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Poe fürs 21. Jahrhundert: Das fulminante Finale der fünfbändigen Werkausgabe Edgar Allan Poes literarisches Schaffen war von Anfang an Provokation: Das Modische, das Unoriginäre war ihm verhasst. Das puritanische Amerika strafte ihn dafür mit übler Nachrede und Vergessen. Erst in Frankreich fand er posthum geistiges Exil: Kein Geringerer als Charles Baudelaire übersetzte und kommentierte seine Werke in fünf Bänden und erhob ihn endlich in den Rang, der ihm gebührt. Mit eben dieser Ausgabe von Baudelaire beginnt die literarische Moderne. Der letzte Band der bestechenden Neuübersetzung von Andreas Nohl – so nah am Original und so gut lesbar wie noch nie – zeigt Poes Werk in seinem ganzen Facettenreichtum – von der Detektivgeschichte und Satire bis hin zu paradigmatischen Texten über Ästhetik und Tod.
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2025
Poes Meisterdetektiv Dupin - ohne den es einen Sherlock Holmes nie gegeben hätte - kommt mit messerscharfem Verstand dem Geheimnis eines Mordes sowie der Scharlatanerie eines unfehlbaren Schachautomaten auf die Spur. In anderen Texten werden wir Zeuge, wie Poe den romantischen Zeitgeist mit dem Erfordernis der journalistischen und sensationsheischenden Moderne in Ein klang zu bringen sucht. Unter anderem schreibt er über die exzessive Liebe zu einer sterbenden Frau, parodiert in einer historischen Vignette einen berühmten Bibelroman, und beweist in genialen Satiren, welch ein Gespür er für die Schwächen der menschlichen Natur hat. Es sind Texte, in denen sich wieder einmal offenbart: Poe war von Anfang an ein Autor für die Ewigkeit.
Edgar Allan Poe
Herausgegeben von Charles Baudelaire
Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Nohl
Eine Fortsetzung von »Doppelmord in der Rue Morgue«
Es giebt eine Reihe idealischer Begebenheiten, die der Wirklichkeit parallel läuft. Selten fallen sie zusammen. Menschen und Zufälle modificieren gewöhnlich die idealische Begebenheit, so dass sie unvollkommen erscheint, und ihre Folgen gleichfalls unvollkommen sind. So bei der Reformation: statt des Protestantismus kam das Luthertum hervor.
Novalis, Moralische Ansichten[2]
Selbst unter den Besonnensten finden sich ausnehmend wenige Personen, denen nicht dann und wann etwas so Verblüffendes widerfahren ist, dass sie sich in die verwirrende und doch auch faszinierende Welt des Halbglaubens an das Übernatürliche versetzt sehen – ausgelöst durch Koinzidenzen so erstaunlicher Art, dass sie dem Geist gar nicht als bloße Koinzidenzen erscheinen. Solche Empfindungen – denn besagter Halbglaube verfügt nie über die ganze Kraft des Denkens – lassen sich selten zur Gänze unterdrücken, es sei denn durch die Lehre vom Zufall[3] oder, wie es technisch korrekt heißt, die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nun ist diese Rechnung rein mathematischer Natur; und so haben wir hier die Anomalie, dass die strengste und wissenschaftlich exakteste Methode auf den Schatten und Geist der am wenigsten greifbaren Spekulation angewandt wird.
Die außergewöhnlichen Einzelheiten, die zu veröffentlichen ich nun aufgefordert bin, bilden nach ihrer zeitlichen Abfolge den ersten Teil einer Reihe von kaum glaublichen Koinzidenzen, deren zweiter oder abschließender Teil von allen Lesern als der kürzlich in New York geschehene Mord an Mary Cecilia Rogers erkannt werden wird.
Als ich vor etwa einem Jahr in einem längeren Artikel unter dem Titel »Der Doppelmord in der Rue Morgue« einige der bemerkenswerten geistigen Charakterzüge meines Freundes, des Chevalier C. Auguste Dupin, zu beschreiben versuchte, rechnete ich nicht damit, dass ich das Thema je noch einmal aufgreifen würde. Um eben diese Charakterstudie war es mir zu tun, und mein Vorhaben realisierte sich anhand der damaligen Ereignisse, deren Verlauf Dupins Idiosynkrasie beispielhaft sichtbar machte. Ich hätte noch andere Beispiele anführen können, aber damit wäre auch nicht mehr bewiesen worden. Allerdings haben die jüngsten Vorkommnisse und ihre überraschende Entwicklung unversehens weitere Details in mir wachgerufen, die sich nun fast wie ein unfreiwilliges Geständnis ausnehmen. Nach allem, was ich kürzlich erfahren habe, wäre es freilich seltsam, wenn ich angesichts der Dinge, die ich vor so langer Zeit hörte und sah, Stillschweigen bewahren würde.
Kaum hatte der Chevalier die Tragödie um den Tod von Madame L’Espanaye und ihrer Tochter[4] aufgeklärt, wendete er sein Interesse von dem Fall ab und verfiel wieder in seine alte Gewohnheit melancholischer Tagträumerei. Ich selbst, immer für Ablenkung zu haben, schloss mich bereitwillig seiner Laune an; während wir nach wie vor unsere Zimmer im Faubourg Saint Germain bewohnten, pfiffen wir auf die Zukunft und dösten entspannt in der Gegenwart vor uns hin und woben um die öde Welt ringsum das Kleid unserer Phantasie.
Doch blieben diese Träumereien keineswegs ungestört. Man wird sich leicht vorstellen können, dass die Rolle, die mein Freund im Drama in der Rue Morgue spielte, ihren Eindruck auf die Pariser Polizei nicht verfehlt hatte. Bei ihren Agenten war der Name Dupins ein stehender Begriff. Da der einfache Charakter jener Schlussfolgerungen, die zur Lösung des rätselhaften Falls geführt hatten, selbst dem Präfekten nie erklärt worden war, noch sonst einer Person außer mir selbst, ist es natürlich nicht weiter überraschend, dass man die Sache für kaum geringer als ein Wunder ansah beziehungsweise dass die analytischen Fähigkeiten des Chevaliers ihm den Ruf hellseherischer Fähigkeiten eintrugen. Aufrichtig wie er war, hätte er hingegen jeden Nachfragenden eines Besseren belehrt; doch sein träges Gemüt schloss jede weitere Erregung durch ein Thema aus, an dem er schon seit langem das Interesse verloren hatte. So kam es, dass er für die Polizeidetektive zum Leitstern wurde; und der Fälle waren nicht wenige, in der die Präfektur[5] versuchte, sich seiner Dienste zu versichern. Eines der bemerkenswertesten Beispiele war der Mord an einer jungen Frau namens Marie Rogêt.
Dieser Fall ereignete sich etwa zwei Jahre nach der Gräueltat in der Rue Morgue. Marie, deren Tauf- und Familienname durch seine Ähnlichkeit mit dem des unglücklichen »Zigarren-Mädchens« unmittelbar aufhorchen lässt, war die einzige Tochter der Witwe Estelle Rogêt. Der Vater war verstorben, als sie noch klein war, und vom Zeitpunkt seines Todes bis achtzehn Monate vor ihrer Ermordung, um die es in unserem Bericht geht, lebten Mutter und Tochter gemeinsam in der Rue Pavée Saint André; Madame führte dort, unterstützt von Marie, eine Pension. Das blieb so, bis letztere zweiundzwanzig wurde und ihre große Schönheit die Aufmerksamkeit eines Parfumhändlers weckte, der im Untergeschoss des Palais Royal einen Laden betrieb und dessen Kundschaft in der Hauptsache aus den hoffnungslosen Abenteurern bestand, die diese Gegend bevölkern. Monsieur Le Blanc war sich der Vorteile durchaus bewusst, die sich durch die Anwesenheit der schönen Marie in seiner Parfümerie ergaben; und die junge Frau nahm sein großzügiges Angebot bereitwillig an, während Madame eher zurückhaltend darauf reagierte.
Die Erwartungen des Ladenbesitzers erfüllten sich, und seine Räume bekamen durch den Charme der quirligen Grisette[6] Zulauf. Sie war etwa ein Jahr lang seine Angestellte gewesen, als sie plötzlich aus dem Laden verschwand, was ihre Verehrer in helle Aufregung versetzte. Monsieur Le Blanc hatte für ihr Ausbleiben keine Erklärung, und Madame Rogêt war vor Angst und Sorge außer sich. Die Zeitungen griffen den Vorfall sofort auf, und die Polizei wollte schon mit einer ernsthaften Fahndung beginnen, als Marie eines schönen Morgens, nach Ablauf einer Woche, gesund und munter, wenn auch mit einem Anflug von Traurigkeit, wie gewohnt wieder hinter der Ladentheke der Parfümerie auftauchte. Alle Nachforschungen, mit Ausnahme solcher privater Natur, wurden natürlich sofort eingestellt. Monsieur Le Blanc gab wie zuvor an, von nichts zu wissen. Marie antwortete, in Übereinstimmung mit Madame, auf alle Fragen, dass sie die vergangene Woche im Haus von Verwandten auf dem Lande verbracht habe. So verblasste die Affäre und geriet schließlich in Vergessenheit; denn die junge Frau nahm bald darauf, offenbar um sich der zudringlichen Neugierde zu entziehen, endgültig Abschied von dem Parfumhändler und suchte Schutz in der Wohnung ihrer Mutter in der Rue Pavée Saint André.
Etwa drei Jahre nach dieser Heimkehr wurden ihre Freunde erneut durch ihr plötzliches Verschwinden beunruhigt. Drei Tage vergingen, und nichts war von ihr zu hören. Am vierten fand man ihre Leiche in der Seine, sie trieb nahe dem Ufer gegenüber dem Quartier, zu dem die Rue Saint André gehört, an einer Stelle nicht weit von der abgeschiedenen Gegend der Barrière du Roule.[7]
Die Abscheulichkeit dieses Mordes (denn es war sofort klar, dass es sich um Mord handelte), die Jugend und Schönheit des Opfers, vor allem auch verbunden mit ihrer früheren Bekanntheit, lösten unter den zartfühlenden Parisern tiefe Anteilnahme aus. Ich erinnere mich an kein zweites Ereignis, das eine so allgemeine und intensive Wirkung hervorgerufen hätte. Mehrere Wochen lang vergaß man über diesem aufrüttelnden Vorfall sogar die wichtigen Probleme der Tagespolitik. Der Präfekt gab sich ungewöhnliche Mühe; und die Kräfte der gesamten Pariser Polizei wurden natürlich in äußerstem Maß beansprucht.
Nach der Entdeckung der Leiche erschien es zunächst unvorstellbar, dass der Mörder sich längere Zeit den sogleich begonnenen Ermittlungen entziehen könnte. Erst nach Ablauf einer Woche wurde es als notwendig erachtet, eine Belohnung auszusetzen; und selbst dann blieb die Summe auf tausend Francs beschränkt. Währenddessen schritten die Nachforschungen zügig voran, wenn auch nicht immer mit Augenmaß, und es wurden zahlreiche Personen ohne jedes Ergebnis verhört – unterdessen steigerte sich die Unruhe in der Öffentlichkeit, denn es wurden keinerlei Fortschritte bei der Auflösung des Rätsels gemacht. Nach Ablauf des zehnten Tages hielt man es für angezeigt, die ursprüngliche Summe zu verdoppeln. Und nachdem schließlich die zweite Woche ohne Ergebnis verstrichen war und die Abneigung, die in Paris stets gegen die Polizei herrscht, sich in mehreren Ausschreitungen Luft gemacht hatte, lobte der Präfekt in eigener Verantwortung zwanzigtausend Francs für die Ergreifung des Mörders aus – oder, falls mehrere Täter beteiligt sein sollten, »für die Ergreifung von irgendeinem der Mörder«. In der Verlautbarung, die diese Summe auslobte, wurde jedem Komplizen, der bereit war, gegen seine Mittäter auszusagen, volle Straffreiheit zugesichert. Und dem Ganzen wurde, wo immer es aushing, das private Plakat eines Bürgerkomitees angehängt, das zusätzlich zu dem Betrag des Präfekten zehntausend Francs auslobte. Die Gesamtbelohnung belief sich damit auf nicht weniger als dreißigtausend Francs, eine außerordentliche Summe, wenn man die bescheidenen Verhältnisse der jungen Frau und die Häufigkeit solcher Gräueltaten in großen Städten berücksichtigt.
Niemand zweifelte nun daran, dass das Geheimnis dieses Mordes bald an den Tag kommen würde. Doch obgleich es in ein oder zwei Fällen zu Verhaftungen kam, die Aufklärung versprachen, fand man nichts heraus, was die Verdächtigen hätte belasten können, und sie wurden alsbald wieder auf freien Fuß gesetzt. So seltsam es erscheinen mag, nach der Entdeckung des Leichnams vergingen drei Wochen, in denen man im Dunkeln tappte, ehe auch nur ein Gerücht von den Ereignissen, die die Öffentlichkeit derart in Atem hielten, Dupin oder mir zu Ohren kam. In Untersuchungen vertieft, die unsere ganze Aufmerksamkeit beanspruchten, war seit fast einem Monat keiner von uns beiden außer Haus gewesen oder hatte einen Besucher empfangen oder mehr als einen flüchtigen Blick auf die Leitartikel in den Tageszeitungen geworfen. Die erste Nachricht über den Mord wurde uns von G… persönlich überbracht. Er suchte uns am 13. Juli 18** früh am Nachmittag auf und blieb bis tief in die Nacht. Es ärgerte ihn, dass er die Mörder trotz all seiner Bemühungen noch nicht aufgespürt hatte. Sein Ruf – so sagte er auf seine typisch pariserische Art – stünde auf dem Spiel. Selbst seine Ehre sei betroffen. Das Auge der Öffentlichkeit sei auf ihn gerichtet, und er sei bereit, jedes Opfer zu bringen, um das Geheimnis zu lüften. Er schloss seine etwas absonderliche Rede mit einem Kompliment über Dupins Takt, wie er es zu nennen beliebte, und machte ihm ein direktes und ohne Zweifel großzügiges Angebot, dessen Bedingungen preiszugeben ich mich nicht befugt fühle, was aber für den Gegenstand meines Berichts auch keine Bedeutung hat.
Das Kompliment wies mein Freund, so gut er konnte, zurück, doch das Angebot nahm er ohne Zögern an, auch wenn es unter Erfolgsvorbehalt stand. Nachdem dies erledigt war, platzte der Präfekt förmlich mit der Darstellung seiner eigenen Ansichten heraus, wobei er lange Erläuterungen zu den Indizien einfügte – über letztere hatten wir allerdings noch keine Kenntnis. Er sprach ausführlich und ohne Zweifel; und nur gelegentlich wagte ich etwas einzuwerfen, während die Nacht sich dahinschleppte. Dupin saß regungslos in seinem gewohnten Lehnsessel, ein Inbild höflicher Aufmerksamkeit. Während des ganzen Gesprächs nahm er seine Brille kein einziges Mal ab; es genügte der ein oder andere Blick unter die grünen Gläser, um mich zu vergewissern, dass er, obzwar geräuschlos, in den sieben oder acht bleiernen Stunden, die dem Aufbruch des Präfekten vorausgingen, tief schlief.
Am Morgen besorgte ich auf der Präfektur ein vollständiges Dossier aller zusammengetragenen Indizien und in den Zeitungskontoren ein Exemplar jeder Ausgabe, von der ersten bis zur letzten, die irgendeine wesentliche Information zu dieser traurigen Affäre publiziert hatte. Bereinigt von allem, was bereits widerlegt worden war, ergaben die Informationen Folgendes:
Marie Rogêt verließ am Sonntagmorgen, dem 22. Juni 18**, gegen neun Uhr die Wohnung ihrer Mutter in der Rue Pavée St. André. Beim Verlassen des Hauses teilte sie einem gewissen Monsieur Jacques St. Eustache, und nur ihm, ihre Absicht mit, den Tag bei einer Tante zu verbringen, die in der Rue des Drômes wohnte. Die Rue des Drômes ist eine kurze und schmale, aber belebte Durchgangsstraße, nicht weit vom Flussufer und auf kürzestem Wege etwa zwei Meilen von Madame Rogêts Pension entfernt. St. Eustache war der anerkannte Bewerber um Maries Hand und genoss in der Pension Kost und Logis. Bei Einbruch der Dunkelheit sollte er seine Verlobte abholen und sie nach Hause begleiten. Doch am Nachmittag setzte heftiger Regen ein; in der Annahme, sie würde die Nacht bei ihrer Tante bleiben (wie sie es unter ähnlichen Umständen schon zuvor getan hatte), hielt er es nicht für nötig, seine Zusage zu halten. Als der Abend voranschritt, hörte man Madame Rogêt (eine gebrechliche alte Dame von siebzig Jahren) die Befürchtung äußern, sie werde »Marie nie wieder sehen«; aber diese Bemerkung fand keine weitere Beachtung.
Am Montag stellte sich heraus, dass die junge Frau nicht in der Rue des Drômes gewesen war; und als der Tag ohne Nachricht von ihr hinging, wurde an verschiedenen Orten der Stadt und ihrer Umgebung eine verspätete Suche eingeleitet. Doch erst am vierten Tag nach Maries Verschwinden gab es konkrete Hinweise zu ihrem Verbleib. An jenem Tag (Mittwoch, den 25. Juni) erhielt ein gewisser Monsieur Beauvais, der sich mit einem Freund nahe der Barrière du Roule am Seineufer, das der Rue Pavée St. André gegenüberliegt, nach Marie erkundigt hatte, soeben hätten Fischer eine Leiche an Land gezogen, die sie im Fluss treiben sahen. Bei Ansicht des Leichnams identifizierte Beauvais ihn nach einigem Zögern als den des Parfümerie-Mädchens. Sein Freund erkannte sie sofort.
Das Gesicht war von dunklem Blut bedeckt, das auch aus dem Mund drang. Kein Schaum, wie sonst bei Ertrunkenen, war zu sehen. Das Zellgewebe zeigte keine Verfärbung. Der Hals wies Blutergüsse und Fingerabdrücke auf. Die Arme waren über der Brust gekreuzt und steif. Die rechte Hand war zur Faust geballt, die linke halb geöffnet. Am linken Handgelenk zeigten sich zwei ringförmige Hautabschürfungen, offenbar von Seilen oder von einem mehrfach darum gewundenen Seil. Auch ein Teil des rechten Handgelenks war stark abgeschürft, ebenso der Rücken der ganzen Länge nach, vor allem aber die Schulterblätter. Um den Körper an Land zu holen, hatten die Fischer ein Seil um ihn gelegt; keine der Verletzungen rührte aber daher. Der Hals war stark geschwollen. Es waren keine Schnittwunden zu erkennen, desgleichen keine Blutergüsse infolge von Schlägen. Ein Stück Spitzenborte war so stramm um den Hals gebunden, dass man es zunächst nicht sehen konnte; es war vollkommen im Fleisch eingesunken und direkt unter dem linken Ohr verknotet. Dies allein schon hätte zum Tod geführt. Das medizinische Gutachten stellte der Verblichenen nachdrücklich einen tugendhaften Charakter aus. Sie war, so hieß es darin, ein Opfer brutaler Gewalt. Die Leiche war, als man sie auffand, in einem Zustand, der es Bekannten nicht schwermachte, sie zu identifizieren.
Die Kleidung war vielfach zerrissen und auch sonst derangiert. Beim äußeren Gewand war ein etwa fußbreiter Streifen vom Saum bis zur Taille hinauf ausgerissen, aber nicht abgetrennt. Er war dreimal um die Taille geschlungen und hinten mit einer Art Schifferknoten zusammengebunden. Von dem Unterrock aus feinem Musselin war ein achtzehn Zoll breiter Streifen vollständig herausgerissen, und zwar sehr gerade und sorgfältig. Man fand ihn lose um ihren Hals gelegt und fest verknotet. Um dieses Musselinband und die Spitzenborte waren die Schnüre eines angehängten Häubchens wiederum zusammengeknotet. Die Schnüre waren nicht durch eine Schleife, wie Damen sie binden, sondern durch einen Slip- oder Seemannsknoten verbunden.
Nach der Identifizierung der Toten wurde diese nicht, wie üblich, ins Leichenschauhaus gebracht (da diese Formalität überflüssig war), sondern unweit der Stelle, wo man sie an Land gebracht hatte, in aller Eile begraben. Durch die Bemühungen von Beauvais wurde die Angelegenheit, soweit dies möglich war, eifrig vertuscht; und mehrere Tage vergingen, bevor sich in der Öffentlichkeit Unmut regte. Eine Wochenzeitung griff jedoch schließlich das Thema auf; der Leichnam wurde exhumiert und eine neue Untersuchung anberaumt; aber es kam nichts dabei heraus, was nicht bereits bekannt war. Die Kleidungsstücke wurden nun allerdings der Mutter und Freundinnen der Verblichenen gezeigt und zweifelsfrei als diejenigen identifiziert, die das Mädchen beim Verlassen des Hauses getragen hatte.
Währenddessen steigerte sich die Erregung stündlich. Mehrere Personen wurden verhaftet und wieder entlassen. Der Hauptverdacht richtete sich gegen St. Eustache, und er hatte zunächst kein überzeugendes Alibi für den Sonntag, an dem Marie das Haus verlassen hatte. Doch legte er nachträglich Monsieur G… eidesstattliche Versicherungen vor, die über jede Stunde des Tages hinreichend Aufschluss gaben. Als die Zeit verstrich und sich keine Ergebnisse einstellen wollten, wurden tausend einander widersprechende Gerüchte in die Welt gesetzt, und die Journalisten übertrafen einander mit Mutmaßungen. Besondere Beachtung fand die Idee, Marie Rogêt sei noch am Leben – der Leichnam, der in der Seine gefunden worden war, sei der einer anderen Unglücklichen. Es scheint billig, dem Leser einige Passagen an die Hand zu geben, welche die fragliche Vermutung enthalten. Diese Passagen sind wörtliche Übersetzungen aus L’Étoile, einer in der Regel mit viel Sachverstand geführten Zeitung.
»Mademoiselle Rogêt verließ das Haus ihrer Mutter am Sonntagmorgen, den 22. Juni 18**, mit der vorgeblichen Absicht, ihre Tante oder eine sonstige Verwandte in der Rue des Drômes zu besuchen. Von dieser Stunde an hat sie nachweislich niemand mehr gesehen. Es gibt keinerlei Spur oder Nachricht von ihr … Es hat sich bislang keine Person gemeldet, die sie an jenem Tag, nachdem sie aus der Tür ihrer Mutter getreten war, überhaupt gesehen hat … Zwar haben wir keinen Beweis dafür, dass Marie Rogêt nach neun Uhr am Sonntag, den 22. Juni, noch unter den Lebenden weilte, doch steht unbestreitbar fest, dass sie bis zu dieser Stunde gelebt hat. Am Mittwochmittag um zwölf Uhr wurde der Leichnam einer Frau am Ufer der Barrière du Roule gefunden. Dies sind – selbst wenn wir annehmen, dass Marie Rogêt innerhalb von drei Stunden nach Verlassen des Hauses in den Fluss geworfen wurde, nur drei Tage nach ihrem Aufbruch – auf die Stunde genau drei Tage. Aber es ist unsinnig anzunehmen, der Mord, wenn es denn einer war, könnte so früh begangen worden sein, dass die Mörder in der Lage waren, den Leichnam noch vor Mitternacht in den Fluss zu werfen. Wer sich solch grauenhafter Verbrechen schuldig macht, zieht die Dunkelheit dem Licht des Tages vor … Wir sehen also, dass der Leichnam, wenn es denn der von Marie Rogêt war, sich nur zweieinhalb Tage im Wasser befunden haben kann oder äußerstenfalls drei. Die Erfahrung lehrt, dass Ertrunkene oder Leichen, die gleich nach einem gewaltsamen Tod ins Wasser geworfen werden, sechs bis zehn Tage brauchen, bis sie sich so weit zersetzen, dass sie an die Wasseroberfläche steigen. Selbst wenn eine Kanone über einer Leiche abgefeuert wird und diese früher auftaucht als fünf oder sechs Tage nach ihrem Versinken, wird sie wieder untergehen, wenn man sie sich selbst überlässt.[8] So stellt sich die Frage: Was hat in diesem Fall eine Abweichung vom normalen Lauf der Dinge verursacht? … Wenn der Leichnam in seinem geschundenen Zustand bis Dienstagnacht an Land verblieben wäre, hätte man irgendwelche Spuren der Mörder finden müssen. Es ist auch zweifelhaft, ob der Leichnam, selbst wenn man ihn erst zwei Tage nach seinem Tod ins Wasser geworfen hätte, so bald an die Oberfläche gestiegen wäre. Und außerdem ist es überaus unwahrscheinlich, dass Schurken, die einen Mord begangen haben wie den vorliegenden, den Leichnam ins Wasser geworfen hätten, ohne ihn durch Gewichte zum Sinken zu bringen, wenn eine solche Vorsichtsmaßnahme doch leicht zu ergreifen gewesen wäre.«
Der Redakteur argumentiert nun weiter, der Leichnam müsse »nicht nur drei Tage, sondern mindestens fünf Mal so viele Tage« im Wasser gelegen haben, denn er sei so verwest gewesen, dass Beauvais ihn nur mit großen Schwierigkeiten identifizieren konnte. Dieser Punkt jedoch wurde vollständig widerlegt. Ich fahre mit der Übersetzung fort:
»Was sind also die Fakten, aufgrund derer M. Beauvais aussagt, er habe keinen Zweifel, dass dies der Leichnam von Marie Rogêt sei? Er riss den Ärmel des Kleids auf und sagte, er fände Merkmale, die ihn von der Identität hinreichend überzeugten. In der Öffentlichkeit wurde allgemein angenommen, bei diesen Merkmalen habe es sich um Narben oder etwas Ähnliches gehandelt. Er rieb über den Arm und fand ihn behaart – etwas so wenig Aussagekräftiges, meinen wir, wie sich nur vorstellen lässt –, so beweiskräftig etwa, wie wenn man einen Arm in einem Ärmel findet. M. Beauvais kehrte an diesem Abend nicht zurück, ließ aber am Mittwochabend um sieben Uhr Madame Rogêt benachrichtigen, die Untersuchung bezüglich ihrer Tochter sei noch im Gange. Wenn wir zugestehen, dass Madame Rogêt aufgrund ihres Alters und Grams nicht selbst dorthin gehen konnte (was ein weitgehendes Zugeständnis ist), muss es doch mit Sicherheit jemanden gegeben haben, der es der Mühe für wert hielt, hinzugehen und der Untersuchung beizuwohnen, wenn er denn glaubte, es handle sich um Maries Leichnam. Niemand ging dorthin. Es wurde in der Rue Pavée St. André über die Angelegenheit nichts gesagt oder verbreitet, dass auch nur den übrigen Bewohnern des Hauses zu Ohren gekommen wäre. Monsieur St. Eustache, Maries Verehrer und Ehegatte in spe, der im Haus ihrer Mutter logierte, sagte aus, er habe von der Entdeckung der Leiche seiner Zukünftigen erst am nächsten Morgen erfahren, als M. Beauvais in sein Zimmer kam und ihm davon berichtete. Für eine solche Nachricht war deren Aufnahme doch auffallend kühl.«
Auf diese Weise bemühte sich die Zeitung, die Angehörigen Maries als teilnahmslos darzustellen, was der Annahme widersprochen hätte, dass diese Verwandten glaubten, es handle sich um Maries Leiche. Die Unterstellungen des Artikels liefen auf Folgendes hinaus: – Marie habe im Einvernehmen mit Freunden die Stadt verlassen, unter anderem aufgrund des Vorwurfs eines unsittlichen Lebenswandels; und diese Freunde hätten nach der Entdeckung einer Leiche in der Seine, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der jungen Frau aufwies, die Gelegenheit genutzt, der Öffentlichkeit weiszumachen, sie sei tot. Aber L’Étoile war erneut voreilig. Es wurde eindeutig erwiesen, dass von der insinuierten Teilnahmslosigkeit keine Rede sein konnte; dass die alte Dame außerordentlich schwach und viel zu aufgeregt war, um irgendeiner Pflicht nachkommen zu können; dass St. Eustache, weit davon entfernt, die Nachricht ungerührt aufzunehmen, vielmehr von Schmerz überwältigt und so verzweifelt war, dass M. Beauvais einen Freund und Verwandten überreden musste, auf ihn achtzugeben und ihn daran zu hindern, an der Exhumierung teilzunehmen. Und auch wenn L’Étoile behauptete, der Leichnam sei auf öffentliche Kosten umgebettet worden – die Familie habe ein günstiges Angebot für ein Privatbegräbnis strikt abgelehnt – und kein Mitglied der Familie sei bei der Beisetzung zugegen gewesen: – auch wenn, sage ich, all dies von L’Étoile vorgebracht wurde, um den Eindruck, den man zu erwecken suchte, zu verstärken – so wurde doch alles dies hinreichend widerlegt. In einer weiteren Nummer der Zeitung unternahm man dann den Versuch, den Verdacht auf M. Beauvais zu lenken. Der Redakteur schreibt:
»Nun fällt auf die Angelegenheit ein anderes Licht. Uns wird berichtet, einmal, als eine Madame B. bei Madame Rogêt zu Hause weilte, habe M. Beauvais ihr beim Ausgehen gesagt, man erwarte dort einen Gendarm, und sie, Madame B., dürfe dem Gendarm nichts sagen, bis er zurückkehre, und sie solle die Sache ihm überlassen … Wie sich die Dinge heute darstellen, scheint M. Beauvais die ganze Sache an sich gerissen zu haben. Kein einziger Schritt kann ohne M. Beauvais unternommen werden; denn wohin man sich auch wendet, immer stößt man auf ihn … Aus irgendeinem Grund hat er beschlossen, dass ausschließlich er mit den Vorgängen betraut sein soll, und er hat die männlichen Angehörigen nach deren Darstellung auf sehr merkwürdige Weise weggedrängt. Er scheint sehr dagegen gewesen zu sein, den Verwandten die Besichtigung der Leiche zu gestatten.«
Durch die folgende Tatsache wurde der auf Beauvais gelenkte Verdacht noch einmal ausgeschmückt: In dessen Abwesenheit fand ein Besucher seines Büros wenige Tage vor dem Verschwinden der jungen Frau im Schlüsselloch der Tür eine Rose und auf einem Schiefertäfelchen daneben den Namen »Marie« geschrieben.
Der allgemeine Eindruck, soweit wir ihn den Zeitungen entnehmen konnten, schien zu sein, dass Marie das Opfer einer Bande von üblen Herumtreibern geworden war – dass sie von diesen über den Fluss geschleppt, misshandelt und ermordet worden war. Le Commerciel hingegen, ein Blatt von beträchtlichem Einfluss, bestritt diese verbreitete Auffassung mit Nachdruck. Ich zitiere ein oder zwei Passagen aus seinen Spalten:
»Wir sind davon überzeugt, dass die Ermittlungen bisher, sofern sie sich auf die Barrière du Roule konzentrieren, einer falschen Fährte folgen. Es ist undenkbar, dass eine Person wie diese junge Frau, die Tausenden bekannt ist, drei Straßen hätte queren können, ohne von irgendjemandem bemerkt zu werden. Und jeder, der sie sah, hätte sich daran erinnert, denn sie erregte das Interesse aller, die sie kannten. Sie ging aus, als die Straßen voller Menschen waren … Es ist schlechterdings undenkbar, dass sie zur Barrière du Roule oder zur Rue des Drômes gegangen sein könnte, ohne dass ein Dutzend Personen sie erkannt hätten; doch hat sich niemand gemeldet, der sie außerhalb des Hauses ihrer Mutter sah, und es gibt außer der Zeugenaussage über ihre geäußerten Absichten keinen Beweis dafür, dass sie überhaupt ausging. Ihr Kleid war zerrissen, um sie herumgewickelt und zusammengeknotet; und damit wurde der Körper wie ein Bündel transportiert. Wäre der Mord an der Barrière du Roule geschehen, hätte es solcher Maßnahmen nicht bedurft. Die Tatsache, dass die Leiche nahe der Barrière im Wasser trieb, lässt nicht auf den Ort schließen, wo sie ins Wasser geworfen wurde … Ein Stück von einem der Unterröcke des unglücklichen Mädchens, zwei Fuß lang und einen Fuß breit, war herausgerissen und unter ihrem Kinn und um ihren Hinterkopf festgebunden, mutmaßlich, um sie am Schreien zu hindern. Das waren Übeltäter, die keine Taschentücher besaßen.«
Doch ein oder zwei Tage, bevor der Präfekt uns besuchte, erreichten die Polizei wichtige Informationen, die zumindest den Hauptteil der Gedankenführung des Commerciel gegenstandslos machten. Zwei kleine Jungen, Söhne einer gewissen Madame Deluc, die sich im Wald nahe der Barrière du Roule herumtrieben, drangen zufällig in ein Dickicht ein, in dem sich drei oder vier Felssteine befanden, welche eine Art Sitz mit Lehne und Fußschemel bildeten. Auf dem oberen Stein lag ein weißer Unterrock, auf dem zweiten ein Seidenschal. Ein Sonnenschirm, Handschuhe und ein Taschentuch wurden ebenfalls gefunden. Das Taschentuch trug den Namen ›Marie Rogêt‹. Ringsum im Brombeergestrüpp fanden sich Kleidungsfetzen. Das Erdreich war platt getreten, die Zweige an den Büschen waren abgeknickt, und alles wies auf einen Kampf hin. Zwischen Dickicht und Fluss waren Zäune umgestoßen, und der Boden zeigte Spuren eines schweren Gewichts, das darübergeschleift worden war.
Le Soleil, eine Wochenzeitung, gab zu dieser Entdeckung folgenden Kommentar ab – einen Kommentar, der im Übrigen nur die Einschätzung der gesamten Pariser Presse nachplapperte:
»Die Gegenstände lagen offenbar seit mindestens drei oder vier Wochen dort; sie waren infolge des Regens stark aufgeweicht und verschimmelt und klebten durch den Schimmel aneinander. Das Gras hatte das ein oder andere um- oder überwuchert. Die Seide des Sonnenschirms war fest, aber die Fransen hatten sich innen verheddert. Der obere zusammengeklappte Teil war so stockfleckig und verschimmelt, dass er beim Öffnen zerriss … Die von den Dornbüschen herausgerissenen Kleiderfetzen maßen etwa drei Zoll in der Breite und sechs Zoll in der Länge. Ein Stück gehörte zum Saum des Kleides und war schon einmal ausgebessert worden; das andere Stück stammte aus der Rockbahn, nicht dem Saum. Die Streifen sahen wie herausgerissen aus und hingen ungefähr einen Fuß über dem Boden an einem Dornbusch … Es besteht daher kein Zweifel, dass damit der Ort dieser entsetzlichen Gräueltat gefunden ist.«
Nach dieser Entdeckung tauchten neue Beweise auf. Madame Deluc sagte aus, sie betreibe nicht weit vom Fluss gegenüber von der Barrière du Roule eine Straßenschenke. Das Viertel sei ausgesprochen abgelegen und sonntags ein beliebtes Ausflugsziel des Pariser Halbweltgesindels, das mit Booten über den Fluss setze. Gegen drei Uhr am fraglichen Sonntagnachmittag sei ein Mädchen in der Schenke erschienen, in Begleitung eines braungebrannten jungen Mannes. Die beiden blieben eine ganze Weile. Als sie aufbrachen, nahmen sie einen Weg zu einem dichten Wäldchen nahebei. Das Kleid des Mädchens erregte Madame Delucs Aufmerksamkeit, weil es dem einer verstorbenen Verwandten glich. Ein Schal fiel ihr besonders auf. Kurz nachdem das Paar gegangen war, kam eine Gruppe zwielichtiger Gestalten herein, sie veranstalteten einen ziemlichen Lärm und aßen und tranken und prellten die Zeche. Dann folgten sie dem Weg des jungen Paares, kehrten etwa bei Dämmerung zurück und überquerten, scheinbar in großer Eile, wieder den Fluss.
Noch am gleichen Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, hörten Madame Deluc und ihr ältester Sohn in der Nähe ihres Gasthofs die Schreie einer Frau. Die Schreie waren verzweifelt, brachen aber bald ab. Madame D. erkannte nicht nur den Schal wieder, der im Dickicht gefunden worden war, sondern auch das Kleid, das die Tote trug. Auch ein Omnibus-Kutscher namens Valence sagte nun aus, er habe Marie Rogêt gesehen, wie sie an dem fraglichen Sonntag in Begleitung eines jungen Mannes mit dunkel gebräuntem Gesicht auf einer Fähre die Seine überquert habe. Er, Valence, kannte Marie, und eine Verwechslung war ausgeschlossen. Die im Gestrüpp gefundenen Gegenstände wurden von Maries Verwandten zweifelsfrei identifiziert.
Zu den Beweisstücken und Informationen, die ich auf Dupins Geheiß aus den Zeitungen zusammengetragen hatte, kam nur noch ein weiterer Punkt – aber dies war offenbar ein Punkt von großer Tragweite. Denn bald nach der Entdeckung der oben beschriebenen Kleidungsstücke wurde der leblose, oder nahezu leblose, Körper von St. Eustache, Maries Verlobtem, in der Nähe der Stelle gefunden, die nunmehr allen als Tatort galt. Neben ihm lag ein leeres Fläschchen mit dem Etikett »Laudanum«[9]. Sein Atem roch nach dem Gift. Er starb, ohne noch ein Wort zu sagen. Bei ihm fand man einen kurzen Brief, in dem von seiner Liebe für Marie die Rede war sowie von seiner Absicht, sich das Leben zu nehmen.
»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären«, sagte Dupin nach der Durchsicht meiner Dokumente, »dass dies ein sehr viel komplizierterer Fall ist als der in der Rue Morgue, von dem er sich in einer wesentlichen Hinsicht unterscheidet. Dies ist ein Allerweltsverbrechen, wenn auch ein besonders abstoßendes. Es hat nichts Ungewöhnliches an sich. Wie Ihnen aufgefallen sein wird, hat man es aus diesem Grund für ein leicht lösbares Rätsel gehalten, obwohl es aus ebendiesem Grund für schwer lösbar hätte gelten sollen. So hat man es zunächst für unnötig befunden, eine Belohnung auszuschreiben. G…s Myrmidonen[10] waren sich sofort einig, wie und warum eine solche Gräueltat hätte begangen werden können. Sie malten sich in ihrer Phantasie den Hergang – viele Hergänge – der Tat und einen Beweggrund – viele Beweggründe – aus; und weil es nicht unmöglich war, dass jeder von diesen vielen Hergängen und Beweggründen der tatsächliche hätte sein können, nahmen sie es für selbstverständlich an, dass es einer von ihnen gewesen sein musste. Aber die Leichtigkeit, mit der sich diese verschiedenen Phantasien anboten, und die Plausibilität, die jeder innewohnte, hätten eher als Hinweis verstanden werden sollen, wie schwierig und nicht wie leicht der Fall zu lösen ist. Ich habe vorhin schon bemerkt, dass sich die Vernunft bei ihrer Suche nach der Wahrheit an den Absonderlichkeiten entlangtastet, die oberhalb der Ebene des Gewöhnlichen liegen, und dass die richtige Frage in einem solchen Fall nicht lautet: ›Was ist geschehen?‹, sondern vielmehr: ›Was ist geschehen, das noch nie geschehen ist?‹ Bei den Ermittlungen im Haus von Madame L’Espanaye[1] ließen sich G…s Kommissare durch ebendiese Ungewöhnlichkeit entmutigen und verwirren, die für einen gut sortierten Verstand das sicherste Omen für den Erfolg dargestellt hätte; während dieser gleiche Verstand angesichts der Gewöhnlichkeit aller offensichtlichen Indizien im Fall der Parfümerieverkäuferin in Verzweiflung geraten wäre, die wiederum den Beamten der Präfektur einen wohlfeilen Triumph zu versprechen schien.
Im Fall von Madame L’Espanaye und ihrer Tochter stand gleich zu Beginn unserer Untersuchung zweifelsfrei fest, dass ein Mord stattgefunden hatte. Die Möglichkeit eines Selbstmords wurde sofort ausgeschlossen. Auch hier sind wir von Anfang an jeder Selbstmordvermutung enthoben. Der Leichnam an der Barrière du Roule wurde in einem Zustand aufgefunden, der uns in dieser wichtigen Frage keinen Raum für Zweifel lässt. Allerdings gab es die Hypothese, der gefundene Leichnam sei gar nicht der von Marie Rogêt, auf deren Mörder das Kopfgeld ausgesetzt wurde und auf die allein sich unsere Vereinbarung mit dem Präfekten bezieht. Wir beide kennen diesen Gentleman zur Genüge. Es hat keinen Sinn, ihm allzu sehr zu trauen. Ob wir bei unserer Untersuchung von der aufgefundenen Leiche ausgehen und auf dieser Basis einen Mörder aufspüren, schließlich aber feststellen, dass der Leichnam der einer anderen Person als Marie ist; oder ob wir von der lebenden Marie ausgehen, sie finden, aber nicht ermordet – in jedem Fall wäre unsere Arbeit umsonst gewesen, denn wir haben es nun mal mit Monsieur G… zu tun. In unserem eigenen Interesse, wenn nicht im Interesse der Gerechtigkeit, ist es daher unerlässlich, dass wir in einem ersten Schritt feststellen, ob die Leiche mit der vermissten Marie Rogêt identisch ist.
Die Argumente von L’Étoile haben in der Öffentlichkeit einiges Gewicht; und dass die Zeitung von deren Triftigkeit überzeugt ist, ergibt sich daraus, wie sie einen ihrer Artikel zu dem Thema beginnt: ›Mehrere Morgenzeitungen‹, steht da, ›sprechen heute von dem schlüssigen Artikel im Étoile vom Montag.‹ Für mich zeigt dieser Artikel wenig mehr als den Ehrgeiz des Verfassers. Wir sollten nicht vergessen, dass unsere Zeitungen im Großen und Ganzen eher Sensationen verbreiten und Eindruck schinden als der Wahrheit dienen wollen. Letzteres kommt nur vor, wenn es sich mit Ersterem verbinden lässt. Der Artikel, der lediglich die Mehrheitsmeinung (wie wohlbegründet diese auch sein mag) widerspiegelt, findet vor dem Pöbel keine Gnade. Die Masse der Menschen empfindet nur den als überzeugend, der sich zur allgemeinen Anschauung in scharfem Widerspruch befindet. Beim logischen Denken, nicht anders als in der Literatur, ist es das Epigramm, das am ehesten und fast ohne Einschränkung geschätzt wird. In beiden Bereichen hat es das geringste Verdienst.
Damit will ich sagen: Die Mischung von Epigramm und Melodram in der Vorstellung, Marie Rogêt sei noch am Leben – und nicht irgendeine wirkliche Plausibilität in dieser Vorstellung –, hat L’Étoile zu dem Artikel bewogen und ihm beim Publikum eine so günstige Aufmerksamkeit verschafft. Sehen wir uns die Hauptargumente der Zeitung an, wobei wir aber die Inkohärenz vermeiden wollen, mit der sie vorgebracht werden.
Zuvörderst will der Autor aufzeigen, dass aufgrund der kurzen Zeitspanne zwischen dem Verschwinden von Marie und dem Auffinden der im Wasser treibenden Leiche die Tote nicht Marie sein kann. Die Reduzierung dieser Zeitspanne auf das kürzestmögliche Maß wird so für seine Argumentation zu einer Art Selbstzweck. Da er sich vorschnell darauf festlegt, muss er sich von Anfang an in Vermutungen stürzen. ›Es ist unsinnig anzunehmen‹, schreibt er, ›der Mord, wenn es denn einer war, könnte so früh begangen worden sein, dass die Mörder in der Lage waren, den Leichnam noch vor Mitternacht in den Fluss zu werfen.‹ Wir fragen uns natürlich sofort: Warum? Warum ist die Annahme unsinnig, der Mord sei innerhalb von fünf Minuten, nachdem das Mädchen das Haus der Mutter verlassen hatte, begangen worden? Warum ist es unsinnig anzunehmen, dass der Mord zu jedem beliebigen Tageszeitpunkt begangen worden sein konnte? Es hat Morde zu allen Stunden gegeben. Aber wenn der Mord zu jeder Zeit zwischen neun Uhr am Sonntagmorgen und einer Viertelstunde vor Mitternacht stattgefunden hätte, wäre immer noch genug Zeit gewesen, ›den Leichnam noch vor Mitternacht in den Fluss zu werfen.‹ Diese Annahme läuft also exakt darauf hinaus, dass der Mord gar nicht am Sonntag geschah – und wenn wir diese Schlussfolgerung von L’Étoile akzeptieren, können wir der Zeitung gleich jede denkbare Freiheit geben. Der Absatz, der beginnt mit ›Es ist unsinnig anzunehmen, der Mord etc.‹, wie auch immer er in L’Étoile gedruckt steht, mag eigentlich im Kopf des Verfassers wie folgt gelautet haben: ›Es ist unsinnig anzunehmen, der Mord, wenn es denn einer war, könnte so früh begangen worden sein, dass die Mörder in der Lage waren, den Leichnam noch vor Mitternacht in den Fluss zu werfen; es ist unsinnig, sagen wir, dies alles anzunehmen, wenn wir zugleich annehmen (wie wir anzunehmen entschlossen sind), dass der Leichnam erst nach Mitternacht in den Fluss geworfen wurde‹ – ein an sich hinreichend unlogischer Satz, der aber nicht ganz so absurd ist wie der gedruckte.
Wäre es allein meine Absicht«, fuhr Dupin fort, »diesen Absatz aus dem Étoile zu widerlegen, könnte ich es schlicht dabei bewenden lassen. Nun haben wir es aber nicht nur mit L’Étoile, sondern mit der Wahrheit zu tun. Der zitierte Satz hat so, wie er dort steht, nur eine Bedeutung; und diese Bedeutung habe ich einigermaßen klar benannt – aber es ist wichtig, hinter den bloßen Worten nach einem Sinn zu fahnden, den sie offenbar zum Ausdruck bringen wollten, ohne dass es ihnen allerdings gelang. Es war die Absicht des Journalisten zu sagen, dass die Mörder, zu welcher Tages- oder Nachtzeit am Sonntag auch immer der Mord verübt wurde, nie und nimmer gewagt hätten, die Leiche vor Mitternacht zum Fluss zu tragen. Und darin liegt die eigentliche Grundannahme, die ich bemängele. Es wird angenommen, der Mord sei an einem solchen Ort und unter solchen Umständen verübt worden, dass die Notwendigkeit bestand, die Leiche zum Fluss zu tragen. Nun kann der Mord direkt am Flussufer oder auf dem Fluss selbst geschehen sein; und damit wäre zu jeder Tages- oder Nachtzeit die naheliegende Art der Entledigung gewesen, die Leiche hineinzuwerfen. Sie verstehen schon, dass ich hier nichts als wahrscheinlich oder als meine Meinung propagiere. Mir geht es hier noch nicht um die Tatsachen des Falls. Ich möchte nur Ihr Misstrauen gegen die Tonlage der Ausführungen in L’Étoile wecken und Ihre Aufmerksamkeit auf den von Anfang an voreingenommenen Charakter derselben lenken.
Nachdem die Zeitung so eine Grenze festgelegt hat, die ihrer eigenen vorgefassten Ansicht entspricht; nachdem sie behauptet hat, der Leichnam, wenn es sich um den von Marie handelte, könne nur sehr kurze Zeit im Wasser gewesen sein, fährt die Zeitung fort:
›Die Erfahrung lehrt, dass Ertrunkene oder Leichen, die gleich nach ihrem gewaltsamen Tod ins Wasser geworfen werden, sechs bis zehn Tage brauchen, bis sie sich so weit zersetzen, dass sie an die Wasseroberfläche steigen. Selbst wenn eine Kanone über einer Leiche abgefeuert wird und diese früher auftaucht als fünf oder sechs Tage nach ihrem Versinken, wird sie wieder untergehen, wenn man sie sich selbst überlässt.‹
Diese Behauptungen wurden von allen Blättern in Paris stillschweigend übernommen – mit Ausnahme von Le Moniteur. Diese Zeitung widerspricht lediglich dem einen Teil des Artikels, der von den ›Ertrunkenen‹ handelt, indem sie fünf bis sechs Beispiele anführt, bei denen die Leichen von Ertrunkenen nach einer geringeren als der von L’Étoile angegebenen Zeitspanne im Wasser gefunden wurden. Aber der Versuch des Moniteur, die Behauptung von L’Étoile durch konkrete Beispiele zu entkräften, hat etwas zutiefst Vernunftwidriges. Selbst wenn es möglich wäre, fünfzig statt fünf Leichen ins Feld zu führen, die nach zwei oder drei Tagen im Wasser trieben, könnte man diese fünfzig Beispiele immer noch als Ausnahme von L’Étoiles Regel betrachten, ehe nicht die Regel selbst widerlegt wird. Wenn man die Regel anerkennt (und Le Moniteur leugnet sie nicht, sondern besteht nur auf Ausnahmen), behält das Argument von L’Étoile seine volle Gültigkeit; denn dieses Argument gibt nicht vor, mehr als die Frage zu stellen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Leiche in weniger als drei Tagen an die Wasseroberfläche kommt; und diese Wahrscheinlichkeit unterstützt die Einschätzung von L’Étoile, bis die Beispiele, die in so kindischer Weise angeführt wurden, sich als hinreichend zahlreich erweisen, um eine gegensätzliche Regel zu begründen.
Sie werden gleich erkennen, dass alle Argumente zu diesem Thema, wenn überhaupt, gegen die Regel selbst vorgebracht werden sollten; und zu diesem Zweck müssen wir die logische Grundlage der Regel prüfen. Nun ist der menschliche Körper im Allgemeinen weder viel leichter noch viel schwerer als das Wasser der Seine, das heißt, das spezifische Gewicht des menschlichen Körpers entspricht in seinem natürlichen Zustand etwa der Menge an Süßwasser, die er verdrängt. Die Körper von dicken und fleischigen Personen mit zierlichem Knochenbau, und generell von Frauen, sind leichter als die von schlanken Personen mit kräftigem Knochenbau und von Männern; und das spezifische Gewicht von Flusswasser ist immer auch von den Gezeiten im Meer beeinflusst. Lassen wir aber die Gezeiten außer Acht, kann man sagen, dass sogar in Süßwasser nur sehr wenige menschliche Körper, wenn überhaupt welche, von selber sinken. Fast jeder, der in einen Fluss fällt, bleibt oben an der Wasseroberfläche, wenn man das spezifische Gewicht von Wasser mit seinem eigenen ins rechte Verhältnis setzt – das heißt, wenn die ganze Person möglichst vollständig untertaucht. Die beste Position für jemanden, der nicht schwimmen kann, ist die aufrechte Haltung des Fußgängers, den Kopf in den Nacken gelegt und unter Wasser; nur Mund und Nase schauen noch heraus. In dieser Stellung können wir uns problemlos und ohne Anstrengung oben halten. Es liegt natürlich auf der Hand, dass das Gewicht des Körpers und das der verdrängten Wassermenge ein prekäres Gleichgewicht bilden und dass der geringste Einfluss von außen einem von beiden ein Übergewicht verleiht. Ein Arm zum Beispiel, der aus dem Wasser gehoben wird und so die Unterstützung durch das Element verliert, ist ein zusätzliches Gewicht und genügt, um den ganzen Kopf untergehen zu lassen, während die zufällige Entlastung durch das kleinste Stück Holz dafür sorgt, dass wir den Kopf aus dem Wasser heben und uns umschauen können. Nun wird ein Nichtschwimmer in seinem Überlebenskampf unweigerlich die Arme hochreißen und versuchen, seinen Kopf in der gewohnten Aufrechtstellung zu halten. Die Folge ist das Untertauchen von Mund und Nase und, während nach Atem gerungen wird, das Eindringen des Wassers in die Lungen. Vieles davon fließt auch in den Magen, und der ganze Körper wird schwerer durch die Differenz zwischen dem Gewicht der Luft, die ursprünglich diese Hohlräume ausdehnte, und dem der Flüssigkeit, die sie nun füllt. Diese Differenz genügt in der Regel, um den Körper sinken zu lassen; aber sie genügt nicht bei Personen mit leichten Knochen und abnormen Mengen von schlaffem oder Fettgewebe. Solche Personen treiben auch nach dem Ertrinken an der Wasseroberfläche.
Gehen wir davon aus, dass der Leichnam am Grund des Flusses liegt, so bleibt er dort, bis sein spezifisches Gewicht aus irgendeiner Ursache abnimmt und wiederum leichter wird als das der Wassermenge, die er verdrängt. Dieser Vorgang kann durch Verwesung oder etwas anderes bewirkt werden. Eine Folge der Verwesung ist die Entwicklung von Gas, die das Zellgewebe und alle Hohlräume aufbläht und das aufgedunsene Erscheinungsbild verursacht, das so grauenerregend ist. Wenn diese Ausdehnung so weit fortgeschritten ist, dass die Ausmaße des Leichnams ohne vergleichbaren Zuwachs an Masse oder Gewicht erheblich zugelegt haben, wird sein spezifisches Gewicht geringer als das des verdrängten Wassers, und er steigt daraufhin an die Oberfläche. Aber die Verwesung wird durch zahllose Umstände modifiziert – durch zahllose Effekte beschleunigt oder verzögert. Zum Beispiel durch die Wärme oder Kälte der Jahreszeit, durch die mineralische Belastung oder Reinheit des Wassers, durch seine Tiefe oder Seichtheit, die Schnelligkeit oder Langsamkeit seiner Strömung, durch den Zustand des Körpers, ob er vor seinem Tod krank oder gesund war. Somit ist klar, dass wir keinen Zeitraum mit dem mindesten Anspruch auf Exaktheit angeben können, nach dem ein Leichnam durch seine Verwesung aufsteigt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann dies innerhalb einer Stunde geschehen, unter anderen kommt es gar nicht dazu. Es gibt chemische Substanzen, welche den Körper eines Lebewesens für immer vor Verwesung bewahren; Quecksilberdichlorid[11] zum Beispiel. Doch auch ganz abgesehen von der Verwesung finden wir unter Umständen – und zwar nahezu immer – eine Gasbildung im Magen aufgrund der sauren Gärung von Pflanzenstoffen, die eine Aufblähung des Körpers bewirken und ihn an die Oberfläche treiben. Das Abfeuern einer Kanone verursacht lediglich Vibration. Diese kann den Leichnam entweder von Schlick oder Schlamm lösen, in den er eingesunken ist, und damit den Aufstieg verursachen, den andere Prozesse schon vorbereitet haben; oder sie überwindet den Zusammenhalt verwesender Teile des Zellgewebes, so dass sich die Hohlräume durch die Wirkung des Gases ausdehnen können.
Da uns nunmehr sämtliche wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Thema vorliegen, können wir damit problemlos die Behauptungen von L’Étoile überprüfen. ›Die Erfahrung lehrt‹, heißt es dort, ›dass Ertrunkene oder Leichen, die gleich nach ihrem gewaltsamen Tod ins Wasser geworfen werden, sechs bis zehn Tage brauchen, bis sie sich so weit zersetzen, dass sie an die Wasseroberfläche steigen. Selbst wenn eine Kanone über einer Leiche abgefeuert wird und diese früher auftaucht als fünf oder sechs Tage nach ihrem Versinken, wird sie wieder untergehen, wenn man sie sich selbst überlässt.‹
Dieser ganze Absatz erscheint uns jetzt als ein Gespinst aus Folgewidrigkeit und Inkohärenz. Alle Erfahrung lehrt keineswegs, dass ›Ertrunkene‹ sechs bis zehn Tage brauchen, bis sie hinreichend verwest sind, um an die Oberfläche zu kommen. Sowohl wissenschaftliche Erkenntnis wie die Erfahrung lehren uns, dass die Zeitspanne, bis sie auftauchen, sich schlechterdings nicht festlegen lässt. Wenn darüber hinaus eine Leiche durch das Abfeuern einer Kanone an die Oberfläche gestiegen ist, wird sie nicht, ›wenn man sie sich selbst überlässt‹, wieder untergehen, bis ihre Zersetzung so weit fortgeschritten ist, dass das entstandene Gas entweicht. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit aber auf die Unterscheidung zwischen ›Ertrunkenen‹ und ›Leichen‹ lenken, ›die gleich nach ihrem gewaltsamen Tod ins Wasser geworfen werden‹. Der Autor macht zwar eine Unterscheidung, aber er packt sie alle in die gleiche Kategorie. Ich habe dargelegt, wie ein ertrinkender Mensch in seinem spezifischen Gewicht schwerer wird als die verdrängte Wassermenge, und dass er nicht untergehen würde, es sei denn, er kämpft dagegen an, indem er mit seinen Armen herumfuchtelt und unter Wasser Luft zu holen versucht – wodurch statt der ursprünglichen Luft Wasser in seine Lungen dringt. Aber dieses Gefuchtel und Luftholen findet nicht statt bei einer Leiche, ›die gleich nach ihrem gewaltsamen Tod ins Wasser geworfen‹ wurde. Im letzteren Fall geht der Körper in aller Regel gar nicht unter – eine Tatsache, die L’Étoile offenbar unbekannt ist. Wenn die Verwesung sehr weit fortgeschritten ist – wenn das Fleisch sich schon großenteils von den Knochen abgelöst hat –, erst dann verlieren wir die Leiche in der Tat aus den Augen, aber nicht vorher.
Was fangen wir nun mit der Behauptung an, der gefundene Leichnam könne nicht der von Marie Rogêt sein, weil er schon nach drei Tagen an der Wasseroberfläche trieb? Wäre sie, eine Frau, ertrunken, wäre sie möglicherweise nie untergegangen; oder wäre sie versunken, hätte sie in vierundzwanzig Stunden oder weniger wieder auftauchen können. Aber niemand glaubt, sie sei ertrunken; und da sie starb, bevor man sie in den Fluss warf, hätte man sie zu jeder Zeit danach auf dem Wasser treibend finden können.
›Doch‹, schreibt L’Étoile, ›wenn der Leichnam in seinem geschundenen Zustand bis Dienstagnacht an Land verblieben wäre, hätte man irgendwelche Spuren der Mörder finden müssen.‹ Hier ist es zunächst schwierig, die Absicht des Autors zu verstehen. Er will wohl vorwegnehmen, was er als Widerspruch gegen seine Theorie erwartet – dass nämlich die Tote zwei Tage an Land behalten wurde, wo sie einem raschen Verwesungsprozess ausgesetzt war – rascher, als wenn sie im Wasser gelegen hätte. Er vermutet, wäre dies der Fall gewesen, hätte die Leiche bereits am Mittwoch auftauchen können, und er glaubt, dass sie nur unter solchen Umständen aufgetaucht wäre. Demzufolge beeilt er sich, uns zu zeigen, dass sie nicht an Land behalten worden ist; denn, falls doch, ›hätte man irgendwelche Spuren der Mörder finden müssen‹. Ich nehme an, Sie lächeln bei dieser Schlussfolgerung. Sie lassen sich nicht weismachen, dass die bloße Zeit, die die Leiche an Land verbringt, dazu führt, die Spuren der Mörder zu multiplizieren. Ich ebenfalls nicht.
›Und außerdem ist es überaus unwahrscheinlich‹, fährt L’Étoile fort, ›dass Schurken, die einen Mord begangen haben – wie den vorliegenden –, den Leichnam ins Wasser geworfen hätten, ohne ihn durch Gewichte zum Sinken zu bringen, wenn eine solche Vorsichtsmaßnahme doch leicht zu ergreifen gewesen wäre.‹ Beachten Sie, wie lachhaft hier die Gedanken durcheinandergehen! Niemand – nicht einmal L’Étoile – bestreitet den Mord, der an der gefundenen Leiche verübt wurde. Die Spuren der Gewalteinwirkung sind zu offensichtlich. Unserem Autor geht es nur darum, zu zeigen, dass dieser Leichnam nicht der von Marie ist. Er will beweisen, dass Marie nicht ermordet wurde – nicht, dass überhaupt kein Mord begangen wurde. Doch beweist seine Bemerkung nur Letzteres. Hier ist ein Leichnam ohne Senkgewichte. Mörder, die ihn in den Fluss werfen wollten, hätten nicht versäumt, ihn mit einem Gewicht zu beschweren. Folglich wurde er nicht von Mördern hineingeworfen. Das ist alles, was hier bewiesen wird, wenn überhaupt etwas. Die Frage der Identität wird auch nicht annäherungsweise berührt, und L’Étoile gibt sich die größte Mühe, schlicht zu leugnen, was gerade eben noch behauptet wurde. ›Wir sind vollkommen überzeugt‹, heißt es, ›dass die gefundene Leiche die einer Ermordeten war.‹
Auch ist dies nicht das einzige Mal, selbst in diesem einen Absatz, dass der Autor sich unfreiwillig selbst widerspricht. Sein offenkundiges Ziel ist es, wie gesagt, die Zeitspanne zwischen Maries Verschwinden und dem Auffinden der Leiche so weit als möglich zu verkürzen. Zugleich besteht er darauf, dass niemand die junge Frau sah, nachdem sie das Haus ihrer Mutter verlassen hatte. ›Wir haben keinerlei Beweis dafür‹, schreibt er, ›dass Marie Rogêt nach neun Uhr am Sonntag, dem 22. Juni, noch unter den Lebenden weilte.‹ Da sein Argument eindeutig parteiisch ist, hätte er sich hierzu besser nicht geäußert; denn hätte irgendjemand Marie, sagen wir am Montag oder Dienstag, gesehen, wäre die fragliche Zeitspanne extrem verkürzt und nach seiner eigenen Logik die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass es sich bei dem Leichnam um den der Grisette handelte. Es ist gleichwohl amüsant zu sehen, wie L’Étoile weiterhin auf diesem Punkt herumreitet, in dem festen Glauben, die eigene Argumentation zu stützen.
Betrachten wir jetzt noch einmal den Teil des Artikels, in dem es um die Identifizierung der Leiche durch Beauvais geht. Was die Haare auf dem Arm anbetrifft, ist L’Étoile offenkundig schlecht beraten gewesen. M. Beauvais, der ja kein Idiot ist, hätte sich bei der Identifizierung der Leiche niemals auf die
