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Seit 1997 widmet sich der Grundrechte-Report der Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Als »alternativer Verfassungsschutzbericht« dokumentiert er die vielfachen Bedrohungen, die von staatlichen Institutionen für diese Rechte ausgehen. Der aktuelle Report behandelt die Gefährdung von Grund- und Menschenrechten im Jahr 2024. In bislang nicht gekanntem Ausmaß stehen die Kommunikationsgrundrechte und damit die Grundlagen der pluralistischen Demokratie unter Druck. Bestimmte Arten von Versammlungen werden pauschal verboten und Protestcamps mit Gewalt geräumt, die Äußerung von Meinungen wegen ihres Inhalts kriminalisiert, Kulturschaffende und Wissenschaftler*innen unter Generalverdacht gestellt. Der Report behandelt außerdem unter anderem die anhaltende Einschränkung von Rechten Geflüchteter, den Umgang mit Menschen in Haft und Strafvollzug sowie die Militarisierung von Politik und Gesellschaft. »Wir sind der Souverän. Wir haben dem Staat nicht zu beweisen, dass wir Demokraten sind. Ein grundsätzliches Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern ist tödlich.« Gerhart Baum bei Vorstellung des Grundrechte-Reports 2024
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2025
Peter von Auer | Charlotte Ellinghaus | Rolf Gössner | Martin Heiming | Max Putzer | Britta Rabe | Rainer Rehak | John Philipp Thurn | Marie Volkmann | Rosemarie Will (Hrsg.)
Der Grundrechte-Report dokumentiert seit 1997 als Teil einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei jedes Jahr auf die staatlichen Institutionen, von denen die größten Gefährdungen der Grundrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit ausgehen.
Im Mittelpunkt der 29. Ausgabe des Reports stehen Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie Grundrechtseingriffe in den Bereichen Migration und Asyl. Darüber hinaus werden zahlreiche weitere Themen behandelt, darunter der Umgang mit der Klimakrise, Überwachungsmaßnahmen und der begrenzte Mieterschutz.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Herausgegeben wird der Grundrechte-Report von zehn Bürgerrechtsorganisationen. Informationen über die Herausgeber*innen, die Autor*innen und die Redaktion finden sich im Anhang des Buches.
gewidmet Gerhart Baum (28.10.1932 – 15.2.2025)
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Redaktion: Peter von Auer, Nina Diarra, Charlotte Ellinghaus, Andreas Engelmann, Johannes Feest, Claus Förster, Fabian Georgi, Franziska Görlitz, Martin Heiming, Athena Möller, Max Putzer, Britta Rabe, Rainer Rehak, John Philipp Thurn, Marie Volkmann, Rosemarie Will
Covergestaltung: Iris Farnschläder, Hamburg
Coverabbildung: picture alliance / Caro | Trappe
ISBN 978-3-10-492248-5
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Vorwort der Herausgeber*innen
Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Bezahlkarte für Geflüchtete
Vielfältige Alltagsprobleme
Eine faktenarme Debatte
Sozialstaat in Gefahr
Artikel 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Verfassungsrechtliche Grenzen der polizeilichen Überwachung
Heimliche Maßnahmen
Datenspeicherung
Ausgeweitete Überwachung braucht Löschungsoptionen
Persönlichkeitsgefährdung nachverhandelt
Die Gefahr liegt in der Technologie
Die öffentliche Hand als Freund und Gefährder
Repression und technischer Fortschritt
Chance vertan
Status quo: Schwangerschaftsabbruch als Tötungsdelikt
Grund- und Menschenrechte der ungewollt Schwangeren
Reformdebatte im Jahr 2024 – eine verpasste Chance
Ausreiseverbot für eine Friedensdelegation nach Südkurdistan
Politisch unbequeme Ausreisen
Es wurden Fakten geschaffen
Artikel 2 (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
Notwehr zählt immer
Tödliche Eskalation mit Hilfe von Polizeiwaffen
Kein Einzelfall
Signal mit tödlichen Konsequenzen
Misshandlung Gefangener in der JVA Augsburg-Gablingen und mangelnde Aufsicht durch das Justizministerium
Besonders gesicherte Hafträume: Schutzmaßnahme, nicht Sanktion
Verletzung der Menschenwürde
Nackt oder mit Papierunterhose?
Aufklärung und grundlegende Änderungen
Artikel 3 (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Racial Profiling jetzt auch mit Durchsuchung
Diskriminierung und Waffenrecht
Orientiert am Racial Profiling?
Eine Last, die nicht alle zu tragen haben
Mutter, Vater, Kind?
Wie hat eine Familie auszusehen?
Eine absurde Ungleichbehandlung
Mal wieder vor Gericht
Zwangsbehandlung wird ausgeweitet
Wann es auf den Willen der Betroffenen nicht ankommen soll
Zwangsbehandlung wird ausgeweitet
Missachtung des Partizipationsgebots der BRK
Artikel 4 (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Kreuze in bayerischen Amtsstuben sind nicht neutral
Das Kreuz kehrt zurück
Kreuze in Amtstuben verletzen die negative Religionsfreiheit
Bleibt es beim Kruzifix-Beschluss?
Artikel 5 (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Zur Antisemitismus-Resolution des Deutschen Bundestags
Eine oktroyierte Definition
Kontinuität von Terror
Verteidigung des Universalismus
Leak oder Hinweis?
BGH: Strafbare Verletzung des Dienstgeheimnisses
Alles neu? – Das Hinweisgeberschutzgesetz
Vieles noch offen
Informationsfreiheit nur gegen Preisgabe persönlicher Daten?
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
Datenabfrage ohne Ermächtigungsgrundlage
Verheerende Abschreckungseffekte für die Grundrechtsausübung
Zum heimlichen Abhören des Pressetelefons der »Letzten Generation«
Hat das Gericht die Pressefreiheit einfach vergessen?
Blinde Flecken bei der Abwägung in politischen Strafsachen
Aus Angst vor staatlicher Repression kein politisches Engagement
Leichtfertiger Umgang mit der Pressefreiheit
Ein verfassungsfeindliches Medium? Die Junge Welt vor Gericht
Wie im Kalten Krieg
Kritik, Kontext, Klasse
Gewaltfragen
Artikel 5 (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Keine Bildung ohne Bundeswehr
Hochschulen als Instrument für militärische Forschung
Schulen als Rekrutierungsstätte für die Bundeswehr
Zeitenwende für demokratische Rechte?
Legalität und Legitimität von Campus-Protesten
Das Palästina-Camp im Lichte der Grundrechte
Die Ministerin und ihr Äußerungsrecht
Graubereiche zwischen Legalität und Delegitimierung
Artikel 6 (1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
Familiennachzug zu unbegleiteten, minderjährigen, subsidiär Schutzberechtigten
Neue Weisungslage des Auswärtigen Amts
Auswärtiges Amt kommt Organisationspflichten nicht nach
Verfahrensgestaltung widerspricht dem Grundrecht auf Familie
Artikel 8 (1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
G20-Gipfel in Hamburg wieder aufgewärmt
Stadt Hamburg versammlungsfeindlich
Einseitige gerichtliche Aufarbeitung
Rabulistik
Protest Policing in Berlin
Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Sachen Palästina
Meinungs- und Versammlungsfreiheit vor Gericht
Versammlungsauflösung als Strategie
Die Zerschlagung des Palästina-Kongresses
Die Polizei zieht den Stecker
Behinderung und Auflösung des Kongresses waren rechtswidrig
Die Öffentlichkeit schaut weg
Artikel 12 (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
Rückkehr der Gesinnungsprüfung?
Verfassungstreuepflicht und Grundrechtsdilemma
Ein Blick zurück: Die Gesinnungsprüfung
Wo liegt die Grenze?
Verfassungstreue: Fördern statt kontrollieren
Geh doch arbeiten!
Nach ihren Bedürfnissen
Von Leipzig nach Karlsruhe
Echte Chancen
Verwehrung des Zugangs zu Bildung als Strafmaßnahme?
Das Berliner Ordnungsrecht hat Beispielwirkung
Ordnungsrecht als politisches Repressionsmittel
Kontext: Angriffe auf Hochschulautonomie
Artikel 12 (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
Zwangsarbeit im Strafvollzug?
Zwangsarbeit: Regel und Ausnahme
Pflichtarbeit im deutschen Strafvollzug
Notwendigkeit der Arbeitspflicht?
Artikel 13 (1) Die Wohnung ist unverletzlich.
Habeck und die Hausdurchsuchung
Schwache Beleidigung, schwerer Eingriff
Habt ihr sonst nichts zu tun?
Mehr Beleidigung als Meinungsäußerung
Artikel 14 (1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Wenn die Bremse versagt
Ausnahmen von der Mietpreisbremse
Strukturelle Hürden bei der Durchsetzung
Damit die Sozialbindung des Eigentums kein Lippenbekenntnis bleibt: Vier Reformvorschläge
Effektiver Schutz vor überhöhten Mieten: Fehlanzeige
Ein Gesetz, das kaum mehr zur Anwendung kommt
Trotz Appell der Länder: Der Bundestag schweigt
Druck auf Mieter*innen steigt, auf die Bundesregierung ebenso
Artikel 16a (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Die Kriminalisierung von Migration
Mehr Repressionen gegen Fluchthelfer:innen
Stationäre Grenzkontrollen verhindern Asylgesuche
Europäischer Gerichtshof stärkt das Grundrecht auf Asyl
Schutzbedarf syrischer Wehrpflichtiger
Folgeanträge aufgrund einer EuGH-Entscheidung
Vorrang des richtigen Status
Artikel 19 (4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.
Rechtsschutz in der Klimakrise
Prozesskostenhilfe soll Rechtsschutz ermöglichen
Polizeibekannter Aktivismus nicht ausreichend für Gefahrenverdacht
Rechtsschutz, Kommunikation und Verantwortung
Festnahme und Auslieferungsantrag
Versäumnisse und offene Fragen
Reformbedarf im Auslieferungsrecht
Artikel 20 (1) Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Krankenhausversorgungsverschlimmbesserung
Vorbehalte
Leistung und Gesundheit
Überwindung der Sektoren
Wie lange dauert ein »Kurzaufenthalt«?
Ungleichbehandlung durch Gesetz
Menschenwürdiges Existenzminimum verletzt
2024 als Jahr der Einbußen
Artikel 20 (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Ohne Gesetz und Kontrolle
Ein vierter Geheimdienst
Eklatantes Rechtsstaatsproblem
Abgebrochene Reform des Nachrichtendienstrechts
Artikel 20a Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
Hat die Natur eigene Rechte?
Das Konzept der Rechte der Natur
Neuland für Deutschland
Heiß diskutiert
Mit Dieselmotoren zum Umweltschutz
Ein Menschenrecht auf Klimaschutz
Wer ist betroffen, wenn alle betroffen sind?
Klimaschutz ist Menschenrechtsschutz
Verweigerte Umsetzung
Ein wichtiger Schritt
Artikel 25 Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.
Deutsche Waffenlieferungen nach Israel
Kein Schutz vor Waffenlieferungen durch deutsche Gerichte
Waffenlieferungen verstoßen gegen Völker- und EU-Recht
Wann hält sich Deutschland an seine Verpflichtungen?
Artikel 38 (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Wahlrechtsgleichheit unter dem Grundgesetz?
Die Wahlrechtsreform – Streichung der Überhangmandate und der Grundmandatsklausel
Das Urteil zur Wahlrechtsreform
Demokratisches Wahlsystem nur unzureichend gesichert
Artikel 101 (1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.
Langer Atem
Eine Frage des Durchhaltevermögens
Die Verletzung des Justizgewährungsanspruchs
Stärkung der Rechtsstaatlichkeit durch objektive Betrachtung?
Artikel 104 (1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden.
Bestellung anwaltlichen Beistands in Abschiebungshaftverfahren
Anwaltlicher Beistand nicht oder nur zu spät gewährt
Massenhaft rechtswidrige Freiheitsentziehung
Kein anwaltlicher Beistand für Zurückweisungshaft
Gesetzgeberischer Mangel: Fachunkundiger Beistand
Keine Regelung des Bestellungsverfahrens
Abschiebungshaft: Kein Ende des Trauerspiels
Mehr Haftplätze
Neues Gesetz mit Verschärfungen
Abschiebungshaft und Asylantrag
Erweiterung von Mitwirkungshaft und Ausreisegewahrsam
Probleme für den Rechtsstaat bleiben
Anhang
Kurzporträts der herausgebenden Organisationen
Autor*innen, Herausgeber*innen und Redaktionsmitglieder
Abkürzungen
Sachregister
Wir stehen in Deutschland an einem Punkt, an dem es nicht mehr ausreicht, auf einzelne Bedrohungen von Grundrechten hinzuweisen. Die Ausübung ziviler Freiheiten wird offensiv und mit bislang nie dagewesener Intensität behindert oder verboten. So knüpft der Staat entgegen der im Grundgesetz garantierten Meinungsneutralität die Ausübung von bürgerlichen Rechten zunehmend an bestimmte Überzeugungen. Im Versammlungsrecht, beim Umgang mit Meinungsäußerungen oder im Staatsangehörigkeitsrecht: Illiberales Staatshandeln richtet sich nicht mehr nur gegen rechtswidrige oder auch – was problematisch genug wäre – radikale Formen des Freiheitsgebrauchs, sondern immer stärker gegen bestimmte Meinungsinhalte.
Im Mai 2024 wurde ein Kongress in Berlin nach wenigen Minuten geräumt, ohne dass es seitens der Teilnehmenden zu rechtswidrigen Handlungen gekommen wäre. Die Polizei hatte folgsam die Anweisung des Regierenden Bürgermeisters ausgeführt, die Veranstaltung auf jeden Fall zu verhindern. In einem derartigen politischen Klima wundert es nicht, dass auf Berliner Straßen auch die Brutalität der Polizei gegenüber Demonstrierenden wächst.
Die neue Gesinnungskontrolle trifft Marginalisierte und Migrant*innen besonders. In Bayern wurde einem palästinensischen Syrer die Einbürgerung verweigert, weil er sich nicht der deutschen »Staatsräson« unterwerfen wollte. Insbesondere unter diesem Begriff maßt sich die Bundesregierung an, für alle Staatsbürger*innen verbindliche Auffassungen festzulegen und die bürgerlichen Freiheiten einzuschränken. In einer Demokratie bestimmen wechselnde Mehrheiten über Zusammensetzung und politische Ausrichtung der Regierung, während die Verfassung nicht zuletzt grundlegende Entscheidungen zum Schutz von Minderheiten trifft. In diesem Gefüge kann die »Staatsräson« kein rechtliches Konstrukt sein. In ihr kommt eine kritiklose Unterstützung Israels und seiner Sicherheitsinteressen zum Ausdruck, die rein politischer Natur ist. Ihr eine gesetzesdurchbrechende Wirkung zuzusprechen oder sie als in der Verfassung verankert anzusehen, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar.
Politiker*innen nutzen, etwa durch automatisiertes Anzeigen von Banalitäten wie Beleidigungen, Ermittlungsressourcen, die an anderer Stelle fehlen. Wegen eines eher harmlosen Internetposts rückt die Polizei aus, während Betroffene von psychischer Gewalt auf den digitalen Plattformen der sich wie Könige aufführenden Multimilliardäre kaum staatlichen Schutz erwarten können.
Der Ton ist rau wie lange nicht mehr. Gegenüber Minderheiten und Migrant*innen fallen die letzten Hemmungen. Geflüchtete werden durch die Einführung einer Bezahlkarte gegängelt, ohne dass überhaupt nachgewiesen worden ist, dass sie erhaltene Leistungen in nennenswertem Umfang in ihre Herkunftsländer überweisen. Gleichzeitig sind sie von teils massiven Kürzungen betroffen; sogenannte Dublin-Geflüchtete haben gar keinen Anspruch mehr auf Leistungen. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ist im Bundestagswahlkampf ins Zentrum einer verbal entgleisenden Migrationsdebatte gerückt, in der sich die politischen Kontrahent*innen mit Forderungen nach Einschränkung und Abschaffung von grundrechtlichen Freiheiten Schutzsuchender gegenseitig zu überbieten versuchten. Die Rede von »Remigration«, die nach Bekanntwerden des sogenannten Geheimtreffens von Potsdam Anfang 2024 noch einen Schock auslöste, ist mittlerweile Normalität geworden. Menschen auf der Flucht tauchen in der politischen Debatte kaum noch als Individuen mit unveräußerlichen Rechten auf, sondern meistens als eine Belastung, der es mit Erniedrigung, Zurückweisung, Inhaftierung und Vertreibung zu begegnen gilt. Im Zuge dieser Entmenschlichung wird nicht einmal mehr der Schein gewahrt, dass der Staat von der gleichen unantastbaren Würde aller Menschen ausgeht. Die Kürzung von Sozialleistungen für Menschen mit temporärem Aufenthaltsstatus, der weitere Abbau des individuellen Rechts auf Asyl und Flüchtlingsschutz im Zuge der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und die Ausweitung der Abschiebungshaft sind nur einige der Maßnahmen, über die wir in diesem Jahr berichten. Das Attentat von Solingen wurde zur Verabschiedung eines rassistischen und autoritären »Sicherheitspakets« missbraucht, das gefühlte Sicherheitslücken mit rechtsstaatswidrigen Maßnahmen zu schließen versucht. Gewaltverbrechen wie in Mannheim oder Magdeburg werden hetzerisch instrumentalisiert, während die häufigen Tötungen von Frauen durch ihre männlichen (Ex-)Partner in Deutschland kaum öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, solange die Täter nur weiß gelesen und nicht muslimischen Glaubens sind.
Zur neuen Härte passt die Rekordzahl an Personen, die in einem Jahr nach polizeilichen Maßnahmen ums Leben kamen. Oft handelt es sich dabei um Menschen, die sich in psychischen Ausnahmesituationen befanden. Für sie ist die Polizei, die oft zu ihrer Hilfe gerufen wird, kein Schutz, sondern eine Gefahr. Dass gleichzeitig schockierende Fälle von Folter im bayerischen Justizvollzug ans Licht kommen, zeigt, wie unverhohlen Staatsdienende ihre Bindung an Gesetz und Verfassung teils ignorieren. Einen Höhepunkt erreichte die Rechtsverweigerung, als die Behörden der Länder Berlin und Bayern einen nächtlichen Helikopterflug nutzten, um zu verhindern, dass sich eine antifaschistische Aktivistin rechtlich gegen die Auslieferung nach Ungarn wehren konnte. Als das Bundesverfassungsgericht am nächsten Morgen die Überstellung vorläufig untersagte, hatten die Behörden bereits Tatsachen geschaffen.
Die zu beobachtende Militarisierung von Gesellschaft und Außenpolitik schränkt nicht zuletzt die Wissenschaftsfreiheit ein. Schulen und Hochschulen in Bayern werden seit 2024 von Gesetzes wegen zu einer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr gedrängt. Von einem »Freiraum Universität« kann keine Rede mehr sein, seit bei inneruniversitären Auseinandersetzungen immer häufiger die Polizei herbeigeordert wird. In unseren Berichtzeitraum fällt auch der Versuch der ehemaligen Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, die Mittelvergabe zur Wissenschaftsförderung an politische Gefälligkeiten zu knüpfen. Das zeigt, wie sehr staatliche Repräsentant*innen mittlerweile bereit sind, offen und ohne Scham den Kern grundrechtlicher Gewährleistungen zu missachten.
Im Abstammungsrecht oder bei Fragen der körperlichen Selbstbestimmung und der Abtreibung, wo viele auf rechtliche Verbesserungen gehofft hatten, ging es 2024 kaum voran. Gar keinen Schritt nach vorn gab es beim Thema Wohnen: Mieter*innen erfahren keinen Schutz vor explodierenden Mieten in Städten, denn die vereinbarte Fortsetzung der Mietpreisbremse brachte die »Fortschrittskoalition« nicht zustande. Im gleichen Zeitraum entschied das Bundesverfassungsgericht zum BAFöG, dass die Förderung nicht existenzsichernd sein müsse, weil Studierende stattdessen auch arbeiten könnten. Es steht zu befürchten, dass angesichts der angespannten Haushaltslage und des Diktats der Schuldenbremse bald der große Angriff auf den verbleibenden Sozialstaat beginnt.
In den enger werdenden Freiheitsräumen einer autoritär-populistischen Wende ist es nun an uns, umso konsequenter für die Bewahrung und Ausweitung von Grund- und Menschenrechten zu kämpfen. Es gilt nichts anderes als das, was die Holocaustüberlebende Esther Bejarano über den Kampf der Zivilgesellschaft gegen Nazis gesagt hat: Auf den Staat können wir uns dabei nicht verlassen.
Andrea Kothen
Elektronische Repression ohne jeglichen Nutzen
Ende 2023 vereinbarten die Ministerpräsident:innen der Bundesländer, an schutzsuchende Menschen Bezahlkarten statt Bargeld auszugeben. Dies ist eine der Maßnahmen, mit denen die Zahl der Geflüchteten »deutlich und nachhaltig« gesenkt werden soll, wie es im Beschluss vom 6. November 2023 heißt. Wie schon in den 1990er und 2000er Jahren, als es statt finanzieller Unterstützung nur Essenspakete, Einkaufsgutscheine oder Chipkarten gab, setzt die deutsche Politik damit wieder auf Abschreckung durch Restriktionen bei staatlichen Sozialleistungen.
Die Bezahlkarte ist eine Debit-Guthabenkarte mit stark eingeschränkten Zahlungsfunktionen. 14 der 16 Bundesländer verabredeten ein gemeinsames Bezahlkartenmodell. Bayern, Hamburg und einzelne Kommunen starteten schon ab Ende 2023 unterschiedliche Pilotprojekte. Im Frühjahr 2024 wurde die Bezahlkarte von der Ampel-Regierung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bundesgesetzlich verankert. Nun wird sie nach und nach umgesetzt.
Von Beginn an zeigte sich sehr schnell: Die Bezahlkarte bedeutet wegen ihrer eingeschränkten Einsatzmöglichkeit für die Betroffenen vor allem Aufwand, verursacht beträchtliche technische Umsetzungsprobleme und, entgegen der Behauptung der Bundesregierung, eine erhebliche Mehrarbeit für die Verwaltung. Die Einschränkungen beginnen bei der Bargeldobergrenze: Maximal 50 Euro soll, so will es die Mehrzahl der Bundesländer, eine erwachsene Person abheben können. Wegen des knappen Bargelds ist das Bezahlen auf Flohmärkten, im Landbus oder in der Schule damit häufig nicht (mehr) möglich, da dort die Bezahlkarte nicht verwendet werden kann. Kleinere Geschäfte nehmen sie wegen der damit verbundenen Händlerkosten oft nicht an, bisweilen funktioniert die Karte an der Kasse aufgrund eines technischen Fehlers nicht. In manchen Landkreisen ist die Karte regional beschränkt und so für einen Besuch in anderen Postleitzahlenbezirken nicht »freigeschaltet«. Überweisungen und Lastschriftverfahren sind mit der überwiegend eingesetzten Karte (bislang) nicht möglich. Vertragsabschlüsse, Gebühren- oder Ratenzahlungen – etwa an eine Anwältin oder den Sportverein – sind so nicht machbar. In Bundesländern wie Bayern, die eine eigene Bezahlkarte einsetzen, können einzelne Überweisungen auf Antrag von der Sozialbehörde zugelassen werden, was aber nicht nur einen immensen Aufwand darstellt, sondern auch datenschutzrechtlich hochproblematisch ist.
Wegen dieser Probleme gibt es eine wachsende Zahl von engagierten Ehrenamtlichen, die Geflüchtete durch Tauschgeschäfte und Bargeld mit dem Nötigsten versorgen. Auch diese vor allem symbolische Solidarität gab es schon in den 1990er und 2000er Jahren. Sie bewies einen langen Atem und war politisch letztlich erfolgreich.
Mit der Bezahlkarte wird den Betroffenen gezielt die Freiheit genommen, eigenverantwortlich und ungehindert ihre Bedarfe zu decken. So bricht das System mit dem ersten Gebot der Verfassung, der Wahrung der Menschenwürde. Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gilt für alle Menschen, auch für Geflüchtete. 2012 stellte das Bundesverfassungsgericht erstmals fest (Urteil vom 18.7.2012, Az. 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11): »Die in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.« Zudem dürfe der Gesetzgeber »bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren«. Beides ist hier aber der Fall.
Der Einführung der Karte vorausgegangen waren monatelange öffentliche Angriffe gegen die Versorgung Geflüchteter. Die Falschbehauptung von CDU-Chef Friedrich Merz im September 2023 über ihre angebliche zahnärztliche Vorzugsbehandlung war der Höhepunkt einer faktenarmen Debatte. Um die »Zuwanderung einzudämmen«, so der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), müsse man die »finanziellen Anreize« deutlich senken. Ins gleiche Horn stießen etwa Bundesjustizminister Marco Buschmann und Bundesfinanzminister Christian Lindner (beide FDP). Auch wurde ohne Evidenz behauptet, Bezahlkarten würden Auslandsüberweisungen an Verwandte oder an »Schlepper« verhindern.
Bis heute wurde keine dieser Behauptungen durch Fakten oder auch nur nachvollziehbare Anhaltspunkte untermauert. Im Gegenteil: Die Argumente renommierter Wissenschaftler:innen und die Einwände von Menschenrechtler:innen gegen die Einführung der Bezahlkarte wurden in der aufgeheizten Debatte nicht zur Kenntnis genommen. Dazu gehört etwa die Erkenntnis, dass Menschen, die vor Krieg, Gewalt oder existenzieller Not fliehen, sich von sozialpolitischer Gängelung nicht abschrecken lassen; dass sie sich ihren Zufluchtsort nicht nach Höhe oder Form der Sozialleistungen aussuchen (können); dass es keine belastbaren Hinweise auf relevante Geldströme in die Herkunftsländer von Asylsuchenden gibt; dass die Sozialleistungen für Asylsuchende gar nicht hoch genug sind, um relevante Summen an die Familie zu schicken; oder dass die Bezahlkarte negative Auswirkungen auf Integration und Teilhabe der Geflüchteten haben kann (siehe DIW-Studie 2024).
Mehr noch als alle substanzlosen Argumente für die Bezahlkarte muss die Ignoranz erschrecken, mit der die Verantwortlichen alle verfassungsrechtlichen Bedenken schlicht übergangen haben. Schon das erklärte Motiv der Abschreckung von Geflüchteten macht die Bezahlkarte mutmaßlich verfassungswidrig. Überdies liegt eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Leistungsempfänger:innen vor.
PRO ASYL und die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) erstritten 2024 in sozialgerichtlichen Eilverfahren in Hamburg, Nürnberg und Chemnitz erste Entscheidungen gegen die pauschalen Bargeldobergrenzen. Etwa das Sozialgericht Nürnberg kritisierte, dass die zuständige Behörde gesetzeswidrig keine einzelfallbezogene Ermessensentscheidung getroffen hatte (Beschluss vom 30.7.2024, Az. S 11 AY 15/24 ER). Nach den Eilverfahren sind inzwischen auch die ersten regulären Klagen an den Sozialgerichten anhängig.
Die Bezahlkarte war 2024 nicht die einzige verfassungsrechtlich problematische Verschärfung der sozialen Lage Geflüchteter. Die Zeit, in der geflüchtete Menschen mit den reduzierten Grundleistungen des AsylbLG, vor allem mit Beschränkungen bei der Gesundheitsversorgung leben müssen, wurde Anfang 2024 von 18 auf 36 Monate verdoppelt (siehe Lena Frerichs/Sarah Lincoln in diesem Band). Im Oktober 2024 wurde die völlige Streichung der Sozialleistungen für Geflüchtete während des Asyl-Zuständigkeitsverfahrens in Gesetzesform gegossen. Auch diese Verschärfungen wurden gegen alle Vernunft, gegen das Verfassungsrecht und auch gegen die Einwände von Zivilgesellschaft, Expert:innen und Wissenschaft beschlossen. Es sind also Demokratinnen und Demokraten, die Grundprinzipien unserer Demokratie und Verfassung in Frage stellen. Es bleibt zu hoffen, dass Gerichte, grundgesetztreue Politiker:innen und eine aktive Zivilgesellschaft dem Spuk bald ein Ende bereiten.
Pro Asyl: So läuft das nicht: Die lange Liste der Probleme mit der Bezahlkarte, 9.10.2024, www.proasyl.de/news/so-laeuft-das-nicht-die-lange-liste-der-probleme-mit-der-bezahlkarte/.
Gesellschaft für Freiheitsrechte: Mit der Bezahlkarte unter das Existenzminimum, 2024 www.freiheitsrechte.org/themen/gleiche-rechte-und-soziale-teilhabe/bezahlkarte.
Brücker, Herbert: Wissenschaftliche Einschätzung der Bezahlkarte für Geflüchtete, DeZIM-Institut, Stellungnahme v. 8.4.2024.
Anna Luczak
Im Jahr 2024 haben Verfassungsgerichte erneut Polizeigesetze teilweise für verfassungswidrig erklärt. Während der sächsische Verfassungsgerichtshof (SächsVerfGH) in seinem Urteil vom 25. Januar 2024 (Az. Vf. 91-II-19) über verschiedene heimliche Maßnahmen und die Speicherung von Daten zum Zweck der Gefahrenabwehr nach dem sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetz (SächsPVDG) entschieden hat, war das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorrangig in Bezug auf die Speicherung von Daten nach dem Bundeskriminalamtgesetz (BKAG) angerufen worden. Insoweit stellt das Urteil des BVerfG vom 1. Oktober 2024 (Az. 1 BvR 1160/19) eine Ergänzung seines Urteils zu den Befugnisnormen für heimliche Maßnahmen im BKAG aus dem Jahr 2016 (Az. 1 BvR 966/09 u.a.) dar.
Der verfassungsrechtliche Maßstab, an dem beides – heimliche Überwachung und Speicherung gewonnener Daten – gemessen wird, ist das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG. Nach der Grundsatzentscheidung des BVerfG zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung von 1983 (BVerfGE 65, 1; bekannt als »Volkszählungsurteil«) schützt dieses Grundrecht bereits davor, dass Bürger*innen in ihrem Verhalten von der Sorge getrieben werden, dass sie von staatlicher Seite beobachtet werden. Es soll nicht so weit kommen, dass Bürger*innen nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Denn eine solche Unsicherheit kann dazu führen, dass Bürger*innen sich nicht mehr frei verhalten.
Das Polizeirecht, mit dem sich die Verfassungsgerichte im Jahr 2024 beschäftigt haben, stellt dieses Freiheitsrecht in Frage. Denn beides, die Ausweitung heimlicher Befugnisse im Polizeirecht und die Speicherung heimlich oder offen erhobener Daten in polizeilichen Datenbanken, geht damit einher, dass Unklarheit darüber herrscht, was der Staat wann über eine*n Bürger*in weiß.
Das BVerfG hatte – nachdem es in seiner Entscheidung zum BKAG aus dem Jahr 2016 bereits eine Vielzahl heimlicher Maßnahmen für verfassungswidrig erklärt hatte – aktuell nur noch über die heimliche Überwachung eines bestimmten Personenkreises zu entscheiden: die sogenannten Kontaktpersonen. Das sind Personen, gegen die selbst kein Verdacht terroristischer Aktivitäten besteht, die aber in einem Näheverhältnis zu einer Person stehen, bei der dies der Fall ist – Personen wie die Rechtsanwältinnen, die die Verfassungsbeschwerde erhoben hatten, weil sie Mandate im Bereich von Terrorismusverdachtsfällen führen. Auf solche Kontaktpersonen konnten Verdeckte Ermittler oder Vertrauenspersonen angesetzt werden, sie konnten über 24 Stunden ohne Unterbrechung oder an mehr als zwei Tagen observiert werden, und es konnten GPS-Geräte oder Mikrophone in ihren Fahrzeugen oder Kameras gegenüber ihren Haustüren angebracht werden. Das BVerfG hat nun entschieden, dass die Regelung in der bestehenden Form nicht verhältnismäßig und daher verfassungswidrig ist.
Der SächsVerfGH hatte sich hingegen mit einer Vielzahl von heimlichen Maßnahmen zu beschäftigen, die in dem 2020 in Kraft getretenen Landespolizeigesetz geregelt sind. Der sächsische Gesetzgeber hatte den Versuch unternommen, angelehnt an das BKAG in der Fassung von 2008 und an die erste Entscheidung des BVerfG zu diesem Themenkomplex, verfassungskonforme Regelungen zu heimlichen Maßnahmen bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahr, bei einer sogenannten konkretisierten Gefahr, zu schaffen. Das BVerfG hatte dieses neue Konzept einer »konkretisierten Gefahr« eingeführt, um Fälle zu erfassen, in denen sich der Verdacht verdichtet, dass Personen Taten im Bereich des Terrorismus planen, ohne dass sich schon konkret abzeichnet, was wann wo passieren soll. Der sächsische Gesetzgeber war bei seiner Adaption dieses Grundgedankens aber zu weit gegangen, was der SächsVerfGH nun festgestellt hat. Denn in das Gesetz waren als Taten, deren nur »konkretisierte« Planung als Anlass für den Einsatz von heimlichen Überwachungsmethoden ausreichen sollte, solche Delikte aufgenommen worden, die selbst das Vorfeld einer konkreten Aktion betreffen. Dadurch war sozusagen das Vorfeld des Vorfelds einer realen Gefahr einbezogen worden. Dies bedeutet eine zu starke Verlagerung in das Gefahrenvorfeld. Daher entschied der SächsVerfGH: Die Abwehr von strafbaren Vorbereitungshandlungen und bloßen Rechtsgutsgefährdungen kann tiefgreifende Eingriffe in Grundrechte nicht rechtfertigen.
Der SächsVerfGH und das BVerfG sprechen in ihren Entscheidungen das Problem an, dass es nur ausnahmsweise zu Benachrichtigungen über bereits stattgefundene Maßnahmen und damit auch nur selten zu einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung von deren Rechtmäßigkeit kommt. Beide Gerichte haben jedoch leider darauf verzichtet, eine gesetzliche Verschärfung der Benachrichtigungspflichten zu fordern.
Der SächsVerfGH kritisiert an den Regelungen zur Datenspeicherung durch Polizeibehörden bedauerlicherweise nur die mangelnde Bestimmtheit der Vorschriften über die im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen gewonnenen und anschließend zu speichernden Daten. Das BVerfG holt weiter aus: In dem Urteil stellt es erstmals ausführlich dar, was eine Speicherung von Daten zu einem intensiven Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung macht und welche Vorgaben sich daraus für eine verfassungsgemäße Begrenzung von Speicherungen auf einen verhältnismäßigen Umfang ergeben. In Bezug auf die Eingriffsintensität wird klargestellt, dass es nicht nur um die Art der gespeicherten Daten (privat oder öffentlich) und die Art der Datenerhebung (im Rahmen heimlicher oder offener Maßnahmen) geht, sondern auch um die Art der Speicherung, also darum, wie der Zugriff auf die Daten geregelt und wie groß dabei die Missbrauchsgefahr ist.
Sowohl die Speicherungsdauer als auch die Vorgaben für eine zulässige Speicherung müssen laut dem BVerfG klar geregelt werden: Die Speicherung soll nur zulässig sein, wenn anhand bestimmter Kriterien die »negative Prognose« gestellt werden kann, dass die Kenntnis der Daten in der Zukunft für die Gefahrenabwehr erforderlich sein wird. Es muss dabei unterschiedlich bewertet werden, ob jemand nur verdächtigt oder verurteilt wurde, ob der Betroffene Kenntnis von der Speicherung hat und wie groß die Gefahr ist, dass theoretisch anhand der Daten ein umfassendes Persönlichkeitsbild erstellt werden kann.
Nicht nur die Gesetze, die Gegenstand der Verfassungsgerichtsentscheidungen waren, sondern auch alle anderen Polizeigesetze müssen nun an diese Vorgaben angepasst werden. Die Urteile reihen sich ein in mehrere Entscheidungen in den letzten Jahren, mit denen novellierte Polizeigesetze teilweise für verfassungswidrig erklärt wurden, weil die jeweiligen Landesgesetzgeber bei der Ausweitung der Befugnisse insbesondere zur heimlichen Überwachung zu weit gegangen waren. Wenn Verfassungsgerichte Grenzen aufzeigen, wird im nächsten Gesetzentwurf regelmäßig bis zu dieser Grenze gegangen, womöglich darüber hinaus – und nicht immer wird das »darüber hinaus« dann erneut verfassungsrechtlich überprüft. In diesem Umfeld gewinnt der zweite Teil der aktuellen Entscheidung des BVerfG an Bedeutung, der sich mit der Speicherung der durch Überwachung gewonnenen Daten befasst. Damit die ausgeweiteten Überwachungsbefugnisse nicht dazu führen, dass Bürger*innen sich nicht mehr frei verhalten, weil sie befürchten, dass der Staat zu viel über sie weiß, ist es umso wichtiger, dass Möglichkeiten zur Löschung gewonnener Daten gegeben sind.
Golla, Sebastian J.: Aufräumen im Datenhaus. Die polizeiliche Datenspeicherung nach BVerfG, BKAG II, Verfassungsblog v. 1.10.2024.
Rainer Rehak/Andreas Engelmann
Wie die Nutzung von KI zur biometrischen Strafverfolgung in den AI Act kam
Als weltweit erste Regulierung von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen bezeichnet die Europäische Union (EU) ihre neue Verordnung, den AI Act. Darin werden KI-Anwendungen klassifiziert und je nach Risikointensität unterschiedlich stark reguliert, teilweise sogar ganz ausgeschlossen. Als im Dezember 2023 eine Einigung zwischen Europäischem Rat, Kommission und Parlament auf einen Verordnungstext erreicht werden konnte, war unter den generell ausgeschlossenen Anwendungsfeldern für KI-Technologien auch die Sammlung und biometrische Auswertung von Daten aus dem Internet und aus Videoüberwachung im öffentlichen Raum vorgesehen (dazu Hartmut Aden, Grundrechte-Report 2024). Eine Besonderheit der Gesetzgebung der Europäischen Union liegt darin, dass Gesetzestexte – nach einer vorläufigen Einigung – weiterverhandelt werden können. So kam es, dass das Verbot von KI-Anwendungen bei der biometrischen Gesichtserkennung zur Strafverfolgung im öffentlichen Raum wieder entfiel, wofür sich der Rat und in ihm auch die Bundesregierung eingesetzt hatten. Damit enthält der AI Act eine grundrechtlich bedenkliche Schutzlücke. Das Aufreißen der Lücke wird einerseits der besonderen Gefährdung nicht gerecht, die durch automatisierte Gesichtserkennung für das Recht auf Anonymität, Datenschutz und den Schutz der Persönlichkeit entsteht. Andererseits ist die Verwendung von KI-Technologien durch die Nationalstaaten zur Strafverfolgung wegen der umfassenden staatlichen Ressourcen ein besonderes Problem. Neben großen Unternehmen sind Staaten die wirkmächtigsten Gefährder von Grund- und Menschenrechten.
Videoüberwachung ist schon an sich ein Eingriff in Grundrechte, da personenbezogene Daten systematisch erhoben und verarbeitet werden. Problematisch dabei ist, dass die Betroffenen bei dieser Art von Überwachung nicht mitwirken müssen und in der Regel nicht einmal Kenntnis davon haben. Zudem liegt bei der Videoüberwachung die für Datenverarbeitung übliche Machtasymmetrie zwischen überwachtem Individuum und überwachender Organisation vor. Mit klassischer Videoüberwachung entstehen Bilddaten, die bei Bedarf herangezogen und manuell ausgewertet werden müssen. Bei biometrischer Videoüberwachung und der biometrischen Auswertung existierender Bilddaten entstehen zusätzlich Daten über individuelle Gesichter – also über Personen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten – und damit potenziell ableitbar persönliche Bewegungsdaten oder Gruppenzugehörigkeiten, weswegen ein weit tieferer Eingriff vorliegt, der einer intensiveren Rechtfertigung – also in der Sache: besserer Gründe – bedarf.