Grüne Mark und Weißer Tod - Gudrun Wieser - E-Book

Grüne Mark und Weißer Tod E-Book

Gudrun Wieser

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Beschreibung

Ein raffinierter Streifzug durch das historische Graz und den sagenumwobenen Wienerwald. Graz, 1897. Eine Reihe ungewöhnlicher Morde stellt den jungen Untersuchungsrichter Franz Stahlbaum und seinen Freund Dr. Titus Pyrner vor ein Rätsel. Was hat es mit den seltsamen Botschaften auf sich, die bei den Opfern gefunden werden, und welche Bedeutung haben die blauen Glasscherben? Die Spur führt zu einer renommierten Lungenheilanstalt im Wienerwald, wo angeblich Experimente an Patienten durchgeführt werden. Doch vor Ort stoßen Franz und Titus auf eine Mauer des Schweigens. Jetzt sind unkonventionelle Ermittlungsmethoden gefragt: Ihre Freundinnen Resi und Salome schleusen sich in die Klinik ein. Können sie das tödliche Spiel beenden, bevor es zu spät ist? "Grüne Mark und Weißer Tod" von Gudrun Wieser entführt die Leser in das Graz des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Gekonnt verbindet die Autorin Spannung, Humor und historische Details zu einem fesselnden Kriminalroman.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gudrun Wieser, geboren 1987 in Frohnleiten, machte ihre Matura bei den Ursulinen in Graz (damals noch eine reine Mädchenschule), darauf folgte das Lehramtsstudium für Deutsch und Latein an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Aus Leidenschaft für die alten Sprachen hängte sie 2017 noch ein Doktorat in Klassischer Philologie (Latein) in Graz und Wien an. Als Lehrerin verschlug es sie nach einem Abstecher als Lektorin an der Universität und mehreren Sprachkursen an der Urania an das geschichtsträchtige Akademische Gymnasium Graz, wo sie nun Latein, Deutsch und Interkulturelles Soziales Lernen unterrichtet. Daneben tritt sie als Erzählerin allein und als Duo Wieser&Wiesler mit der Schauspielerin und Autorin Marion Wiesler auf. 2024 gewann sie den FINE CRIME Newcomer Award.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Für die Zitate von Dr. Hans Gross, Dr. Max Birnbaum und Prof. Robert Koch wurde die originale Schreibweise und Zeichensetzung der jeweiligen Quelle verwendet.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-240-6

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur Carsten Polzin.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Gerald, den besten Ehemann, der meine Krimis stets mit medizinischen Feinheiten versorgt!

Ich verlange vom Untersuchungsrichter nicht bloß juridisches und sonstiges Wissen, allgemeine Bildung und besondere Kenntnisse und Fertigkeiten und deren fortwährende Ausbildung, ich verlange von ihm auch ein dermaßen vollständiges Aufgehen in seinem Berufe, dass ihn das Streben, in demselben etwas zu lernen und sein Wissen auszudehnen, auch dann nicht verlässt, wenn er sich augenblicklich nicht in seinem Berufe befindet.

»Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik«,Dr. Hans Gross

PROLOG

… Mariä Himmelfahrt 1897 …

Er hatte nicht erwartet, dass es so sein würde.

Heimlich hatte er sogar befürchtet, dass es ganz schrecklich sein würde. Im Grunde konnte er ja mit der Vielzahl an Feiertagen, mit denen die katholische Kirche aufwartete, eher wenig anfangen, hatte ihn doch der Pfarrer in der Schule regelmäßig auf sein Sündenregister und die daraus zu schließende schiefe Bahn hingewiesen, auf der er sein Leben fristen würde.

Allzu schief allerdings konnte es bislang nicht verlaufen sein, denn nun stand Franz Stahlbaum im guten Sonntagsrock, der etwas zu heiß für die Jahreszeit, dafür aber außerordentlich stattlich war, mit gestärktem Kragen und polierten Schuhen und mit einem frisch geweihten Kräutersträußchen am Revers vor der Kirche und hielt seiner Verlobten den Arm hin.

»Die Agape ist im Kirchhof«, sagte Theresia, seine Resi, zu ihm und zog ihn mit sich.

Mochte er auch als Untersuchungsrichter immerhin ein gewisses Maß an Anerkennung genießen – zumal er vor kaum vier Wochen einen nicht unbeträchtlichen Mordfall in Frohnleiten, bei dem neben der angesehenen Kaltwasserheilanstalt auch italienische Ziegelarbeiter involviert waren, zu einem juridisch guten Ende gebracht hatte –, seiner Verlobten zu widersprechen kam ihm nicht in den Sinn. Nicht an einem Sonntag, nicht zu Mariä Himmelfahrt und vor allem nicht, wenn sie den Feiertagsstaat angelegt hatte, ihr erfreuliches Dekolleté mit selbst gehäkelter Spitze garniert, und den teuren Grandelschmuck ihrer Großmutter trug. Zugegeben, die in Silber gefassten Reh- und Hirschzähne an ihrem Busen waren ihm bei Weitem nicht das Liebste an ihr, aber wenn sie einmal ganz die Seine wäre, dann würde sie schon einen Schmuck tragen, der einer Untersuchungsrichtersgattin würdig wäre. Diese Vorstellung gefiel Franz.

Freundlich nach rechts und links grüßend marschierte er mit Resi zum Kirchhof, wo Frauen zur Agape Butterbrote, dick mit frischen Kräutern bestreut, gerichtet hatten. Dazu gab es Wein, dessen Verteilung der Pfarrer höchst kritisch beäugte. Daneben einige Tische, an denen man Kräuterkissen, getrocknete Kräuter, Kräutersalben, Kräuterhonig, Deckchen und Pölster mit aufgestickten Kräutern, Döschen und allerlei Haushaltsgerät mit aufgemalten Kräutern und überhaupt alles, das sich irgendwie sinnig mit hilfreichem Grünzeug verzieren ließ, erwerben konnte. Selbstverständlich ging ein Gutteil der Einnahmen an wohltätige Zwecke, wobei der Pfarrer mehrfach betonte, dass natürlich auch die Mutter Kirche ihren gebührenden und bitter nötigen Anteil erhalten würde.

Interessiert spazierten sie an den dargebotenen Kleinigkeiten vorüber, bis sie wieder vor dem einladenden Tisch mit den Butterbroten standen.

»Alles heute erst geerntet«, pries eine Frau mit goldbestickter Festtagshaube die kulinarische Pracht an. »Das Brot ist frisch gebacken, und die Butter, da schmeckt man noch alles, was die Kühe gefressen haben.«

Franz verzog bei dieser Vorstellung ein wenig das Gesicht.

»Mögts?« Sie hielt ihnen zwei Scheiben hin.

Franz wollte schon dankend annehmen, als Resi ihn plötzlich beiseitezog. Irritiert sah er sie an. Nach dem ausufernd langen Hochamt hielt er eine barmherzige Jause zur Agape durchaus für angebracht.

»Da liegt Eisenhut«, flüsterte sie.

»Welcher Hut?« Suchend sah er sich um.

»Eisenhut – Mönchskappe, Sturmhut! Da!« Auf einem Tischchen hinter der Frau mit den Butterbroten türmten sich Kräuterbüschel, und eine ältere Frau hackte mit schweigender Konzentration das Grünzeug für die Butterbrote klein.

»So ein Blödsinn, was soll denn hier … Man kann doch nicht – der ist ja giftig.«

»Eben! Jetzt sag doch was!« Resi wies aufgeregt in die Richtung, wo die Frau immer noch auf die Kräuter einhackte. Auf einmal erstarrte sie. »Jetzt ist er weg.«

»Wie, weg?«

»Nicht mehr da. Ich hab eben noch die blauen Blüten gesehen.«

Franz konnte nicht vermeiden, dass seine Miene einen tadelnden Zug annahm, denn bislang hatte er seine Resi als geradezu erschreckend bodenständiges und sachliches Frauenzimmer kennengelernt. »Das hast du dir eingebildet.«

»Nein, ich glaube nicht.« Sie schaute abermals zu der Frau, die unverdrossen weiter ihr Grünzeug bearbeitete, und Resi kamen Zweifel. »Ich dachte, dass sie womöglich Eisenhut auf die Butterbrote …«

»Das ist ein Blödsinn«, konstatierte Franz, und um seine Behauptung zu beweisen, trat er noch einmal zu der Matrone mit der Festtagshaube hin. »Was sind denn das für Kräuter da auf dem Brot?«

»Vor allem Schnittlauch und Petersilie. Und ein bisschen Kresse und Liebstöckel und ein paar Gänseblümchen zur Zier. Aber die können Sie auch essen«, fügte sie mit einem Blinzeln hinzu.

»Kein Eisenhut?«

Sie riss die Augen auf. »Ja, Gott bewahr! Der ist ja giftig!«

Er drehte sich zu Resi um. »Siehst, du hast dich geirrt.«

Nun aber kam die Frau erst recht in Fahrt. »Selbstverständlich kommen in den Strauß zur Kräuterweihe nicht nur die Kräuter, die am besten schmecken, sondern auch, was am nützlichsten ist. Die Königskerze, Beifuß, Wermut, Rainfarn, Schafgarbe, Spitzwegerich, Johanniskraut, Ringelblume«, begann sie, »und Alant, Arnika, Baldrian und Frauenmantel, Kamille, Liebstöckel, Pfefferminze, Salbei und Thymian. Und je nachdem, welche Anzahl an Kräutern man in den Strauß bindet, hat das natürlich eine Bedeutung. Sieben, weil so lange hat der liebe Gott gebraucht, um die Welt zu schaffen, oder neun, das ist drei mal drei für die Heilige Dreifaltigkeit. Und die ganz Fleißigen haben neunundneunzig Kräuter, weil das ist dreiunddreißig mal drei – und mehr geht nicht.«

Franz nickte nur und wollte sich endlich eines der verführerischen Butterbrote geben lassen, als ein wichtig aussehender Herr an ihn herantrat. »Ah, Herr Stahlbaum!«, begrüßte er ihn laut und ließ es sich nicht nehmen, ausgiebig seine Hand zu schütteln.

»Guten Tag«, erwiderte Franz höflich, der keine Ahnung hatte, mit wem er zu tun hatte.

»Es freut mich außerordentlich!«

»Ja, mich auch …«

Resi verzog schmollend die Lippen.

»Wein?« Ohne auf eine Antwort zu warten, führte der Herr Franz ein paar Schritte weiter und reichte ihm ein gut gefülltes Glas, ehe er, ohne innezuhalten, zu einem Sermon über irgendwelche juristisch ärgerlichen Kleinigkeiten anhob, dem Franz nur mit größter Mühe folgen konnte.

Resi verdrehte schon nach wenigen Minuten die Augen. Der Mann hatte sie nicht einmal eines Grußes gewürdigt. Nun war Theresia Eder aber nicht die Frau, die einfach still abwartete, bis man sich ihrer wieder entsann. Sie konnte sich auch genauso gut allein an der Vielfalt der Kräuter erfreuen und den Marienfeiertag genießen. Dass sie die beiden Männer einfach stehen ließ, schien ihnen vollkommen zu entgehen.

Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, Franz war gerade dabei, dem Mann, dessen Namen er noch immer nicht wusste, klarzumachen, dass man einem Bauern nicht verwehren konnte, einen Misthaufen zu haben, und dass dies außerdem kein Verbrechen war, das es zu ahnden galt, als Resi eiligen Schrittes wieder zu ihnen stieß.

»Franz«, redete sie ihn an, ohne auf den Mann zu achten, der sie nur mit einem recht irritierten Blick bedachte.

»Ja?« Zerstreut wandte er sich ihr halb zu, während sein Gesprächspartner sich weiter über die Unzumutbarkeit bäuerlicher Ausdünstungen ausließ.

»Franz«, wiederholte Resi mit Nachdruck.

»Selbstverständlich.«

Der Mann, dessen größte Sorge der Misthaufen in seines Nachbars Garten zu sein schien, sah sie mit gehobenen Brauen an. Kaum anders, als man ein lästiges Kind zurechtweisen würde.

Resi aber ließ sich davon nicht beirren. »Franz, kommst du bitte?« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Jetzt.«

»Was ist denn?« Ein Hauch von Unmut lag in seiner Stimme.

»Da stimmt was nicht!«

Nun endlich sah Franz sich genötigt, den Herrn mit ein paar entschuldigenden Worten abzuwimmeln und sich doch seiner Verlobten zuzuwenden. Der Mann bemerkte mit einer abwertenden Geste irgendetwas von reschen Frauenzimmern und dem Herrn im Haus und zog endlich von dannen.

Dass die Situation Franz nicht recht behagte, war offensichtlich. »War das jetzt notwendig?«, wollte er sich schon aufregen, doch Resi ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

»Herrgott, Franz, jetzt hör doch zu!«

»Aber du siehst doch …«

Resi atmete durch. »Allerdings, ich hab was gesehen – und du hast mir nicht geglaubt!« Sie funkelte ihn auf jene Art an, die in ihm schlagartig das Bedürfnis weckte, wie ein Knabe den Kopf einzuziehen. »Und jetzt komm.«

Im Grunde mussten sie gar nicht weit gehen, denn eine Menschentraube hatte sich bereits um den Stand geschart, an dem ihnen die Frau mit der matronenhaften Goldhaube die Butterbrote samt frisch geweihten Kräutern angeboten hatte. Entsetzt schlugen sich manche der Schaulustigen die Hand vor den Mund, andere wandten sich ab, machten ein verstohlenes Kreuzzeichen.

Wenig rücksichtsvoll drängte Franz sich an den Gaffern vorbei.

Auf einem Schemel, von einem der Burschen, die beim Hochamt den Baldachin über den Priester gehalten hatten, nur notdürftig gestützt, kauerte die Frau, das Gesicht aschfahl verzerrt, wirr um sich blickend, ein Speichelfaden am Kinn, der auf ihren bestickten Kragen tropfte. Die Goldhaube war ihr vom Haupt gerutscht und gab einen dünnen grauen Zopfkranz frei. Sie versuchte zu sprechen, doch es war nur zu deutlich zu erkennen, dass ihre Zunge ihr nicht gehorchte.

Franz wollte zu ihr hinstürzen, als jemand ihn unsanft beiseiteschob.

Glücklicherweise war auch der Arzt dem Hochamt nicht ferngeblieben und konnte nun coram publico sein Handwerk demonstrieren. Mit wichtiger Miene beugte er sich über die Frau, die immer wieder das Bewusstsein zu verlieren schien, und fasste nach ihrem Handgelenk. Erst starrte er konzentriert vor sich hin, dann runzelte er die Brauen, kramte seine Uhr aus der Weste und verfolgte den Sekundenzeiger.

Als er sich gerade mit dem Versuch einer Erklärung an die Umstehenden wenden wollte, sackte die Frau vollends zusammen.

»Kann sie … hat sie vielleicht irgendetwas Falsches gegessen?«, fragte der Arzt etwas hilflos. »Vielleicht von den Kräutern …?«

Aufgeregte Stimmen wurden laut, eine Dame mit ausladendem Strohhut machte Anstalten, in Ohnmacht zu sinken, und auch der Pfarrer schob sich durch die Umstehenden, um sich einen Überblick zu verschaffen.

»Eisenhut«, formte Resi lautlos mit den Lippen in Franz’ Richtung.

Während irgendjemand bereits lautstark nach der Gendarmerie schrie, rannten Resi und Franz auf einen gemeinsamen Impuls hin zu dem Tisch, an dem zuvor die ältere Frau ihre Kräuter gehackt hatte. Sie brauchten einander nicht erst auszumalen, was es bedeuten könnte, wenn es der Eisenhut auf die Butterbrote geschafft hätte, die mittlerweile fast jeder bei der Agape gegessen hatte.

»Wo ist sie?« Franz sah sich um.

Die Frau war verschwunden.

»Schau!« Resi deutete auf ein Brettchen, das unter dem Tisch stand, von einem langen Tuch fast ganz den Blicken verborgen. »Sie hat gewusst, was sie tut.«

Auf dem Schneidbrett lag ein Rest des klein geschnittenen Eisenhuts; ein paar grüne Halme ließen vermuten, dass er mit intensiv schmeckendem Schnittlauch vermengt worden war. Ein eigenes Messer zeigte an, dass die Frau peinlich darauf geachtet haben musste, das giftige Kraut nicht mit den anderen Zutaten zu vermischen.

»Das war vorsätzlich. Vorsätzlicher … Mord.«

»Und du hast mir nicht geglaubt!«

Noch ehe Franz zu einer Erwiderung ansetzen konnte, sprang Resi plötzlich auf. »Da!«, rief sie nur und stürmte los.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er wohl die Rundungen, die sich in der Bewegung unter ihrem Kleid abzeichneten, bewundert. Doch dafür war nun keine Zeit. Atemlos folgte er ihr, die mit wehenden Hutbändern quer über den Kirchhof rannte, wo eine verwitterte Pietà in einer Kapelle über den kleinen Gottesacker wachte, auf dem seit Jahrhunderten die Pfarrer und unschuldigen Jungfrauen begraben wurden.

»Zu spät«, sagte Resi nur, als er bei der Gottesmutter ankam. Sie kauerte auf dem Boden, in ihren Armen die alte Frau, die mit zufriedenem Lächeln noch die Fetzen des eilig verschlungenen Giftkrauts zwischen den Zähnen hatte.

»Tuts es weg … dass sonst keiner was da-da-da-von … erwischt«, nuschelte sie, während ihr Speichel aus den Mundwinkeln tropfte. Fahrig bewegte sie die Hände. Ein paar Sekunden starrte sie vor sich hin, bis sie fortfuhr: »War eigentlich für … den, den, den … Wintergraben … Bauern. Einmal frisst die Sau nicht als Erstes, was man ihm hinstellt, aber … der Bäuerin geschieht’s eh auch recht … falsche Hex …«

»Sie meinen«, setzte Franz an, doch seine Verlobte bedeutete ihm zu schweigen. Der Untersuchungsrichter würde noch früh genug seine Arbeit aufnehmen können.

»Aber der Wintergraben … der Bauer wird ohne sie eh zugrund gehen. Da braucht’s kein Kraut … der verreckt auch so, so … so Gott will …« Die Frau sah zu Resi auf, die sie notdürftig stützte. »Gelt, Sie bleiben noch ein bisserl? Wird eh nicht … lang dauern.«

»Natürlich«, antwortete sie schlicht. Dann sah sie zu Franz hin, der nur nickte.

»Und … schschschschickts ihr mir vielleicht auch noch … den Pfarrer her?«

Selten hatte der Untersuchungsrichter Franz Stahlbaum eine Ermittlung so rasch abgeschlossen, und selten hatte es für ein Verbrechen so viele Zeugen gegeben.

Als die Gendarmen ankamen, einer hatte in Zivil sogar dem Hochamt beigewohnt, war die Frau mit der Goldhaube, die sich als die Wintergraben-Bäuerin herausgestellt hatte, bereits in eine Ohnmacht gefallen, aus der sie nie wieder erwachen sollte. Und da man über Tote kein schlechtes Wort verlieren sollte, so machten noch vor ihrem Dahinscheiden zahlreiche Geschichten die Runde, wie die reiche Bäuerin mit ihren Knechten und Mägden verfahren war.

Die Wintergraben-Hanne, die bereits mit sieben Jahren auf den Hof gekommen war und dort zeit ihres Lebens geschuftet hatte, war, so wurde von mehreren Seiten berichtet, bereits mit dreizehn Jahren zum ersten Mal gezwungen worden, ihr neugeborenes Kind, dessen Vater gewiss der Bauer selbst war, wegzulegen. Wie viele weitere Kinder sie einem ungewissen Schicksal übergeben hatte, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden.

Als mit dem Alter ihre Arbeitskraft zu schwinden begann und der Bauer ihr drohte, sie wegzuschicken, entschloss sie sich offenbar zur Rache. Zu Mariä Himmelfahrt, wenn alle sehen konnten, wie ein Sünder bestraft wurde, wollte sie ihn sterben lassen.

Doch die Wintergraben-Hanne, deren Taufname Johanna war und die nie einen eigenen Nachnamen besessen hatte, wollte keine unnötige Sünde begehen, weshalb sie sehr sorgfältig darauf geachtet hatte, die guten Kräuter für die Brote, welche die Bäuerin zur Agape reichte, nicht mit dem Eisenhut zu vermischen. Mehrfach betonte sie dies und bestand noch mit ihren letzten Atemzügen darauf, dass dies auch schriftlich vermerkt werde. Nur für den Bauern selbst sollte das giftige Brot sein, das sie noch dazu mit Schmalz statt mit Butter gerichtet hatte, weil er das viel lieber mochte. Doch das Schicksal wollte es, dass die Bäuerin das Brot nicht zu ihrem Mann brachte, der mit ein paar anderen Männern schon reichlich dem Wein zugesprochen hatte, sondern selbst einen Bissen nahm. Wie es sich gehörte, war sie nüchtern zum Hochamt erschienen, hatte sogar am Vortag noch die Beichte abgelegt, um auch ja als vorbildliche Frau die Kommunion zu empfangen. Hungrig hatte sie das ganze Brot, das eigentlich für ihren Gatten bestimmt gewesen war, aufgegessen und unter dem Schnittlauch nicht das Gift geschmeckt.

Als man den Wintergraben-Bauern von dem Unglück unterrichten wollte, war er bereits so betrunken gewesen, dass er erst am folgenden Tag begriff, was geschehen war. Von da an sollte er nur noch selten nüchtern gesehen worden sein.

»Ich hab dir doch gesagt, dass da Eisenhut lag!«, betonte Resi, als sie sich einige Tage später wieder mit Franz traf. »Du hast mir nicht geglaubt.«

»Ich weiß …«

»Vielleicht hätte man das noch verhindern können.«

»Vielleicht hat es eh die Richtige getroffen.«

Sie legte den Kopf schief. »So redet ein Untersuchungsrichter?«

»Nein. Du hast recht.«

»Ich weiß, dass ich recht habe. Frauen haben ohnehin weit öfter recht, als man annimmt.«

Franz widersprach lieber nicht. »Aber du verstehst doch, dass ich nicht einfach Alarm schlagen konnte, nur weil meine Verlobte glaubte, irgendein giftiges Grünzeug gesehen zu haben?«, entgegnete er dann. »Wo praktisch jeder irgendwelche Kräuter dabeihatte.«

Resi verzog missbilligend die Lippen. »Natürlich verstehe ich. Du hast Angst gehabt, womöglich einen Fehler zu machen, den man dir dann wieder ewig nachträgt«, gab sie zurück. »Versprich mir wenigstens, dass du mir in Zukunft vertraust, wenn ich was sag.«

»Aber …«

»Kein aber. Du weißt, dass ich meine, was ich sage.«

»Schon, aber …«

Resi funkelte ihn an. Franz verstummte.

»Keine Sorge, du bist und bleibst der Untersuchungsrichter. Das wird sich nicht ändern. Aber wenn du meinst, dass du deshalb in Zukunft auf niemanden mehr hören musst, dann sind wir geschiedene Leut.«

»Ja …« Er verbiss sich eine Erwiderung und gab Resi stattdessen einen Kuss.

Dienstag, 28.9.1897

EIN TOTER LIEGT AM STRASSENRAND

Und wie erst, wenn’s keiner gesehen hat, wenn Tatzeugen und somit die Enden des Fadens gänzlich mangeln? Da hat die ganze Kunst […] ihr Ende und […] indem man den ersten besten, der in der Nähe war oder etwas reden hörte, vorruft und die von ihm Genannten weiter vernimmt, so führt dies fast immer auf Abwege und weitab vom Ziele.

Dr. Hans Gross

Hätte man zu einer anderen Zeit an Franz Stahlbaums Tür gehämmert, so hätte vielleicht die Haushälterin geöffnet und ihn etwas sanfter aus seinen Träumen gerissen. Da er sich aber für seine vier Wände nur stundenweise eine Bedienung leistete, welche die allerärgste Unordnung beseitigte, seine Hemden weiß hielt und dafür sorgte, dass er etwas halbwegs Vernünftiges zu essen bekam, musste er selbst schlaftrunken dem Beamten der städtischen Sicherheitswache öffnen.

»Untersuchungsrichter Franz Stahlbaum?«, fragte der Mann überflüssigerweise.

Franz nickte nur. Irgendwo in seinem Hinterkopf dämmerte ihm, dass er gerade in Unterkleidung, unrasiert und ohne nennenswerte Frisur vor dem Uniformierten stand.

»Sie sollen mich zu einem Tatort begleiten. Es hat einen Mord gegeben, am Tummelplatz.«

»Beim Gymnasium?«

»Jawohl.«

Es mochte ja Untersuchungsrichter geben, die mit ihrer Arbeit erst begannen, wenn die erste grobe Zusammenfassung der Tat auf ihrem Schreibtisch lag, um dann die ermittelnden Instanzen weiter anzuleiten. Doch Franz hatte in Dr. Hans Gross, der schon vor Jahren eine Lehrkanzel für Kriminalistik als strafrechtliche Hilfswissenschaft gefordert hatte und dessen Handbuch für Untersuchungsrichter international Aufsehen erregt hatte, sein großes Vorbild gefunden, und dessen Ansicht war es, dass der wahre Untersuchungsrichter von Anfang an aktiv in alle Belange der Ermittlung eingebunden sein musste. Zu dieser Stunde, die vom Morgengrauen nur einen schwachblauen Schimmer erahnen ließ, zweifelte er an seinem Idealismus.

Der Wachbeamte sah ihn abwartend an.

»Gut … ich kleide mich nur an.«

Als sie wenig später den Ort des Verbrechens erreichten, dröhnte in den Straßen der Stadt bereits das Rattern der Wagen, mit denen die umliegenden Märkte beliefert wurden. Nicht mehr lange, und die ersten Hausfrauen und Dienstboten würden ebenfalls unterwegs sein.

An der Ecke der Gasse, die zum Dom hinaufführte, standen mehrere Männer beisammen. Einer plagte sich mit einem unhandlichen Fotoapparat, ein anderer versuchte aus einem Burschen wenig sanft weitere Informationen herauszubekommen, ein dritter machte sich in fliegender Hast Notizen. Zwei weitere warteten mit einer Bahre darauf, den Toten ins Gerichtsmedizinische Institut zu befördern.

»Der Stahlbaum ist da!«, rief einer der Wachbeamten, als er Franz in ihre Richtung kommen sah.

Franz nickte den Männern einen knappen Gruß zu, dann straffte er sich, vertrieb den letzten Rest Müdigkeit aus seinem Blick und machte sich an die Arbeit.

Der Tote, den der Bursche, ein gewisser Markus Holterer, der seinen Lebensunterhalt vor allem mit Botengängen jeglicher Art bestritt, gefunden hatte, war allem Anschein nach erdrosselt worden. Die Würgemale und die Gesichtsfarbe des Opfers passten zu dieser Annahme; der Arzt, der in nächster Zeit noch offiziell den Tod bestätigen musste, würde nicht viel zu tun haben. Der graubraune Stoffstreifen, der für die Tat offensichtlich verwendet worden war, lag noch neben dem Leichnam.

Franz bedeutete einem der Wachbeamten, den Streifen einzupacken. Dass man darauf irgendwelche nennenswerten Spuren finden könnte, war eher unwahrscheinlich. Immerhin mochte ein solches Stück Stoff in ärmeren Schichten sowohl als Gürtel als auch als Hundeleine oder Haarband zum Einsatz kommen. Womöglich hatte es sogar einmal als Verband gedient oder geholfen, eine Windel an Ort und Stelle zu halten. Nun hatte es jedoch einem letalen Zwecke gedient.

Von Kampfspuren war nichts zu entdecken. Der Mörder musste den Mann so sehr überrascht haben, dass dieser kaum Zeit gehabt hatte, die Hände an den Hals zu heben, ehe ihm die Sinne schwanden, was von einiger Kraft und Präzision des Täters zeugte.

»Hat man seine Taschen schon untersucht?« Franz beugte sich über den Toten, der in einen schlichten, aber durchaus guten Anzug gekleidet war. Seine Hände waren sauber und wiesen keine Spurern schwerer körperlicher Arbeit auf.

»Das hat der Herr Holterer schon für uns übernommen«, erwiderte einer der Wachleute, was von einem Wimmern des Burschen untermalt wurde. »Aber wie er bemerkt hat, dass der gute Mann nicht betrunken, sondern tot ist, hat er dann doch wen herbeigerufen. G’scheit.«

Franz sah sich um. In der Grazer Innenstadt gab es genügend Lokale, in denen man sich einen handfesten Rausch beschaffen konnte. Allerdings gab es auch genügend Plätze, um selbigen weit bequemer wieder auszuschlafen als ausgerechnet vor einem renommierten Gymnasium, wo schon bald die ersten Knaben zum Unterricht antreten würden. Der Stadtpark zum Beispiel wäre seine erste Wahl gewesen.

»Na, vielen Dank auch«, brummte Franz. »Und was haben Sie gefunden?«, wandte er sich an den jungen Mann.

»Nichts … nicht viel«, präzisierte er dann.

»Und das Wenige wäre?«

»Eine Uhr, ein Taschentuch, ein bisserl Geld – aber das hab ich schon längst wieder zurückgegeben!«, unterbrach er sich eilig selbst. »Und Visitenkarten.«

»Wie praktisch. Also mit wem haben wir es nun zu tun?«

»Siegfried Hochriegler, Importeur. Die Adresse steht auf der Karte«, antwortete einer der Beamten, bevor Holterer etwas sagen konnte.

Franz ließ sich seufzend eine der Karten geben. Damit war klar, was er nach dem Frühstück machen würde. »Und sonst?«, fragte er noch pflichtschuldig.

»Nichts.«

»Doch!«, widersprach Holterer. Er reckte sich, während er erklärte: »Ich finde es im Übrigen auch nicht angemessen, dass die Herrschaften mich hier so behandeln, als hätte ich den Menschen da umgebracht. Ich hab ihn gefunden – Sie sollten dankbar sein!«

Franz unterließ es, ihm zu sagen, dass dieser Fund ihn mindestens drei Stunden Morgenruhe gekostet hatte. Stattdessen sah er ihn abwartend an. »Und?«

»Da liegen blaue Scherben«, sagte der Bursche und zeigte mit dem Finger auf die Straße neben dem Toten.

Der Mann, der sich zuvor mit dem Fotoapparat herumgeärgert hatte, trat einen Schritt zurück. Unter seinen Schuhsohlen lagen tatsächlich ein paar blaue Glassplitter. »Ist das von Bedeutung?«

»Geh, der macht sich nur wichtig«, brummte einer der Uniformierten.

Franz hockte sich vor den Bruchstücken hin. Es waren nicht viele Scherben, zu wenige, um zu erkennen, was sie einmal gewesen waren. Immerhin ließ sich anhand der Krümmung mancher Stücke erkennen, dass es sich um kein Fensterglas handelte. Ein Einbruch im Dom oder in einer der anderen städtischen Kirchen war das Letzte, mit dem er sich befassen wollte.

»Sollen wir das auch einpacken?«

»Wurden bei dem Toten noch mehr solche Splitter gefunden?«

Der Wachbeamte hob die Schultern. »Nein.«

»Das kann genauso gut Müll sein«, warf ein anderer ein. »Da liegt ja überall was herum.« Er deutete auf die Umgebung.

Tatsächlich konnte man hier einen Hundehaufen, die Reste einer wahrscheinlich überfahrenen Taube, ein paar verrottende Kohlblätter und eine Zeitung im Dreck entdecken. Ein paar Meter weiter fand sich ein zerbrochener Bleistift, der wahrscheinlich einem der Gymnasiasten gehört hatte.

»Dann lassen wir das«, bestimmte Franz. Es gehörte zwar zu den Aufgaben des Untersuchungsrichters zu erkennen, was für die Lösung eines Falls wichtig war, den gesamten Müll von einem Tatort einsammeln zu lassen schien ihm dann aber doch eher übertrieben.

Während Siegfried Hochriegler ins Gerichtsmedizinische Institut verbracht wurde, gab Franz noch letzte Anweisungen, bevor er sich mit einem Frühstück für den weiteren Tag stärken wollte. Die Aussage von Holterer sollte ordentlich protokolliert werden und wenn möglich weitere Zeugen für die mutmaßliche Tatzeit – also irgendwann in der Nacht – ausfindig gemacht werden. Weiters sollten nach Möglichkeit die Geschäftsbeziehungen des Importeurs beleuchtet werden, und er selbst würde später die Adresse auf der Visitenkarte überprüfen.

Nachdem sich Franz mit einem Kaffee und einem Stück Apfelstrudel, der allerdings entgegen den Angaben des Servierfräuleins sicherlich mindestens vom Vortag stammte, versorgt hatte, suchte er die Adresse des Importeurs Siegfried Hochriegler auf.

Das stattliche Haus lag nahe dem Volksgarten. Ein Dienstmann, der mehrere unhandliche Pakete vorüberschleppte, erklärte Franz, dass der Eingang zum Büro des Herrn im Innenhof lag, seine Wohnung jedoch in einem der oberen Stockwerke.

Er entschloss sich, von unten nach oben vorzugehen, und trat durch die breite Einfahrt in den Hof. Franz konnte nur hoffen, dass das Sprichwort, dass die wahren Werte immer im Inneren zu finden seien, hier nicht zutraf, denn Bauschutt, Gerümpel und ein abgestorbener Baum straften die elegante Fassade Lügen. Über einem Tor, dessen Farbe bereits im Abblättern begriffen war, prangte der Name Hochriegler; dass hier ein Importeuer zu finden war, ließ sich nur noch entziffern, wenn man es bereits wusste.

Beherzt trat Franz ein – und einmal mehr war er überrascht. Denn das Büro, von dem eine Tür zu einem Hinterzimmer führte, war so aufgeräumt, geradezu heimelig, dass er sich nur fragen konnte, weshalb man sich nicht mit ähnlicher Sorgfalt um den Innenhof gekümmert hatte. »Guten Tag!«, sagte er laut.

Sogleich kam ein Mann, dessen leicht krumme Haltung, Brille, Ärmelschoner und tintenfleckige Finger ihn zum Sinnbild eines Sekretärs machten, aus dem Zimmer geeilt. »Guten Tag, der Herr«, grüßte er eifrig und sah ihn abwartend an.

Wenn Franz etwas nicht leiden konnte, war es, wenn er ein Gespräch beginnen sollte und nicht recht wusste wie. »Sie arbeiten für Herrn Hochriegler?«, fragte er deshalb.

»Ja, ich kümmere mich um die allfälligen Dinge, Schreibereien, Verträge, die Buchhaltung. Eigentlich alles. Sie wissen schon.« Er lächelte schief. »Womit kann ich dienen?«

»Ihrem Namen, wenn es keine Umstände macht.«

»Oh, ja.« Er schob sich die Brille zurecht. »Ludwig Anders. Und Sie, wenn die Frage gestattet ist?«

»Dr. Franz Stahlbaum.« Damit waren die notwendigen Höflichkeiten ausgetauscht, nun musste Franz zur Sache kommen. »Ich bin der Untersuchungsrichter in einem Mordfall und komme wegen Herrn Hochriegler. Er ist tot.«

Der Sekretär sah ihn mit großen Augen an, ehe er sich abermals an die Brille fasste und mit plötzlich versagender Stimme wiederholte: »Er ist tot?«

Franz nickte. Diesen Gesprächseinstieg hätte er sicherlich auch eleganter hinbekommen. »Sein Leichnam ist heute Morgen beim Tummelplatz gefunden worden. Wissen Sie, wo er gestern war?«

»Ich … nun ja …« Als hätten ihn plötzlich die Kräfte verlassen, sank er hinter dem großen Schreibtisch nieder, an dem normalerweise sicherlich Herr Hochriegler höchstselbst saß. »Ehrlich gesagt nein. Ich weiß es nicht. Das heißt, vielleicht hat er ja einen Termin notiert … oder auch nicht. Das kann ich nicht sagen, da müsste ich nachsehen.«

»Tun Sie das.«

Der Mann hub an, umständlich in einer der Laden zu kramen, bis er ein billig gebundenes Notizbuch zutage förderte, in welchem er sogleich hektisch zu blättern begann. »Nein«, sagte er dann, »da steht nichts.«

Nun ließ sich auch Franz auf einem der Sessel nieder, die offenbar für Geschäftspartner auf der anderen Seite des Tisches aufgestellt worden waren. »Dann erzählen Sie mir bitte, was Sie über Herrn Hochriegler wissen. Was importierte er denn? Hatte er Kunden, die mit seiner Arbeit unzufrieden waren? Können Sie sich vorstellen, dass sich jemand an ihm rächen wollte? Wie steht es um seine Familie?«

Diese Fülle an Fragen schien den Sekretär nervös zu machen. »Herr Hochriegler hat vor vielen Jahren das Fuhrunternehmen von seinem Vater übernommen und es nach und nach vergrößert. Nun importiert er vor allem Waren, die übers Mittelmeer geliefert werden, Delikatessen, Luxusgüter, eine Weile hat er sich im Kaffeehandel versucht, aber da kommt man an die Triestiner nicht heran.« Anders lachte einmal kurz auf, was ihm sogleich peinlich zu sein schien. »Verzeihung. Ich nehme an, Sie werden seine Bücher kontrollieren wollen? Jetzt, wo er …«

»Ja, vielleicht später.« Franz bedeutete ihm weiterzusprechen.

»Ich war ja an der Kommunikation mit seinen Geschäftspartnern nicht direkt beteiligt. Ich habe nur hin und wieder einen Brief nach seinem Diktat niedergeschrieben. Ich wüsste auch nicht, dass es größere Zerwürfnisse mit seinen Kunden gegeben haben könnte. Natürlich wurde über Preise und Konditionen debattiert, aber das gehört ja dazu. Nun, einmal ist eine Lieferung von besonders exotischen Stoffen wegen eines Unwetters über der Adria nicht rechtzeitig angekommen. Für einen Modesalon in Wien – von Damen geführt! Da kam es zu einer etwas heftigeren Diskussion, aber was erwartet man sich schon von sogenannten Geschäftsfrauen. Allerdings, die werden ihn wohl kaum … Ich meine, glauben Sie das?«

Franz sagte dazu lieber nichts. Dass Frauen durchaus das Zeug zu kaltblütigen Mörderinnen hatten, war ihm erst kürzlich in Frohnleiten vor Augen geführt worden.

»Seine eigene Gattin, die hielt sich ja aus den wirtschaftlichen Dingen immer heraus«, fuhr Herr Anders fort. »Ach Gott!«, schlug er da die Hände zusammen. »Sie weiß noch gar nicht, was geschehen ist?«

»Nein, ich werde sie davon noch unterrichten«, erwiderte Franz. »Ich wollte mir nur zuerst einen Überblick über seine geschäftlichen Belange verschaffen.«

»Das muss ein Untersuchungsrichter wohl …« Der Sekretär seufzte. »Darf man denn fragen, wie es geschehen ist?«

»Er ist erdrosselt worden.« Manchmal, so schrieb auch Hans Gross, konnte man einen Zeugen oder gar Verdächtigen zu einer Aussage bewegen, indem man ihn unvorbereitet mit einigen Details des Tathergangs konfrontierte. Deshalb setzte Franz fort: »Wahrscheinlich hatte er sich am Vorabend noch mit jemandem getroffen. Einem Geschäftspartner, wie anzunehmen ist, denn er war nicht für eine elegantere Gelegenheit gekleidet. Auf dem Heimweg muss ihm jemand aufgelauert haben. Er wurde erdrosselt, bevor er sich wehren konnte.«

Während er geredet hatte, waren die Augen des Sekretärs immer größer geworden.

»Was können Sie dazu sagen?« Franz sah den Mann forschend an.

Er hatte manches erwartet, aber nicht, dass Herr Anders plötzlich in Tränen ausbrach. Es war ein irritierender Anblick, und überhaupt fühlte sich Franz in der Gegenwart von weinenden Männern immer etwas unwohl.

Dennoch bezwang er sich und brachte aus Anders endlich heraus, dass dieser sich schämte, angesichts des tragischen Todesfalls im ersten Moment vorrangig an sein eigenes Auskommen gedacht zu haben.

»Ich habe ja keine Arbeit mehr, wenn er hin ist!«, klagte er, während er sich im selben Atemzug für seine Worte entschuldigte. »Was soll ich denn machen?«

Das konnte ihm Franz freilich auch nicht beantworten. Er beließ es also dabei, ihn daran zu erinnern, dass er sich für weitere Befragungen zu Verfügung halten sollte, notierte seine Wohnadresse und verließ den jammernden Sekretär.

Bevor Franz die Ehefrau des Toten aufsuchte, versuchte er seine bisherigen Erkenntnisse zusammenzufassen. Hochriegler war ein Geschäftsmann mit Beziehungen, die quer übers Mittelmeer reichten, hatte offenbar einmal eine Auseinandersetzung mit Damen eines Wiener Modesalons gehabt und einen weinerlichen Sekretär. Nicht viel.

Wenig später öffnete ein unscheinbares Hausmädchen ihm die Tür und zuckte sichtlich zusammen, als er sich als Untersuchungsrichter Stahlbaum vorstellte. Nichtsdestotrotz wurde er in einen durchaus gemütlichen Salon geführt, wo ihn kurz darauf die gnädige Frau empfing.

Luise Hochriegler hatte die perfekte Haltung einer Dame der guten Gesellschaft, einen lichten Teint, der von zart geröteten Wangen gehoben wurde, eine feingliedrige Gestalt, die von einem, für Franz’ Geschmack, etwas zu modernen Reformkleid umspielt wurde. Lediglich ihre Miene schien schon seit Jahrzehnten keine besondere Regung mehr gezeigt zu haben.

»Er ist also ermordet worden«, wiederholte sie mit melodiöser Stimme, nachdem Franz den Vorfall dargelegt hatte. Nur kurz war sie bei seinen Worten erblasst, hatte die Hände fahrig in den gewiss teuren Stoff ihres Kleides gekrallt.

»Das tut mir sehr leid.«

»Ja … das gehört sich wohl so«, erwiderte sie. Der Klang ihrer Stimme hatte einen Sprung bekommen.

»Können Sie etwas zu dem Unglück sagen?«

»Was wollen Sie denn hören?« Frau Hochriegler sah ihn wie ein Gemälde an. Nur ein winziges Zucken in ihrem Mundwinkel ließ eine Regung erahnen. »Wollen Sie an meinem Schmerz teilhaben? Oder interessiert es Sie, ob ich in meiner Ehe glücklich war? Soll ich Ihnen den Betrag meines nunmehrigen Privatvermögens darlegen, oder hätten Sie gerne das Geständnis einer außerehelichen Beziehung?«

Franz klappte den Mund auf, um ihn dann wortlos wieder zu schließen.

»Das habe ich mir gedacht«, sagte sie. »Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen etwas sage, das Ihnen hilft, den Mord aufzuklären.« Sie lehnte sich in den Fauteuil zurück, was sie einmal mehr wie eines jener überaus modernen Bildnisse der Künstler der Secession wirken ließ. Für ein paar Sekunden schweifte ihr Blick in die Ferne, und Franz fragte sich, ob darin Trauer, Wehmut oder gar eine bittere Form der Erleichterung zu lesen war. »Ich habe Siegfried genug geliebt, um ihm vier Kinder zu schenken, die allesamt viel zu früh gestorben sind. Keuchhusten, Totgeburt, Fieber, Reitunfall. Ich lebe noch. Leider habe ich es bislang noch nicht über mich gebracht, etwas dagegen zu tun.«

Überrumpelt von diesen herben Worten, zögerte Franz, ehe er abermals sagte: »Das tut mir sehr leid.« Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass dies vielleicht nicht die passende Antwort auf ihre letzten Worte war, und eilig fügte er hinzu: »Ihr Schicksal, meine ich.« Da er nicht weiterwusste, sah er sich im Salon um. »Diese Gemälde sind bemerkenswert«, merkte er darauf an.

»Allerdings. Eine der wenigen Möglichkeiten, sein Vermögen gut sichtbar an die Wand zu hängen.« Sie seufzte. »Vielleicht nutze ich das Geld, das ich nun zweifellos erben werde, um mich irgendwo einer Kur zu unterziehen. Meinem Gatten hat seine Behandlung damals ja leider auch recht gutgetan. Ich habe gehört, dass man dabei die erstaunlichsten Ergebnisse erzielen kann.«

Sie unterbrach sich kurz, als das Hausmädchen Tee und Konfekt hereinbrachte.

»Und die Handelsbeziehungen von Herrn Hochriegler …«, versuchte Franz, den Gesprächsfaden wieder aufzugreifen.

»Für die Geschäfte meines Mannes habe ich mich nie interessiert«, erwiderte sie knapp. »Allerdings gehe ich davon aus, dass er sich regelmäßig mit seinen Kunden getroffen hat. Prostituierte waren es jedenfalls nicht, das wäre mir irgendwann aufgefallen. Außerdem habe ich den Verdacht, dass er für Frauen nicht mehr als das Notwendigste übrighatte.«

»Und wo waren Sie –«, setzte Franz an.

»Ah, nun kommt der Teil, in dem Sie hoffen, von mir zu erfahren, ob ich es womöglich selbst war. Ich war gestern den ganzen Tag zu Hause, die ganze letzte Woche war ich zu Hause, das Mädchen kann es bezeugen. Außerdem würde ich einen Mann eher vergiften. Eisenhut soll sehr schnell wirken.«

Franz verschluckte sich fast an seinem Tee.

»Aber Arsen ist subtiler, wenn man sich die Zeit dazu nimmt. Noch besser soll Aqua Tofana sein, aber leider weiß ich nicht, wo man es herbekommt. Haben Sie noch Fragen?«

Er nahm noch ein Konfekt, um nach dieser irritierend offenherzigen Antwort seine Gedanken wieder zur Ordnung zu rufen. »Was halten Sie von Herrn Anders?«

Nur für einen Augenblick schien sich etwas in ihrem Gesicht zu zeigen, ehe ihre Miene wieder jene unbewegliche Ruhe annahm. »Ihr nächster Kandidat auf der Liste? Anders ist … anders. Ich habe ihn kaum zwei- oder dreimal getroffen. Er verlässt kaum das Büro, lebt für alles, was man in Listen und Statistiken bannen kann. Der ideale Sekretär. Wahrscheinlich hätte Siegfried ihn besser bezahlen müssen. Aber nein. Er ist kein Mörder.«

Franz zog sein Notizbüchlein und einen malträtierten Bleistiftstummel hervor.

»Wollen Sie mich nicht auch noch nach dem Hausmädchen fragen? Der Köchin? Unserem Hausarzt?« Ihr Ton klang herausfordernd, auch wenn ihr Antlitz ausdruckslos blieb.

»Wenn es notwendig sein sollte, werde ich mich selbstverständlich an die Betreffenden wenden«, erwiderte er. »Und wenn Ihnen noch etwas einfällt …«

»Wird es selbstverständlich mein dringendstes Bestreben sein, es Ihnen umgehend mitzuteilen.«

Franz fühlte sich merkwürdig erleichtert, als er nach ein paar abschließenden Höflichkeiten wieder auf der Straße stand. Sich mit einer Frau zu unterhalten, die selbst den Tod ihres Gatten unbewegt kühl wie ein Gemälde aufnahm, ließ ihn innerlich erschauern.

Es ging auf Mittag zu, und er entschloss sich, dass es nun an der Zeit war, seinen Schreibtisch am Landesgericht aufzusuchen. Vielleicht waren ja bereits ein paar weitere hilfreiche Informationen zusammengetragen worden.

Er blätterte im Gehen gerade seine Notizen durch, als ein durchdringendes »Begrüße, Herr Untersuchungsrichter« ihn zusammenfahren ließ.

Am liebsten hätte er auf der Stelle wieder kehrtgemacht. Stattdessen zwang er sich zu einem höflichen Gruß und wollte schon in seinem Büro verschwinden, als ihm der Mann, der anscheinend auf ihn gewartet hatte, in den Weg trat. »Sie waren bei der Witwe, nicht? Ich denke, wir sollten von nun an die nächsten Ermittlungsschritte koordinieren.«

Franz schwante Übles. Heimlich hatte er gehofft, dass er so bald nicht wieder in den zweifelhaften Genuss kommen würde, ausgerechnet mit dem Polizeiagenten Anton Meisl zusammenarbeiten zu müssen, doch dem war offenbar nicht so.

»Sie meinen die Witwe Hochriegler?«

Meisl verzog die Lippen zu einem herablassenden Grinsen. »Wen denn sonst? Sie denken doch nicht im Ernst, dass man Sie nach dem italienischen Fiasko einfach unbeaufsichtigt weiter fuhrwerken lässt, wie es Ihnen beliebt?«

»Und Sie glauben, dass ich jemanden, der mir einfach einen Zeugen erschossen hat, in meinen Ermittlungen herumpfuschen lasse?«

»Der Mann ist geflohen!«

»Er ist …«

Es kostete Franz einige Mühe, nicht weiterzureden. Der Mord an einem Kurgast in Frohnleiten war trotz einiger nicht ganz lege artis vonstattengegangener Situationen zu einem guten Ende gebracht worden. Sie beide, er und Meisl, hatten Dinge getan, die so nicht hätten passieren dürfen, allerdings hatte dies auch nicht unbedingt ihre Freundschaft befeuert. Franz hielt Meisl immer noch für einen elenden Opportunisten, der unbedingt möglichst rasch Karriere machen wollte, und Meisl sah in dem jungen Untersuchungsrichter vor allem einen emporgekommenen Proletarier.

»Ja, ich habe mit Luise Hochriegler gesprochen«, setzte Franz daher neu an, nachdem er einmal ausgiebig durchgeatmet hatte. »Und mit dem Sekretär des Toten, Ludwig Anders.«

»Ich habe derweil ein paar Telegramme verschickt.«

Franz verdrehte innerlich die Augen. Offenbar gab es nichts, was Anton Meisl lieber tat, als in der Weltgeschichte umherzutelegrafieren.

»Und ich habe auch bereits Antworten erhalten. Außerdem habe ich ein paar Anrufe getätigt«, fügte er stolz hinzu.

Franz stöhnte. Wenn das so weiterging, würde Meisl irgendwann darauf bestehen, einen Kriminalfall allein vom Schreibtisch aus lösen zu können. Immerhin würden sie dann einander hoffentlich seltener über den Weg laufen. »Gut. Kommen Sie«, sagte er schließlich und deutete auf sein Büro. »Was haben Sie zusammengetragen?«

»Oh, so mancherlei. Ich kann nur immer wieder betonen, wie hilfreich die modernen Kommunikationsmittel sind.«

»Ja, das habe ich mitbekommen«, brummte Franz. »Also, lassen Sie hören. Ich nehme an, ich erhalte alles auch noch in schriftlicher Form?«

»Natürlich«, winkte Meisl ab, ehe er begann: »Man kann im Großen und Ganzen sagen, dass Hochriegler sich in drei Bereichen als Importeur betätigt hat. Da sind zum einen Gewürze und Olivenöl, das er aus Griechenland bekommt. Ich habe da fürs Erste drei Namen herausgefunden, die man vielleicht noch näher überprüfen sollte. Das sind Iannis Zokkos, Antonakis Panikos und ein Herr Syrou. Von einem Signor Cantuzzi bezieht er Wein aus sämtlichen Gegenden Italiens. Ich hege diesbezüglich den Verdacht, dass da auch ein paar Flaschen beim Grenzübertritt umetikettiert werden. Quasi als Wertsteigerung. Und schließlich importiert er über ein Handelshaus Amairi alles, was luxuriös und orientalisch ist. Daneben gibt es auch noch ein paar Namen, die nur sporadisch auftauchen.«

»Das ist sehr international«, stellte Franz fest. Mit seinen Sprachkenntnissen würde er da nicht weit kommen.

»Allerdings. Aber das legt auch die Vermutung nahe, dass der Mord von einem dieser Ausländer oder deren Handlangern vollführt worden ist. Die Griechen sind doch alle suspekt. Und die Türken warten nur darauf, wann sie wieder einmal Wien belagern können, und die Italiener … na, ich sag lieber nichts.«

»Ist auch besser so«, murmelte Franz und hoffte, dass Meisl ihn nicht gehört hatte.

»Wenn es recht ist, werde ich in diese Richtung weiter Nachforschungen anstellen, oder haben Sie einen anderen Verdacht?«

»Ich«, setzte Franz an, doch ehe er zugeben konnte, dass er sich bislang vor allem einen Überblick zu verschaffen suchte und er daher noch keine Ahnung hatte, welche Spur die vielversprechendste war, ertönte ein zartes Klopfen an der Tür.

Die beiden Männer sahen einander fragend an.

»Ja, bitte!«, rief Franz, während sich Meisl in seinem Sessel neugierig herumdrehte.

Ein Amtsdiener öffnete und schob ein unscheinbares junges Frauenzimmer herein, das sich ängstlich umsah und eine in ein Tuch eingeschlagene Kiste in den Armen hielt. »Das Fräulein Irma Sekulic«, fügte er noch hinzu und verschwand.

»Grüß Gott«, sagte sie leise.

Meisl machte eine verdrießliche Miene.

Franz nickte ihr freundlich zu. »Fräulein Sekulic, darf ich erfahren, was Sie hierherführt?«

»Die gnädige Frau«, begann sie, »also die Frau Hochriegler, die hat gesagt, dass ich das noch herbringen soll, weil der gnädige Herr jetzt tot ist.« Besonders zu betrüben schien sie dieser Sachverhalt nicht. »Sie haben sie ja befragt wegen des Mordes … Und bevor sie abreist.«

»Die gnädige Frau reist ab? Aber sie sollte sich doch zur Verfügung halten, gerade wenn es um einen Mord geht, dann …«, entfuhr es Meisl.

Das Mädchen zuckte zusammen. »Ja«, antwortete sie dann mit einem Knicks. »Aber die Gnädige hat gesagt, dass man ihn, also ihren Mann, den Herrn Hochriegler, eben ohne sie begraben soll und dass man ihr ohnehin jederzeit ein Telegramm schicken könnte. Und das Hotel hat sogar einen eigenen Telefonanschluss.«

Meisl warf Franz einen triumphierenden Blick zu.

»Na, vielen Dank«, brummte Franz nur.

Sie stellte die Kiste auf den Schreibtisch. »Darf ich wieder gehen?«

Franz schlug das Tuch zur Seite, das ein vollkommen unspektakuläres Behältnis aus billigem Holz bedeckte. Obwohl es ein Schloss gab, war es unversperrt. Er öffnete den Deckel, der bereits etwas verzogen war, und entdeckte eine Fülle an Briefen und Kuverts. »Ist das die private Korrespondenz von Herrn Hochriegler?«

Fräulein Sekulic hob die Schultern. »Es hat geheißen, dass Sie das haben sollen.«

»Die geschäftlichen Briefe sind sicherlich noch in seinem Büro«, warf Meisl ein. »Sonst hätte der Sekretär sie Ihnen doch gleich ausgehändigt, nicht?«

Franz nickte nur. Dass er am Vormittag noch nicht einmal daran gedacht hatte, die geschäftlichen Unterlagen einzufordern, würde er Meisl nicht verraten.

Er bedeutete Fräulein Sekulic, dass sie wieder gehen konnte, was sie höchst erleichtert mit einem Knicks und einem eiligen Abgang quittierte.

»Schauen wir einmal, was da so geschrieben wurde«, beugte sich Meisl, kaum dass die Tür wieder zugefallen war, über die Kiste.

»Ich würde lieber …«, wollte Franz widersprechen, doch genauso gut hätte er versuchen können, seiner Haushälterin klarzumachen, dass er lieber dunkles statt helles Brot aß. Ihrer Meinung nach war es nämlich ein Zeichen von Kultiviertheit, sich von allem, was als »dunkel« galt, fernzuhalten.

»Na, schau einmal an.« Meisl hatte bereits begonnen, die Briefe aus der Kiste in mehrere Stapel aufzuteilen. »Da gibt es offenbar eine Liebschaft mit einer Lili …« Er wies auf ein paar weitere Blätter, die er beiseitegelegt hatte. »Dann die üblichen sentimentalen Schreibereien von alten Tanten und Cousinen und dergleichen. Und … was ist das?« Er hob einen Streifen Papier aus der Kiste, der offensichtlich irgendwo herausgerissen worden war. »›Du hast es nicht verdient‹«, las er vor.

Franz griff nach dem Papier. »Was hat er nicht verdient?«

»Ich habe keine Ahnung, aber da ist noch mehr.«

Zwischen den Briefen, Kuverts und Billetts zog Meisl noch weitere Zettel hervor. Manchen war anzusehen, dass sie einer Zeitung entnommen worden waren, andere waren lediglich ein Stück billiges Schreibpapier, einer mochte sogar aus einem Schulheft gerissen worden sein.

Es hätte anders kommen sollen.

Das ist nicht dein Schicksal.

Was zu dir passt, wird dich noch ereilen.

Du wirst bekommen, was dir zusteht.

»Sind das etwa Drohungen?«, fragte Franz.

»Liebesbriefe sind es keine.«

»Aber wieso hat er sie aufgehoben und keine Meldung gemacht?«

»Hätten Sie solche Papierschnipsel ernst genommen?«, fragte Meisl.

Franz begann an seinem Oberlippenbart zu zupfen. »Die Zettel liegen einfach so in der Kiste, kein Kuvert, kein Absender. Wahrscheinlich sind sie gar nicht per Post an ihn gekommen. Die Handschrift ist nichtssagend, wie aus dem Lehrbuch, das könnte auch ein Schulknabe geschrieben haben.« Er seufzte. »Womöglich ahnte Hochriegler, dass man mit diesen Zetteln nicht viel anfangen könnte, und hat sie deshalb einfach gesammelt, um … vielleicht für später einen Beweis zu haben.«

»Einen Beweis, dass er vor seiner Ermordung bedroht worden war?«

»Hier wird nirgends eine Gewalttat angekündigt.«

»Und dass er bekommen wird, was ihm zusteht, was ist das?«

Franz nahm den Zettel in die Hand. »Ich finde, diese Sammlung an Sätzen klingt eher … ermutigend. So als würde noch etwas Besseres auf ihn warten, als könnte er sich noch auf etwas freuen.«

Meisl schnaubte. »Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als nachts auf offener Straße erdrosselt zu werden.«

»Immerhin gibt es nun einen Anhaltspunkt, wie man weiter vorgehen könnte.« Franz schob die Briefe wieder zusammen. »Ich will, dass Sie weiter seine Geschäftskontakte überprüfen und vor allem darauf achten, ob es jemanden unter diesen Herrschaften gibt, der diese Nachrichten an ihn geschickt haben könnte. Außerdem soll seine Familie näher beleuchtet werden, und es muss der zukünftige Aufenthaltsort der Witwe bekannt gegeben werden.«

»Darum werde ich mich selbstverständlich kümmern«, erwiderte Meisl, wobei sich Franz nicht recht sicher war, ob da ein spöttischer Ton in seinen Worten mitschwang.

»Gut. Vielen Dank.« Franz stand auf, um Meisl zu signalisieren, dass er gehen konnte.

An der Tür wandte der Polizeiagent sich noch einmal um: »Die Ergebnisse vom Gerichtsmedizinischen Institut stehen noch aus. Ich werde eine Nachricht senden, dass Sie sicherlich bei der Obduktion dabei sein wollen.«

Mit einem süffisanten Grinsen marschierte er davon.

Dienstag, 5.10.1897

EIN TOTER REIST PER ZUG

Eine weitere Eigenschaft, die unbedingt vom Untersuchungsrichter verlangt werden muss, ist die absolute Genauigkeit. […] Es ist damit jenes Arbeiten gemeint, das sich nicht mit Angaben und Behauptungen anderer begnügt, wenn es möglich ist, das Richtige durch eigenes Ansehen oder durch noch genaueres Nachforschen festzustellen.

Dr. Hans Gross

Es gibt weniges, das unbefriedigender ist, als wenn man trotz redlicher Anstrengung zu keinem Ergebnis kommt.

Franz saß an seinem Schreibtisch und blätterte die bisherigen Ergebnisse im Fall Hochriegler durch. Die Akten hatten bereits einen beträchtlichen Umfang, allein einen Täter oder wenigstens einen ernsthaft Tatverdächtigen gab es nicht, und nach bald zwei Wochen Ermittlung würde es auch nicht unbedingt leichter werden, jemanden aufzuspüren.

Die Witwe hatte sich entschlossen, ihre Trauer in einem noblen Hotel in Triest zu verarbeiten, wo sie sogar einige Tage lang von Agenten der dortigen Polizei im Auge behalten worden war. Doch außer einer Vorliebe für teure Weine konnte man nichts vermelden. Aber dass sie kaum einen Tag, nachdem man ihren Gatten ermordet hatte, fluchtartig die Stadt verließ, warf Fragen auf. Oder war es eine natürliche Reaktion, dass man den Ort verlassen wollte, an dem man erst vier Kinder und dann auch den Ehemann verloren hatte?

Die Hausangestellten waren ebenso rasch verschwunden, nachdem alles Notwendige erledigt war. Die Befragungen hatten zudem nichts Interessanteres ergeben, außer dass Frau Hochriegler mit jedem Kind, das sie verloren hatte, gleichgültiger gegen ihre Umwelt geworden war und sich auch von ihren Freundinnen, die Mutterfreuden erlangt hatten, zunehmend fernhielt. Eine Köchin hatte sie fristlos entlassen, die es gewagt hatte, für ein paar Stunden ihr sechsjähriges Enkelkind mitzubringen – obwohl es still eine ganze Schüssel Kartoffel geschält hatte!

Immerhin der Sekretär Ludwig Anders hatte kurz für Aufregung gesorgt, als man ihn dabei erwischte, wie er einige Geschäftsunterlagen vernichten wollte. Selbstverständlich hatte man ihn aufs Schärfste verwarnt und sämtliche Papiere, die Aufschluss über die Tätigkeit des Importeurs versprachen, konfisziert. Seither waren mehrere Polizeibedienstete damit befasst, sich durch jene Papiere zu wühlen.

Die Suche nach Zeugen der Mordnacht hatte sich ähnlich unergiebig gezeigt wie der Rest der Ermittlungen. Die Vermutung, dass Hochriegler sich an jenem Abend vor seinem Tod mit einem Geschäftspartner getroffen hatte, konnte bestätigt werden. Allerdings handelte es sich bei diesem nur um einen braven Fuhrunternehmer, der eine besonders heikle Ladung von levantinischen Gewürzölen transportieren sollte, denen die grobe Reise mit der Bahn nicht zugemutet werden konnte.

»Wir haben einen Wein getrunken, einen guten. Im Krebsenkeller«, gab der Mann zu Protokoll. »Dann haben wir noch ein bisserl über unsere Reisen gesprochen, über Schmankerl, die es nur im Ausland gibt, aber mit denen man viel Geld verdienen kann. Wie man diese teuren Öle transportieren muss, dass die nicht zu kalt werden dürfen, aber auch nicht zu warm, und dass es dem Herrn deshalb wichtig war, dass wirklich jemand persönlich ein Auge auf die Lieferung hat. Wir sind sitzen geblieben, bis der Wirt gesagt hat, dass Feierabend ist. Aber er war immer sehr höflich.«

Der Wirt des Krebsenkellers gab an, stets spätestens vor Mitternacht sein Lokal zu schließen, was er für sehr nobel hielt, denn seiner Meinung nach ließen nur Spelunken ihre Gäste bis in die Morgenstunden zechen.

Eine Prostituierte, die sich nur sehr widerwillig zu einer Befragung herbeiließ, bestätigte, dass sie einen Mann, der wohl Hochriegler gewesen sein musste, etwa eine Stunde später durch den Stadtpark spazieren gesehen habe. »Er war wahrscheinlich auf dem Heimweg, hat mich nicht einmal angeschaut. Aber mir war’s recht, ich hatte an dem Tag eh schon genug.«

Ein arbeitsloser Schlossergeselle behauptete ebenfalls, Hochriegler noch in der Nacht gesehen zu haben, konnte sich aber überraschend nicht einmal mehr an sein Erscheinungsbild erinnern, als man ihm versicherte, dass man als Lohn für eine Aussage weder mit einer Bezahlung noch mit einer kleinen Jause oder einem Bier zu rechnen habe.

Auch auf verdächtige Individuen, in denen man vielleicht den Mörder hätte erkennen können, ließ sich kein brauchbarer Hinweis finden. Es ließ sich also nicht mehr feststellen, als dass wohl ein Mann, aufgrund der Präzision und Kraft, mit der die Tat verübt worden war, Herrn Hochriegler aufgelauert und ihn erdrosselt hatte. Ob ebenjener Täter ihn davor mit den ominösen Zetteln bedroht hatte oder ob es sich dabei lediglich um einen läppischen Streich handelte, musste vorerst offenbleiben.

Seufzend schob Franz die Akten von sich. Das Einzige, was er unter Umständen ernsthaft als Spur betrachten konnte, hatte ausgerechnet Anton Meisl geliefert.

Dass das griechische Olivenöl wahrscheinlich mit irgendeinem deutlich billigeren Öl gestreckt war, dass der italienische Wein gewiss nicht jener Sorte entsprach, die auf den Etiketten vermerkt war, und die exklusiven orientalischen Spezereien wohl weit über ihrem Wert verkauft wurden, verwunderte im Grunde niemanden. Das war so etwas wie übliche Geschäftspraxis.

Allerdings hatte Hochriegler vor einigen Jahren auch eine Art Gewürz importiert, das er als Wundermittel verkaufte. Es sollte den Appetit anregen, helfen, wieder zu Kräften zu kommen, gegen Magerkeit und Bleichsucht wirken, sogar die Fruchtbarkeit sollte es heben und vorzeitigem Haarausfall vorbeugen. Es musste damals in einer beachtlichen Menge verkauft worden sein, denn noch immer fand man in manchen Läden jenes vielversprechende Mittel.

»Was für eine glorreiche Geschäftsidee«, murmelte Franz und drehte das Gläschen in seinen Fingern, das Meisl beschafft hatte.

Bei näherer Untersuchung hatte sich das Wundermittel als feines Sägemehl herausgestellt, das man mit gerade so vielen orientalischen Gewürzen vermischt hatte, dass es eine schwefelig gelbliche Farbe annahm und intensiv nach allem Möglichen roch. Eigentlich nicht besonders appetitanregend, wie Franz fand.