Gründämmerung - Alice Hagenbruch - E-Book

Gründämmerung E-Book

Alice Hagenbruch

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Beschreibung

Zu jeder Gründämmerung werden die fünf Dämmerwandler neugeboren und gefährden die verbleibenden Städte. Aus dieser permanenten Bedrohung wuchsen autokratische Staaten, deren Machtanspruch auf dem Schutz ihrer Bevölkerung basiert. Doch die vermeintliche Weltordnung gerät ins Wanken, als ein pinkes Flämmchen aus Gelee über der Wüste abstürzt. Die Überlegenheit der herrschenden Klasse wird als fragiles Konstrukt bloßgestellt und es entbricht ein erbitterter Kampf um die Zukunft. Gründämmerung bricht mit Konventionen des Genres und eröffnet eine faszinierend andersartig, wie auch Queere Welt. Besonders ist zudem die Einbringung des geschlechtsneutralen Xier-Pronomens.

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Seitenzahl: 306

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Danksagung

Ich möchte mich ganz herzlich bei all denjenigen bedanken, die mich während des vierjährigen Prozesses unterstützt haben. Beginnen möchte ich mich mit meiner Familie.

An meine Eltern H und S, deren Fürsorge mich über diese Periode meines Lebens in besonderem Maße getragen hat, wie sie es auch vorher schon oft getan hat.

An meine Schwester S und ihr Mann M für die Aufmerksamkeit, die sie mir trotz ihrer begrenzten Zeit schenken.

Natürlich darf ich Nichte L und Neffe J nicht vergessen. Jedes Mal, wenn mein Blick an meinem Laptop festzuwachsen droht, kommt ihr zu Besuch und erinnert mich an Gärten, Gesang und alles Wichtige.

Der nächste Schritt wären Freunde und dann Beta-Leser, aber da gibt es so viele Überschneidungen, dass ich sie gleich zusammen nenne.

An Patrizia Wöllert für stundenlange Telefonate, ein Silvester in Bad Soden und an all die Schätze des Wissens und der Erfahrung, welche du mit mir teilst.

An Herr von Rehtanz, für xiese Rückmeldungen zum Anfang meines Textes und für die intensive Freundschaft, die uns verbindet. Auch wenn die Zeit nicht immer auf unserer Seite ist, jede unserer Zusammenkünfte ist wertvoll und sollte unter einer Plastikkuppel aufbewahrt werden, wie die Uhr auf deinem Regal.

An Franziska Ullrich, die sich von allen Beta-Leser*innen am meisten durch meine frühen Texte gewälzt hat und mir krass viel von ihrer Zeit und Energie geschenkt hat. Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr mich dein Engagement berührt hat. Ich hoffe, dass ich irgendwann in der Lage sein werde, dir alles zurückzugeben.

An Pascalina Krummenauer für ihre wertvolle Rückmeldung, ihre Freundschaft und ihre künstlerische Zusammenarbeit mit mir. Wenn ich mit dir Zeit verbringe, fühlt sich alles leicht an. Wie zwei Zahnräder, die ineinanderklicken.

An Jonas Kim Rühl für seine intensive Rückmeldung zu meinem Text. Darüber hinaus inspiriert mich dein sprudelnder, kreativer Output, der sich vielgesichtig in deinem Werk äußert. Es ist unheimlich schön, dass wir in Kontakt geblieben sind und ich hoffe, dass wir es auch in Zukunft bleiben.

An Sophie Hilbert, dafür, dass sie sich die Zeit für ihr gut durchdachtes Feedback genommen hat. Ich habe schon immer deine künstlerische Arbeit, sowie dein soziales Engagement bewundert. Mein Dank soll auch stellvertretend für alle sein, denen du durch deine Energie, deinen Einsatz, und deiner Persönlichkeit geholfen hast.

An Prof. Bjørn Melhus für seine Textkritik. Ich habe während meiner Studienzeit jedes unserer Einzelgespräche, als überaus wertvoll erlebt und bin froh, all die Dinge, die du mir mitgegeben hast, verwenden, wie auch weitergeben zu dürfen.

Last but not least muss natürlich meine Lektorin Raphaela Schöttler-Potempa mehr als einfach nur erwähnt werden. Als ich dich im Lektorenverzeichnis fand, hatte ich bereits ein sehr gutes Gefühl, welches sich letzten Endes als berechtigt herausstellte. Erst durch deine Begleitung und Arbeit ist es mir gelungen, zur Autorin zu werden. Auch wenn im Handwerk meines Schreibens noch Luft nach oben ist, so kann ich durchaus sagen, dass ich durch unsere Kooperation über mich hinauswachsen konnte. Danke, für deine Gedanken, deine Geduld und dein Verständnis. Nicht nur von mir, sondern auch im Namen von Lua, Shu, Lilili, Vexedron und ja … sogar Yuriol Physalis!

Lektorat / Korrektorat:

Raphaela Schöttler-Potempa

https://zeilenfeuerlektorat.com

[email protected]

Eigennamenverzeichnis

Aeropleurodon

fliegendes Geschöpf

Ambacé

Supervisor in Heujurte

Aisereht

Ursprungsgebiet Serehten

Aisereht-2

Wiederaufbau Aiserehts

Aisereht-3

aktuelle Siedlung im Meer

Amborellas

Blumenvater / erste Familie

Anfang der Zeit

vulkanischer Bergsee

Ba Phongon

Besitzerin Phongon Werke

Balancis

Unkrautkriegerin

Ceratioidei

Karidts Flugkreatur

Yuriol Physalis

Kultus von Vanaard

Dinocrocuta

dritter Dämmerwandler

Diplocaulus

vierter Dämmerwandler

Djavalé

Ruinen, ehemals Kolonie

Doripris

Ba Phongons Fluggeschöpf

Ferme

bakterielle Urmutter

Fliptis

Geistwesen

Glaucus Octavia

Flugkreatur Lilili

Gon

Shus Bruder / unberührbar

Heujurte

Untergrundstadt

Johoal Ranta

Initiator des BIOS-Systems

Kain

Familie Shu

Kambiumen

erste Hochmatriarchin

Karidt

Kapitän fliegende Fische

Laboras

Schutzentität Heujurte

Lepidodendron

zweiter Dämmerwandler

Lignin

Matriarchin von Aisereht-3

Lilili Chaiyabaté Atonim

Forscherin

Lua

???

Rhinco Codon

Kriegerin Vanaards

Maq

Shus Elter

Mensteria

Zehrs Lichtklinge

Muk

Shus Elter

Mykorrhiza

Grabmal Rhodophytas

Myoaoa

Unterwasserdorf

Nihilu

Sitz der ersten Familie

Ohära

Insel südlich von Vanaard

Onychophoran

der samtene Wurm

Ourasphaira

die Fungusoligarchin

Phellem

Hochmatriarchin Aisereht

Phloem

Bruder Phellem u. Xylem

Placozoas

der Jäger / erste Familie

Plesios

Lignins Flugkreatur

Poiesis

der Einsame Stern / e. Fam.

Quetzalcoatlus

erster Dämmerwandler

Rhodophyta

die Rotalge / e. Fam.

Ruinam

fünfter Dämmerwandler

Ruvinlin Chaiyabaté Endol

Lililis Schwester

Sal

Shus Elter

Shu

Händler und Taucher

Sogrid

Besatzung Yur

Sozima

Schutzentität Aisereht-3

Sun Lao

Kontinentalstadt

Techmis

Schutzentität Vanaard

Tok

Besatzung Yur

Vanaard

Küstenstadt

Vanattao

Besatzung Yur

Vexedron

Unkrautkrieger

Xylem

Bruder Phloem und Phellem

Yur Physalis

erste Kulta Vanaards

Yuriol Physalis

Kultus Vanaard

Zehr

Geistwesen

Die fünf Axiome der Myxotesta

*verfasst von Johoal Ranta

1 Die Myxotesta umgibt und durchdringt die Welt.

2 Die Myxotesta nährt jegliches Leben.

3 Die Myxotesta muss nehmen, um zu geben.

4 Wenn wir sterben, werden wir zu Myxotesta.

5 Der wahre Tod lauert außerhalb der Myxotesta.

Inhaltsverzeichnis

1 / 1 Wohlstand in der Glaswüste

1 / 2 Die erstarrten Ruinen

1 / 3 Tod eines Observatoriums

1 / 4 Zwischen Wüste und Wald

1 / 5 Dorf im See

2 / 1 Grottengesänge

2 / 2 Sehnsucht der Pilze

2 / 3 Der singende Betonwürfel

2 / 4 Mys Vermächtnis

2 / 5 Saatfest

2 / 6 Ohne Wiederkehr

2 / 7 Feder im Schrotthaufen

2 / 8 Die Matriarchin und der Kultus

2 / 9 Leere Umarmung

3 / 1 Stadt unterm Netz

3 / 2 Straßen aus Fleisch und Blut

3 / 3 Wohnung einer Arbeiterin

3 / 4 Fund eines schwarzen Eis

3 / 5 In der Sauna

3 / 6 Das Auftauchen des Dritten

3 / 7 Was ist eine Perle ohne Schale?

3 / 8 Verbotene Sprache

3 / 9 Der letzte Flug

3 / 10 Ein unerwartetes Angebot

4 / 1 Die Untiefen

4 / 2 Böses Erwachen

4 / 3 Voreingenommene Geschichten

4 / 4 Parade der Transformation

4 / 5 Worte fallen

4 / 6 Das unberührbare Diorama

4 / 7 Schleichender Sieg

5 / 1 Stadt ohne Wände

5 / 2 Die Hochmatriarchin im Spiegel

5 / 3 Geschichte der Berührungen

5 / 4 Die neuen Schwestern

5 / 5 Verhandlung mit Toten

5 / 6 Der verkohlte Baum

5 / 7 Laternen auf Öl

5 / 8 Wege trennen sich

Die häranische Schrift

1 / 1 Wohlstand in der Glaswüste

Fragmentarbis, die 7. Runde im Firmquart 136 nach Somnea

Lucil Observatorium, Djavalé, Insel Ohära

/ nicht identifiziertes Flugobjekt gesichtet / Geschwindigkeit: 29 – 33 – 38 – 44 Größe: 0,000002 Höhe: - 2,5 - 2,0 - 1,3 - 0,7 - 0,06

Die Zwillingssonnen heizten die Myxotesta Atmosphäre der Glassandwüste auf. Doch selbst sie konnten nicht mit der Bildgewalt Golganths konkurrieren. Der grüne Gasplanet nahm einen so weiten Abschnitt am zartrosa Himmel ein, dass die Stürme und Turmwolken seiner Atmosphäre mit bloßem Auge zu beobachten waren.

Bis auf das Klirren verwehender Glaskörner konnten Vexedrons spitze Ohren keinen Laut vernehmen. Der in die Jahre gekommene Kadschane lag im Schatten einer Pavillonruine und versuchte, einzuschlafen.

In einer herkömmlichen Wüste wäre er durch sein cremefarbenes, kurzes Fell mit der Umgebung verschmolzen, doch zwischen den silbrigen Dünen war er leicht ausfindig zu machen. Ein Missstand, den er bei seiner Flucht in die Glaswüste nicht bedacht hatte und der ihn mit Unsicherheit strafte. In jüngster Vergangenheit hatten ihn seine Verfolger über alle drei Kontinente bis auf die abgelegene Insel Ohära gejagt.

Ein Grollen erschütterte die Landschaft, gefolgt vom hohen Rauschen unendlich vieler zersplitternder Glaskügelchen. Vexedron sprang aus seinem Schlafsack und hechtete hinter die Steinwände der Ruinen. Der Schreck reaktivierte sein Sichtsystem, eine kugelförmige Dreihundertsechzig-Grad-Kamera, verankert auf seinem Kopf. Seit dem Verlust seiner Augen ermöglichte sie ihm den kompletten Rundumblick.

Ein Schweif pinken Lichtes durchschnitt den Himmel. Vexedron wechselte von einer aufrechten Haltung auf alle viere und schlängelte sich durch den Sand einen Hang hinauf. Halbvergraben nutzte er die Zoomfunktion seines Sicht-systems, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben. Der Einschlag hatte den umliegenden Sand zu einer dichten Wolke Glasstaub pulverisiert.

Das pinke Geleeflämmchen krabbelte auf etlichen Beinchen aus den Staubschleiern.

Endlich frei, dachte xier ungläubig. Xier hatte es tatsächlich geschafft, jenem Gefängnis zu entrinnen, welches xien über ein Jahrhundert lang gebannt gehalten hatte. Beflügelt von der neuen Umgebung, tippelte das Wesen auf den Rücken einer Düne und schaute sich um. Dabei arbeiteten die lichtempfindlichen Zellen auf der Außenseite xieses Geleekörpers zusammen, um ein kreisförmiges Sichtfeld zu ermöglichen.

Das im Licht der Zwillingssonnen funkelnde Glasmeer erstreckte sich zu allen Seiten und wurde lediglich von einer Ansammlung kleiner, dunkelgrauer Striche in der Ferne unterbrochen. Ohne zu überlegen, machte sich das Wesen dorthin auf.

Xier hatte noch nie derart heißes Klima erlebt. Würde das Geleeflämmchen Schmerz empfinden, wäre dies sicher ein Problem geworden.

Zwischen gräulichen Palmen und Säulenkakteen näherte xier sich einer Oase, in deren Zentrum ein Geysir stetig feuchtwarme Myxotesta aus dem Inneren des Planeten ausstieß. Die entfernten Punkte am Horizont stellten sich als Schwarm Himmelssegler heraus, die still schwebend von dem umliegenden Gewässer gespiegelt wurden. Mühelos ließen sie ihre rochenartigen, hohlen Körper vom Geysirstrom tragen, der die nährstoffreiche Myxotesta direkt in ihre aufgerissenen Körperöffnungen blies.

Statuen und Ruinenfragmente spitzohriger Kadschanen begleiteten xien durch das flache Wasser zu den Stufen eines Pavillons. Xier stieg hoch. Oben im Schatten lag eine Schlafmatte. Das Fußende war dem Flämmchen zugewandt. Lautlos tapste xier drumherum und hielt überrascht inne. Statt einer Person steckten nur Glasfelsen darin.

Blitzschnell sprang Vexedron vom Dach und deutete mit einer Schusswaffe auf xien. „Du hättest leiser vom Himmel stürzen müssen, um mich zu überraschen.“

Xiem fiel es schwer, seine Worte zu verstehen. Kadschanen hatten weder Zähne noch Lippen und kompensierten dies, indem sie ihre lange Zunge gegen die Wände ihrer Röhrenschnauzen stießen. Das Geleewesen wollte antworten, konnte aber nicht sprechen.

So musterte xier seine ungewöhnliche Gestalt eindringlich. Die Kamerasphäre auf dem Kopf; Kabel, die sich unter der Haut abzeichneten und versiegelte Augenschlitze.

Xier spürte, wie er langsam Myxotesta durch seine Rohrschnauze sog, um sich zu nähren.

Genauso musterte Vexedron xien. Das Wesen ihm gegenüber war derart ungewöhnlich, dass er nur zu einem Schluss kommen konnte: Es handelte sich um einen Geist.

„Jetzt schicken sie schon Geistwesen, um nach mir zu suchen? Ich hätte nie gedacht, dass sich euresgleichen zu Jägern degradieren lassen. Bleib besser, wo du bist.“

Trotzig ging das Wesen auf Vexedron zu. Xier ließ sich gar nichts sagen und was könnte er schon unternehmen?

„Letzte Warnung, bevor ich schieße!“ Durch eine Öffnung an der Hinterseite sog Vexedrons Kanone Myxotesta ein. Ihr Lauf glühte orange auf.

Das Wesen hielt immer noch nicht an. Jeder Schritt xieser kleinen Beinchen schrie förmlich vor Respektlosigkeit.

Ein schriller Knall, gefolgt von einem dumpfen Wabern.

Xier hielt das zischende Plasmageschoss mit mehreren Ärmchen fest. Heiß und ätzend zersetzten die Tropfen den Stein unter xiesen Füßen.

Schweigend sah Vexedron zu, wie der Plasmaball zerfloss. „Du hättest den Ball auf mich zurückwerfen können.“ Das Geleeflämmchen blieb still stehen und zeigte keine Reaktion.

„Du arbeitest gar nicht für das BIOS-System, nicht wahr?“ Langsam dämmerten Vexedron seine paranoiden Denkmuster.

Das Wesen wusste nicht, wie xier antworten sollte.

„Du kannst mir durch ein Signal antworten. Ich weiß, dass du mich verstehst. Einmal heißt Ja, zweimal heißt Nein. So ist es geläufig.“

Das Wesen leuchtete zweimal pink auf und der Kadschane ließ seine Schusswaffe sinken. „Setz dich, wenn du magst“, bot er xiem an und legte sich auf seinen Schlafsack. „Ich habe dich vom Himmel stürzen sehen. Kommst du aus der Glaswüste?“

Xier leuchtete zweimal.

„Warum bist du dann hier? Hast du dich verlaufen?“

Ein einzelnes Blinken.

„Bedauerlich. Kommst du aus Myoaoa?“

Zweimal Blinken.

„Hm … dem Gebrige?“

Zweimal Blinken.

„Vanaard? Sun Lao? Aisereht? – Auch nicht? – Weißt du es denn selbst?“

Die Geleeflamme reagierte nicht.

„Dann kann ich dir auch nicht helfen. Mein Name ist übrigens Vexedron. Ich komme auch nicht von hier. Bin in Sun Lao aufgewachsen.“ Er wusste selbst nicht, warum er Letzteres erwähnte.

Die Einsamkeit trieb ihn dazu, mehr über sich zu erzählen, als er normalerweise tun würde.

Das Wesen wurde bei der Erwähnung der Kontinentalstadt hellhörig. Sun Lao war xies eigentliches Ziel gewesen, bevor xier in der Wüste abgestürzt war.

„Kann man sich überhaupt verlaufen, wenn man unsterblich ist?“ Die Frage verdutzte xien.

„Du bist ein Geistwesen, folglich bist du unsterblich. Allerdings hast du dich verlaufen. Meine Frage ist, ob das überhaupt möglich ist. Schließlich hast du unendlich viel Zeit, dein Ziel zu erreichen. Unsereins verläuft sich oder kommt abseits der Wege vielleicht sogar um. Für euch ist verlaufen doch nur ein ausgedehnter Umweg.“

Ohne lange nachzudenken, blinkte xier zweimal und deutete in Richtung der Ruinen.

Vexedron brauchte dank seines Sichtsystems den Kopf nicht zu drehen, um mit dem Blick zu folgen. „Das stimmt“, murmelte er. „Wenn man zu lang von einem Ort weg ist, kann es sein, dass er aufgehört hat, zu existieren. Man verliert ihn in der Zeit und verbleibt verloren, bis“, er machte eine nachdenkliche Pause, „man schließlich gefunden wird.“

Er zeigte auf eine zersprungene Steintafel hinter sich, auf dem ein häranisches Schriftzeichen eingemeißelt stand.

„Weißt du, was das bedeutet?“

Das Flämmchen blinkte zweimal, worauf Vexedron das Wort Wohlstand brummte.

„Ironisch, was? Hier stand wahrscheinlich ein Park, wo die Bewohner des antiken Djavalé dem Trubel der Stadt entkommen konnten. Sie alle sollten daran erinnert werden, welch Glück sie doch hatten, in einer Kolonie leben zu dürfen.“ Vexedrons Worte trieften vor Sarkasmus. „Na ja, Glück hat ihnen am Ende nicht geholfen. Genauso wenig wie dem nördlichen Kontinent.“

1 / 2 Die erstarrten Ruinen

Apoptorbis, die 8. Runde im Firmquart 136 nach Somnea

Vexedron erklärte sich bereit, xiem einen Weg aus der Wüste zu zeigen. Allerdings erst, nachdem er ausreichend geschlafen hatte. Während er sich also regenerierte, beschäftigte sich das Wesen, indem xier vom Pavillon in den Tümpel sprang, umliegende Flora mit den Ärmchen schmeckte und die Skulpturen mit Schlamm bemalte.

Als Vexedron endlich erwachte, brachen sie auf. Die Geleeflamme huschte Vexedrons vermummter Gestalt hinterher. Aus seiner Kapuze ragte nur die Kamerasphäre. „Ich habe mein Lager in den Überresten von Djavalé aufgeschlagen, weil die alte Hauptstraße durch sie verläuft. Händler in Myoaoa nutzen sie zur Orientierung. Wenn wir Geduld mitbringen, können wir sie bitten, uns mitzunehmen.“

Das Wort bitten lief ihm nur sehr schwer durch die Rohrschnauze. Die ungeschönte Wahrheit zu sagen, war sonst eine Eigenschaft, mit der er sich brüstete. Aber er wollte das Geistwesen mit sich nehmen. Und wenn ein ihm so verhasster Euphemismus dafür nützlich war, dann war das halt so.

Über ihnen bemerkte das Wesen einen Abstrakyo schweben und blieb fasziniert stehen. Das mit den Geistwesen verwandte Geschöpf änderte kontinuierlich Form und Farbe. Die im regen Flux entstehenden Figuren tanzten nahezu hypnotisch über xiese Sehzellen.

„Hör zu, wenn wir in der Hitze eine Pause machen, kostet mich das zu viel Kondition. Es ist nicht weit bis zum Observatorium, wo ich mein Versteck habe. Dort kannst du Abstrakyos beobachten, so viel du willst.“ Doch als xier die ersten Schritte tat, war es Vexedron, der sich nicht von der Stelle rührte.

„Hast du das gehört?“, flüsterte er.

Xier sah nichts außer Dünen, Abstrakyo und Himmel.

„Ich habe mich wohl geirrt.“

Als xier gerade weiter wollte, fuhr Vexedron urplötzlich herum und warf ein hauchdünnes Objekt, welches im Bogen die Düne hinauf glitt und in grüner Flüssigkeit zerbarst. Schleunigst zog er seine Schusswaffe vom Rücken.

Oberhalb der Düne sah es so aus, als wäre das rosa Firmament defekt. Schwarzweiß flackernde Umrisse. Stroboskopische Silhouetten.

Sechs Arme traten aus der optischen Verzerrung und rissen sich die Illusion vom Körper. Die dampfende Tarnwand landete im Sand und wurde von der Säure aus Vexedrons Wurfgeschoss zersetzt.

Zwei bunte Gestalten kamen zum Vorschein. Sie trugen Militäreinteiler mit Helmen, deren dunkle Glasvisiere ihre Gesichter verdeckten. Das gesamte Ensemble sowie ihre Schusswaffen waren vollständig in Neonfarben gehalten. Ihre Umrisse ließen darauf schließen, dass auch sie Kadschanen waren.

Vexedron krümmte seinen Rücken und verstellte die Stimme, um älter zu wirken. „Warum verfolgt ihr Reisende?“

Eine blecherne Ansage erfolgte aus Lautsprechern an den Helmen. „Edren Vox, die Vorstandsvorsitzende für äußere Sicherheit in Sun Lao hat uns aufgetragen, Sie aufgrund ihrer Mitgliedschaft beim Unkrautsyndikat festzunehmen.“

„Das ist nur ein Missverständnis. Ich habe keine Ahnung, wer Edren Vox ist. Ich …“ Weiter kam er nicht.

Beide Gestalten richteten ihre Waffen auf ihn und näherten sich. Vexedron machte eine minimale Armbewegung in Richtung Gewandtasche.

Die Soldaten schossen.

Blitzschnell streckte er seinen längsten Finger aus, an dem sein Konnexionsorgan saß und eine Flüssigkeit versprühte. Sofort verdickte sich die Myxotesta schildförmig vor ihm.

Glühende Plasmapfropfen fraßen sich zischend durch den transparenten Schutzwall, der durch ein Netz feiner Äderchen mit Vexedrons Fingerspitze verbunden war. Es war die angeborene Fähigkeit der Kadschanen. Vexedron zog einen flachen Gegenstand aus seiner Tasche und warf ihn zu den Angreifern, die in Deckung gingen.

Eine Druckwelle warf das Flämmchen um. Die Soldaten rutschten nach hinten. Vexedron nutzte die Gunst des Moments, um seine schwere Kanone auf die Schulter zu hieven.

Vor xiesen Sehzellen wuchs in kürzester Zeit ein Myxotestastrudel heran. Er wirbelte den Sand auf. Das Letzte, was xier erkennen konnte, war die Kamerasphäre auf Vexedrons Kopf. Dann verschluckte ihn die Staubwolke. Einen Moment später holte sie auch das Wesen ein. Es krachte zweimal ohrenbetäubend, als Vexedron den Abzug drückte. Eine Salve feiner, scharfer Glassplitter prasselte auf xien ein. Der Geruch von verbranntem Fleisch verbreitete sich.

Vexedron packte xiesen Körper und riss xien mit sich. Mit dem Flämmchen im Arm brach er aus der Sandwolke hinaus und sprintete weiter Richtung Osten. Plasmageschosse zischten knapp über sie hinweg. Vexedron duckte sich und ließ xien in den Sand fallen.

Die beiden Soldaten traten aus dem aufgewirbelten Glasstaub. Vexedrons Schüsse hatten ihre Körper zerrissen.

Oranges Blut quoll aus ihren Verletzungen und vermischten sich mit Nanobots. Die winzigen Maschinen umschwirrten die Soldaten, wie ein Schwarm bunter Kleinstinsekten. Sie füllten die Löcher in ihren Körpern, bildeten organische Ersatzstrukturen, sodass die Soldaten kampffähig blieben. Abermals feuerten sie auf Vexedron, der sein Schild zu langsam bildete und von einem Pfropfen gestreift wurde. Erstaunt sah das Geleeflämmchen zu, wie sich ein Stück von Vexedrons Fleisch bis auf die Knochen auflöste.

Trotz der schweren Verletzung gab er keinen Laut von sich. Schmerz war etwas für ihn, dass er ein- und ausschalten konnte, wie einen Lichtschalter. Alles, was er fühlte, war Taubheit. Mit einer Hand bedeckte er die Wunde, mit der anderen warf er eine Granate vor sich, die in gleißendem Licht explodierte.

Geblendet erkannte xier nur noch den Schatten Vexedrons, der rasch auf xien zukam. Ungestüm presste er xien zu Boden und rammte eine lange Metallspitze in xiesen Körper hinein.

Ein Fluss elektrischer Energie durchfuhr xies Gelee. Es prickelte so intensiv, dass xier nicht einen klaren Gedanken fassen konnte. Unkontrollierbares Zittern lähmte xien.

„Es tut mir leid“, hauchte Vexedron. Er meinte es ernst, doch es fühlte sich für ihn wie eine Lüge an. Tat ihm überhaupt noch etwas leid, oder war auch dieser Aspekt seines Wesens bereits ertaubt?

Überwältigt von jenem Kribbeln betrachtete xier das Kabel, welches von der Metallspitze in xiesem Gelee zu Vexdrons Waffe führte. Der Lärm des Geschehens hörte sich auf einmal an, als wäre er weit entfernt. Xiese Sicht verdunkelte sich, als der Lauf von Vexedrons Schusswaffe pink aufleuchtete. Vexedron drückte ab.

Alles, was er sah, war Licht.

Alles, was xier sah, war Dunkelheit.

Benommen rappelte sich das Geleewesen auf. Wo vorher das Kampfgeschehen stattgefunden hatte, prangte ein Krater. Klumpen aus Gewebe und deformierten Organen waren mit bunt lackierten Rüstungspartien verschmolzen. Von weitem sah es aus, als würde Vexedron auf einem hellorangen Samtkissen sitzen. Sich krümmend verband er mit Fetzen seines Gewands den blutigen Stumpf, der mal sein rechter Arm gewesen war.

„Was bist du?“, knurrte er das Wesen an. Er fühlte sich überhaupt nicht mehr taub. Hellwach war ihm, als schwebe er über seinem eignen Körper. Seine Frage löste ein Gefühl der Befangenheit im Geleeflämmchen aus und xier wich einige Schritte zurück.

„Kein Geistwesen, das ich bisher benutzt habe, hatte solch eine Verbindung zur Myxotesta. Es war furchteinflößend. Beinahe hätte es mich mitgerissen!“

Xier bewegte sich weiter nach hinten, als Vexedron seinen verbliebenen Arm nach xiem ausstreckte. Seine Verletzungen hielten ihn am Boden, doch seine Seele tanzte auf dem Sand wie ein findiger Schatzjäger. „Was immer du auch sein magst. Komme mit mir und wir können das BIOS-System stürzen!“

Auf Knien krabbelte er in Richtung des Wesens. „Weit im Norden am Anfang der Zeit liegt ein verborgenes Lager kadschanischer Heimatloser. Du weißt bestimmt, was ich meine. Kadschanen, die Pakte mit Geistwesen eingehen. Lass uns zusammen dorthin reisen!“

Doch das Geleefeuer wusste ganz und gar nicht, was er meinte. Xier empfand seine Worte als abstoßend. Wieder in Abhängigkeit zu jemand anderen leben. Wieder nur ein Teil einer anderen Person zu sein. Niemals würde xier sich das erneut antun.

Am Horizont näherten sich die Silhouetten länglicher Flugschiffe, deren Schatten wie Aale über den silbrigen Glassand tanzten. Schwerelos schlängelten sich die Stahlriesen durch die Myxotesta und ließen ihre Umgebung elektrisch flimmern.

Nicht einen Moment zögerte das Flammenwesen und überließ Vexedron seinem Schicksal.

Gefolgt von seinem Rufen krabbelte xier weiter Richtung Osten und sah aus sicherer Entfernung zu, wie eine Gruppe bunter Soldaten Vexedron auf ihr Flugschiff verluden. Wäre xier nicht selbst auf der Flucht, hätte das Wesen ihm vielleicht sogar geholfen. Aber xier durfte nicht zu sehr auf sich aufmerksam machen.

Das Geleeflämmchen zog weiter. Nach einer Weile zeigten sich die Ruinen Djavalés am Horizont. Beinahe lautlos krabbelte xier unter den bröckelnden Lambrequins eingesunkener Häuser, zwischen vertrockneten Baumleichen und am Rande der Glasfelsen entlang. Xier mied offene Flächen, um nicht gesehen zu werden. Dabei war weit und breit niemand – abgesehen von Himmelsseglern und Abstrakyos.

Ein Großteil Djavalés lag eingeschlossen in gigantischen Glaswellen. Gebäude, Bäume und Bewohner überdauerten die Zeit in ihrer Starre. In den Glasbergen gefangen, flüchteten kadschanische Städter, fielen aus ihren einstürzenden Häusern oder versteckten sich in Trümmerhaufen. Verewigte Büsche und Gräser zeugten von der einst tropischen Flora. Schreckensszenarien, ungefähr hundertdreißig Jahre alt, säumten xiesen Weg durch Djavalé, während xier Ausschau nach dem Observatorium hielt, welches Vexedron zuvor erwähnt hatte.

Xier versuchte sich an seine genauen Worte zu erinnern. Er hatte gesagt, dass sein Lager in dem Observatorium wäre. Und dies befände sich in Nähe der Straße, die Händler oft benutzten.

Auf einer Erhöhung erspähte xier es. Ein runder Bau, auf dessen Dach etliche schwarze Augen den Himmel überwachten. Rhythmisch zog es sich zusammen und dehnte sich aus. Durch seine Kontraktionen sog das Observatorium Myxotesta durch Schlitze ein und atmeten sie wieder aus.

Xier kroch den Hügel hinauf und sah von dort auf das Ruinental hinab, in dem die Hochhäuser des einstigen Stadtkerns lagen. Die meisten nur noch sternförmige Gerippe, gleichermaßen durchbohrt und gestützt von Glasbergen. Etliche Abstrakyos schwebten über einer Hängebrücke, die fast vollständig vom Wüstenboden verschlungen worden war. Zwischen den Ruinen und der Erhöhung lagen die Reste der asphaltierten Straße, welche Vexedron beschrieben hatte.

„Wie schade, dass wir uns nicht an jenes Stadium erinnern, als wir noch Abstrakyos waren. Jene Zeit, die wir wie ein Blatt in der Strömung verbrachten. Bevor uns der Wille dahin lenkt, wo wir die Erfüllung unserer hedonistischen Begehren erwarten. Ich würde gerne auf diese Phase zurückblicken, als ich noch schwerelos umhertrieb und von der Myxotesta mit den Gedankenmustern der Geistlosen gespeist wurde. Wie viele Welten mag das her sein?“

- Gedanken ans Kollektiv von Fliptis

1 / 3 Tod eines Observatoriums

Obwohl xier eigentlich direkt zur Straße wollte, konnte das Wesen es sich nicht verkneifen, einen Blick in Vexedrons Versteck zu werfen. Erwartungsgemäß war der Vordereingang verriegelt. Das Wesen verflüssigte xiesen Körper und drang durch die engen Ritzen der Stahltore.

Die Wände des vollautomatisierten Observatoriums waren zugestellt mit hohen Servertürmen, in deren fleischigen Eingeweiden Kabel und Nervengewebe fusioniert zusammenarbeiteten. Der feuchtwarme Boden war überhäuft mit verschiedenen Utensilien. Plasmakatalysatoren, die Geschosse aus Myxotesta formten, eine Flasche durchsichtigen Harzes für Glasreparaturen und ein Tablet, welches von Vexedron benutzt wurde, um die Sicherheitssysteme der Einrichtung zu deaktivieren.

Das Wesen schaltete es ein. Leider reagierte der Touchscreen nicht auf xiese Arme und so konnte xier nur ein Verzeichnis mit Sichtungen aufrufen.

Die Liste war einfach zu verstehen. Links standen Nummern und Daten zum Flugobjekt, rechts stand, als was es erkannt wurde. Die meisten waren Himmelssegler, Abstrakyos, Flugschiffe und Aeropleurodon. Ein Eintrag stach heraus.

Nicht identifiziert

Laut Datum war es vor einer Umrundung des Mondes Daremée aufgetaucht. Xier legte das Tablet weg und ging langsam auf die Server zu. Es war nur eine Frage der Zeit und jemand würde den Eintrag lesen und auf xiesen Absturz aufmerksam werden.

Die Geleeflamme verflüssigte sich, um in die Technik einzudringen. Xies Körper verlor seine Form und strömte durch jede noch so enge Passage in das maschinell-organische Innenleben, um möglichst viel Schaden anzurichten. Xiese Körpermasse zerriss Kabel, brach Platinen aus ihrer Fassung, verbog Drähte, zerdepperte Sicherungen und verstopfte die Myxotestaausgänge.

Xiese Wahrnehmung bestand nur noch aus splitterhaften Eindrücken der Zerstörung. Funken sprühten, Blitze zuckten und Rauch kam auf.

Es dauerte nicht lang und das Wesen trat unbeschadet aus der knisternden Glut, die das Fleisch des Observatoriums konsumierte.

Zufrieden setzte sich das Glibberfeuer an den Straßenrand und schaute zu, wie die riesigen Aalschiffe Sun Laos die Rauchsäule des Observatoriums umkreisten. Regelmäßig sprangen bunte Soldaten aus ihnen und suchten nach der Ursache für den Brand. Doch xier war zu weit entfernt, um von ihnen bemerkt zu werden.

Als die Flugkreaturen verschwanden, blieb xiem nichts weiter, als den Himmel zu beobachten. Der kleine, orange Mond Daremée ging im Osten unter, was die zweite Hälfte der heutigen Runde einläutete. Der allzeit präsente Gasplanet Golganth war den Zwillingssonnen inzwischen sehr nahegekommen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis zur nächsten Gründämmerung.

Nach einiger Zeit des Wartens, erblickte xier ein sich näherndes Geschweb in der Ferne. Der Gleiter ähnelte einem länglichen Stoßfass, welches von fleischigen Ballons über dem Boden getragen wurde. Xier bildete acht leuchtende Arme, um winkend auf sich aufmerksam zu machen. Tatsächlich verlangsamte sich der Gleiter und blieb vor xiem stehen.

An der oberen Kante des zylindrischen Geschwebs blickte jemand auf xien herab. Ohne Vorankündigung sprang der Fahrer vom hohen Deck und landete neben aus dem Asphalt. Er war um ein Vielfaches größer als xier und gehüllt in einen nassen Wickelrock. Seine grünen, orangen und blauen Hautpartien glänzten im Sonnenlicht. Die ovalen Pupillen seiner feuerroten Augen musterten xien.

Xier erkannte an den gekräuselten Muscheln seines Schmuckes, dass der Häraner als männlich einkategorisiert wurde. Ein Prozedere, welches noch aus der Hochzeit Djavalés stammte, bei dem die kadschanischen Kolonialisten die einheimischen Häraner in zwei Geschlechter eingeteilt haben. Tatsächlich gab es bei den Häranern aber keine biologischen Geschlechter, was die Kadschanen damals zu verwirrend fanden. In der ersten Phase der Inselbesetzung stand der Vorschlag im Raum, einfach alle Häraner mit dem geschlechtsneutralen Pronomen anzusprechen. Dies wurde von den Herrschenden empört abgelehnt, mit der Begründung es wäre eine Sonderbezeichnung für Geistwesen und damit eher ein Ehrentitel.

Der Fahrer war für gewöhnlich sehr vorsichtig, was alles Ungewöhnliche und Fremde anging. Das harmlose Erscheinungsbild des Wesens lud ihn aber dazu ein, einmal aus dem Trott seines Alltags herauszutreten. Mit acht durch Flossen verbundene Finger deutete er auf seine weit abstehenden Augen. Eine Begrüßungsgeste. „Ich bin Shu und wer bist du?“ Häraner besaßen keinen Mund. Der natürliche Kommunikationsweg für sie war, die Myxotesta durch ihre mit Gas gefüllten Hautblasen am Hals vibrieren zu lassen und somit Töne zu erzeugen. Allerdings hatte die Kolonialisierung der Insel Ohära dazu geführt, dass Häranern bei der Geburt ein Gerät auf die Hautlappen transplantiert wurde, womit sie die Laute der Einzigen Sprache formen konnten.

„Kannst du mich ver-ste-hen?“, fragte er langsam, als ob xier der Einzigen Sprache nicht mächtig wäre.

Der Geist blinkte einmal.

„War das ein Ja?“ Er beugte sich zum Geistwesen herab, um xiem näher zu sein.

Abermals Blinken.

„Möchtest du mir verraten, was du auf der Straße machst? Ich hätte dich fast umgefahren.“

Xier deutete auf den Gleiter.

Shu sah hoch zum Deck. „Hm? Möchtest du mitkommen? Du wohnst doch bestimmt im Reservat.“

Einmaliges Aufleuchten. Xier stammte zwar nicht von dort, wollte aber nicht in der Wüste bleiben.

„Hast du dich verlaufen?“

Wieder blinkte xier. Es war die einfachste Erklärung.

„Natürlich kann ich dich … Moment mal. Was riecht hier so verbrannt?“ Shu sah sich um und bemerkte die Rauchsäule, die aus dem ausgebrannten Observatorium aufstieg.

Sofort kamen ihm die langen, bedrohlichen Flugschiffe in den Sinn. Er hatte sie auf seinem Weg durch die Glaswüste Richtung Westen ziehen sehen.

Sein Blick wanderte langsam zu den pinken Flammenumrissen xieses Gelees. „Das Lucil- Observatorium ist ja abgebrannt. Warst das etwa du?“

Xier blinkte zweimal, doch Shu wich entschieden einige Schritte zurück.

„Tut mir leid. Ich würde dich ja gerne mitnehmen, aber ich will keinen Ärger.“ Er ging in die Hocke und sprang in hohem Bogen auf den Gleiter. Dann setzte sich das Geschweb in Bewegung. Das Wesen war aber nicht gewillt, diese Chance einfach verstreichen zu lassen.

Shu atmete tief in sein häranisches Konnexionsorgan auf der Rückseite seines Kopfes. Die Hautlappen an seinem Hals blähten sich auf und nach kurzer Zeit presste er eine Sphäre aus seinem Halsbeutel.

Die mit Gas gefüllte Myxotestablase hing er zu den restlichen Ballons, die den Gleiter in der Schwebe hielten. Diesen Vorgang wiederholte er einige mal. Dann zog er eine kleinere Myxotestablase hervor, stach mit dem einzigen spitzen Finger seiner Flossenhand ein Loch hinein und rieb sich mit der Feuchtigkeitslotion ein. „Verdammte Wüstenmyxotesta. Bo wird sich sicher wieder über mich lustig machen, wenn meine Haut sich abpellt.“ Es war nicht nur die staubige Myxotesta, sondern vor allem das Salzwasser, in dem er jede Woche nach wertvollen Materialien suchen musste. Man konnte es wohl kaum Karriere nennen, aber das BIOS-System zahlte genug, damit er seine Eltern finanziell unterstützen konnte.

Er wandte sich seinem BIOScom zu. Mit einer Berührung zerfiel das silberne Computerarmband zu einer Wolke Nanobots, die erst wie farbiger Sand über seinem Kopf schwebten, bis sie sich dann zu einem länglichen Saiteninstrument zusammensetzte. Er besaß nicht genügend Nanobots für das gesamte Modell, weswegen an allen Ecken Materie fehlte. Mit seiner Schwanzflosse stützte er das Instrument, während er eine klagende Melodie zupfte.

Seine Gedanken wanderten zu der Person, die er gerade am meisten vermisste. Wo auf der Welt mochte sie sein? Ob sie wohl auch an ihn dachte? Shus Haut verlor an Sättigung und wurde grauer. Dann bemerkte er das pinke Flämmchen auf dem Geländer.

„Oh, nein!“ Er sprang auf, worauf das Instrument wieder zu Nanobots zerfiel, und rannte auf das Flämmchen zu.

Xier verflüssigte sich schnell und flitzte durch die Ritzen in den Dielen auf das gegenüberliegende Geländer.

Shu fuhr herum und jagte xiem hinterher, doch xier floss einfach wieder zurück zur anderen Seite. Es bereitete dem Wesen große Freude, ihn so hilflos zu sehen. Geknüpft an ein Gefühl der Erhabenheit.

Nach einigen Versuchen, das flinke Wesen zu fassen, gab Shu auf. „Scheint so, als hätte ich keine Wahl. Aber nur bis zum Reservat! Und bitte brenne nichts nieder. Der Gleiter gehört nicht mir.“

„In der Aufbauphase dieser Welt habt ihr mich damit beauftragt, neben den Kadschanen, den Fährs und den Vanaardiern auch noch eine intelligente, aquatische Lebensform heranzuzüchten. Und das macht ja auch Sinn. Schließlich werden die größten Flächen des Planeten von Wasser bedeckt. Aber ihr habt mich nicht perfekt geschaffen. Es gibt keinen Ort, den ich so verachte, wie die Untiefen des Meeres, deren finstere Weiten mich jedes mal von Trübsal niedergestreckt zurücklassen. Deswegen habe ich die amphibischen Häraner in den Süßwasserseen der Insel Ohära gezüchtet und verdarb sie mit empfindlicher Haut, welche den Salzen der Ozeane nicht dauerhaft ausgesetzt werden kann. Ich werde nicht den Großteil meines Lebens Unterwasser verbringen. Rhodophyta, die Rotalge, wird dort in meinen Namen eine Überpopulation verhindern. Ich hörte, sie hat bereits eine mörderische Korallenart hervorgebracht.“

- Rechtfertigung an die Geistwesen

von Placozoas dem Jäger

1 / 4 Zwischen Wüste und Wald

Vacuurbis, die 9. Runde im Firmquart 136 nach Somnea

Sie glitten beinahe eine ganze Umrundung des Mondes Daremées durch die Wüste, bis sie die Dornbuschsavanne erreichten. Shus Skepsis dem Wesen gegenüber war nach einem ausgedehnten Schlaf abgeebbt. „Du wohnst also im Wald?“

Das Wesen leuchtete zweimal auf.

„War das ein Nein? Wo du auch herkommst, du wirst im Klimareservat deinesgleichen treffen. Die Wachen auf den Aussichtstürmen sichten oft Geistwesen im Wald. Vielleicht findest du ja ein paar Bekannte.“

Xier kannte niemanden im Wald, brannte aber darauf, andere xiem ähnliche Lebensformen kennenzulernen. Zum ersten Mal irgendwo wirklich dazuzugehören. Geistwesen unter sich.

Das aride Klima ließ gigantische Welwitschien sprießen, unter deren kurvigen Blättern die Straße verlief. Staunend schaute xier zu allen Seiten, als sie den Tunnel durchquerten.

Auf der anderen Seite offenbarte sich xien das dichte Akaziengeäst einer Trockensavanne. Nie zuvor hatte das Wesen so viele Pflanzen mit den eigenen Sehzellen erblickt, geschweige denn einen ganzen Wald. Xier brannte darauf, die Flora zu berühren, ihre Beschaffenheit zu spüren und mit glibberigen Armen zu schmecken.

Sonnenstrahlen fielen durch das rotgrüne Blätterdach auf xiese Oberfläche. Xier breitete die Arme aus und fühlte die frische Myxotesta. Die nährstoffreiche Keimschicht war leichter als Wasser und schwerer als Luft. All die in ihr treibenden Partikel prickelten auf xiesem Gelee. Hier und jetzt zu existieren, frei zu sein, die Fahrtströmung zu spüren, es war eine überwältigende Erfahrung.

Die Tatsache, dass xier kurze Zeit zuvor das Lebensende der Soldaten bezeugt hatte, machte den Moment noch wertvoller. Lärmender Tiergesang begleitete sie über Serpentinen bergauf. Friedlich lauschte xier den Chorälen. Paarung, Territorialkämpfe, Geburt, Tod. Alles lag in ihren Liedern.

Das Auftauchen breitblättriger Stauden kündigte die osmotische Klimabarriere an. Wenig später erreichten sie die Grenze einer gigantischen Kuppel aus verdickter Myxotesta. Ihr Gallert schimmerte in zarten Regenbogenfarben wie die Oberfläche einer Seifenblase. Zahlreiche Abstrakyos steckten halb in ihrer semipermeablen Masse fest und glitten nur langsam durch die transparenten Schichten.

Der Gleiter bog ab. Ganz auf die Landschaft fixiert, hatte xier gar nicht bemerkt, dass es einen weiteren Weg gab, an dessen Rand Shu das Geschweb parkte. Das Wesen folgte ihm auf einen mit Knollenkalk gepflasterten Platz.

Zahlreiche Girlanden hingen über ihnen. Ihre grünen und orangenen Stoffschleifen schaukelten sacht in der Myxotestabrise. Shu mochte diesen Ort eigentlich nicht und dennoch kehrte er immer wieder.

Sechs Statuen standen auf dem Platz. Fünf an den Seiten und eine direkt vor der schimmernden Klimabarriere. Es handelte sich um Bildnisse der ersten Familie.

Ferme, die Urmutter der Bakterien war aus vielen, kleinen Kieseln zusammengesetzt.

Placozoas, der Jäger, hielt einen Korb, in dem frische Knochen lagen.

Ourasphaira, die Fungusoligarchin, war in allen Farben bunt angemalt.

Rhodophyta, die Rotalge, war mit einem roten Schleier verhüllt. Dieser wurde durch Steine beschwert, auf denen das Symbol Abschied stand.

Neben ihr befand sich ein leerer Sockel, auf dem nur noch Brocken einer zerschlagenen Statue lagen. Shu blieb vor der Statue Poiesis am Kopfende stehen, zückte eine Frucht, schnitt sie mit seinem spitzen Finger auf und legte sie auf den Boden. Der blutorange Dampf in ihrem Innern entwich und strömte in den Forst.

Die meisten Früchte beinhalten Dunst, der bei Kontakt verschiedenste Stimmungen und Erlebnisse auslöst. Deswegen nehmen Tiere sie gerne mit sich und verbreiten so die Art. Die heujurtsche Bramsoi etwa löst ein friedvolles Gefühl von Zusammenhalt und Liebe aus. Ein vanaardischer Hämorius simuliert den Geschmack einer Blutwolke, um Anklang bei Vanaardiern zu finden. Eine unerfreuliche Variante stellt die Fliehbutte dar. Wer ihren Dampf aufnimmt, überkommt das starke Bedürfnis, mit der Frucht so weit es nur geht davonzurennen.

Doch Shu konsumierte den Dampf nicht, sondern stellte sich vor das Monument, streckte die Arme nach vorne und führte sie in einem Kreis zusammen. Es sah aus, also ob er eine unsichtbare Person umarmte. In dieser Position verharrte er eine Weile, bevor er sich dem Flämmchen zuwandte. „Wenn wir Dorfbewohner die Klimabarriere passieren, wünschen wir uns, dass der Einsame Stern, Poiesis, wiederkehrt. Sie hat uns diese Barriere geschenkt, um unser Reservat vor der wachsenden Wüste zu schützen.“

Das Wesen sah hoch zu dem Wirbel aus Spiegelglas, der das Sonnenlicht reflektierte. Poiesis Statue war im Gegensatz zu den anderen glatt und glänzend. Man sah ihr an, dass sie regelmäßig poliert wurde. Es war seltsam für das Wesen, ihre Statue hier zu sehen. Auch xier wünschte sich ihre Rückkehr. Es war eine Gemeinsamkeit, die xien mit einem Gefühl der Verbundenheit zu Shu und dem Rest der Welt erfüllte.