsgeschichte mit ihrer extremen Vermenschlichung der göttlichen Personen folgt dann eine Konzentration auf die letzten Dinge, nämlich die Darstellung des Antichrist und der beiden Propheten Enoch und Elias, wobei diese Partien sich besonders in den Büchern IV und VI finden. Ruh hat Recht, wenn er darstellt, wie wichtig solche Partien für Mechthilds kirchliche Sendung, wie unwichtig sie aber für ihre mystische Spiritualität sind. Freilich hat Neumann mit Recht das Auftauchen auch subtiler theologischer Probleme bei Mechthild benannt:11 trinitarische Spekulationen in den Büchern II,3, III,9, und IV,14; die Erschaffung der Seele (I,22, III,9, VI,31); das Verhältnis von Seele und Leib während der Ekstase (VI,13) und die Rückkehr des Geschöpfs in den Schöpfer (VII,25). Diese Aufstellung einzelner theologischer Themen, wie sie Neumann vorgenommen hat, lässt sich durch eine generelle Bemerkung ergänzen: Für Mechthild von Magdeburg steht es außer Frage, dass sie mit ihrem Buch eigenhändiges Zeugnis ihrer mystischen Offenbarungen ablegt und für sie steht es, und dies wird im Buch II,26 besonders deutlich, stets außer jeder Frage, dass sie dabei im göttlichen Auftrag handelt. In diesem göttlichen Auftrag kann sie auch Prophezeiungen aussprechen, die eine scharfe Kritik der Kirche und kirchlicher Institutionen beinhalten. Buch VI,21 beispielsweise ist stark geprägt von einer Sichtweise, wie sie etwa Joachim von Fiore in seinen Prophezeiungen formuliert hatte. Mechthild spricht hier joachitisch geprägt eigene Prophezeiungen aus, die den Niedergang der Kirche, das Kommen des Jüngsten Gerichts und das Heraufdämmern eines eigenen Ordens der Jüngsten Brüder beschreiben:

XXI. Wie boͤsú pfafheit sol genidert werden, wie predier alleine predien soͤnt und beschoͤve sin und von den jungesten predieren

Owe crone der heligen cristanheit, wie sere bistu geselwet! Din edelsteine sint dir entvallen, wan du krenkest und schendest den heligen cristanen geloͮben; din golt das ist verfúlet in dem pfůle der unkúscheit, wan du bist verarmet und hast der waren minne nit; din kúscheit ist verbrant in dem girigen fúre des frasses; din diemůt ist versunken in dem sumpfe dines vleisches; din warheit ist ze nihte worden in der lugine dirre welte; din blůmen aller tugenden sint dir abegevallen.

Owe crone der heligen pfafheit, wie bistu verswunden! Joch hastu nicht mere denne das umbeval din selbes, das ist pfaͤffeliche gewalt, da mitte vihtestu uf got und sine userwelten vrúnde. Harumbe wil dich got nidern, e du icht wissest, wan únser herre sprichet alsus: »Ich wil dem babest von Rome sin herze ruͤren mit grossem jamere, und in dem jamere wil ich ime zůsprechen und klagen im, das minú schafhirten von Jerusalem mordere und wolve sint worden, wande si vor minen oͮgen die wissen lamber mordent, und die alten schaf dú sint allú hoͮbtsiech, wan sú (118v) moͤgent nit essen die gesunden weide, die da wahset an den hohen bergen, das ist goͤtlichú liebi und heligú lere. Swer den helleweg nit weis, der sehe an die verboͤsete pfafheit, wie rehte ir leben zů der helle gat mit wiben und mit kinden und mit andern offenbaren súnden. So ist des not, das die jungesten brůder kommen; wan swenne der mantel ist alt, so ist er oͮch kalt. So muͤs ich miner brut, der heligen cristanheit, einen núwen mantel geben.“ Das soͤllent die jungesten brůder wesen, als da vor ist geschriben.

„Sun babest, dis soltu vollebringen, so mahtu din leben lengen; das nu din vorvaren also unlange lebeten, das kumt da von, das si mines heimlichen willen nit vollebrahten.« Alsus sach ich den babest an sinem gebette, und do horte ich, das im got kúndete dise rede.12

Auch vor Kritik am eigenen Stand der Beginen scheut Mechthild während ihrer Beginenzeit nicht zurück, so etwa wenn sie die Frage anspricht, mit welchen Tugenden man an der Eucharistie teilnehmen soll:

Die vil torehtigen beginen, wie sint ir also vrevele, das ir vor únserm almehtigen rihter nit bibenent, wenne ir gotz lichamen so dikke mit einer blinden gewonheit nemment! Nu ich bin die minste under úch, ich můs mich schemmen, hitzen und biben.13

Auch als Nonne in Helfta spart sie beispielsweise im Kapitel VII,27 (Wie der geistlich mensche sin herze sol keren von der welt) nicht mit Kritik an den Klosterschwestern. Bei der Kritik spart sie sogar den Orden der Dominikaner, den sie sonst lobt, nicht aus:

Sant Dominicus der merkte sine bruͤder mit getrúwer andaht, mit lieplicher angesiht, mit heliger wisheit, und nit mit vare, nit mit verkerten sinnen und nit mit grúwelicher gegenwúrtikeit. Den wisen leret er fúrbas me, das er mit gotlicher einvaltekeit solte temperen alle sin wisheit; den einvaltigen lerte er die waren wisheit; den bekorten half er tragen heimelich alles ir herzeleit; die jungen lerte er vil swigen, da von wurden si uswendig gezogen und inwendig wise; die kranken und siechen troste er vil minneklich, und er bedahte oͮch alle ir not mit getrúwem vlisse. Si vroͤweten sich alle gemeine siner langen gegenwúrtekeit, und sin suͤssú geselleschaft mahte inen senfte alle ir kumberliche erbeit. Dirre orden was in den ersten ziten reine, einvaltig und dar zů vol der brennenden gottes liebi. Die reine einvaltekeit, die got einigen menschen git, die wirt <underwilen also> gespottet von etlichen lúten, das er die gabe verlúret, da man die gotz wisheit inne vindet und kúset; das verloͤschet oͮch gotz brennende minne. […] Das man die brůdere ze sere tribet ane erbarmherzekeit und ane suͤsse lere, da von geschehent schedelichú ding, der ich nu muͤs swigen.14

Noch schärfer freilich formuliert Mechthild ihre Kritik am Domkapitel:

Das got die tůmeherren heisset boͤke, das tůt er darumbe, das ir vleisch stinket von der unkúscheit in der ewigen warheit vor siner heligen drivaltekeit.15

Die allgemeine Kritik umgreift auch den Papst, was besonders deutlich wird, wenn man sich das eben zitierte Buch VI,21 (vgl. oben Anm. 30) noch einmal näher ansieht, denn die Krone der hl. Christenheit, die dort im Verfall geschildert wird, ist niemand anders als der Papst, was gerade die direkte Anrede am Ende von Buch VI,26 (Sun babest, dis soltu vollebringen) verdeutlicht. Mechthilds Kritik umgreift dann auch die Kirche als Ganzes (Buch V,34). Gleichzeitig scheut sie nicht davor zurück, ihren eigenen Herkunftsstand und den Adelsstand insgesamt zu kritisieren, etwa wenn sie sich gegen adelige Damen wendet. Die Kritik bleibt allerdings auch nicht einseitig. So ist festzustellen, dass Mechthild die Gefahren, die in den Augen der Kirche von einer kirchenfernen Mystik ausgehen, selbst erkennt und sich unmissverständlich gegen Strömungen ihrer Zeit ausspricht, die auch in ihren Augen häretisch sind: Das Buch VII mit dem Kapitel 47 ist ein sprechendes Beispiel dafür:

XLVII. Von einer súnde dú boͤse ist úber alle súnde

Ein súnde hab ich gehoͤret nemmen. Ich danken des gotte, das ich ir nit erkenne; si dunket mich und ist ob allen súnden boͤse, wan si ist der hohste ungeloͮbe. Ich bin ir von aller miner sele und von allem minem libe und von allen minen fúnf sinnen und von allem minem herzen gram. Ich danken des Jhesu Christo, dem lebendigen gotz sune, das si nie in min herze kam. Dise súnde ist nit von cristanen lúten ufkomen; der homuͤtige vient hat die einvaltigen lúte mit betrogen. Si wellent also helig sin, das si sich in die ewigen gotheit wellent ziehen und legen bi der ewigen heligen menscheit únsers herren Jhesu Christi. Wenne sich die vindent in bobenheit, so gebent si sich in den ewigen vlůch, si wellent doch die heiligosten sin; si habent iren spot uf gotz wort, die von der menscheit únsers herren sint gescriben.

Du allerarmester mensche, bekantestu werlich die ewigen gotheit, so were das unmugelich, du bekantest oͮch die ewigen menscheit, die da swebet in der ewigen gotheit. Du muͤstest oͮch bekennen den heligen geist, der da erlúhtet des cristan menschen herze und smeket in siner sele úber alle suͤssekeit und leret des menschen sinne úber alle meisterschaft, (154v) das er diemuͤtekliche da sprichet, das er vor gotte vollekomen nit mag wesen.16

Dass Mechthild hier sehr konkrete ‚Ketzereien‘ im Auge hat, macht der letzte Satz ihrer Kritik deutlich: Er richtet sich „gegen die Vorstellung von homines perfecti, als welche sich die Mitglieder ketzerischer Sekten, etwa der im Nördlinger Ries, verstanden.“17 Mechthild kritisiert also „Ketzerei“ ebenso scharf wie den Papst, die Beginen wie die Mitschwestern, den Adelsstand und sogar den Orden ihres Beichtigers. Von der eigenen Wahrheit zutiefst durchdrungen, setzt sie sich, bildlich gesprochen, zwischen alle Stühle. Um als Nicht-Theologe, als Laiin und als Frau (!) in dieser Zeit eine solch heftige Kritik in alle Richtungen wagen zu können, bedarf es einer ganz besonderen Legitimation. In der Tat hat sich Mechthild selbst verteidigt. Dies wird in Buch V,12 deutlich, wo sie zur ihrem Beichtvater spricht:

Meister Heinrich, úch wundert sumenlicher worten, die in disem bůche gescriben sint. Mich wundert, wie úch des wundern mag. Mer mich jamert des von herzen sere sid dem male, das ich súndig wip schriben můs, das ich die ware bekantnisse und die heligen erlichen anschowunge nieman mag geschriben sunder disú wort alleine; si dunken mich gegen der ewigen warheit alze kleine.

Ich vragete den ewigen meister, was er har zů spreche. Do antwúrt er alsus: »Vrage in, wie das geschach, das die aposteln kamen in also grosse kůnheit nach also grosser bloͤdekeit, do si enpfiengen den heligen geist. Vrage me, wa Moyses do was, do er niht wan got ansach. Vrage noch me, wa von das was, das Daniel in siner kintheit sprach.«18

Mechthild beruft sich dabei nicht nur auf das Pfingstereignis der Apostel, auf die Begegnung Moses‘ mit Gott und die prophetische Gabe Daniels; sie nimmt diese Gabe für sich selbst in Anspruch und lässt Christus selbst sie ihr zusprechen. Ebenso deutlich wird diese Selbst-Legitimation im Prolog des Werkes, das die Autorschaft des Buches quasi für Gott selbst in Anspruch nimmt. Dabei handelt es sich um ein hochkomplexes Verfahren, das Burkhard Hasebrink, wenn er die Ungelehrte als Lehrerin der Gelehrten vorstellt, so erklärt:

„Die Individualität der Gotteserfahrung verleiht dem ‚Fließenden Licht der Gottheit‘ eine außerordentliche Autorität. Die Provokation, die das Buch offensichtlich schon zu Lebzeiten Mechthilds darstellte, verlangte nach Absicherung und einer grundsätzlichen Legitimation ‚ungelehrter‘, laikal-volkssprachiger Literatur. Im Zentrum dieser Legitimation steht das Konzept der doppelten Autorschaft […], das eine zweifache Legitimation erlaubt:

Das eine Begründungsverfahren zielt auf die religiöse Unterweisung der Magdeburger Begine durch die Dominikaner und ihren Anteil an der Entstehung des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘. Damit stehen die Aussagen des Buches unter der Autorität des gelehrten Diskurses, in dem, wie wir aus der monastischen Tradition wissen, auch das Konzept einer ‚heiligen Einfalt‘ des theologisch Ungelehrten seinen festen Platz hat. Die schlichte Opposition ‚gelehrt‘ versus ‚ungelehrt‘ greift daher zu kurz. Das zweite Begründungsverfahren zielt in der Tradition der Offenbarung auf die Inspiration der Sprecherin durch Gott selbst, so daß nach dieser Vorstellung das Gespräch der Seele mit dem geliebten Partner letzten Endes ein offenbares Selbstgespräch Gottes darstellt.“19

Schon Ruh hatte versucht, Mechthilds Legitimationsmuster durch das Modell der Inspiration zu erklären, indem er auf eine besonders klare Stelle aus Buch IV hinwies:

Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den oͮgen miner sele und hoͤre es mit den oren mines ewigen geistes und bevinde in allen liden mines lichnamen die kraft des heiligen geistes20

Mechthild macht dabei die Gefahr, die von diesem ihrem Buch für sie selbst ausgeht ebenso deutlich, wie sie sich selbst und ihre Leser(innen) gleichzeitig der göttlichen Autorschaft versichert:

Ich wart vor disem buͦche gewarnet, und wart von menschen also gesaget: Woͤlte man es nit bewaren, da moͤhte ein brant úber varen. Do tet ich als von kinde han gepflegen; wenne ich betruͤbet ie wart, so muͦste ich ie betten. Do neigte ich mich zuͦ minem liebe und sprach: »Eya herre, nu bin ich betruͤbet dur din ere; sol ich nu ungetroͤstet von dir beliben, so hastu mich verleitet, wan du hies mich es selber schriben.« Do offenbarte sich got zehant miner trurigen sele und hielt dis buͦch in siner vordern hant und sprach: »Lieb minú, betruͤbe dich nicht ze verre, die warheit mag nieman verbrennen. Der es mir us miner hant sol nemen, der sol starker denne ich wesen. Das buͦch ist drivaltig und bezeichent alleine mich. Dis bermit, das hie umbe gat, bezeichent min reine, wisse, gerehte menschheit, die dur dich den tot leit. Dú wort bezeichent mine wunderliche gotheit; dú vliessent von stunde ze stunde in dine sele us von minem goͤtlichen munde […]«.21

Damit erscheint Mechthilds Buch als Gottes Buch, ihre Worte erscheinen als seine Worte. Und das Buch hat an vielen Stellen eine sprachliche Struktur, die die sprechende Instanz (Gott, Seele, „Mechthild“?) nicht klar erkennen lässt. So erscheint die Frage, wer in diesem Buch eigentlich spricht, als zentrale Frage des gesamten Werkes, in der Forschung heftig diskutiert. Diese Offenheit der Sprecherinstanz im Text findet in der mittelalterlichen Überlieferung des Textes eine Entsprechung. Dies zeigt sich, wenn man die Widmung betrachtet, mit der die Einsiedler Handschrift des Textes verschickt worden war:

Den swesteren in der vorderen oͮwe / Ir soͤnt wissen / das das bůch / das úch wart / von der zem Guldin Ringe / das do heist / das liecht der Gotheit / des soͤnt ir wol war [übergeschrieben] nemen / also das es sol dienen in alle húser des waldes / und sol us dem walde niemer kommen / und sol ie ein monat in eim huse sin/ also [wenne man gestrichen] das es umb sol gan / von eim in das ander / wenne man sin bedarf / und soͤnt ir sin sunderlich behůt sin / wand si sunderlich trúwe zů úch hatte / bittent oͮch fúr mich / der ir bichter was / leider unwirdig /

Von mir Her Heinrich von Rumershein von Basel ze sant Peter.22

Die Handschrift der alemannischen Umschrift ‚geht um‘, sie zirkuliert, sie ist zugleich Mittel der Kommunikation zwischen ihrem Absender, der sie seinerseits nur weiterreicht, und den Empfängerinnen; sie ist im Gebrauch einer bestimmten Gruppe, die sie damit geradezu konstituiert: Sie bildet deren Arkanum, sie oszilliert zwischen Veröffentlichung und Geheimhaltung, zwischen Offenbarung und Geheimnis; sie ist im Gebrauch, aber dieser Gebrauch ist zugleich Heil. Deutlich formuliert wird das im ‘Begleitschreiben’ Heinrichs von Nördlingen:

Ich send euch ain buch das haisst Das liecht der gothait. dar zu zwinget mich das lebend liecht der hitzigen mine Christi, wan es mir das lustigistz tützsch ist und das innerlichst rürend minenschosz, das ich in tützscher sprach ie gelas. eia! ich man euch als des gutz, das got in im selber ist und in diszem buch bewiszt hat. lesent es begirlich mit ainem innern gemerck ewers hertzen und ee irs an vahint ze lesent, so beger ich und gebüit euch in dem heiligen geist, das ir im vii Veni sancte Spiritus mit vii venien vor dem altar sprechent und unserm heren und seiner megdlichen mutter Maria auch vii paternoster und Ave Maria sprechent auch mit vii venien, und der junckfroulicher himelscher orgelkunigin, durch die got ditz himelschs gesang hat usz gesprochen, und allen heiligen mit ir auch vii paternoster und Ave Maria mit vii venien sprechint. und ee brechent das versigelt buch nit uf, ee ir desse gebet tuwend und nemen dar zu alle, die gnad dar zu habint mit ernst, und dar nach vahent an ze lesend sitlichen und nit ze vil […]. uberlesent es dri stund, es stat dran ix. ich getrüwe, es sulle ewer sel gnaden vil mer ernst sein.23

Mechthilds Mystik, ihr buch, ist Schrift-Mystik,24 es wird von den Rezipienten gar teilweise an die Stelle der Heiligen Schrift gesetzt. Die weitergereichte Handschrift tritt an die Stelle des versiegelten Buches der Offenbarung des Johannes; und wenn das Siegel eröffnet ist, wird Mechthilds Licht im quasi-liturgischen Gebrauch zum Heilsboten, dessen Heilsbotschaft im Nachvollzug des Textes in der gemeinsamen mehrmaligen Lektüre nicht nur zu erlesen ist, sondern erfahrbar und erlebbar wird.

Von den Reflexionen seiner Überlieferer her gesehen also ist Mechthilds Licht ein ausgesprochen lebendiges Wesen, das lebende Buch. Dass es dies auch von der Überlieferung selbst her ist, steht seit langem außer Zweifel: Die Textgeschichte führt von Mechthilds mehrjährigen Aufzeichnungen über einen (oder mehrere) Redaktor(en) zu einer alemannischen Bearbeitung, einer Übersetzung ins Lateinische, eine Rückübersetzung ins Deutsche und so fort. Wie lebendig diese Text- und Überlieferungsgeschichte ist, hat der erwähnte – sensationelle – Fund des Halberstädter Fragmentes in Moskau mit einer mitteldeutsch/niederdeutschen Fassung gezeigt.25

Wer aber hat das bůch gemachet? Nach Aussage des Prologs die gotheit. Beteiligt ist aber auch eine „Ich“ genannte Instanz, und beteiligt sind Schreiber, die nach Aussage dieses Ich das Buch na mir haben geschriben.26 Balász Nemes hat in seiner großen Überlieferungsstudie die Ergebnisse auf den Punkt gebracht:

Der Anteil der an der Buchgenese beteiligten Instanzen ist nicht zu bestimmen. […] Die hier besprochenen Stellen führen uns einen komplexen Schreibprozess vor Augen, der bis in Autornähe zurückreicht und auf eine „tradition vivante“ schließen lässt. Bemerkenswerterweise findet diese ihre Bestätigung in dem aufgezeigten textgeschichtlichen Befund. Demnach müssen wir sowohl auf auktorialer (gemeint ist die Situation Mechthilds als schreibende Frau) als auch auf semiauktorialer (gemeint ist der Fall des Diktats und des Abschreibens mit all ihren Implikationen für die Textgeschichte) sowie auf redaktioneller Ebene (Dominikaner, Helftaer Mitschwestern als Bearbeiter) mit einer kontinuierlichen „Arbeit am Text“ rechnen, einer Arbeit, die auch nach der Veröffentlichung einzelner Werkabschnitte, beispielsweise der Bücher I–VI, fortgesetzt wurde und zur Entstehung von Versionen beigetragen hat. Das immer wieder postulierte Original – Original meint hier nicht den Autortext, sondern den Ausgangspunkt der uns vorliegenden Überlieferung – scheint es offenbar nur im Plural gegeben zu haben.27

Dies sind demnach nicht Ergebnisse, die sich erst aus der Überlieferungsgeschichte ableiten ließen, sondern sie sind dem Text selbst von allem Anfang an eingeschrieben: Das Buch selbst ist die entscheidende Größe; es kommt von Gott, fließt durch den ungelerten munt und wird vom schriber / von den schribern geschrieben. Das Buch selbst aber steht im Mittelpunkt, nicht als (ab)geschlossenes, sondern als werdendes. Der Text heißt – in den Augen der Instanzen, die ihn zu verantworten haben (bei der Autorin, wenn wir sie denn so nennen wollen, bei dem/den Redaktor(en), bei dem/den Schreiber(n) – ein fließendes Licht der Gottheit. Damit wird der prozessuale Charakter eben dieses Textes betont: Es handelt sich um einen Fluss, der von Gott, über die verschiedenen Instanzen des Textes, bis zu seinen Rezipienten fließt. Damit gewinnt das Buch eine Qualität, die in der Mystik gemeinhin der göttlichen Emanation zugeschrieben wird. Mechthilds Text beschreibt nicht den Fluss, er ist der Fluss, er (be)schreibt nicht mystisches Ereignis, er ist mystisches Ereignis. Der Text vereint so Gott und Sprecher und Schreiber und Hörer und Leser im unaufhörlichen Prozess seiner eigenen Buch-Werdung.

 

Aus all dem ergibt sich auch ein eminent dialogischer (wenn nicht polylogischer) Charakter des Fließenden Licht der Gottheit, den schon Kurt Ruh hervorgehoben hat:

Mechthild verfügt über die verschiedensten Arten des Dialogs und die ihm benachbarten Formen wie die Anrede, das Gebet, den Lobpreis, die ja alle den Partner voraussetzen. Wo Liebe das Thema der Gottesbeziehung ist, wird die Gesprächsform vielfach hymnisch oder auf den Ton des Hoheliedes gestimmt. Die Partnerschaft des Ich bzw. der Seele mit Gott schafft einen personalen Gesprächstyp, der sich nirgends so unmittelbar geäußert hat wie im ‹Fließenden Licht›. Es ist nicht zuletzt dieser Gesprächscharakter der Liebesbeziehung zu Gott, der die Einzigartigkeit Mechthilds ausmacht.28

Diese Einzigartigkeit Mechthilds hat Ruh mit dem dichterischen Charakter ihres Werkes in Verbindung gebracht. Ruh feiert Mechthild geradezu als Dichterin:

Jede Lektüre bestätigt erneut den ungewöhnlichen Rang von Mechthilds ‹Fließendem Licht der Gottheit›, und er gilt weit über ihr Jahrhundert hinaus. An poetischer Kraft hat Mechthild nicht ihresgleichen. Sie ist eine Dichterin, freilich ohne höhere poetische Technik – das unterscheidet sie von Hadewijch –, aber dies ist auch nicht nur ihre Einzigartigkeit, sondern ihre eigentliche Qualifikation. Das Mittelalter hat eine hochentwickelte Kunstlyrik hervorgebracht, und wo uns schlichte Reimereien begegnen, da handelt es sich in der Regel um abgesunkene Kunstformen. Das ist bei Mechthild anders. Wo sie mit Rhythmen und Reimen spielt, wo sie «singt», treten uns Formen und Bilder entgegen, die ihre Welt- und Seelenerfahrung in einer für das Mittelalter sonst nicht bezeugten Unmittelbarkeit spiegeln.29

Dass Mechthild sprachlich dabei von der höfischen Literatur geprägt ist, steht außer Zweifel. Das dürfte sie ihrer adligen Erziehung verdanken. So lässt sich zum Beispiel eine Nähe zur höfisch-ritterlichen Sprache konstatieren:

XVIII. Von des ritters strite mit vollen waffenen wider die begerunge

Ich bat fúr einen menschen, als ich was gebetten, das im got des lichamen beruͤrunge woͤlte benemen, das doch ane sûnde geschiht, des der boͤse wille da zuͦ nit bringet. Do sprach únser herre: »Swig! Behagete dir, das da ein ritter were mit vollen waffenen und von edeler kunst unde mit warer mankraft und mit geringen henden, das der lidig were und versumete sines herren ere und verlúre den richen solt und den edeln lobes schal, den beide, der herre und der ritter, in den landen behaben sol? Mere wa aber were ein ungetroierter man, der von ungerete nie ze strite kam – woͤlte der in fúrsten turneie komen, dem were schiere sin lip benomen. Darumbe muͦs ich der lúten schonen, die so lihte ze valle koment. Die lan ich striten mit den kinden, uf das si ein bluͦmenschappel ze lone gewinnin.«30

Noch deutlicher ist die Nähe zum Bereich des Höfischen, wenn etwa der Hof selbst erwähnt wird oder im Bereich der höfischen Terminologie des Minnesangs. Dies zeigt sich etwa im Buch I,4:

IV. Von der hovereise der sele, an der sich got wiset

Swenne die arme sele kumet ze hove, so ist si wise und wol gezogen. So siht si iren got vroͤlichen ane. Eya, wie lieplich wirt si da enpfangen! So swiget si und gert unmesseklich sines lobes. So wiset er ir mit grosser gerunge sin goͤtlich herze. Das ist gelich dem roten golde, das da brinnet in einem grossen kolefúre. So tuͦt er si in sin gluͤgendes herze. Alse sich der hohe fúrste und die kleine dirne alsust behalsent und vereinet sint als wasser und win, so wirt si ze nihte und kumet von ir selben. Alse si nút mere moͤgi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gat zuͦ noch abe. So sprichet si: »Herre, du bist min trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.« Dis ist ein hovereise der minnenden selen, die ane got nút wesen mag.31

Dass Mechthilds Sprache dabei auch durch Kolonreime geprägt ist, hat Hans Neumann in seiner Edition auch optisch deutlich gemacht. Man muss insgesamt von einer Mischform zwischen Prosa und Lyrik ausgehen. Eine einzige Stelle dürfte reichen, um dies zu zeigen:

Do klagte si: »Owe herre, joch bist du mir alze lange vroͤmde; koͤnde ich dich, herre, mit zoͮfere gewinnen, das du nit moͤhtest geruͦwen denne an mir; eya, so gienge es an ein minnen; so muͤstest du mich denne bitten, das ich fuͤre mit sinnen.« Do antwúrt er und sprach alsust: »O du unbewollen tube, nu goͤnne mir des, das ich dich muͤsse sparen; dis ertich mag din noch nit enbern.« Do sprach si: »Eya herre, moͤhte mir das ze einer stunt geschehen, das ich dich nach mines herzen wúnsche moͤhte angesehen und mit armen umbevahen und din goͤtlichen minnelúste muͤsten dur mine sele gan, als es doch menschen in ertrich mag geschehen. Was ich da nach liden woͤlte, das wart nie von menschen oͮgen gesehen; ja, tusent toͤde weren ze lihte. Mir ist, herre, nach dir also we! Nu wil ich in der trúwe stan; maht du es herre, erliden, so las mich lange jamerig nach dir gan. Ich weis das wol, dich muͦs doch, herre, der erste lust nach mir bestan.«32

Die kurzen Beispiele der Kapitel XVII–XX aus Buch I können vielleicht zeigen, mit welcher Intensität Mechthild hier den Dialog zwischen der Seele und dem himmlischen Bräutigam gestaltet und welche sprachgewaltigen Sprachspiele sie dabei auch verwendet.

XVII. Die sele lobet got an fúnf dingen

O du giessender got an diner gabe, o du vliessender got an diner minne, o du brennender got an diner gerunge, o du smelzender got an der einunge mit dinem liebe, o du ruͦwender got an minen brústen, ane dich ich nút wesen mag!

XVIII. Got gelichet die selen fúnf dingen

O du schoͤne rose in dem dorne, o du vliegendes bini in dem honge, o du reinú tube an dinem wesende, o du schoͤnú sunne an dinem schine, o du voller mane an dinem stande, ich mag mich nit von dir gekeren.

XIX. Got liebkoset mit der sele an sehs dingen

Du bist min senftest legerkússin, min minneklichest bette, min heimlichestú ruͦwe, min tiefeste gerunge, min hoͤhste ere! Du bist ein lust miner gotheit, ein trost miner moͤnschheit, ein bach miner hitze!

XX. Dú sele widerlobet got an sehs dingen

Du bist min spiegelberg, min oͮgenweide, ein verlust min selbes, ein turm mines hertzen, ein val und ein verzihunge miner gewalt, min hoͤhste sicherheit!33

Alois Haas hat anhand solcher und ähnlicher Wendungen des Textes deutlich gemacht, dass der mystische Diskurs, der hier literarische Autonomie und das Niveau der Poetizität gewinnt, paradoxerweise die Dimension der Alterität Gottes in poetische Formen gießt und die Grenze des Sagbaren gerade in der Poesie übersteigt, gleichzeitig auf die dichterische Sprache selbst und die Grenze des Sagbaren aufmerksam macht:34 „Unbeschadet der poetischen Autonomie und gewissermaßen sie bestätigend und gleichzeitig aufhebend wirkt“, so Haas,

das Moment der Transzendenz in der mystischen Aussage: Oft tritt es als Gebot des Schweigens auf, als mystische Sprachfeindlichkeit, die über dem Unsagbaren zu verstummen gebietet, oft aber auch als ein schwer zu bestimmender Mehrwert des Gesagten, als ‚Entrückung‘ des Sprechens selber, erkenntlich an ganz bestimmten Sprachformen wie Negation, Kontradiktion (Paradox), Superlation (‚über‘-Wendungen).35

Ingrid Kasten hat mit Blick auf das mystische Schweigen auf folgende, von sexueller Metaphorik geprägte Stelle hingewiesen:

So gat dú allerliebste zů dem allerschoͤnesten in die verholnen kammeren der unsúnlichen gotheit. Da vindet si der minne bette und minnen gelas, von gotte unmenschlichebereit. So sprichet únser herre: »Stant, vroͮwesele!« »Was gebútest du,herre?« »Ir soͤnt úch usziehen!« »Herre, wie sol mir dennegeschehen?« »Froͮw sele, ir sint so sere genatúrt inmich, das zwúschent úch und mirnihtes nit magsin. […] Darumbe sont ir von úchlegen beide vorhte undschame und alle uswendig tugent; mer alleine die ir binnen úch tragent von nature, (14v) der sont ir eweklich phlegen: Das ist úwer edele begerunge und úwer grundelosegirheit; die wil ich eweklich erfúllen mit miner endelosen miltekeit.« »Herre, nu bin ich ein nakent sele und du in dir selben ein wolgezieret got. Únser zweiger gemeinschaft ist das ewige lip anetot.« So geschihet da ein selig stilli nach ir beiderwillen. Er gibet sich ir und si git sich ime.36

Ich zitiere Kasten:

Diese Stelle vermittelt einen Eindruck davon, mit welchen Mitteln Mechthild die Intensität und Direktheit der mystischen Liebeserfahrung sprachlich zum Ausdruck bringt. Das Schweigen, die Stille, erscheint hier nicht, wie bei Augustin und später noch bei Eckhart, als Voraussetzung für die Entrückung, sondern als deren Höhepunkt. Es markiert das Intimum, das Unaussprechliche, der Gotteserfahrung. Gelegentlich markiert Mechthild diese Grenze ausdrücklich, indem sie erklärt, der Genuß in der unio sei unsagbar (S. 264) und das allerliebeste müsse sie verschweigen (S. 258), sie macht ferner für die Bräute Christi das Recht geltend, darüber zu schweigen, was sie erfahren (S. 50). Schließlich verweist sie auch auf die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache, die göttliche Wahrheit zu kommunizieren (S. 166): „mich jamert des von herzen sere sid dem male, das ich súndig wip schriben muos, das ich die ware bekantnisse und die heligen erlichen anschouwunge nieman mag geschriben sunder disú wort alleine; sie dunkent mich gegen der ewigen warheit alze kleine.37

Das fließende Licht der Gottheit provoziert bei seiner Empfängerin also mindestens ebenso sehr wie die Sprache das Schweigen. Ohne in stetem Fluss je ein Verstummen zu erlauben.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Hg. Gisela Vollmann-Profe. Frankfurt a.M. 2003.

–: „Das fließende Licht der Gottheit“. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung. Hgg. Hans Neumann und Gisela Vollmann-Profe. 2 Bde. München/Zürich 1990 und 1993.

Forschungsliteratur

Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie. Beck 2006.

–: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. Beck 2010.

–: „Meister Eckhart. Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten“. Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hg. Peter Koslowski. Zürich 1988. 94–110.

Haas, Alois Maria: „Mechthild von Magdeburg“. Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (Dokimion 4). Freiburg/Schweiz 1979. 67–135.

Hasebrink, Burkhard: „‚Das fließende Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. Eine Skizze“. Bete und arbeite! Zisterzienser in der Grafschaft Mansfeld. Begleitband zur Ausstellung im Sterbehaus Martin Luthers in Eisleben, 24.10.1998–24.6.1999. Hg. von Esther Pia Wipfler. Halle a.d. Saale 1998. 149–159.

Kasten, Ingrid: „Die doppelte Autorschaft. Zum Verhältnis Sprache des Menschen und Sprache Gottes in mystischen Texten des Mittelalters“.